Die Kirchen beginnen, sich politisch zu engagieren
„ES WIRD Zeit, daß die Gläubigen auf die Regierung Einfluß nehmen.“ Das sagte ein kalifornischer Geistlicher. Teilst du seine Meinung, daß religiöse Leute sich politisch engagieren sollten? Viele vertreten diese Ansicht auch, weil sie mit Bestürzung feststellen, daß das sittliche Niveau immer weiter sinkt, das Verbrechertum mehr und mehr überhandnimmt, die Wirtschaft rückläufig ist, die politische Lage in der Welt äußerst gespannt ist und Armut und Hunger sowie der Unglaube sich überall ausbreiten.
Mit vielen dieser Probleme müßten sich eigentlich die Regierungen beschäftigen. Doch diese sind oft hilflos. Und was noch schlimmer ist, manch eine Regierung ist durch Skandale in Verruf gekommen. Berichte über Korruption und Betrug haben das Vertrauen der Bevölkerung zur Regierung so geschwächt, daß nicht wenige so denken wie die Frau mittleren Alters, die sagte: „Allmählich komme ich zu der Überzeugung, daß das ganze politische System korrupt geworden ist und ohne Moral ist.“
Deshalb finden viele aufrichtige Personen, daß religiöse Kreise sich ruhig politisch engagieren sollten. Sie meinen, die Kirchen würden Gott vertreten, und denken — mit Recht —, daß mehr als menschliches Wissen erforderlich sei, um unsere Probleme zu lösen. Sie beten um Hilfe, wissen aber nicht genau, wie Gott ihnen helfen wird. Sie denken, vielleicht sei es an ihnen, etwas zu tun. Deshalb sehen sie es gern, daß sich „Gläubige“ politisch engagieren, um die Politik zu „christianisieren“. Protestantische und katholische Geistliche sowie andere religiös denkende Personen engagieren sich politisch immer mehr.
Kann die Religion auf diese Weise heute am besten helfen? Wir wollen sehen, was einige dieser Geistlichen tun und welches ihre Ziele sind.
RELIGION IN DER POLITIK
In den Vereinigten Staaten gibt es Religionsgemeinschaften, die in Washington, der Hauptstadt des Landes, sogenannte Lobbyisten haben (Personen, die Abgeordnete für ihre Interessen zu gewinnen suchen), um Kongreßabgeordnete zu beeinflussen. Was sind ihre Ziele? Ein katholischer Priester erklärte: „Wir glauben, daß wir langfristig viel Einfluß auf das sittliche Denken nehmen können, das für die Nation politisch richtungweisend sein wird.“ Ein protestantischer Geistlicher sagte: „Es sollte uns möglich sein, der Regierung zu sagen: ,Ihr habt etwas falsch gemacht; ihr habt den falschen Weg eingeschlagen.‘“
Eine diskrete Beeinflussung von Abgeordneten durch religiöse Gruppen gibt es schon lange. Ein neueres Phänomen ist jedoch die weit weniger diskrete Tätigkeit der von protestantischen Fundamentalisten organisierten Interessengruppen. Diese Gruppen — dazu gehört auch „Moral Majority“, eine amerikanische Bewegung, die um 1979 gegründet wurde und 400 000 Mitglieder hat, davon 72 000 Geistliche — haben ihren Standpunkt in Fragen wie Unterstützung Israels, Rechte für Homosexuelle, Panamakanalvertrag, Sicherheit Taiwans und Abtreibung deutlich dargetan. Und die Politiker haben gelernt, ihren Einfluß nicht zu unterschätzen, denn es ist vorgekommen, daß Senatoren, die einen anderen Standpunkt vertraten als sie, aufgrund ihres Einflusses nicht wiedergewählt wurden.
Der Ökumenische Rat der Kirchen (Sitz in Genf) hat sich in anderer Weise in die Politik verstrickt: Seit 1970 haben politische „Befreiungsbewegungen“ von ihm insgesamt drei Millionen Dollar erhalten.
Ferner gibt es Geistliche, die sich um ein politisches Amt bewerben. Und vor kurzem konnte man in einer Zeitung die Schlagzeile lesen: „Philippinische Priester verlassen Gemeinden und schließen sich Rebellen an“. In dem dazugehörigen Artikel wurde berichtet, daß sich vier katholische Priester einer kommunistischen Guerillabewegung angeschlossen haben. Heute gibt es viele Priester und Ordensleute, die radikale politische Bewegungen unterstützen; doch dafür muß teuer bezahlt werden. In Lateinamerika sind deshalb in den vergangenen zehn Jahren schätzungsweise 850 Priester, Nonnen und Laienhelfer getötet, entführt oder ausgewiesen worden.
Wie betrachtest du ein solch politisches Engagement Geistlicher? Bist du dafür, oder bist du im Zweifel? Vielleicht hast du nichts dagegen, daß sich die Kirchen zurückhaltend über politische Fragen äußern, aber daß sich Priester revolutionären Bewegungen anschließen, hältst du vielleicht doch nicht für ganz richtig.
Sind wir jedoch einverstanden, daß sich die Religion in die Politik einmischt, dann ist es schwierig, zu entscheiden, wie weit sie gehen darf. Wird es gewissen ordinierten Geistlichen nicht verwehrt, in Washington die Parlamentarier unauffällig zu beeinflussen, warum sollte es dann falsch sein, daß protestantische Fundamentalisten auf bundesstaatlicher Ebene Interessengruppen organisieren, um Programme zu fördern, die ihnen wichtig erscheinen? Und wenn es akzeptabel ist, daß sich „Moral Majority“ für die Verteidigung Israels einsetzt, warum sollte dann der Ökumenische Rat der Kirchen nicht für eine militärische Sache, die er für richtig hält, Geld spenden dürfen? Wenn das nicht verkehrt ist, warum sollte es dann anrüchig sein, daß katholische Priester, anstatt Geld dafür zu spenden, daß andere ihr Leben einsetzen, in Südamerika und Asien für eine Sache, die ihnen als richtig erscheint, kämpfen und sterben?
Und doch — kannst du erkennen, daß mit dieser Logik etwas nicht stimmt? Gibt es für die Religion wirklich keine bessere Methode, der Menschheit in der heutigen schwierigen Zeit zu helfen?
Die Einmischung der Religion in die Politik ist keineswegs eine neue Erscheinung. Im nachstehenden Kasten werden einige bemerkenswerte Fälle angeführt, in denen das geschehen ist.
[Kasten auf Seite 4]
◻ Im Jahre 1095 rief Papst Urban II. zum ersten Kreuzzug gegen die Türken auf: „Zieht aus, um euren Brüdern im christlichen Morgenland zu helfen.“ Im Laufe von zwei Jahrhunderten folgten noch weitere Kreuzzüge, bei denen sehr viel Blut floß.
◻ Im 12. Jahrhundert belehnte Papst Hadrian IV. den englischen König Heinrich II. mit Irland, so daß die Unterwerfung dieses Landes durch die Engländer (in den Augen der Gläubigen) gerechtfertigt erschien.
◻ Im Jahre 1524 kam es in Deutschland — zum Teil zufolge der Lehren Martin Luthers — zum Bauernkrieg. Am Anfang war Luther für die Bauern, doch dann, im Jahre 1525, riet er den Fürsten: „Man soll sie [die Bauern] würgen und stechen ..., wie man einen tollen Hund totschlagen muß.“ Die Fürsten befolgten den Rat mit großer Grausamkeit.
◻ Im Jahre 1618 beabsichtigte der zum König von Böhmen ausersehene Fürst, die zum größten Teil protestantische Bevölkerung Böhmens zu zwingen, den katholischen Glauben anzunehmen, was zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges beitrug.
◻ Im Jahre 1918 benutzten gewisse Kirchen der Christenheit ihren Einfluß zur Förderung des Völkerbundes. Dieser wurde aber dennoch ein Fehlschlag. Nur zwei Jahrzehnte später wurde die Welt in den schlimmsten Krieg der Geschichte gestürzt. Nun unterstützen die Kirchen der Christenheit auch die Vereinten Nationen, aber die Völker sind starker gerüstet und uneiniger als je zuvor.