Warum so viele Selbstmorde?
BRUNOS Vater war stets ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen. Vor längerer Zeit war seine Ehe in die Brüche gegangen, und er hatte eine jüngere Frau geheiratet. Aber er kümmerte sich noch um seine Kinder; einmal dachte er sogar daran, mit ihnen ein Geschäft zu eröffnen. Später, als er in den Fünfzigern war, änderte sich sein Leben auf dramatische Weise. Eine seiner Unternehmungen schlug fehl, und plötzlich war er tief verschuldet. Für ein paar Tage unterzog er sich einer Behandlung im Krankenhaus, erzählte jedoch niemandem, warum. Danach verließ ihn seine junge Frau, und er beging Selbstmord.
Bruno sagte dazu: „O hätte ich doch nur mehr tun können, um ihm zu helfen. Finanziell wieder auf die Beine zu kommen und einen neuen Anfang zu machen schien in seinem Alter einfach zuviel zu sein. Und der Gedanke, älter zu werden, verlassen zu sein und nun mit Schmerzen zu leben — er konnte überhaupt keinen Sinn mehr im Leben sehen.“
Traurigerweise ist eine solche Tragödie heute nichts Ungewöhnliches. Statistiken zeigen, daß sich in nur einem Jahr allein in den Vereinigten Staaten 27 294 Männer, Frauen und Kinder absichtlich umbrachten (in der Bundesrepublik Deutschland 12 868 im Jahre 1980). Darüber hinaus sagen einige, daß auf jeden gelungenen Selbstmordversuch wenigstens 10 Versuche kommen, die fehlschlagen.
Doch überall in der Welt kämpfen Menschen oft unter den schwierigsten Verhältnissen gegen den Tod. Menschen, die an schmerzhaften Krankheiten leiden, Gefangene, die lange Freiheitsstrafen verbüßen, Personen, die in tiefer Armut leben — die meisten von ihnen ringen um ihr Leben. Wie kommt es dann, daß einige, die physisch nicht in einer so schlechten Lage sind, versuchen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten?
In Ländern, wo die Leute vorgeben, Christen zu sein, wird es noch schwieriger, diese Frage zu beantworten. Die Bibel lehrt, daß das Leben heilig ist, eine wertvolle Gabe Gottes (Psalm 36:9). Der Tod ist ein Feind, und Jehova Gott hat große Anstrengungen unternommen und hat ein unermeßliches Opfer gebracht, um uns die Gelegenheit zu geben, ewiges Leben zu erlangen (Johannes 3:16). Dennoch nehmen sich sogar in sogenannt christlichen Ländern immer mehr Menschen das Leben oder versuchen es zumindest. Warum? Welche Belastung kann das wertvollste Gut eines Menschen — sein Leben — zu einer Bürde werden lassen, von der er sich „befreien“ möchte?
Tödliche Emotionen
„Verzweiflung ..., Hoffnungslosigkeit ..., Schmerz ... Mir war einfach alles zuviel.“ So beschrieb eine Frau — sie hatte spontan eine Überdosis von Medikamenten eingenommen — die Gründe ihres Selbstmordversuches. Ein Arzt, der sich mit Selbstmordpatienten beschäftigt, äußerte sich so: „Häufig fühlen sie sich wertlos, sind hilflos oder hoffnungslos, und sie haben oft starke Schuldgefühle.“
So werden in vielen Fällen Menschen von negativen, todbringenden Emotionen, die außer Kontrolle geraten, in den Freitod getrieben. Nicht selten ist Hoffnungslosigkeit das Hauptproblem. Der potentielle Selbstmörder kann einfach keinen Ausweg aus seiner gegenwärtigen Situation sehen. Weiterzumachen erscheint ihm zwecklos.
Was ist die Ursache solcher Hoffnungslosigkeit? Zweifellos werden viele von den Lebensumständen überwältigt, so wie Brunos Vater. Eine Bevölkerungsgruppe, die dafür besonders anfällig zu sein scheint, sind die Älteren. Dr. Nathan S. Kline, ein Spezialist auf dem Gebiet der Depressionen, sagte: „Das Alter bringt eine besondere Art der Einsamkeit mit sich, und die Selbstmordrate steigt progressiv zum Alter“ (From Sad to Glad von Nathan S. Kline). Aber es gibt auch andere Ursachen.
Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühle und Depressionen
Zum Beispiel kann es sehr schwer sein, mit Schuldgefühlen zu leben. Wenn jemand einen schwerwiegenden Fehler begangen hat, kann sein Gewissen ihn quälen, besonders wenn ein anderer durch seine Sünde Schaden erlitten hat. König David, der im Altertum über die Nation Israel herrschte, beschrieb, wie sich Schuldgefühle auf ihn auswirkten: „Da ist kein Friede in meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. Denn meine eigenen Vergehungen sind über mein Haupt gegangen; wie eine schwere Last sind sie zu schwer für mich“ (Psalm 38:3, 4).
Schuldgefühle wegen eines schlechten Gewissens haben einige zu dem Gedanken veranlaßt, sie hätten keine Zukunft mehr, und daher entschlossen sie sich, ihrem Leben ein Ende zu machen. So beging ein junger Mann Hurerei und erschoß sich danach. In seinem Abschiedsbrief erklärte er, daß er nicht mehr Schande auf andere bringen wollte.
Einige sehen wegen seelischer Wunden keine Hoffnung mehr. Ihnen mag eine schlechte Erfahrung, die sie nicht mehr aus ihrem Sinn verbannen können, ständig zu schaffen machen. So erging es einer jungen Frau, die als Kind von ihrem Vater mißbraucht worden war. Obwohl sie inzwischen erwachsen war, wurden Schuldgefühle und Gefühle der Wertlosigkeit, die auf diese Erfahrung zurückgingen, so stark, daß sie versuchte, sich das Leben zu nehmen.
Andere mögen wegen schwerer Depressionen hoffnungslos sein und können nicht glauben, daß es ihnen einmal bessergehen wird. Für diejenigen, die nie eine schwere Depression hatten, ist es schwierig, zu verstehen, welche verheerenden Folgen eine Depression haben kann. Es ist nicht einfach ein „Tief“. Das haben wir von Zeit zu Zeit alle. Vielmehr ist es eine tiefe Verzweiflung, die den Leidenden ständig verfolgt, ganz gleich, was er tut und wohin er geht. Es scheint keinen Ausweg zu geben.
Für Personen, die an solchen Depressionen leiden, ist es nicht ungewöhnlich, an Selbstmord zu denken. Eine Frau, die schwere Depressionen hatte, sagte, daß sie sehr vorsichtig sein mußte. Während sie ein Bad nahm, kam in ihr z. B. der Gedanke auf: „Ich könnte so schnell meinen Kopf unter das Wasser rutschen lassen, und dann wäre alles vorbei.“ Oder während sie die Straße entlanglief und ein Auto auf sich zukommen sah, dachte sie: „Oh, es wäre so einfach!“
Depressionen sind häufig auch von starken Schuldgefühlen begleitet. Warum? Eine Christin, die an schweren Depressionen litt, empfand Schuldgefühle, weil sie nicht mehr so für ihre Familie sorgen konnte, wie sie es früher getan hatte, und dachte, sie würde ihre Angehörigen daran hindern, die Dinge zu tun, die sie gern tun wollten. Auch war sie der Meinung, Gott habe seinen Geist von ihr genommen, da sie keinen Herzensfrieden und keine Freude mehr hatte (Philipper 4:7; Galater 5:22). Nur mit größter Anstrengung konnte sie überhaupt über Jehova Gott sprechen. Viele haben die gleiche Erfahrung gemacht; einige denken sogar, sie hätten die unvergebbare Sünde begangen.
Sicherlich ist es nicht schwer zu verstehen, warum einige, die von solch negativen Gefühlen geplagt werden, sich schließlich fragen, ob es einen Wert hat weiterzumachen. Das sind jedoch nicht die einzigen Einflüsse, die jemanden zu dem Versuch veranlassen, seinem Leben ein Ende zu machen.
Andere Gründe für Selbstmord
Verschiedene Psychologen betrachten einige Selbstmordversuche als Bemühen um die Zuwendung anderer. Der potentielle Selbstmörder schreit sozusagen um Hilfe. Vielleicht versucht er sogar, jemand anders zu strafen — entsprechend der Denkweise von Kindern, die sagen: „Es wird dir leid tun, wenn ich tot bin!“
Manchmal hat man auch das Empfinden, daß eine Person, die Selbstmordabsichten hat, andere in ihrer Umgebung zu beeinflussen sucht. Zum Beispiel mag ein Mädchen, das von seinem Freund verlassen wurde, zum Schein versuchen, sich umzubringen, in der Hoffnung, ihn damit zur Rückkehr zu bewegen. Oder eine ältere Mutter mag versuchen, sich das Leben zu nehmen, in der Absicht, ihre erwachsenen Kinder zu zwingen, sie nicht weiter zu ignorieren und mehr Zeit mit ihr zu verbringen.
Diese Beispiele vermitteln eine Vorstellung von den Belastungen, die auftreten mögen. Daß der Betroffene seine Probleme häufig für sich behält, verschlimmert die Situation. Nach außen hin mag er ruhig und gelassen erscheinen, aber innerlich wird er von Spannungen förmlich zerrissen. Unter solchem Druck bedarf es nur eines geringfügigen Anlasses, eines Auslösers, um einen Selbstmordversuch heraufzubeschwören.
So mag ein Mann versuchen, sich das Leben zu nehmen, nachdem er seine Arbeitsstelle verloren hat. Oder ein Teenager könnte es versuchen, wenn er die enttäuschenden Ergebnisse einer Abschlußprüfung erhalten hat, nach dem Tod eines Haustieres, dem Verlust eines Freundes oder wenn er erfahren hat, daß sein Lieblingslehrer ausscheidet. Diese Ereignisse sind nicht die eigentliche Ursache des Selbstmordversuches. Sie geben jemandem lediglich „den Rest“, den letzten Anstoß in einer langen Reihe seelischer Belastungen.
Eine Frau, deren halbwüchsige Tochter versuchte, sich umzubringen, war völlig schockiert, als es geschah. Aber später erfuhr sie von den verborgenen seelischen Belastungen, die auf Teenager einstürmen können. Sie sagte: „Nun weiß ich, welchen inneren Aufruhr ein junges Mädchen erleben kann. Es war einfach zuviel für sie, und ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um ihr zu helfen. Jetzt versuche ich, besser mit ihr vertraut zu werden, ich spreche mehr mit ihr, stehe ihr näher. Und es hilft! Jetzt lacht und scherzt meine Tochter wieder mit mir, wie sie es tat, bevor alles passierte.“
Ein Ausweg
Selbstmord ist niemals gerechtfertigt. Aber Personen, die emotionell leiden, fühlen sich manchmal versucht, Selbstmord zu begehen, als wäre es eine Möglichkeit, das Leiden schnell zu beenden. Jehova, dessen Wort uns sagt, daß das Leben heilig ist, bietet allen, die solchem Druck ausgesetzt sind, jedoch Hilfe. Die Bibel verheißt: „Er wird nicht zulassen, daß ihr über euer Vermögen versucht werdet.“ Diese Schriftstelle spricht von der Verlockung durch „schädliche Dinge“ wie Götzendienst und Unmoral (1. Korinther 10:6, 13). Nichts ist jedoch ‘schädlicher’ als Selbstmord. Es gibt also auch einen Ausweg für diejenigen, die von Selbstmordgedanken versucht werden. Jehova hat sowohl durch sein Wort, die Bibel, als auch durch die christliche Versammlung für Hilfe gesorgt.
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Hat jemand Selbstmord begangen?
Dann benötigen die Hinterbliebenen Beistand. Wahrscheinlich sind sie verwirrt, fühlen sich schuldig und fragen sich, was sie hätten tun können, um die Tragödie zu verhindern. Man muß ihnen helfen zu verstehen, daß wahrscheinlich nichts hätte getan werden können, wenn das Opfer wirklich entschlossen war, seinem Leben ein Ende zu machen.
Gleichermaßen ist es zwecklos, darüber zu spekulieren, welche Zukunft jemand hat, der Selbstmord begangen hat. Nur Jehova und der von ihm eingesetzte Richter, Jesus Christus, können beurteilen, was im Herzen einer Person war, die ihrem Leben ein Ende bereitet hat. Es ist wichtig, das Unglück zu bewältigen und den Toten Jehova anzuvertrauen, dem „Vater inniger Erbarmungen und ... Gott allen Trostes“ (2. Korinther 1:3).