Er gehorchte Gott, dem Herrscher, mehr als Menschen
„Wir müssen Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“
DIESE mutigen Worte ertönten vor fast 2 000 Jahren im Saal des Sanhedrins in Jerusalem. Damals, im ersten Jahrhundert, verhörte der jüdische Hohepriester eine Gruppe von Christen. Sie waren im Tempel verhaftet worden, während sie eine Volksmenge belehrten. Jehovas Engel hatte ihnen befohlen, dorthin zu gehen und Gottes Wort zu predigen. Die Priester dagegen hatten ihnen das untersagt. Wem würdest du in einer solchen Situation gehorchen? Für die Christen bestand kein Zweifel. Sie gehorchten Gott, dem Herrscher, mehr als den Menschen (Apostelgeschichte 5:17-32).
In den vielen seither vergangenen Jahrhunderten sind andere diesem mutigen Beispiel gefolgt, wenn religiöse Führer wie jene jüdischen Priester im ersten Jahrhundert sich weigerten, die Wahrheit zu hören, und andere daran hindern wollten, sie zu hören (Matthäus 23:13). Zu Beginn des 15. Jahrhunderts berief sich Jan Husa (1371 bis 1415) auf dieselben Worte, als ihm untersagt wurde, in seiner Heimat Böhmen (Teil der heutigen ČSSR) zu predigen. Zu einer Zeit, in der fast jeder andere den Papst und die Kirche als maßgebend ansah, betrachtete er Gott und sein Wort als die höchste Autorität. Wie war er zu dieser Auffassung gelangt?
Die biblische Lehrtätigkeit von Jan Hus
Jan Hus wurde von seiner Mutter, einer verwitweten Bauersfrau, großgezogen; daher war es für ihn nicht leicht, eine Ausbildung zu bekommen. Oft sang er in Kirchen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Obwohl er kein hervorragender Schüler war, gelang es ihm, an der Universität Prag zu studieren, und schließlich wurde er Rektor.
Damals gab es an der Universität viele Auseinandersetzungen zwischen den Deutschen und den Tschechen. Hus wurde ein Verfechter der tschechischen Sache, und je imposanter er als Prediger wurde, um so mehr nahm sein Einfluß zu. Es gab schon eine Zeitlang Unruhen und Diskussionen wegen vieler Mißstände in Verbindung mit der katholischen Kirche, und durch die Verbreitung der Schriften des englischen Reformators John Wyclif wurde der Konflikt noch verstärkt. Die böhmische Bewegung war nicht auf die Entwicklungen in England zurückzuführen; vielmehr verlief sie parallel dazu. Jan Hus fühlte sich von den Schriften Wyclifs angesprochen, besonders von dem Werk De veritate sacre scripture (Über die Wahrheit der Heiligen Schrift), das er 1407 erhielt.
Hus stieß jedoch auf den Widerstand des Erzbischofs Sbynjek von Prag, der an seinen Predigten Anstoß nahm und im Jahre 1410 viele Schriften Wyclifs öffentlich verbrannte. Danach verbot Sbynjek jegliches Predigen, außer in anerkannten Kirchen. So war die Bethlehemskapelle, der Hus vorstand, ausgeschlossen. Hus weigerte sich, dem Verbot des Erzbischofs zu gehorchen, indem er sagte, daß er „in Dingen, die zur Rettung notwendig sind, Gott mehr gehorchen muß als Menschen“. Er legte beim Papst Berufung ein, woraufhin der Erzbischof ihn exkommunizierte. Aber Hus geriet nicht ins Wanken, da er feststellte, daß durch sein vermehrtes Verständnis sein Gewissen geschult und für die Lehren der Bibel empfänglicher gemacht worden war. Er sagte unmißverständlich: „Wenn der Mensch auch lügen mag, Gott lügt nicht“ — in Anlehnung an die Worte des Apostels Paulus an die Römer (Römer 3:4). König Wenzel verteidigte die Reformbewegung von Jan Hus, und schließlich floh Sbynjek außer Landes und starb bald darauf.
Die Opposition gegen Hus kam erneut auf, als er einen Kreuzzug gegen den König von Neapel verurteilte, den zu diesem Zweck organisierten Verkauf von Ablässen bloßstellte und so den Priestern die Einnahmen verdarb. Die Ablässe gewährten dem einzelnen dadurch, daß er Geld zahlte, den Erlaß der zeitlichen Strafe. Um die Stadt nicht in Schwierigkeiten zu bringen, zog sich Hus vorübergehend aus Prag in ein Exil auf dem Land zurück. Dort schrieb er im Jahre 1413 eine Abhandlung über den „Ämterkauf“, in der er die Geldliebe der Kleriker und die Unterstützung bloßstellte, die ihnen von seiten der weltlichen Obrigkeit gewährt wurde. Wieder stützte sich Hus auf Gottes Wort als Autorität: „Jeder treue Christ sollte so gesinnt sein, daß er für nichts eintritt, was der Heiligen Schrift entgegensteht.“
Hus schrieb auch eine Abhandlung mit dem Titel De ecclesia (Über die Kirche). Darin stellte er eine Reihe von Lehrsätzen auf, wie zum Beispiel: „Daß Petrus niemals das Haupt der Kirche war und ist.“ Er erklärte, der Schlüsseltext, nämlich Matthäus 16:15-18, kennzeichne eindeutig Jesus Christus als die Grundlage und das Haupt der Kirche, die die Gesamtheit der herausgerufenen Gläubigen sei. Die oberste Autorität sei daher das in Gottes Wort dargelegte Gesetz Christi, nicht das des Papstes. Statt dessen habe das Papsttum seinen Ursprung in der Macht des Römischen Reiches.
Aussagen vor dem Konzil von Konstanz
Die katholische Kirche konnte diese Bloßstellungen nicht länger ertragen und forderte Hus auf, über seine Ansichten vor dem Konstanzer Konzil (1414 bis 1418) Rechenschaft abzulegen.b Zum Besuch des Konzils wurde er dadurch verleitet, daß der Bruder des Königs, der spätere Kaiser Sigismund, ihm sicheres Geleit versprach, was sich schnell als unhaltbar erwies. Kurz nach seiner Ankunft wurde er verhaftet, aber er widerstand weiterhin der Autorität des Papstes und des Konzils.
Als das Konzil Hus zum Widerruf seiner Ideen und Lehren aufforderte, erwiderte er, er würde das bereitwillig tun, wenn er anhand der Schrift des Irrtums überführt würde — in Übereinstimmung mit 2. Timotheus 3:14-16. Er war der Meinung, sein Gewissen wäre für immer belastet, wenn er sich zu einem in zweideutige Formulierungen gehüllten Widerruf bewegen ließe. Er erklärte: „Es ist immer mein Wunsch gewesen, anhand der Schrift eines Besseren belehrt zu werden, und dann wäre ich auch auf jeden Fall bereit zu widerrufen.“ Trotz seiner Aufforderung, das geringste Mitglied des Konzils möge ihm seinen Irrtum direkt anhand des Wortes Gottes zeigen, wurde er als halsstarriger Häretiker verurteilt und ins Gefängnis zurückgeschickt, ohne daß irgend etwas aus der Bibel erörtert wurde.
Am 6. Juli 1415 wurde Hus formell im Konstanzer Münster verurteilt. Man gestattete ihm nicht, auf die vorgelesenen Anklagen etwas zu erwidern. Dann wurde er offiziell der Priesterwürde entkleidet. Währenddessen verbrannte man vor dem Münster seine Schriften. Anschließend wurde er vor der Stadt auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Damit niemand in den Besitz von Reliquien dieses Märtyrers gelangen konnte, sammelte man seine Asche und warf sie in den Rhein. Wegen der engen Verbindung mit John Wyclif verurteilte das Konzil auch jenen — bereits verstorbenen — Reformator, ordnete die Ausgrabung und Verbrennung seiner Gebeine an und ließ die Asche in den Fluß Swift in England werfen. Später wurde Hieronymus von Prag, der prominenteste Nachfolger von Hus, ebenfalls auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Was Hus erreichte
In der damaligen Zeit war Hus einer der ersten, die sich der Autorität des Papstes und des Konzils zu widersetzen wagten und sich auf die Schrift als höchste Autorität beriefen. Dadurch setzte er die Bewegung für die Menschenrechte, die Freiheit des Gewissens und der Rede, in Gang.
Mehr als hundert Jahre später wurde Martin Luther in Deutschland beschuldigt, die Irrlehren von Wyclif und Hus wiederbeleben zu wollen. Luther hatte dieselbe Grundansicht wie Hus, denn er sagte: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde — denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es am Tage ist, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes.“ Vielleicht war das auch der Grund, warum er sagte: „Wir sind alle Hussiten, ohne es zu wissen.“
Hus, Wyclif und Luther haben wirklich viele Lehren der ersten Christen wiederbelebt. Natürlich gingen sie diesen Weg nicht ganz bis ans Ende, da es in jenen Tagen nicht leicht war, die Finsternis der Jahrhunderte zu vertreiben. Doch sie alle stimmten in einem wichtigen Punkt überein: An erster Stelle steht Gottes Wort, unabhängig von den Meinungen der Menschen. Denselben erleuchteten Standpunkt hatten die ersten Christen, weil sie von dem Meister selbst, von Jesus Christus, belehrt worden waren (Johannes 17:17; 18:37).
Den gleichen Standpunkt müssen Christen von heute einnehmen. Wir haben viele Vorteile gegenüber den Menschen früherer Jahrhunderte. Erstens ist die Bibel in den meisten Sprachen frei verfügbar. Zweitens leitet der heilige Geist jetzt, in den letzten Tagen, die Günstiggesinnten zu einem besseren Verständnis der Bibel an. Hast du dieses Verständnis akzeptiert? Wenn ja, dann wirst du nicht zögern, den Grundsatz aufzugreifen, den Jan Hus so beharrlich vertrat. Heute leben mehr Menschen als je zuvor in der Geschichte nach den Worten der Apostel: „Wir müssen Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5:29).
[Fußnoten]
a Andere Schreibweise: Johannes Huß.
b Ein Konzil ist eine Versammlung von Bischöfen und anderen hohen Klerikern der katholischen Kirche zur Erörterung und Entscheidung von Fragen der Lehre und der Disziplin sowie anderer Angelegenheiten. Eine Anzahl solcher Konzilien, die im Laufe der Geschichte stattgefunden haben, wird von der katholischen Kirche anerkannt.
[Bild auf Seite 29]
Jan Hus
[Bild auf Seite 31]
Tschechische Bibeln, wie beispielsweise diese Ausgabe von 1579, haben heute hohen Sammlerwert. Jan Hus wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er das, was die Bibel sagt, höher einstufte als das Wort von Menschen.