Rückblick auf 93 Lebensjahre
Von Frederick W. Franz erzählt
AM 12. September 1893 wurde in Covington (Kentucky), das am Südufer des Ohio liegt, gegenüber von Cincinnati, ein kleiner Junge geboren. Sein glücklicher Vater, Edward Frederick Franz, und seine hocherfreute Mutter, Ida Louise geb. Krüger, nannten ihren Sohn Frederick William.
Damit begannen meine bisher 93 Lebensjahre. Mein Vater, ein gebürtiger Deutscher, gehörte der lutherischen Kirche an, und so wurde ich von einem Geistlichen getauft, indem er mir seine mit Wasser benetzte Hand auf die Stirn legte. Man stellte eine Taufurkunde aus, die dann eingerahmt und zu Hause neben die Taufurkunden meiner beiden älteren Brüder, Albert Edward und Herman Frederick, gehängt wurde. Erst zwanzig Jahre später sollte ich erfahren, daß diese kirchliche Verfahrensweise unbiblisch ist.
Später zogen wir in die Greenup Street, wo ich zum erstenmal eine pferdelose Kutsche sah, ein zweisitziges Automobil, das durch unsere Straße fuhr. Einige Jahre später bekam ich zum erstenmal ein Flugzeug zu sehen. Wir wohnten damals neben der Bäckerei Krieger, in der mein Vater nachts als Bäcker arbeitete. Er kam morgens nach Hause und ging schlafen. Nachmittags konnte er seinen Kindern etwas Zeit widmen.
Als ich ins schulpflichtige Alter kam, schickte man mich zunächst in die Privatschule und in die Gottesdienste der nahe gelegenen katholischen St.-Joseph-Kirche an der Kreuzung 12. Street und Greenup Street. Ich kann mich noch erinnern, wie das Klassenzimmer aussah. Bei einer Gelegenheit ließ mich der Ordens„bruder“, der dort als Lehrer tätig war, vor die Klasse treten und versetzte mir mit einem Lineal einige Schläge auf meine ausgestreckten Handflächen, weil ich etwas angestellt hatte.
Ich weiß auch noch, daß ich den unbeleuchteten Beichtstuhl aufsuchte, um mit dem Beichtvater, der hinter der Trennwand saß, zu reden. Dann sprach ich ein auswendig gelerntes Gebet und bekannte, was für ein böser Junge ich war. Danach ging ich an das Altargitter und kniete nieder. Ein Priester schob mir die Hostie in den Mund, womit er mir gemäß der kirchlichen Lehre die Kommunion spendete. Den Wein hielt er allerdings zurück, um ihn später selbst zu trinken. So begann meine formelle religiöse Schulung, und der Grundstein für meine Achtung vor Gott, die in späteren Jahren immer mehr zunahm, wurde gelegt.
Im Jahre 1899, nachdem ich ein Jahr in der kirchlichen Privatschule gewesen war, zogen wir auf die andere Seite des Ohio — nach Cincinnati, und zwar in die Mary Street 17 (heute East 15. Street). Meine Eltern schickten mich dort in eine öffentliche Schule, wo ich gleich in die dritte Klasse kam. Mit meiner Aufmerksamkeit war es jedoch nicht zum besten bestellt, und ich erinnere mich noch, daß wir, mein Banknachbar zur Rechten und ich, einmal wegen unseres schlechten Betragens in das Büro des Rektors geschickt wurden. Rektor Fitzsimmons ließ uns vornüberbeugen und mit den Fingern die Fußspitzen berühren. Dann gab er uns mit einem Rohrstock einige Schläge auf unseren Allerwertesten. Es wird wohl kaum überraschen, daß ich nicht versetzt wurde.
Mein Vater wollte sich jedoch nicht damit abfinden, daß ich eine Klasse wiederholen sollte. Als das nächste Schuljahr begann, ging er mit mir zur Liberty-Street-Schule, wo er den Rektor, Herrn Logan, in seinem Büro aufsuchte. Er bat ihn, mich in die vierte Klasse aufzunehmen. Herr Logan war mir wohlgesinnt und sagte: „Nun, wir wollen sehen, was der junge Mann weiß.“ Nachdem ich einige Prüfungsfragen zu seiner Zufriedenheit beantwortet hatte, kam er zu dem Schluß: „Es scheint, daß er die Voraussetzungen für die vierte Klasse erfüllt.“ Auf diese Weise wurde ich, statt sitzenzubleiben, in die nächsthöhere Klasse versetzt. Von da an strengte ich mich jedoch an; ich widmete mich ernsthaft meinen Schulaufgaben und mußte keine Klasse wiederholen.
Auch in religiöser Hinsicht änderte sich einiges bei mir. Meine Mutter war mit Vertretern der Second Presbyterian Church von Cincinnati in Verbindung gekommen, und sie schickte Albert, Herman und mich in die Sonntagsschule dieser Kirche. Zu jener Zeit war Herr Fisher Leiter der Sonntagsschule, und die junge Bessie O’Barr war meine Lehrerin. Dort lernte ich die inspirierte Heilige Schrift kennen. Wie dankbar ich war, als mir meine Sonntagsschullehrerin ein persönliches Exemplar der Bibel als Weihnachtsgeschenk überreichte!
Ich nahm mir vor, es in meinem Leben zu einem Muß zu machen, jeden Tag etwas in der Bibel zu lesen. Dadurch wurde ich mit der Heiligen Schrift sehr gut vertraut. Ihr guter Einfluß bewahrte mich davor, von der unmoralischen Sprache und dem unmoralischen Lebenswandel meiner Klassenkameraden angesteckt zu werden. Kein Wunder, daß ich in ihren Augen ein Außenseiter war!
High-School und College
Nachdem ich im Jahre 1907 die dritte Klasse der High-School absolviert hatte, gestatteten mir meine Eltern, auf eine weiterführende Schule, die Woodward-High-School, zu gehen, die Albert, mein ältester Bruder, ein Jahr lang besucht hatte. Gleich ihm entschloß ich mich, die klassischen Fächer zu belegen. So begann ich, Latein zu lernen — etwas, was mich die nächsten sieben Jahre beschäftigen sollte.
Im Frühjahr 1911 fand die Abschlußfeier statt. Man hatte mich ausgewählt, anläßlich dieser Feier in der Music Hall, dem größten Saal von Cincinnati, die Abschiedsrede für die Woodward-High-School zu halten.
Die drei High-Schools von Cincinnati — die Woodward-High-School, die Hughes-High-School und die Walnut-Hill-High-School — führten die Abschlußfeier gemeinsam durch. Die Schulabgänger saßen auf der großen Bühne und blickten in den vollbesetzten Saal. Die Eröffnungsansprache fiel dem Redner der Woodward-High-School zu. Das Thema, das ich mir für diesen Anlaß gewählt hatte, lautete: „Schule und Staatsbürgerschaft“. Jeder der drei Redner wurde mit reichlich Beifall bedacht. Ich stand jetzt in meinem 18. Lebensjahr.
Meine Eltern erlaubten mir zu studieren, und so belegte ich an der Universität Cincinnati geisteswissenschaftliche Fächer. Ich hatte mich inzwischen entschieden, presbyterianischer Prediger zu werden.
Neben Latein studierte ich jetzt auch Griechisch. Welch ein Segen, daß ich bei Professor Arthur Kinsella das biblische Griechisch studieren durfte! Bei Dr. Joseph Harry, Verfasser einiger griechischer Werke, studierte ich zusätzlich das klassische Griechisch. Mir war klar, daß ich das biblische Griechisch beherrschen mußte, wenn ich presbyterianischer Prediger werden wollte. Daher ging ich mit größtem Eifer an das Studium und absolvierte mit Erfolg meine Semester.
Außer Griechisch und Latein, das ich an der Hochschule studierte, lernte ich noch Spanisch, das, wie ich feststellte, dem Latein ähnlich ist. Zu jener Zeit hätte ich mir wohl kaum träumen lassen, daß ich die Kenntnisse der spanischen Sprache in meinem christlichen Dienst später einmal gut gebrauchen könnte.
Es war ein Höhepunkt meiner Studienzeit, als Dr. Lyon, der Präsident der Universität, bei einer Studentenversammlung im Auditorium bekanntgab, daß ich ausgewählt worden sei, an der Staatsuniversität von Ohio an den Ausleseprüfungen für das Cecil-Rhodes-Stipendium teilzunehmen, das zum Studium in Oxford (England) berechtigte. Einer der Mitbewerber übertraf mich zwar auf dem Gebiet der Leichtathletik, aber da ich ansonsten vergleichbare Noten aufweisen konnte, wollte man mich zusammen mit ihm nach Oxford schicken. Ich hätte mich eigentlich glücklich schätzen können, die Anforderungen für das Stipendium erfüllt zu haben, und normalerweise wäre das auch sehr erfreulich gewesen.
„Das ist die Wahrheit!“
Jesus sagte bei einer Gelegenheit zu seinen Jüngern: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8:32). Im Jahre 1913 hatte mein Bruder Albert in Chicago „die Wahrheit“ kennengelernt. Auf welche Weise?
An einem Samstagabend im Frühjahr 1913 war Albert, der in Chicago arbeitete und im Wohnheim des CVJM untergekommen war, früh zu Bett gegangen. Plötzlich stürzte sein Zimmerpartner in den Raum und erzählte ihm, daß er in Schwierigkeiten sei. Er war an jenem Abend bei einem gewissen Herrn Hindman und seiner Frau eingeladen, und deren Tochter Nora hatte noch eine Freundin zu Besuch. Alberts Zimmerpartner war der Meinung, zwei Mädchen seien zuviel für ihn. Mein Bruder stand sofort auf und ging mit. Im Verlauf des Abends kam Alberts Zimmerpartner allerdings auch allein ganz hervorragend mit den beiden jungen Damen zurecht, denn Herr und Frau Hindman konzentrierten sich auf Albert und führten ihn in die Lehren der Watch Tower Bible and Tract Society ein.
Albert schickte mir eine Broschüre mit dem Titel Wo sind die Toten?, die Doktor John Edgar, ein Schotte aus der Versammlung der Internationalen Bibelforscher in Glasgow, geschrieben hatte. Ich legte die Broschüre zunächst einmal beiseite. Eines Abends, bevor ich zur Chorprobe ging, hatte ich etwas Zeit und begann, darin zu lesen. Die Broschüre war so interessant, daß ich sie nicht wieder aus der Hand legen konnte. Auch auf dem fast zwei Kilometer langen Weg zur presbyterianischen Kirche las ich weiter. Da die Kirchentür noch verschlossen war, setzte ich mich auf die kalte Steintreppe und las. Als der Organist kam und mich in die Broschüre vertieft sah, sagte er: „Das muß ja höchst interessant sein.“ „Das ist es ganz gewiß!“ erwiderte ich.
Da ich mich über die neuen Wahrheiten, die ich kennengelernt hatte, so sehr freute, kam mir der Gedanke, den Prediger, Dr. Watson, nach seiner Meinung über die Broschüre zu fragen. Noch am selben Abend überreichte ich sie ihm und fragte: „Dr. Watson, kennen Sie das schon?“
Er nahm die Broschüre, schlug sie auf und höhnte: „Ach, das scheint etwas von dem Russell-Zeug zu sein. Was weiß der schon von Eschatologie!“ Ich war wirklich betroffen, daß er sich so geringschätzig darüber äußerte. Als ich die Broschüre wieder an mich nahm und ging, dachte ich bei mir: „Es ist mir gleich, wie er darüber denkt. Das ist die WAHRHEIT!“
Kurz darauf kam Albert zu Besuch nach Hause und gab mir die ersten drei Bände der Schriftstudien von Charles Taze Russell. Albert führte mich auch in die Ortsversammlung der Bibelforscher ein, die direkt neben der presbyterianischen Kirche zusammenkamen. Ich freute mich über das, was ich lernte, und hielt recht bald die Zeit für gekommen, die Verbindung zur presbyterianischen Kirche abzubrechen.
Als Albert wieder einmal bei uns war, besuchten wir einen der Vorträge, die Dr. Watson jeden Sonntagabend hielt. Nach Schluß, als er den Gemeindemitgliedern zum Abschied die Hand schüttelte, gingen Albert und ich zu ihm. Ich sagte: „Dr. Watson, ich trete aus der Kirche aus.“
Seine Reaktion war: „Ich habe es gewußt! Ich habe es gewußt! Schon als ich sah, daß Sie dieses Russell-Zeug lasen. Diesem Russell würde ich nicht erlauben, auch nur den Fuß über meine Schwelle zu setzen!“ Er fügte hinzu: „Fred, sollten wir nicht besser in meine Sakristei gehen und dort gemeinsam beten?“ „Nein, Dr. Watson, mein Entschluß steht fest“, erwiderte ich.
Damit verließen Albert und ich die Kirche. Welch ein wunderbares Gefühl, von den Fesseln einer Religionsorganisation, die die Unwahrheit lehrt, frei zu sein! Es war wirklich beglückend, in die Versammlung der Internationalen Bibelforscher aufgenommen zu werden, die sich loyal an Gottes Wort hielt. Am 5. April 1914 symbolisierte ich in Chicago (Illinois) meine Weihung (wie wir damals die Hingabe nannten) durch die Wassertaufe.
Ich habe es nie bereut, daß ich — kurz bevor die Ergebnisse der Prüfung für das Cecil-Rhodes-Stipendium bekanntgegeben wurden — der zuständigen Behörde mitteilte, daß ich kein Interesse mehr an dem Stipendium für die Universität Oxford hatte und daß man mich von der Liste der Bewerber streichen möchte. Das tat ich, obwohl mir Dr. Joseph Harry, mein Professor für Griechisch, gesagt hatte, daß die Wahl auf mich gefallen sei.
Zwei Monate später, am 28. Juni 1914, wurden in Sarajevo (Bosnien) Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Ungarn und seine Gattin ermordet. Zur selben Zeit versammelten sich die Internationalen Bibelforscher zum dritten Tag ihrer Hauptversammlung in der Memorial Hall in Columbus (Ohio). Genau einen Monat danach, am 28. Juli 1914, brach der erste Weltkrieg der Menschheitsgeschichte aus. Wir Bibelforscher erwarteten für den 1. Oktober jenes Jahres das Ende der 2 520 Jahre dauernden Heidenzeiten.
Mit der Erlaubnis meines Vaters hatte ich im Mai 1914, einige Wochen vor dem Ende des dritten Semesters, das Studium an der Universität Cincinnati abgebrochen. Ich stellte mich sofort der Watch Tower Bible and Tract Society als Kolporteur oder Pionier (wie ein solcher Vollzeitverkündiger heute genannt wird) zur Verfügung. Damals war ich mit der Versammlung der Internationalen Bibelforscher in Cincinnati verbunden.
Später wurde ich in dieser Versammlung Ältester. Als die Vereinigten Staaten auf der Seite der Alliierten in den Weltkrieg eintraten und man die jungen Männer zum Militärdienst einzog, wurde ich als Prediger des Evangeliums davon befreit.
Bekanntschaft mit Bruder Russell
Zu den Ereignissen in meinem Leben, an die ich gern zurückdenke, gehören jene Gelegenheiten, bei denen ich die Freude hatte, mit Charles Taze Russell, dem ersten Präsidenten der Gesellschaft, zusammenzutreffen. Das erstemal begegnete ich ihm am Vortag der Premiere des Photo-Dramas der Schöpfung, die am Sonntag, dem 4. Januar 1914, in der Music Hall stattfand. An jenem Samstag sagte ein Ältester der Versammlung Cincinnati, der mich vor der Halle traf, zu mir: „Du, Bruder Russell ist dort drinnen. Wenn du hinter die Bühne gehst, kannst du ihn sehen.“ Voller Neugier ging ich hinein, und ehe ich mich’s versah, sprach ich mit ihm von Angesicht zu Angesicht. Er war gekommen, um sich die Vorbereitungen für die erste Aufführung des Photo-Dramas der Schöpfung anzusehen.
Im Jahre 1916 mußte Bruder Russell in Cincinnati einmal einige Stunden auf einen Anschlußzug warten. Eine Schwester und ich hatten davon gehört, und wir eilten zum Bahnhof, wo wir ihn und seinen Sekretär trafen. Er hatte Reiseproviant dabei und teilte ihn mit uns, als die Mittagszeit kam.
Nach dem Essen fragte er, ob jemand eine biblische Frage habe. Ich fragte, ob Adam auferstehen werde, da er doch ein reueloser, willentlicher Sünder gewesen sei. Augenzwinkernd antwortete Bruder Russell: „Bruder, du stellst eine Frage und beantwortest sie gleichzeitig. Wie lautete noch deine Frage?“
„Das vollendete Geheimnis“
Am 31. Oktober 1916, an einem Dienstag, starb Bruder Russell, ohne den siebenten Band der Schriftstudien geschrieben zu haben. Als Bruder Russell auf seinem Sterbebett (er starb in einem Zug auf der Rückfahrt von Kalifornien) von seinem Sekretär nach dem siebenten Band gefragt wurde, antwortete er: „Ein anderer wird ihn schreiben müssen.“
Im darauffolgenden Jahr, 1917, erschien der siebente Band der Schriftstudien in Form eines Kommentars zu den prophetischen Büchern Hesekiel und Offenbarung, auch enthielt er eine ausgezeichnete Erklärung des Hohenliedes. Die Gesellschaft plante eine weite Verbreitung dieser Veröffentlichung. Daher schickte sie die Bücher kartonweise an bestimmte Brüder in allen Versammlungen in den Vereinigten Staaten. Viele Kartons wurden an meine Adresse in der Baymiller Street 1810 in Cincinnati gesandt und zunächst einmal bei mir gelagert, da wir weitere Anweisungen erwarteten, wie der Inhalt verbreitet werden sollte.
Das vollendete Geheimnis enthielt acht Seiten mit Zitaten von prominenten Persönlichkeiten, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten. Aufgewiegelt von den Kirchen der Christenheit, der katholischen wie den protestantischen, erhob die Regierung der Vereinigten Staaten Einwände; daher wurden die Seiten 247 bis 254 herausgeschnitten. Später, als Das vollendete Geheimnis der Öffentlichkeit angeboten wurde, mußten wir den Leuten erklären, warum diese Seiten fehlten. Die Regierung der Vereinigten Staaten gab sich mit diesem Schritt jedoch nicht zufrieden, und da die Kirchen des Landes keine Ruhe gaben, wurde der gesamte siebente Band der Schriftstudien verboten.
Ich kann mich noch daran erinnern, daß an einem Sonntagmorgen, als ich an der Hintertür unseres Hauses beschäftigt war, einige Männer den Fußweg zu unserem Haus heraufkamen. Der Anführer drehte seinen Mantelaufschlag um, zeigte mir sein metallenes Abzeichen und forderte Einlaß ins Haus. Zwangsweise mußte ich sie hereinlassen und ihnen die Kartons mit dem Vollendeten Geheimnis zeigen. Ein paar Tage später schickten sie einen Lastwagen vorbei, mit dem alle Bücher abgeholt wurden.
Später erfuhren wir, daß Joseph F. Rutherford, der zweite Präsident der Watch Tower Society, und sechs seiner Mitarbeiter aus dem Hauptbüro in Brooklyn zu Unrecht wegen Einmischung in die Kriegsanstrengungen der Vereinigten Staaten vor Gericht gestellt worden waren. Man hatte sie zu viermal 20 Jahren Haft in der Bundesstrafanstalt in Atlanta verurteilt, wobei die Strafen gleichzeitig liefen. Der Krieg endete am 11. November 1918, und am 25. März 1919 wurden Bruder Rutherford und seine Mitarbeiter gegen Kaution freigelassen. Später wurden sie völlig rehabilitiert. Das Verbot des Buches Das vollendete Geheimnis wurde aufgehoben, und es durfte wieder frei verbreitet werden.
Wie sehr es doch unseren Geist belebte, als die Gesellschaft Vorkehrungen für den ersten Nachkriegskongreß traf! Er sollte vom 1. bis 8. September 1919 in Cedar Point, das in einem Erholungsgebiet an der Spitze einer Halbinsel bei Sandusky (Ohio) liegt, stattfinden. Ich freute mich sehr über das Vorrecht, diesen Kongreß zu besuchen.
Einladung ins Bethel
Im darauffolgenden Jahr, 1920, nahm Präsident Rutherford die Einladung an, in Cincinnati einen öffentlichen Vortrag zu halten. Zu jener Zeit führte ich den Kolporteurdienst durch. Bruder Rutherford ermunterte mich, ihm einen Brief zu schreiben und mich um den Betheldienst im Hauptbüro in Brooklyn zu bewerben.
Ich schickte ihm den Brief. Als man mir mitteilte, daß meine Bewerbung angenommen worden sei, fuhr ich mit dem Zug nach New York. Am 1. Juni 1920, einem Dienstag, kam ich abends dort an. Leo Pelle, ein alter Freund aus Louisville (Kentucky), holte mich ab und brachte mich ins Bethelheim. Am nächsten Tag wurde mir ein Zimmer unter dem Dach zugewiesen, das ich mit Hugo Riemer und Clarence Beatty teilte. In der Brooklyner Bethelfamilie war ich die Nummer 102.
Die erste Druckerei der Gesellschaft befand sich in der Myrtle Avenue 35. Im Keller stand unsere erste Rotationsmaschine, die wir wegen ihrer Größe das „Schlachtschiff“ nannten. Wir druckten Das Goldene Zeitalter, die neue Zeitschrift der Gesellschaft, die später in Trost umbenannt wurde und heute Erwachet! heißt. Meine Aufgabe bestand darin, die Zeitschriften, die durch einen Schlitz im Boden heraufkamen und mittels eines Bändersystems auf ein schräges Brett transportiert wurden, zu sammeln, geradezustoßen und aufzustapeln, damit sie später beschnitten und weiterbefördert werden konnten.
Samstag vormittags, wenn keine Zeitschriften gedruckt wurden, packten einige von uns Brüdern die Zeitschriften in braune Umschläge, die mit dem Namen und der Adresse der Abonnenten versehen waren. Dann klebten wir sie zu, so daß sie von der Post versandt werden konnten. Ich verrichtete diese Arbeit einige Monate lang, bis Donald Haslett, der am Kolporteurtisch diente, das Bethel verließ, da er Mabel Catel heiratete. Daraufhin wurde ich von der Myrtle Avenue 35 in das Büro der Gesellschaft in der Columbia Heights 124 versetzt, um die Stelle am Kolporteurtisch zu übernehmen.
Als Glied der New Yorker Versammlung durfte ich auch ein Buchstudium leiten, und zwar in der Wohnung der Familie Afterman in Ridgewood (Brooklyn).
Vorrechte bei Rundfunkübertragungen und auf Kongressen
Am Kolporteurtisch arbeitete ich bis 1926. Im Jahre 1924 hatte die Gesellschaft auf Staten Island ihre erste Rundfunkstation, WBBR, errichtet. Es war für mich ein großes Vorrecht, bei den Programmen der Gesellschaft mitzuwirken. Ich hielt nicht nur Vorträge, sondern sang auch Tenorsoli und spielte Mandoline zu einer Klavierbegleitung. Außerdem war ich zweiter Tenor im Männerquartett des WBBR. Natürlich war Bruder Rutherford, der Präsident der Gesellschaft, der Hauptsprecher des WBBR, und er hatte sehr viele Zuhörer.
Im Jahre 1922 wurde die Hauptversammlung der Watch Tower Bible and Tract Society zum zweitenmal in Cedar Point (Ohio) abgehalten. Bei dieser Gelegenheit wurden wir von Bruder Rutherford äußerst nachdrücklich aufgefordert: „Verkündet, verkündet, verkündet den König und sein Königreich!“
Zusammen mit Bruder Rutherford durfte ich im Jahre 1926 auf dem internationalen Kongreß in London dienen. Es war eines der kostbarsten Vorrechte, die mir in den 20er Jahren zuteil wurden. Vor Beginn seines öffentlichen Vortrags in der Royal Albert Hall, den er vor einem großen Publikum hielt, sang ich ein Tenorsolo, begleitet von der berühmten Orgel der Halle.
Am folgenden Abend sprach Bruder Rutherford zu einer jüdischen Zuhörerschaft über das Thema „Palästina den Juden — Warum?“, und ich sang aus Händels Messias das Solo „Tröste dich, mein Volk“. Einige tausend Juden besuchten diese besondere Veranstaltung. Zu jener Zeit wandten wir Prophezeiungen aus den Hebräischen Schriften fälschlich auf die fleischlichen, beschnittenen Juden an. Im Jahre 1932 öffnete uns Jehova jedoch die Augen, und wir erkannten, daß sich diese Prophezeiungen auf das geistige Israel beziehen.
Und welche Freude es war, 1931 auf dem Kongreß in Columbus (Ohio) zu sein, wo Bruder Rutherford den „neuen Namen“ — Jehovas Zeugen — unterbreitete, den wir alle begeistert annahmen! Unmittelbar danach wurde die Annahme dieses „neuen Namens“ von allen Versammlungen des Volkes Jehovas auf der ganzen Erde bestätigt. (Vergleiche Jesaja 62:2.)
Am Freitag, dem 31. Mai 1935, diente ich als Leiter des Orchesters, das sich direkt unterhalb des Podiums befand, auf dem Bruder Rutherford seinen epochemachenden Vortrag über Offenbarung 7:9-17 hielt, in dem er uns die wahre Identität der dort beschriebenen „großen Schar“ darlegte. Die sogenannte Jonadab-Klasse war zu diesem Kongreß besonders eingeladen worden, und der Grund dafür wurde allen klar, als Bruder Rutherford zeigte, daß die „große Schar“ (gemäß der Lutherbibel) oder „große Volksmenge“ aus den „anderen Schafen“ des „guten Hirten“, Jesus Christus, besteht (Johannes 10:14, 16). Es war ein begeisternder Anlaß. Wie ergreifend war es für mich, als sich am nächsten Tag — Samstag, dem 1. Juni — 840 Kongreßbesucher, die die Aussicht auf ein Leben im irdischen Paradies hatten, im Wasser untertauchen ließen als Zeichen ihrer Hingabe an Gott durch Christus! Von da an begann die Zahl der „anderen Schafe“ Christi ständig zuzunehmen, die Zahl der Glieder der „kleinen Herde“ geistgezeugter schafähnlicher Jünger des vortrefflichen Hirten, Jesus Christus, wurde dagegen immer kleiner (Lukas 12:32).
Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, schien das Ende der Einsammlung der „großen Volksmenge“ gekommen zu sein. Ich erinnere mich, daß Bruder Rutherford eines Tages zu mir sagte: „Nun Fred, es sieht so aus, als ob die ‚große Volksmenge‘ doch nicht so groß sein wird.“ Uns war nicht bewußt, daß noch eine gewaltige Einsammlung bevorstand.
Im Jahre 1934 hatte die Gesellschaft tragbare Grammophone eingeführt, und Aufnahmen der Vorträge von Präsident Rutherford wurden in Verbindung mit dem Angebot biblischer Literatur verwendet. Als die Aufnahmen auch in Spanisch zur Verfügung standen, bemühte ich mich, mit diesen Vorträgen Spanisch sprechende Personen in der Nachbarschaft unserer Druckerei in der Adams Street 117 zu erreichen. Durch Rückbesuche half ich dann den Interessierten, die biblischen Wahrheiten kennenzulernen. Schließlich hatte ich das Vorrecht, die erste spanischsprachige Versammlung in Brooklyn zu organisieren. Seit ihrer Gründung gehöre ich zur Versammlung Brooklyn-Spanisch I.
Wechsel in der Präsidentschaft der Gesellschaft
Nach Bruder Rutherfords Tod am 8. Januar 1942 folgte ihm Nathan H. Knorr als Präsident der Gesellschaft. Während noch der Zweite Weltkrieg tobte, änderte der öffentliche Vortrag, „Weltfrieden — ist er von Bestand?“, den er im Sommer 1942 hielt, unsere Ansicht über die unmittelbare Zukunft. Bald darauf, am 1. Februar 1943, einem Montag, eröffnete Bruder Knorr die Wachtturm-Bibelschule Gilead auf der Königreichsfarm, deren erste Klasse aus 100 Studenten bestand. Ich hatte das Vorrecht, bei den Eröffnungsfeierlichkeiten am Programm mitzuwirken. Die Brüder Eduardo Keller, Maxwell G. Friend, Victor Blackwell und Albert D. Schroeder dienten in der Schule als Unterweiser.
In seiner Eröffnungsansprache sagte Bruder Knorr, daß das Geld der Gesellschaft ausreiche, um die Schule fünf Jahre zu unterhalten. Aber wie man sieht, hat Jehova Gott, der Allmächtige, dafür gesorgt, daß die Schule bereits neunmal so lange besteht!
Es war ein unschätzbares Vorrecht, mit Nathan H. Knorr zusammenzuarbeiten. Ich hätte mir wohl kaum träumen lassen, daß er einmal der dritte Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society werden würde, als er am 4. Juli 1923 im Little Lehigh River außerhalb seiner Heimatstadt Allentown (Pennsylvanien) untergetaucht wurde, nachdem ich die Taufansprache gehalten hatte.
Unter der Präsidentschaft von Bruder Knorr unternahm ich ausgedehnte Reisen und sprach vor großen Mengen von Brüdern in allen Teilen der Welt — einschließlich Lateinamerikas und Australiens —, um sie zu ermuntern, treu zu bleiben. So diente ich zum Beispiel im Jahre 1955, als das Werk der Zeugen Jehovas in Spanien noch verboten war, auf einem geheimen Kongreß, der in den Wäldern außerhalb von Barcelona abgehalten wurde. Unsere Zusammenkunft mit den spanischen Brüdern wurde von bewaffneten Geheimpolizisten umstellt, und alle Männer brachte man auf Lastwagen in das Polizeipräsidium. Dort wurden wir festgehalten und verhört. Da ich amerikanischer Staatsbürger bin, tat ich so, als verstünde ich kein Spanisch. Außerdem waren zwei Schwestern entkommen und hatten das amerikanische Konsulat von meiner Festnahme informiert, woraufhin sich dieses mit der Polizei in Verbindung setzte. Da man internationale Verwicklungen vermeiden wollte, wurden zunächst die Ausländer und später auch die anderen Brüder auf freien Fuß gesetzt. Danach versammelten sich einige von uns im Haus der Brüder Serrano, und wir freuten uns sehr, daß Jehova sein Volk befreit hatte. Im Jahre 1970 wurde Jehovas Zeugen in Spanien die gesetzliche Anerkennung gewährt. In der Nähe von Madrid befindet sich heute ein Zweigbüro, und im vergangenen Jahr berichteten in Spanien über 65 000 Königreichsverkündiger. Im ganzen Land gibt es Versammlungen.
Am 8. Juni 1977 starb Nathan H. Knorr und beendete damit seinen irdischen Lauf. Ich folgte ihm im Amt des Präsidenten der Gesellschaft. Bruder Knorr hat über 35 Jahre als Präsident geamtet, länger als seine beiden Vorgänger, Bruder Russell und Bruder Rutherford. Als Glied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas wurde mir die Aufgabe übertragen, im Verlagskomitee und im Schreibkomitee zu dienen.
Es ist wirklich ein großes Vorrecht und eine Freude, weiterhin im Büro der Gesellschaft in der Columbia Heights 25 tätig zu sein. An jedem Arbeitstag ist ein Fußmarsch zwischen dem Bürogebäude und dem Bethelheim erforderlich — ein ausgezeichnetes Training für einen alternden Körper. Trotz meiner 93 Jahre und meines schwindenden Augenlichts kann ich mich sehr glücklich schätzen, daß Jehova mich mit einer guten Gesundheit gesegnet hat, so daß ich in den 66 Jahren meines Betheldienstes bisher keinen Arbeitstag wegen Krankheit versäumt habe und immer noch die volle Zeit im Dienst stehen kann. Es ist wirklich eine Gunst von seiten Gottes, daß ich seit 1920 hier dienen darf. So habe ich das Wachstum und die Ausdehnung der Organisation im Hauptbüro in Brooklyn und auf der ganzen Welt beobachten können.
Während ich dies schreibe, blicke ich zusammen mit Millionen von Mitzeugen voll Vertrauen zu dem universellen Souverän, Jehova Gott, und seinem Heerführer, Jesus Christus, der über die unzähligen Scharen von Seraphen, Cheruben und heiligen Engeln im Himmel gesetzt ist, dem entgegen, was gemäß der Bibel vor uns liegt: der Vernichtung Babylons der Großen, des Weltreiches der falschen Religion, und Harmagedon, dem „Krieg des großen Tages Gottes, des Allmächtigen“, dessen Höhepunkt der Sieg der Siege Jehovas Gottes, des universellen Souveräns, sein wird, der „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ ist. Halleluja! (Psalm 90:2, Elberfelder Bibel).
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Inmitten von anderen Bethelmitarbeitern (1920)
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Mit N. H. Knorr (1961)
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Auf einem Kongreß in Japan (1978)