„Hier bin ich! Sende mich“
VON WILFRED JOHN ERZÄHLT
Eine bewaffnete birmanische Wachmannschaft griff uns von beiden Seiten des Flusses an. Mit aufgepflanztem Bajonett und angelegtem Gewehr gingen sie durch das hüfthohe Wasser und umringten uns unter der Brücke.
MEIN Partner und ich waren zu Tode erschrocken. Was war überhaupt los? Obwohl wir die Sprache nicht verstanden, hatten wir schnell begriffen: Wir waren verhaftet. Nur mit einem Handtuch um die Hüften wurden wir ohne Formalitäten zu einer Polizeistation in der Nähe eskortiert und von einem Englisch sprechenden Offizier verhört.
Es war 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, und man verdächtigte uns, Saboteure zu sein. Als wir unser christliches Predigtwerk zur Zufriedenheit des Offiziers erklärt hatten, sagte er uns, wir hätten Glück gehabt, mit dem Leben davongekommen zu sein. Die meisten Verdächtigen würden erschossen, nicht befragt. Wir dankten Jehova und nahmen uns den Rat des Offiziers zu Herzen, uns in Zukunft nicht bei Brücken aufzuhalten.
Wie geriet ich in eine solche Situation in Birma (jetzt Myanmar)? Ich will es erklären und meine Vorgeschichte ein wenig schildern.
Eine schon früh getroffene Wahl
Ich wurde 1917 in Wales geboren, und als ich sechs Jahre alt war, zogen meine Eltern mit meinem jüngeren Bruder und mir nach Neuseeland, wo ich auf dem auf Milchvieh spezialisierten Bauernhof meines Vaters aufwuchs. Eines Tages brachte er ein Paket alte Bücher mit nach Hause, die er in einem Secondhandladen gekauft hatte. Darunter befanden sich zwei Bände der Schriftstudien, die von der Watch Tower Bible and Tract Society herausgegeben worden waren. Meine Mutter schätzte die Bücher außerordentlich, und wie Eunike, die Mutter des Timotheus, so förderte sie in mir den Wunsch, in meiner Jugend den Interessen des Königreiches Jehovas zu dienen (2. Timotheus 1:5).
Im Jahre 1937 stand ich vor der Wahl, entweder den Bauernhof meines Vaters zu übernehmen oder wie der Prophet Jesaja zu Jehova zu sagen: „Hier bin ich! Sende mich“ (Jesaja 6:8). Ich war jung und gesund und hatte keinerlei Verpflichtungen. Ich kannte das Leben auf dem Bauernhof, und es gefiel mir. Als Vollzeitdiener oder Pionier hatte ich jedoch keine Erfahrung. Wofür sollte ich mich entscheiden — für die Arbeit auf dem Bauernhof oder für den Pionierdienst?
Eine Quelle der Ermunterung waren Vortragsredner aus dem australischen Zweigbüro der Zeugen Jehovas. Sie besuchten unsere Gegend in Neuseeland und spornten mich an, meine kostbaren Jugendjahre zu gebrauchen, um Gott zu dienen (Prediger 12:1). Ich besprach die Angelegenheit mit meinen Eltern, und sie waren sich darüber einig, daß es von Weisheit zeugt, Gottes Willen an die erste Stelle zu setzen. Ich dachte auch über die Worte Jesu Christi aus der Bergpredigt nach: „So fahrt denn fort, zuerst das Königreich und SEINE [Gottes] Gerechtigkeit zu suchen, und alle diese anderen Dinge werden euch hinzugefügt werden“ (Matthäus 6:33).
Meine Wahl war getroffen. Weil es damals in Neuseeland kein Zweigbüro der Zeugen Jehovas gab, wurde ich eingeladen, im australischen Zweigbüro in Sydney zu dienen. Also ging ich 1937 an Bord eines Schiffes, das nach Australien fuhr, um ein Vollzeitdiener Jehovas zu werden.
„Was für eine Arbeit werde ich wohl zu tun haben?“ überlegte ich. Doch was würde das schon ausmachen? Ich hatte praktisch zu Jehova gesagt: „Hier bin ich. Gebrauche mich, wo du willst.“ Zwei Jahre lang half ich mit, Grammophone herzustellen, die Jehovas Zeugen damals verwendeten, um biblische Vorträge bei Wohnungsinhabern abzuspielen. Im Zweigbüro wurde ich jedoch hauptsächlich für die Arbeit im Literaturlager geschult.
Weiter nach Singapur
Im Jahre 1939 erhielt ich eine Zuteilung im Fernen Osten — ich sollte im Literaturlager der Gesellschaft in Singapur dienen. Das Lager war das Zentrum, da dort die Literatur aus Australien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ankam und dann nach vielen asiatischen Ländern versandt wurde.
In Singapur, wo sich orientalische und europäische Kulturen vermischten, wurden viele Sprachen gesprochen. Malaiisch war die allgemeine Verkehrssprache, und wir Ausländer mußten sie lernen, um von Haus zu Haus predigen zu können. Wir hatten sogenannte Zeugniskarten in etlichen Sprachen. Es handelte sich um eine gedruckte kurze Darlegung der Königreichsbotschaft.
Anfänglich lernte ich den Text der malaiischen Zeugniskarte auswendig und erweiterte dann allmählich meinen Wortschatz in dieser Sprache. Wir hatten aber auch biblische Literatur in vielen anderen Sprachen bei uns, beispielsweise für die indische Bevölkerung Publikationen in Bengali, Gudscharati, Hindi, Malajalam, Tamil und Urdu. Für mich war es etwas völlig Neues, Menschen so vieler Sprachgruppen zu treffen.
Ich erinnere mich noch sehr gut an die schreckenerregende Durchsage im September 1939: Krieg in Europa! Wir fragten uns: „Wird er eskalieren und auf den Fernen Osten übergreifen?“ Mir schien es der Auftakt von Harmagedon zu sein — gerade zur rechten Zeit, dachte ich. Ich empfand Zufriedenheit, weil ich meine Jugend völlig für das Richtige einsetzte.
Neben meiner Arbeit im Literaturlager hatte ich einen vollen Anteil an den Versammlungszusammenkünften und am Predigtdienst. Es wurden Bibelstudien durchgeführt, und einige Menschen reagierten auf das Gelernte und wollten sich taufen lassen. Sie wurden an einen Strand in der Nähe gebracht und im warmen Wasser des Hafens von Singapur untergetaucht. Wir beschlossen sogar, einen Kongreß abzuhalten, und setzten heimlich unter den Interessierten Einladungen in Umlauf. Zu unserer Freude kamen ungefähr 25 Personen zu dem nach unserer Meinung letzten Kongreß vor Harmagedon.
Durch den Krieg war die Kommunikation zwischen den Zweigbüros der Gesellschaft stark eingeschränkt. Unser Literaturlager in Singapur erhielt zum Beispiel eine kurze Nachricht, daß drei deutsche Pioniere auf dem Weg in eine nicht genannte Zuteilung seien und irgendwann an Bord eines Schiffes unbekannten Namens in Singapur ankommen würden. Einige Wochen darauf trafen sie ein, und wir verbrachten zehn anregende Stunden miteinander. Zwar hatten wir Verständigungsschwierigkeiten, aber wir konnten verstehen, daß ihr Ziel Schanghai war.
Meine Zuteilung in Schanghai
Ein Jahr später erhielt auch ich die Zuteilung, in Schanghai zu dienen. Ich hatte keine Straßenangabe, sondern nur ein Postfach. Nachdem man mich im Postamt einem gründlichen Kreuzverhör unterzogen hatte, konnte ich mich hinreichend ausweisen, so daß mir die Straße und Hausnummer der Gesellschaft mitgeteilt wurden. Doch der Chinese, der dort wohnte, sagte mir, daß das Zweigbüro umgezogen sei und es keine Nachsendeadresse gebe.
„Was mach’ ich jetzt?“ überlegte ich. Ich betete im stillen um Führung. Als ich aufsah, fiel mein Blick auf drei Männer, die etwas größer waren als die Leute im allgemeinen und irgendwie anders aussahen. Sie sahen genauso aus wie die drei Deutschen, die in Singapur für einige wenige Stunden haltgemacht hatten. Ich stellte mich ihnen schnell in den Weg.
„Entschuldigung“, stammelte ich aufgeregt. Sie blieben stehen und starrten mich mit forschenden Blicken an. „Singapur. Jehovas Zeugen. Erinnert ihr euch an mich?“
Nach einigen Augenblicken sagten sie: „Ja! Ja! Ja!“ Wir fielen uns in die Arme, und mir rannen Freudentränen über die Wangen. Wie war es möglich, daß unter Millionen Menschen ausgerechnet diese drei zu dieser Zeit an diesem Ort waren! Ich sagte einfach: „Danke, Jehova.“ Die einzigen Zeugen in Schanghai waren damals drei chinesische Familien, die drei Deutschen und ich.
Hongkong und dann Birma
Nachdem ich einige Monate in Schanghai tätig war, erhielt ich Hongkong als Zuteilung. Da mein voraussichtlicher Pionierpartner, den ich aus Australien erwartete, nicht kam, war ich auf mich selbst gestellt — ich war der einzige Zeuge in der Kronkolonie. Ich mußte mich wieder darauf besinnen, daß ich zu Jehova gesagt hatte: „Hier bin ich! Sende mich.“
Meine Tätigkeit richtete sich hauptsächlich auf Englisch sprechende Chinesen, doch ich fand es schwierig, durch die Eingangstore zu den Häusern zu gelangen, weil die dort postierten Diener nur Chinesisch sprachen. Ich lernte also etwas Chinesisch, und zwar einige Brocken in den beiden am häufigsten gebrauchten Dialekten. Es klappte! Ich trat an die wachhabenden Diener heran, zeigte meine Geschäftskarte, sagte meine wenigen chinesischen Wörter auf und wurde dann gewöhnlich hineingeleitet.
Als ich einmal eine Schule in der Absicht besuchte, den Schuldirektor zu sprechen, ging ich genauso vor. Eine junge Lehrerin kam zu mir ins Foyer. Ich folgte ihr durch einige Klassenzimmer, erwiderte die respektvollen Gesten der Kinder und bereitete mich darauf vor, dem Direktor vorgestellt zu werden. Die Lehrerin klopfte an eine Tür, öffnete sie, trat zurück und ließ mich hineingehen. Zu meiner Entrüstung hatte sie mich höflich zur Toilette gebracht! Mein Chinesisch schien mißverstanden worden zu sein, und wie mir der Direktor später erzählte, war ich versehentlich für einen Installations- und Abwasserinspektor gehalten worden.
Nach viermonatiger Tätigkeit teilte mir die Polizei von Hongkong mit, daß unser Predigtwerk verboten worden sei und daß ich entweder aufhören müsse zu predigen oder ausgewiesen würde. Ich entschied mich für die Ausweisung, da anderswo immer noch die Möglichkeit bestand, das Predigen fortzusetzen. Während ich in Hongkong war, hatte ich 462 Bücher abgegeben und zwei Personen geholfen, den Predigtdienst aufzunehmen.
Von Hongkong aus wurde ich Birma zugeteilt. Dort war ich Pionier und half auch im Literaturlager in Rangun (jetzt Yangon) mit. Zu meinen interessantesten Erfahrungen gehörte das Predigen in den Städten und Dörfern an der Hauptstraße von Rangun nach Mandalay und noch weiter bis Lashio, einer Stadt an der Grenze nach China. Wir, mein Pionierpartner und ich, konzentrierten uns auf die Englisch sprechende Bevölkerung und nahmen einige hundert Abonnements auf die Zeitschrift Trost (jetzt Erwachet!) auf. Übrigens wurde diese Hauptstraße von Rangun nach Mandalay später als Birma-Straße bekannt, auf der amerikanisches Kriegsgerät nach China gelangte.
Wenn wir mühsam durch knöcheltiefen Staub stapften, hatten wir oft das Gefühl, uns gründlich waschen zu müssen. Das führte zu dem eingangs erzählten Vorfall — als wir festgenommen wurden, weil wir in einem Fluß unter einer Brücke badeten. Bald darauf zwangen uns militärische Operationen und Krankheit, nach Rangun zurückzukehren. Ich konnte in Birma bleiben, bis ich 1943 wegen zunehmender Kampfhandlungen nach Australien zurückkehren mußte.
Wieder in Australien
In der Zwischenzeit war die Tätigkeit der Zeugen Jehovas in Australien verboten worden. Das Verbot wurde jedoch bald aufgehoben, und schließlich lud man mich wieder ein, im Zweigbüro zu arbeiten. Später, 1947, heiratete ich Betty Moss, die im Zweigbüro der Gesellschaft in Australien arbeitete. Bettys Eltern waren Pioniere, und sie hatten Betty und ihren Bruder Bill ermuntert, den Pionierdienst zu ihrer Laufbahn zu machen. Betty hatte mit dem Pionierdienst an ihrem letzten Schultag begonnen, mit 14 Jahren. Ich stellte mir vor, daß wir gut zusammenpassen würden, da auch sie zu Jehova gesagt hatte: „Hier bin ich! Sende mich.“
Als wir ein Jahr verheiratet waren, erhielt ich die Einladung zum Kreisdienst und besuchte Versammlungen der Zeugen Jehovas. Im australischen Busch zu arbeiten war eine echte Herausforderung. Plötzliche Überschwemmungen erschwerten häufig das Reisen, besonders auf den dann sehr rutschigen Lehmwegen. Im Sommer kletterten die Temperaturen auf über 40 °C im Schatten. Da wir in einem Zelt wohnten, fanden wir, daß die Sommer glühend heiß, fast unerträglich waren und die Winter bitter kalt.
Damals gab es nur zwei Bezirke in Australien, und es bereitete mir Freude, als Bezirksaufseher zu dienen. Donald MacLean war in dem einen Bezirk tätig und ich in dem anderen. Dann tauschten wir die Bezirke. Es ist begeisternd, etwas über die Versammlungen zu lesen, die jetzt dort bestehen, wo wir früher gedient haben. Der Samen der biblischen Wahrheit ist wirklich aufgegangen und hat Frucht getragen.
Dorthin zurück, wo alles begann
Im Jahre 1961 hatte ich das Vorrecht, die Missionarschule Gilead zu besuchen, und zwar die erste Klasse, nachdem die Schule nach Brooklyn (New York) verlegt worden war. Ich war schon mehrmals eingeladen worden, sie zu besuchen, konnte die Einladungen jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht annehmen. Als der zehnmonatige Kurs zu Ende ging, wurde ich gebeten, meine neue Zuteilung in Neuseeland anzutreten.
Seit Januar 1962 sind Betty und ich also hier in Neuseeland. Man bezeichnet es oft als eine Perle des Pazifiks. Was die Theokratie betrifft, so war es eine Freude, sowohl im Kreisdienst als auch im Bezirksdienst zu stehen. Seit April 1979, also 14 Jahre, arbeiten wir im neuseeländischen Zweigbüro.
Wir beide, Betty und ich, sind jetzt Mitte 70, und wir haben zusammen 116 Jahre ununterbrochen im Vollzeitdienst gestanden. Betty begann mit dem Pionierdienst im Januar 1933 und ich im April 1937. Wir erlebten viele Freuden; zum Beispiel konnten wir beobachten, daß unsere geistigen Kinder und Enkel das getan haben, was wir in unserer Jugend taten — auch sie haben den Rat aus Prediger 12:1 befolgt: „Gedenke nun deines großen Schöpfers in den Tagen deines Jünglingsalters.“
Welch ein Vorrecht ist es doch, praktisch unser ganzes Leben damit verbracht zu haben, die gute Botschaft von Gottes Königreich zu predigen und Jünger zu machen, wie es unser Herr Jesus Christus geboten hat! (Matthäus 24:14; 28:19, 20). Wir sind sehr glücklich, daß wir auf Gottes Einladung so geantwortet haben wie der Prophet Jesaja vor langer Zeit, nämlich: „Hier bin ich! Sende mich.“