Ist es wirklich Diebstahl?
ABIODUN war Oberkellner in einem großen Hotel in Nigeria. Als er eines Abends den Bankettsaal abschließen wollte, fand er einen Geldbeutel mit umgerechnet über 3 000 DM. Unverzüglich meldete er den Fund, und die Eigentümerin des Geldes, die in dem Hotel zu Gast war, holte es später ab. Die Hotelverwaltung belohnte Abiodun mit einer doppelten Beförderung und verlieh ihm die Auszeichnung „bester Angestellter des Jahres“. Auch die Frau, die das Geld verloren hatte, belohnte ihn.
Das örtliche Nachrichtenmagazin Quality berichtete über das Geschehen und nannte Abiodun einen „barmherzigen Samariter“. Auf die Frage von Quality, ob er denn versucht gewesen sei, das Geld zu behalten, erwiderte Abiodun, er sei ein Zeuge Jehovas, weshalb er Fundsachen, die ihm nicht gehörten, immer dem Eigentümer zurückgeben würde.
Die Ehrlichkeit Abioduns überraschte viele Leute. Seine Glaubensbrüder freuten sich darüber, aber sie waren keineswegs überrascht. Überall auf der Welt sind Jehovas Zeugen dafür bekannt, sich an hohe Grundsätze zu halten. Ehrlichkeit ist unter ihnen nicht die Ausnahme, sondern die Regel, ja sie ist ein unerläßlicher Bestandteil des echten Christentums.
Es kann jedoch vorkommen, daß aufgrund gewisser Umstände die Grenzen verwischen, wenn es darum geht, was ehrlich ist und was nicht. Betrachten wir einmal die folgende Situation. Festus, der für die Spenden und die Kontenführung in einer Versammlung der Zeugen Jehovas in Westafrika verantwortlich war, brauchte dringend Geld.a Seine Frau mußte sich einer schweren Operation unterziehen, die nach Auskunft der Ärzte nicht hinausgezögert werden durfte. Das Krankenhaus verlangte die Hälfte der Behandlungskosten im voraus.
Festus hatte das Geld nicht. Er bat mehrere Leute um einen Kredit, wurde aber abgewiesen. Darauf dachte er an das Geld, das ihm anvertraut war, und überlegte sich folgendes: „Darf ich das Leben meiner Frau aufs Spiel setzen, wenn ich etwas tun kann, um dies zu verhindern? Warum nicht einfach das Geld aus der Versammlungskasse ‚ausleihen‘? Ich kann es ja zurückgeben, wenn ich das Geld erhalte, das andere mir schulden.“
Festus nahm das Geld, das ihm gar nicht gehörte, um die Krankenhausbehandlung zu bezahlen. War seine Überlegung richtig? War seine Handlungsweise angesichts der Notsituation, in der er sich befand, gerechtfertigt?
Wem gehört das Geld?
Um diese Fragen zu untersuchen, möchten wir zunächst einige Gedanken betrachten, die mit der Herkunft und dem Zweck der Gelder zu tun haben, deren sich Festus bediente. Es sind Gelder, die von den Gliedern der Versammlung freiwillig gespendet werden, weil sie damit die wahre Anbetung Jehovas unterstützen möchten (2. Korinther 9:7). Von dem Geld werden keine Gehälter gezahlt, denn niemand wird für seine Tätigkeit in der Versammlung bezahlt. Im Gegenteil, das Geld wird vor allem dafür verwandt, eine Zusammenkunftsstätte, gewöhnlich einen Königreichssaal, zu finanzieren und zu unterhalten. Das ermöglicht es allen, ob jung oder alt, reich oder arm, sich an einem passenden und angenehmen Ort zu biblischer Unterweisung zu versammeln.
Wem gehört das Geld? Es gehört der Versammlung insgesamt. Kein einzelner bestimmt, wie das Geld verwendet wird. Zwar veranlaßt die Ältestenschaft, daß die regulären Ausgaben der Versammlung beglichen werden, doch wenn eine außergewöhnliche Ausgabe erforderlich wird, unterbreiten die Ältesten die Angelegenheit der Versammlung und bitten um deren Zustimmung.
Ausgeliehen oder gestohlen?
Festus hatte vor, das Geld so schnell wie möglich zurückzugeben, und betrachtete es deshalb als ausgeliehen. Allerdings gebraucht das Deutsche Universalwörterbuch (Duden) ein anderes Wort für „etw[as], was einem nicht gehört, heimlich, unbemerkt an sich nehmen, in seinen Besitz bringen“ — nämlich „stehlen“. Ohne Erlaubnis oder Genehmigung nahm Festus Geld, das der Versammlung gehörte. Demnach hatte er sich wirklich des Diebstahls schuldig gemacht. Er war ein Dieb.
Freilich gibt es Unterschiede in der Beurteilung, wie verwerflich eine Tat ist, je nachdem, welcher Beweggrund dem Diebstahl zugrunde liegt. Das wird am Beispiel von Judas Iskariot deutlich, dem das Geld, das Jesus und den treuen Aposteln gehörte, anvertraut worden war. Die Bibel sagt von Judas, daß er „ein Dieb war und die Kasse hatte und die Einlagen wegzutragen pflegte“ (Johannes 12:6). Angetrieben von einem bösen Herzen und purer Habgier, ging Judas vom Schlechten zum Schlimmeren über. Letztendlich sank er so tief, daß er den Sohn Gottes für lächerliche 30 Silberstücke verriet (Matthäus 26:14-16).
Festus hingegen handelte aus Sorge um seine kranke Frau. Soll das heißen, ihm sei nichts vorzuwerfen? Keineswegs. Beachten wir, was die Bibel über einen vergleichbaren, anscheinend aus einer Notsituation heraus begangenen Diebstahl sagt: „Man verachtet einen Dieb nicht, bloß weil er Diebstahl begeht, um seine Seele zu füllen, wenn er hungrig ist. Wenn aber ertappt, wird er es siebenfach ersetzen; alle wertvollen Dinge seines Hauses wird er geben“ (Sprüche 6:30, 31). Mit anderen Worten, der Dieb muß, wenn man ihn ertappt, die ganze Härte der Strafe über sich ergehen lassen. Nach dem mosaischen Gesetz mußte ein Dieb für das Gestohlene Ersatz leisten. Statt also zum Diebstahl aufzufordern oder ihn zu entschuldigen, warnt die Bibel davor, daß Stehlen — selbst wenn man sich in einer Notsituation befindet — zu wirtschaftlichem Verlust, zur Schande und, was am schwersten wiegt, zum Verlust der Anerkennung Gottes führen kann.
Als Zeugen Jehovas müssen alle echten Christen, insbesondere die, denen Verantwortung in der Versammlung übertragen wurde, vorbildlich sein, „frei von Anklage“ (1. Timotheus 3:10). Die Zahlungen, die Festus erwartete, blieben aus, weshalb er das Geld, das er genommen hatte, nicht zurückzahlen konnte. Man fand heraus, was er getan hatte. Was geschah mit ihm? Wäre er ein reueloser Dieb gewesen, hätte man ihn aus der reinen Christenversammlung ausgeschlossen (1. Petrus 4:15). Doch es tat ihm von Herzen leid, und er bereute. Darum durfte er in der Versammlung bleiben, verlor allerdings seine Dienstvorrechte.
Auf Gott vertrauen
Warnend schrieb der Apostel Paulus, daß Schmach auf den Namen Gottes und auf das Volk für seinen Namen gebracht werden kann, wenn jemand, der vorgibt, Jehova zu dienen, stiehlt. „Du ..., der du einen anderen lehrst, lehrst dich selbst nicht? Du, der du predigst: ‚Stiehl nicht‘, stiehlst du? Denn ‚der Name Gottes wird euretwegen unter den Nationen gelästert‘“ (Römer 2:21, 24).
Agur, ein weiser Mann des Altertums, betonte denselben Punkt. Er betete darum, ‘nicht zu verarmen und tatsächlich zu stehlen und sich am Namen seines Gottes zu vergreifen’ (Sprüche 30:9). Ist uns aufgefallen, daß dieser weise Mann erkannte, Armut könne durchaus Umstände herbeiführen, unter denen selbst ein Gerechter versucht sein könnte zu stehlen? In der Tat kann in Notzeiten der Glaube eines Christen an die Fähigkeit Jehovas, für die Bedürfnisse seiner Diener zu sorgen, auf die Probe gestellt werden.
Loyale Zeugen Jehovas jedoch glauben fest, auch wenn sie arm sind, daß Gott „denen, die ihn ernstlich suchen, ein Belohner wird“ (Hebräer 11:6). Sie wissen, daß Jehova seine treuen Diener belohnt, indem er ihnen hilft, ihre Bedürfnisse zu stillen. Das verdeutlichte Jesus in der Bergpredigt mit den Worten: „Macht euch nie Sorgen und sprecht: ‚Was sollen wir essen?‘ oder: ‚Was sollen wir trinken?‘ oder: ‚Was sollen wir anziehen?‘ ... Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr all diese Dinge benötigt. So fahrt denn fort, zuerst das Königreich und SEINE Gerechtigkeit zu suchen, und alle diese anderen Dinge werden euch hinzugefügt werden“ (Matthäus 6:31-33).
Auf welche Weise sorgt Gott für Bedürftige in der Christenversammlung? In vielerlei Hinsicht. Zum Beispiel gebraucht er Glaubensbrüder. Gottes Diener erweisen einander echte Liebe. Sie nehmen die biblische Ermahnung ernst: „Wer immer aber die Mittel dieser Welt zum Lebensunterhalt hat und seinen Bruder Not leiden sieht und dennoch die Tür seiner Gefühle innigen Erbarmens vor ihm verschließt, wie bleibt da die Liebe Gottes in ihm? Kindlein, laßt uns lieben, nicht mit Worten noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“ (1. Johannes 3:17, 18).
In mehr als 73 000 Versammlungen auf der ganzen Welt bemühen sich über viereinhalb Millionen Zeugen Jehovas gewissenhaft, Gott in Übereinstimmung mit seinen gerechten Grundsätzen zu dienen. Sie wissen, daß Gott seine loyalen Diener nie im Stich lassen wird. Wer Jehova schon seit vielen Jahren dient, stimmt voller Überzeugung König David zu, der schrieb: „Ein junger Mann bin ich gewesen, ich bin auch alt geworden, und doch habe ich keinen Gerechten gänzlich verlassen gesehen noch seine Nachkommen nach Brot suchen“ (Psalm 37:25).
Wieviel besser ist es doch, sein Vertrauen auf Gott zu setzen, der diese Worte inspirierte, als sich jemals zu einem Diebstahl verleiten zu lassen und womöglich für immer die Gunst Gottes zu verlieren! (1. Korinther 6:9, 10).
[Fußnote]
a Der Name wurde geändert.