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Deutschland (Teil 1)Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974
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DIE VERFOLGUNG NIMMT ZU
Im Jahre 1931 übernahmen wieder einmal die bayrischen Behörden die Führung im Kampf gegen Gottes Volk. Durch eine falsche Anwendung der Notverordnung vom 28. März 1931, bei der es um politische Ausschreitungen ging, sahen sie plötzlich eine Gelegenheit, die Literatur der Bibelforscher zu verbieten. Am 14. November 1931 wurden unsere Bücher in München beschlagnahmt. Vier Tage später gaben die Polizeibehörden von München eine Erklärung heraus, die für ganz Bayern galt und durch die sämtliche Literatur der Bibelforscher verboten wurde.
Natürlich legten die Brüder dagegen sofort Berufung ein. Im Februar des Jahres 1932 erhielt die Regierung von Oberbayern das Verbot aufrecht. Gegen diesen Beschluß wurde sogleich beim bayrischen Innenministerium eine Beschwerde eingelegt, die am 12. März 1932 als „unbegründet“ abgewiesen wurde.
Der Polizeipräsident von Magdeburg dagegen stellte sich am 14. September 1932 auf unsere Seite, indem er erklärte: „Hiermit [wird] bescheinigt, daß die Internationale Bibelforscher-Vereinigung als eine Gemeinschaft zu betrachten ist, die sich ausschließlich mit biblischreligiösen Fragen befaßt. Sie ist bisher nicht politisch hervorgetreten. Staatsfeindliche Tendenzen sind nicht beobachtet worden.“
Aber die Schwierigkeiten nahmen von Monat zu Monat zu, selbst in anderen Ländern des Deutschen Reiches. Paul Köcher war mit sechs Sonderpionieren nach Simmern gefahren, um die gekürzte Fassung des Photo-Dramas an zwei Abenden vorzuführen. Er wurde jedoch gezwungen, die Vorführung zu unterbrechen, denn als David mit seiner Harfe gezeigt und ein Psalm von ihm zitiert wurde, begann der ganze Saal zu toben. Schnell stellte es sich heraus, daß es sich bei den Anwesenden fast ausschließlich um Angehörige der SA (Hitlers „Sturmabteilung“) handelte.
Ähnliche Erfahrungen machten wir auch im Saargebiet. Im Dezember 1931 mußte die Regierung gebeten werden, die Polizeibehörden anzuweisen, unsere Arbeit nicht behindern zu lassen. Diese Anweisung wurde auch herausgegeben, aber sie erregte so den Zorn der Geistlichkeit, daß sie wöchentlich von der Kanzel vor den Bibelforschern warnte. Die Feindseligkeit nahm immer mehr zu, und gegen Ende des Jahres 1932 waren nicht weniger als 2 335 Gerichtsfälle anhängig. Trotz dieser Tatsache erwies sich das Jahr 1932 als das bis dahin beste Jahr, was die Herstellung von Publikationen betraf.
Am 30. Januar 1933 übernahm Hitler das Amt des Reichskanzlers. Am 4. Februar erließ er eine Verordnung, die es der Polizei gestattete, Literatur zu beschlagnahmen, die die „öffentliche Ordnung und Sicherheit“ gefährdete. Durch diese Verordnung wurde auch die Versammlungs- und Pressefreiheit eingeschränkt.
DANKSAGUNGSPERIODE DES ÜBERRESTES
Das Gedächtnismahl fiel in jenem Jahr auf den 9. April, und in Übereinstimmung damit wurde die „Danksagungsperiode des Überrestes“ für die Zeit vom 8. bis 16. April eingeplant. Es sollte ein weltweites Zeugnis mit der Broschüre Die Krise gegeben werden.
Die Brüder in Deutschland konnten jedoch diese achttägige Zeugnisperiode nicht in Frieden beenden. Der Feldzug mit der Broschüre Die Krise führte in Bayern am 13. April zu einem Verbot. Darauf folgte ein Verbot in Sachsen (am 18. April), in Thüringen (am 26. April) und in Baden (am 15. Mai). Kurz darauf wurde das Werk in den übrigen deutschen Ländern verboten. Bruder Franke, der zu dieser Zeit in Mainz als Pionier tätig war, berichtet, daß die über 60 Verkündiger starke Versammlung dort 10 000 Broschüren zur Verfügung hatte. Die Brüder erkannten, daß sie schnell handeln mußten, wenn sie sie verbreiten wollten. Sie hatten den Einsatz ihrer Zeit so organisiert, daß in den ersten drei Tagen des Feldzuges bereits 6 000 Broschüren verbreitet werden konnten. Aber am vierten Tag wurde eine Anzahl Brüder verhaftet, und ihre Wohnungen wurden durchsucht. Die Polizei konnte jedoch nur wenige Exemplare der Broschüre finden, da die Brüder mit dieser Aktion gerechnet und die restlichen 4 000 Broschüren an einem sicheren Ort versteckt hatten.
Alle verhafteten Brüder wurden noch am gleichen Tag freigelassen. Sogleich organisierten sie einen Feldzug und teilten die 4 000 Broschüren unter allen Brüdern in der Versammlung auf, die daran teilnehmen konnten. An jenem Abend fuhren sie mit ihren Fahrrädern nach Bad Kreuznach, einer Stadt, die etwa 40 Kilometer von Mainz entfernt ist, und dort verbreiteten sie die restlichen Broschüren unter der Bevölkerung, indem sie sie teilweise verschenkten. Der nächste Tag bestätigte ihnen, daß es richtig war, daß sie diese Aktion durchgeführt hatten, denn inzwischen hatte schon die Gestapo bei allen ihr bekannten Bibelforschern Haussuchungen durchgeführt. Aber alle 10 000 Broschüren waren verbreitet worden.
In Magdeburg hatten Regierungsorgane das Büro wissen lassen, daß das Bild auf der Titelseite der Broschüre (ein Krieger mit einem bluttriefenden Schwert) anstößig sei, und hatten verlangt, daß es entfernt würde. Bruder Balzereit, der wiederholt seine Kompromißbereitschaft gezeigt hatte, befolgte die Anweisung, die farbigen Umschläge von den Broschüren zu entfernen, sofort.
Diese Zeugniswoche war mit Spannung geladen. Täglich zeigte der Feind immer deutlicher seinen Entschluß, mit äußerster Härte zuzuschlagen. Um so ermutigender war der Bericht, der zusammengestellt wurde und der zeigte, daß 24 843 Personen das Gedächtnismahl besucht hatten, während es ein Jahr zuvor nur 14 453 waren. Die Anzahl der Verkündiger, die während der Zeugnisperiode tätig waren, war ebenfalls ein Grund zur Freude: Es waren 19 268 im Gegensatz zu den 12 484, die im vorangegangenen Jahr an der Aktion mit der Königreichs-Broschüre teilgenommen hatten. Während der acht Tage des Feldzuges waren 2 259 983 Exemplare der Broschüre Die Krise verbreitet worden.
GESTAPO DURCHSUCHT BETHELHEIM
Die Nationalsozialisten hofften, irgendwelches Material zu finden, das uns mit dem Kommunismus in Verbindung bringen würde, als sie das Büro und die Fabrik der Gesellschaft am 24. April besetzten. In diesem Fall hätten sie ein neues Gesetz anwenden und das gesamte Eigentum beschlagnahmen und verstaatlichen können, wie man es schon mit den Gebäuden getan hatte, die den Kommunisten gehörten. Nachdem die Polizei das Gebäude durchsucht hatte, rief sie eines Abends bei der Regierung an und teilte ihr mit, daß sie nichts Verdächtiges gefunden hätte. Doch der Befehl war: „Ihr müßt etwas finden!“ Aber sie hatte keinen Erfolg, und das Eigentum mußte am 29. April an die Brüder zurückgegeben werden. Das Büro in Brooklyn hatte noch am gleichen Tag durch die amerikanische Regierung gegen die ungesetzliche Beschlagnahme des Eigentums (das ja einer amerikanischen Körperschaft gehörte) protestiert.
KONGRESS IN BERLIN AM 25. JUNI 1933
Bis zum Sommer des Jahres 1933 war das Werk der Zeugen Jehovas in den meisten deutschen Ländern verboten worden. Regelmäßig wurden die Wohnungen der Brüder durchsucht, und viele Brüder wurden verhaftet. Die Versorgung mit geistiger Speise wurde teilweise behindert, wenn auch nur vorübergehend; doch viele Brüder fragten sich, wie lange das Werk noch fortgesetzt werden könne. In dieser Situation wurden die Versammlungen kurzfristig zu einem Kongreß nach Berlin eingeladen, der am 25. Juni stattfinden sollte. Da zu erwarten war, daß viele den Kongreß wegen der verschiedenen Verbote nicht besuchen könnten, wurden die Versammlungen ermuntert, mindestens einen oder einige Delegierte zu senden. Aber wie sich herausstellte, konnten immerhin 7 000 Brüder kommen. Viele von ihnen waren drei Tage unterwegs, einige fuhren die ganze Strecke mit dem Fahrrad und wieder andere mit Lastwagen, da sich die Busunternehmen weigerten, Busse an eine verbotene Organisation zu vermieten.
Bruder Rutherford, der zusammen mit Bruder Knorr erst ein paar Tage zuvor in Deutschland eingetroffen war, um zu sehen, was getan werden könnte, um das Eigentum der Gesellschaft sicherzustellen, hatte mit Bruder Balzereit eine Erklärung vorbereitet, die den Kongreßdelegierten zur Annahme vorgelegt werden sollte. Es handelte sich dabei um einen Protest gegen die Einmischung der Hitlerregierung in das Predigtwerk. Alle hohen Regierungsbeamten, vom Reichspräsidenten abwärts, sollten ein Exemplar der Erklärung erhalten, und zwar möglichst per Einschreiben. Einige Tage vor dem Kongreß kehrte Bruder Rutherford nach Amerika zurück.
Viele Anwesende waren von der „Erklärung“ enttäuscht, da sie in vielen Punkten nicht so offen war, wie die Brüder es erhofft hatten. Bruder Mütze aus Dresden, der bis dahin eng mit Bruder Balzereit zusammengearbeitet hatte, beschuldigte ihn später, den ursprünglichen Text abgeschwächt zu haben. Es war nicht das erstemal, daß Bruder Balzereit die offene und unmißverständliche Sprache, die in den Veröffentlichungen der Gesellschaft gesprochen wurde, verwässert hatte, um Schwierigkeiten mit den Regierungsorganen zu vermeiden.
Eine große Anzahl Brüder weigerte sich aus diesem Grund, die Resolution anzunehmen. Ja, ein früherer Pilgerbruder namens Kipper weigerte sich, sie zur Annahme vorzulegen, so daß ein anderer diese Aufgabe übernehmen mußte. Es konnte nicht mit Recht gesagt werden, die Erklärung sei einstimmig angenommen worden, obwohl Bruder Balzereit später Bruder Rutherford mitteilte, daß dies der Fall gewesen sei.
Die Kongreßteilnehmer kehrten müde und zum Teil enttäuscht nach Hause zurück. Sie nahmen jedoch 2 100 000 Exemplare der „Erklärung“ mit nach Hause, die sehr schnell verteilt und auch an zahlreiche verantwortliche Persönlichkeiten versandt werden sollten. Das für Hitler vorgesehene Exemplar enthielt ein Begleitschreiben, in dem es unter anderem hieß:
„Das Brooklyner Präsidium der Watch-Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Maße deutschfreundlich. Aus diesem Grunde wurden im Jahre 1918 der Präsident der Gesellschaft und die sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen.“
Obwohl die Erklärung abgeschwächt worden war und viele Brüder ihre Annahme nicht ganzherzig unterstützen konnten, war die Regierung empört und leitete eine Welle der Verfolgung gegen diejenigen ein, die sie verbreitet hatten.
BÜRO MAGDEBURG ERNEUT BESETZT
Die Erklärung, die einen Tag nach dem Verbot in Preußen, in Berlin, gefaßt und in ganz Deutschland verbreitet wurde, war das Signal für Hitlers Polizei, in Tätigkeit zu treten. Am 27. Juni wurden alle Polizeidienststellen angewiesen, „Ortsgruppen und Geschäftsstellen sofort zu durchsuchen und staatsfeindliches Material zu beschlagnahmen“. Einen Tag später, am 28. Juni, wurde das Gebäude in Magdeburg von dreißig SA-Leuten besetzt, die die Fabrik schlossen und die Hakenkreuzfahne über dem Gebäude hißten. Gemäß einem offiziellen Erlaß der Polizeibehörde war es sogar verboten, auf dem Gelände der Gesellschaft die Bibel zu studieren und zu beten. Am 29. Juni wurde die Maßnahme durch den Rundfunk dem ganzen deutschen Volk bekanntgemacht.
Trotz energischer Versuche gelang es Bruder Harbeck, dem Zweigaufseher in der Schweiz, nicht, zu verhindern, daß am 21., 23. und 24. August Bücher, Bibeln und Bilder mit einem Gesamtgewicht von 65 189 Kilogramm aus der Fabrik der Gesellschaft geholt, auf fünfundzwanzig Lastwagen geladen und dann am Stadtrand von Magdeburg öffentlich verbrannt wurden. Die Druckkosten des Materials beliefen sich auf 92 719,50 Mark. Außerdem wurden in verschiedenen Versammlungen zahlreiche Veröffentlichungen beschlagnahmt und dann verbrannt oder sonstwie vernichtet, so zum Beispiel in Köln, wo Literatur im Werte von mindestens 30 000 Mark vernichtet wurde. Im Goldenen Zeitalter wurde in der Ausgabe vom 1. Juni 1934 berichtet, daß der wahrscheinliche Gesamtwert des vernichteten Eigentums (Möbel, Literatur usw.) zwischen zwei und drei Millionen Mark betrug.
Der Verlust wäre aber noch größer gewesen, wenn nicht Schritte unternommen worden wären, den größten Teil der Literatur aus Magdeburg — in einigen Fällen sogar mit Schiffen — abzutransportieren und dann an geeigneten Orten zu lagern. Auf diese Weise war es möglich, große Mengen Literatur vor den Augen und vor dem Zugriff der Geheimpolizei jahrelang versteckt zu halten. Ein großer Teil dieser Literatur wurde in den darauffolgenden Jahren für die Predigttätigkeit im Untergrund verwendet.
Dank der Intervention der amerikanischen Regierung erhielt die Gesellschaft im Oktober ihr Gebäude in Magdeburg zurück. Im Freigabebescheid vom 7. Oktober 1933 hieß es, daß das Besitztum der Gesellschaft völlig freigegeben und der Gesellschaft zur freien Verfügung zurückgegeben werde, daß es aber weiterhin verboten sei, irgendwelche Tätigkeit auszuüben, Literatur zu drucken oder Zusammenkünfte abzuhalten.
„FREUNDSCHAFT MIT DER WELT“
Die Geistlichkeit der Christenheit schämte sich nicht, Hitler und seine Bemühungen, Jehovas Zeugen zu verfolgen, zu unterstützen. Wie in der Oschatzer Gemeinnützigen vom 21. April 1933 berichtet wurde, sagte der evangelische Pfarrer Otto in einer Rundfunkansprache am 20. April 1933 zu Ehren des Geburtstages Hitlers:
„Die Evangelische Deutsche Kirche des Staates Sachsen hat sich bewußt auf den Boden der neugeschaffenen Tatsachen gestellt und wird in engster Zusammenarbeit mit den politischen Führern unseres Volkes versuchen, in dem Volksganzen nun aufs neue die Kräfte des alten Evangeliums von Jesus Christus zugänglich zu machen. Als ersten Erfolg bei dieser Zusammenarbeit dürfen wir verbuchen, daß am heutigen Tag für das Gebiet Sachsen die Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher und ihre Unterorganisationen verboten worden sind. Ja, welch eine Wendung durch Gottes Führung! Bis hierher hat uns Gott geholfen.“
BEGINN DER UNTERGRUNDTÄTIGKEIT
Obwohl die Untergrundtätigkeit der Zeugen in dem Jahr, in dem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, praktisch unorganisiert war und nicht überall Zusammenkünfte in kleinen Gruppen abgehalten wurden, fand die Gestapo doch neue Gründe, die Brüder zu verhaften.
Bald nachdem die ersten Brüder verhaftet und ihre Wohnungen durchsucht worden waren, begannen die Brüder, die die Lage objektiv beurteilten, zu erkennen, daß es sich bei diesen Maßnahmen nur um den Anfang einer schlimmeren Verfolgungskampagne handelte. Sie wußten, daß es völlig sinnlos war, den Versuch zu unternehmen, diese Fragen am Verhandlungstisch auszuhandeln. Die einzig richtige Möglichkeit war, für die Wahrheit zu kämpfen.
Doch ein beachtlicher Teil der Brüder zögerte und war der Meinung, es sei am besten abzuwarten, denn Jehova werde gewiß etwas unternehmen, um diese Verfolgung seines Volkes zu verhindern. Während diese Gruppe ihre Zeit durch Unentschlossenheit verschwendete und ängstlich versuchte, nicht durch eigenes Dazutun die Lage noch mehr zu verschlimmern, waren die anderen Verkündiger entschlossen, das Werk fortzusetzen. Bald begannen mutige Brüder, Zusammenkünfte in kleinen Gruppen in ihrer Wohnung abzuhalten, obwohl sie wußten, daß dies zu ihrer Verhaftung und zu schwerer Verfolgung führen konnte.
An manchen Orten begannen die Brüder, Artikel aus dem Wachtturm zu vervielfältigen, von dem immer einige Exemplare aus Nachbarländern eingeschmuggelt wurden. Karl Kreis aus Chemnitz war einer der ersten, die Vorkehrungen dafür trafen. Wenn er die Matrizen geschrieben hatte, fuhr er damit zu Bruder Boschan in Schwarzenberg, und dort wurden die Abzüge hergestellt. Zu denen, die besonders aktiv waren, gehörten Hildegard Hiegel und Ilse Unterdörfer. Sobald das Verbot erlassen worden war, faßten sie den Entschluß, sich durch nichts daran hindern zu lassen, ihren von Gott gegebenen Auftrag auszuführen. Schwester Unterdörfer kaufte sich ein Motorrad und fuhr zwischen Chemnitz und Olbernhau hin und her, um den Brüdern die vervielfältigten Exemplare des Wachtturms zu bringen. Brüder in der näheren Umgebung suchte sie mit dem Fahrrad auf, um nicht zu sehr aufzufallen.
Bruder Johann Kölbl traf Vorkehrungen, daß 500 Exemplare des Wachtturms in München vervielfältigt wurden, und diese wurden dann unter den Brüdern dort sowie in weiten Gebieten des Bayerischen Waldes verteilt.
In Hamburg war es Bruder Niedersberg, der sogleich die Initiative ergriff. Er war einige Jahre Pilgerbruder gewesen, bevor er an multipler Sklerose erkrankte. Trotz dieser Behinderung tat er, was er nur tun konnte. Während dieser Zeit der Prüfungen besuchten ihn die Brüder gern, denn dadurch wurde ihr Glaube immer wieder gestärkt. Seine Liebe zu den Brüdern bewog ihn bald, Schritte zu unternehmen, um dafür zu sorgen, daß sie regelmäßig geistige Speise erhielten. Er fing an, den Wachtturm in seiner Wohnung zu vervielfältigen. Er brachte Helmut Brembach bei, wie man Matrizen schreibt, und erklärte ihm die Handhabung des Vervielfältigungsapparates. Als er dann sah, daß die Arbeit auch ohne seine Hilfe durchgeführt werden konnte, sagte er den Brüdern, er wolle jetzt auf Reisen gehen und die Versammlungen an der Westküste Schleswig-Holsteins besuchen, um ihnen Mut zuzusprechen und um dafür zu sorgen, daß sie ebenfalls den Wachtturm erhielten. Noch einmal besprach er mit den Brüdern ausführlich, wie sie die Zeitschriften verschicken sollten, und arbeitete mit ihnen einen Code aus, mit dessen Hilfe sie aus seinen Briefen erkennen würden, wie viele Exemplare an jede Versammlung geschickt werden sollten.
Es war der 6. Januar 1934, als Bruder Niedersberg trotz seines schlechten Gesundheitszustandes auf Reisen ging. Er konnte sich nur mühsam und mit Hilfe eines Stockes vorwärts bewegen, aber er tat es im Vertrauen auf Jehova. Nachdem er mehrere Versammlungen besucht hatte, trafen die ersten verschlüsselten Nachrichten in Hamburg ein, und der Versand der vervielfältigten Ausgaben des Wachtturms konnte beginnen. Als er in die Gegend von Meldorf kam, war gerade ein Bruder gestorben, der unter der Bevölkerung gut bekannt war. Da zu erwarten war, daß auch aus benachbarten Versammlungen viele Brüder zur Beerdigung anwesend sein würden, wurde Bruder Niedersberg gebeten, die Beerdigungsansprache zu halten. Er nahm diese Gelegenheit wahr und hielt eine kraftvolle Ansprache, durch die er die anwesenden Brüder stärken wollte, die schon einige Monate lang keine Zusammenkünfte mehr besuchen konnten. Wie erwartet, waren sehr viele anwesend und kehrten gestärkt durch das, was sie gehört hatten, in ihr zugeteiltes Gebiet zurück.
Natürlich waren auch andere anwesend, sogar Beamte der Gestapo. Nachdem Bruder Niedersberg seine Ansprache gehalten hatte, fragten sie ihn nach seinem Namen und seiner Adresse, aber sie verhafteten ihn nicht, was sie offensichtlich wegen des besonderen Anlasses nicht wagten. So konnte er seine Reise fortsetzen, die für ihn aber immer beschwerlicher wurde. Als er bei Bruder Thode in Hennstedt angelangt war, bekam er plötzlich heftige Kopfschmerzen, und kurz darauf starb er an einem Gehirnschlag. So hatte er seine letzten Kräfte dazu benutzt, um dafür zu sorgen, daß die Brüder die erbauende geistige Speise erhielten. Zwei Wochen später erschien die Gestapo in seiner Wohnung in Hamburg-Altona, um ihn zu verhaften.
Außer den vervielfältigten Exemplaren des Wachtturms, die in Deutschland hergestellt wurden, wurden auch einige aus der Schweiz, aus Frankreich, der Tschechoslowakei, ja sogar aus Polen nach Deutschland gesandt, und sie erschienen in verschiedener Aufmachung und in unterschiedlichem Format. Zuerst wurden viele Wachtturm-Artikel aus Zürich (Schweiz) geschickt, die den Titel „Der Jonadab“ trugen. Nachdem die Gestapo diese Methode entdeckt hatte, wurden sämtliche Postämter in Deutschland angewiesen, alle Umschläge, die diesen Titel trugen, zu beschlagnahmen und gegen diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, an die die Zeitschriften adressiert waren. In den meisten Fällen führte dies zu ihrer Verhaftung.
Später änderte sich der Titel und auch die Verpackung des Wachtturms praktisch mit jeder Ausgabe. In den meisten Fällen wurde der Titel des Wachtturm-Artikels benutzt, der im allgemeinen nur einmal erschien, wie zum Beispiel „Die drei Feste“, „Obadja“, „Der Kämpfer“, „Die Zeit“ und „Tempelsänger“. Aber selbst einige dieser Ausgaben fielen der Gestapo in die Hände, und es wurde dann jeweils ein Rundschreiben an alle Polizeidienststellen in Deutschland gesandt mit der Nachricht, diese besondere Zeitschrift sei verboten. Aber in den meisten Fällen kam diese Nachricht zu spät, weil schon ein weiterer Wachtturm-Artikel in völlig anderer Aufmachung und mit einem ganz anderen Titel erschienen war. Die Gestapo mußte bald zornig zugeben, daß Jehovas Zeugen ihr auf dem Gebiet der Strategie voraus waren.
Ähnlich verhielt es sich mit der Zeitschrift Das Goldene Zeitalter. Eine Zeitlang war sie nicht auf der Liste der verbotenen Zeitschriften aufgeführt. Als sie später offiziell verboten worden war, wurde sie privat an deutsche Brüder gesandt, und zwar im allgemeinen von Brüdern aus dem Ausland, besonders aus der Schweiz. Diejenigen, die die Zeitschriften versandten, achteten immer darauf, daß die Adresse mit der Hand geschrieben wurde, und zwar jedesmal von jemand anders.
Je weniger es der Gestapo gelang, die Zufuhr an geistiger Speise zu unterbrechen, desto brutaler wurde sie im Umgang mit den Brüdern. Sie verhaftete sie im allgemeinen, nachdem sie ihre Wohnungen durchsucht hatte, obwohl oft gar kein Grund dazu bestand. Im Polizeipräsidium wurden die Brüder meistens grausam mißhandelt in dem Versuch, ihnen irgendwelche Schuldgeständnisse abzuzwingen.
„FREIE“ WAHLEN
Eine andere Waffe, die benutzt wurde, um die Bevölkerung einzuschüchtern, und die besonders gegen Jehovas Zeugen gerichtet war, um sie zu Kompromissen zu zwingen, waren die sogenannten „freien“ Wahlen. Diejenigen, die sich nicht zwingen ließen zu wählen, wurden als „Juden“, „Vaterlandsverräter“ und „Schufte“ verschrien.
Max Schubert aus Oschatz (Sachsen) wurde am Wahltag fünfmal von Wahlhelfern besucht, die ihn zur Wahl abholen wollten. Frauen besuchten seine Frau mit dem gleichen Ansinnen. Doch Bruder Schubert sagte seinen Besuchern jedesmal, er sei ein Zeuge Jehovas und habe Jehova gewählt, und das genüge; darum brauche er keinen anderen zu wählen.
Am nächsten Tag hatte er es schwer. Er war bei der Reichsbahn am Fahrkartenschalter beschäftigt und hatte daher ständig Kontakt mit Menschen. An jenem Tag wurde er mit besonderem Nachdruck mit „Heil Hitler!“ begrüßt. Als Erwiderung sagte er dann immer: „Guten Tag!“ oder etwas Ähnliches. Er spürte jedoch, daß etwas „in der Luft“ lag, und besprach dies beim Mittagessen mit seiner Frau. Er sagte ihr, sie solle sich auf alle Eventualitäten einstellen. Nachdem er seinen Dienst an jenem Nachmittag beendet hatte, wurde er gegen 5 Uhr von einem Polizisten abgeholt und zur Ortsgruppenleitung der Nationalsozialistischen Partei gebracht. Ein kleiner Wagen, der mit zwei Pferden bespannt war, stand vor der Tür. Bruder Schubert mußte sich in die Mitte des Wagens stellen, und ringsherum setzten sich eine Anzahl SA-Männer, von denen jeder eine brennende Fackel in seiner Hand trug. Vorn auf dem Wagen stand einer mit einem Horn und hinten einer mit einer Trommel, und sie schlugen abwechselnd Lärm, damit sich jeder die Prozession ansah. Zwei SA-Männer auf dem Wagen hielten ein großes Schild, auf dem geschrieben stand: „Ich bin ein Lump, ein Vaterlandsverräter, weil ich nicht gewählt habe.“ Bald hatte jemand von denen, die hinter dem Wagen herzogen, einen Sprechchor gebildet, der ständig den auf dem Schild geschriebenen Satz wiederholen mußte. Am Schluß des Satzes riefen sie: „Wo gehört er hin?“, worauf die Kinder im Chor schreien mußten: „Ins Konzentrationslager!“ Zweieinhalb Stunden lang wurde Bruder Schubert so durch die Straßen seines 15 000 Einwohner zählenden Heimatortes gefahren. Am nächsten Tag berichtete der Radiosender Luxemburg darüber.
Einige Brüder waren im Staatsdienst tätig. Da sie nicht den „Deutschen Gruß“ benutzten und sich weigerten, an Wahlen und politischen Demonstrationen teilzunehmen, hatte die Regierung schon seit Sommer 1934 Pläne vorbereitet, um die Bibelforscher im ganzen Reichsgebiet zu verbieten, so daß sie aus dem Staatsdienst entlassen werden konnten. Zu diesem Zweck mußte ein allgemeines Reichsverbot erlassen werden, da Verbote durch die Länderregierungen nicht ausreichend waren. Ein solches Gesetz wurde am 1. April 1935 erlassen. Doch einzelne Amtsstellen hatten schon vorher eigenmächtig gehandelt.
Ludwig Stickel war Stadtrechnungssekretär in Pforzheim. Am 29. März 1934 erhielt er vom Oberbürgermeister einen Brief, in dem es hieß: „Ich [eröffne] gegen Sie das Dienststrafverfahren mit dem Ziel der Entfernung aus dem Amte. Sie werden beschuldigt, daß Sie sich an der Volksabstimmung und Reichstagswahl am 12. November 1933 nicht beteiligt haben. ...“ In einem langen Schreiben legte Bruder Stickel seine Einstellung dar, aber da das Urteil in Wirklichkeit schon gefällt worden war, wurde er benachrichtigt, daß er am 20. August entlassen würde.
Man hatte das Ziel, Jehovas Zeugen aller Verdienstmöglichkeiten zu berauben, indem man sie fristlos aus ihren Stellungen entließ, sie von ihren Arbeitsplätzen jagte, ihre Geschäfte schloß und ihnen verbot, ihren Beruf auszuüben.
Das mußte auch Gertrud Franke aus Mainz feststellen, nachdem ihr Mann im Jahre 1936 zum fünften Mal verhaftet worden war und die Geheimpolizei ihr versichert hatte, daß sie nicht die Absicht hätte, ihn je wieder zu entlassen. Nachdem Schwester Franke freigelassen worden war — sie war etwa fünf Monate lang als Geisel festgehalten worden —, ging sie zum Arbeitsamt, um eine Arbeitsstelle zu finden. Sie stellte jedoch fest, daß sie niemand anstellen wollte, da sie im Gefängnis gewesen war. Endlich wurde eine Zementfabrik gezwungen, sie einzustellen. Zwei Wochen später erlebte sie ihre nächste Überraschung, als sie feststellte, daß sie ohne ihre Einwilligung in die Deutsche Arbeitsfront aufgenommen worden war und daß man ihr auch die entsprechenden Beiträge vom Lohn abgezogen hatte. Da sie den politischen Charakter dieser Organisation erkannt hatte, ging sie sofort ins Lohnbüro und beschwerte sich, ihr seien für eine Organisation, der sie überhaupt nicht beigetreten sei, Beiträge abgezogen worden, und aus diesem Grunde bat sie darum, die Angelegenheit zu berichtigen. Darauf wurde sie fristlos entlassen. Als sie dann wieder auf dem Arbeitsamt erschien, wurde ihr eröffnet, daß ihr das Arbeitsamt künftig weder eine Arbeitsstelle vermitteln noch eine Unterstützung gewähren würde. Wenn sie sich weiterhin weigere, der Arbeitsfront beizutreten, sollte sie selbst zusehen, wie sie durchs Leben käme.
JUGENDLICHE ERLEBEN PRÜFUNGEN
In zahlreichen Fällen wurden Kinder von Zeugen Jehovas der Gelegenheit beraubt, eine Schulbildung zu erhalten. Wir wollen Helmut Knöller seine Erfahrung mit eigenen Worten erzählen lassen:
„Gerade zu der Zeit, als die Tätigkeit der Zeugen Jehovas in Deutschland im Jahre 1933 verboten wurde, ließen sich meine Eltern zum Zeichen ihrer Hingabe an Jehova taufen. Aber für mich mit meinen 13 Jahren brach mit dem Verbot die Zeit der Entscheidung an: Im Gymnasium gab es nun öfters Prüfungen wegen des Flaggengrußes, wobei ich mich für die Treue gegenüber Jehova und die Hingabe an ihn entschied. Unter diesen Verhältnissen war an ein Hochschulstudium nicht mehr zu denken, und so begann ich eine kaufmännische Lehre in Stuttgart, die zweimal in der Woche den Besuch der Handelsschule einschloß; aber auch dort wurde jedesmal die Flagge gehißt. Natürlich fiel ich als der Größte durch meine Weigerung, die Fahne zu grüßen, prompt auf.
Wenn der Lehrer das Schulzimmer betrat, war es für die Schüler Vorschrift, aufzustehen, laut mit ,Heil Hitler!‘ zu grüßen und die rechte Hand vorzustrecken. Dies machte ich auch nicht mit. Natürlich schaute der Lehrer nur auf mich, und dann gab es oft Szenen wie diese: ,Knöller, kommen Sie mal raus! Warum grüßen Sie nicht mit „Heil Hitler!“?‘
,Das ist gegen mein Gewissen, Herr Lehrer.‘ ,Was, Sie Schwein, Sie! Gehen Sie bloß weiter weg von mir, Sie stinken ja. Noch weiter! Pfui, so ein Volksverräter ...‘ Ich wurde dann in eine andere Klasse versetzt. Und als mein Vater selbst beim Rektor vorsprach, erhielt er folgende markante Erklärung: ,Kann Ihnen Ihr Gott, auf den Sie hoffen, auch nur ein Stück Brot geben? Adolf Hitler kann es, der hat es bewiesen.‘ Darum müsse man ihn auch verehren und mit ,Heil Hitler!‘ grüßen.“
Nach Beendigung seiner Lehre brach der Zweite Weltkrieg aus, und Bruder Knöller wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Er berichtet darüber wie folgt:
„Am 17. März 1940 wurde ich zum Kriegsdienst eingezogen. Meine Kalkulation für diesen Fall war schon lange: Wenn ich mich am Einsatzort melde und dort [den Militärdienst] verweigere, dann komme ich vor ein Kriegsgericht und werde erschossen. Und dies war mir lieber als ins KZ zu kommen. Aber es kam anders. Ich kam gar nicht vor ein Kriegsgericht, sondern wurde in Arrest gesteckt — bei Wasser und einem Stück Brot täglich. Nach fünf Tagen kam die Gestapo und nahm mich mit. Dort gab es ein stundenlanges Verhör mit allen möglichen Drohungen. Nachts wurde ich dann ins Gefängnis gebracht. Ach, wie war ich glücklich! Keine Spur von Angst mehr, sondern nur noch Freude und gespannte Erwartung, was noch alles kommen würde und wie Jehova mir wieder dabei helfen würde! Nach drei Wochen wurde mir ein Schutzhaftbefehl der obersten Gestapobehörde vorgelesen. Darin stand, daß ich wegen meiner staatsfeindlichen Gesinnung und der Gefahr, mich für die verbotenen Internationalen Bibelforscher zu betätigen, in Schutzhaft bleiben müßte. Das bedeutete Konzentrationslager! Es war also genau umgekehrt gekommen, als ich in meiner menschlichen Einfalt kalkuliert hatte. Zusammen mit noch anderen Gefangenen wurde ich dann am 1. Juni in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert.“
Bruder Knöller lernte nicht nur daß Leben in Dachau, sondern auch in Sachsenhausen kennen. Später wurde er zusammen mit einer Anzahl anderer Gefangener auf die englische Kanalinsel Alderney gebracht. Nach einer dramatischen Fahrt, die bis nach Steyr (Österreich) führte, wurden er und die mit ihm Verbundenen schließlich am 5. Mai 1945 befreit. Wie turbulent die zurückliegenden Jahre waren, zeigt allein die Tatsache, daß Bruder Knöller, der Gegenstand so großer Verfolgung gewesen war, bis dahin nicht die Gelegenheit gehabt hatte, seine Hingabe an Jehova durch die Wassertaufe zu symbolisieren, obwohl er seine Hingabe durch seine Treue selbst unter den schwierigsten Umständen bewiesen hatte. Unter der kleinen Gruppe von Überlebenden, mit denen er nach Hause zurückkehrte, befanden sich neun weitere Brüder, die alle vier bis acht Jahre in Konzentrationslagern treu ausgeharrt hatten und die nun dankbar die Gelegenheit wahrnahmen, sich in Passau taufen zu lassen.
KINDER IHREN ELTERN ENTRISSEN
Wie wenig Jehovas Zeugen in jener aufregenden Zeit die Aussicht hatten, Rechtsschutz zu erhalten, mußten Bruder und Schwester Strenge erfahren. Bruder Strenge wurde verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, wonach Schwester Strenge, die nun mit ihren Kindern allein war, bald in eine Situation gestürzt wurde, die ihre letzten Kräfte erforderte. Sie berichtet:
„In der Schule sollte mein Junge ein nationales Lied und ein nationales Gedicht auswendig lernen. Da er die darin enthaltenen Ausdrücke nicht mit seiner Gesinnung in Einklang bringen konnte, weigerte er sich, das zu tun. Daraufhin ließ ihn der Lehrer wie einen Gefangenen, von zwei Jungen geführt, zu dem Rektor, einem gewissen Herrn Hanneberg, bringen. Dieser sagte ihm, daß ihm die Finger so lange blutig geschlagen werden müßten, bis sie blau angeschwollen seien, ,so daß er sie nicht mehr in den A... stecken‘ könne. Ferner drohte er ihm und sagte, daß er seinen Vater in seinem Leben nie wiedersehen würde. Schließlich fragte er diesen zehnjährigen Jungen, ob er auch den Wehrdienst verweigern werde. Günter wies auf die Bibel hin und sagte, wer das Schwert anfasse, würde auch durch das Schwert umkommen. Darauf sagte der Rektor zum Klassenlehrer: ,Züchtigen Sie ihn wie üblich.‘ Anschließend wurde Günter von dem Rektor mit der Bemerkung nach Hause geschickt, daß er sofort die Polizei anrufen werde, die schon fünf Minuten später bei ihnen zu Hause sein werde, um ihn sofort in die Erziehungsanstalt zu bringen. Kaum war mein Junge zu Hause angekommen, fuhr auch schon die Polizei mit einem großen Auto vor unserem Hause vor. Mehrere Beamte forderten stürmisch Einlaß. Ich machte jedoch die Tür nicht auf. Nach einer Weile ging die Polizei zu meiner Nachbarin und verlangte von ihr ein Zeugnis, das mich belasten sollte. Als diese nichts vorbringen konnte, wurde sie so lange gedrängt, bis sie zugab, gehört zu haben, daß wir jeden Morgen ein Lied gesungen und gemeinsam gebetet hätten. Damit entfernte sich die Polizei wieder.
Am nächsten Morgen kam die Polizei um etwa 10.30 Uhr wieder. Da ich nicht willens war, freiwillig die Tür zu öffnen, riefen die Gestapobeamten: ,Verfluchte Bibelforscher! Aufmachen!‘ Dann gingen sie zu einem in der Nachbarschaft wohnenden Schlosser und ließen unsere Wohnung gewaltsam aufbrechen.
Einer der Gestapobeamten hielt mir den Revolver auf die Brust und schrie: ,Die Kinder her!‘ Doch ich hielt sie fest umschlungen, und sie hatten sich schutzsuchend selbst an mich geklammert. Aus Angst, daß wir nun gewaltsam auseinandergerissen würden, schrien wir alle aus Leibeskräften um Hilfe.
Da das Fenster offenstand, sammelte sich vor dem Haus eine große Menschenmenge an, während ich aus lauter Verzweiflung schrie: ,Ich habe meine Kinder mit großen Schmerzen geboren, ich gebe sie Ihnen nicht. Erst müssen Sie mich totschießen!‘ Dann fiel ich, von Erregung übermannt, in Ohnmacht. Wieder aufgewacht, wurde ich von den Gestapobeamten drei Stunden lang verhört mit dem Ziel, aus mir Aussagen herauszupressen, die meinen Mann belasten sollten. Da ich aber immer wieder in Ohnmacht fiel, mußte das Verhör einige Male unterbrochen werden, während die immer größer werdende Menschenmenge vor dem Haus durch ihren Lärm ihren Unwillen gegen die Vorgänge zum Ausdruck brachte, so daß es schließlich die Gestapo vorzog, die Wohnung unverrichtetersache wieder zu verlassen. Nun sollten die Kinder auf heimlichem Wege von mir getrennt werden. Offensichtlich zu diesem Zweck wurde ich wenige Tage später vor das Sondergericht in Elbing geladen. Am gleichen Tag sollten sich aber auch meine Kinder bei dem über sie bestellten Vormund melden. Ich ahnte Unheil und ging schon einen Tag früher mit meinen Kindern zu diesem Vormund, der mir jetzt eröffnete, daß meine 15jährige Tochter in ein Arbeitslager gebracht und der 10jährige Günter einer national eingestellten Familie zur Erziehung überwiesen werden sollte. Würden sie dort nicht gehorchen, kämen beide in eine Erziehungsanstalt. In meiner großen Erregung sagte ich: ,Sagen Sie, leben wir schon in Rußland, oder sind wir noch in Deutschland?‘, worauf er mir antwortete: ,Frau Strenge, ich will nichts gehört haben. Auch ich stamme aus einer religiösen Familie. Mein Vater ist Pfarrer!‘ Als ich dann noch die Bitte äußerte, meine Tochter wenigstens in einer Stellung unterzubringen, antwortete mir dieser Rechtsanwalt: ,Ich werde mich Ihretwegen keinen Unannehmlichkeiten aussetzen. Lieber will ich mit zwanzig anderen Kindern zu tun haben als mit einem von den Bibelforschern.‘
Nun kam der Sonnabend, wo ich schweren Herzens nach Elbing fahren mußte, um für meinen Glauben an Jehova und seine Verheißungen als Angeklagte vor Gericht zu stehen. Um mich für diesen schweren Gang noch einmal zu stärken und auch um mein Herz noch einmal ausschütten zu können, suchte ich vorher meinen Mann im Gefängnis auf. Als er vorgeführt wurde, brach ich an seiner Brust zusammen und konnte nichts als weinen. All der Jammer und die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage zogen noch einmal an meinem Auge vorüber: der Mann für drei Jahre im Gefängnis, die Kinder von mir weggerissen, die auch ihrerseits wieder voneinander getrennt würden. Ich war völlig gebrochen und befand mich am Rande meiner Kraft. Doch wie Engelsworte drang es an mein Ohr, als mein Mann mich mit den Erfahrungen Hiobs tröstete und mir dessen Leid schilderte, aber auch die unentwegte Treue zu Gott, so daß er ihm, nachdem er alles verloren hatte, nichts Ungereimtes zuschob. Dann erzählte er mir, wie er selbst nach den zahlreichen Verhören und der Verhandlung, die für ihn schwere Prüfungen waren, von Jehova überaus reichlich gesegnet worden sei. Das gab mir wieder neue Kraft. Mit aufrechter Haltung ging ich nun zur Verhandlung, um dort noch einmal zu vernehmen, mit welchem Eifer meine Kinder vor ihren Lehrern und anderen höherstehenden Beamten für Jehova und ihren Glauben und sein Königreich eingestanden waren. Das Urteil dieses ,deutschen Gerichtes‘ lautete: Weil ich die Erziehung meiner Kinder nicht in nationalsozialistischem Sinne durchgeführt und weil ich mit ihnen Loblieder zur Ehre Jehovas gesungen habe, müsse ich mit acht Monaten Gefängnis bestraft werden.“
VON KLASSENKAMERADEN GEÄCHTET
Der zwölfjährige Bruder Willi Seitz aus Karlsruhe machte eine andere Erfahrung. Er berichtet selbst:
„Was ich bis jetzt, Ihr Lieben, alles durchgemacht habe, kann ich fast nicht beschreiben. In der Schule wurde ich von meinen Mitschülern geschlagen; bei Ausflügen, sofern ich dabei war, mußte ich allein gehen, durfte auch mit meinen anderen Schulkameraden, soweit sie noch für mich waren, nicht sprechen. Mit anderen Worten: Ich wurde gehaßt und verspottet gleich einem räudigen Hunde. Bei alledem war mein einziger Trost, daß Gottes Königreich doch bald kommen würde. ...“
Am 22. Januar 1937 wurde Willi aus der Schule entlassen — „wegen Verweigerung des Deutschen Grußes, Nichtmitsingens der nationalen Lieder und Nichtteilnahme an den bekannten Schulfeiern“.
WEGEN BETENS UND SINGENS VERURTEILT
Max Ruef aus Pocking erkannte ebenfalls, wie systematisch man vorging, um Jehovas Zeugen dazu zu zwingen, ihre Lauterkeit aufzugeben. Seine Existenz wurde vollständig ruiniert. Eine Hypothek, die er aufgenommen hatte, um bauliche Veränderungen vorzunehmen, wurde ihm gekündigt. Da er die Hypothek nicht sofort zurückzahlen konnte, wurde sein ganzes Besitztum im Mai 1934 versteigert.
„Die Verfolgungen hörten indessen keineswegs auf“, erzählt Bruder Ruef. „Im Gegenteil, ich wurde auf Betreiben der politischen Leitung bewußt falsch angeklagt und vor Gericht gestellt. Und weil man mir nichts zur Last legen konnte, hat mich das Sondergericht München wegen verbotenen Betens und Singens in meiner Wohnung zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt, die ich am 31. Dezember 1936 antreten mußte. Meine Frau, die ihr drittes Kind erwartete, erhielt mit den anderen beiden Kindern von neun und zehn Jahren außer dem Wohnzins von 12 RM keinerlei Unterstützung. Es kam die Zeit der Entbindung. Wir reichten beide, meine Frau und ich, Gesuche ein, mir einige Wochen Strafunterbrechung zu gewähren, damit ich mich der notwendigen Dinge annehmen könne. Etwa eine Woche vor der Entbindung kam die Abweisung mit der Begründung: ,Zur Genehmigung nicht geeignet.‘
Am 27. März wurde mir im Gefängnis eröffnet, daß meine Frau gestorben sei und ich zur Erledigung der notwendigen Angelegenheiten für drei Tage beurlaubt werde. Ich begab mich nach meiner Entlassung sofort in die Klinik, wohin man meine Frau nach der Entbindung gebracht hatte, die aber schon auf dem Transport dorthin verstorben war. Dort drangen eine Ärztin und auch die Krankenschwestern, die noch nicht wußten, daß ich Zeuge Jehovas bin, förmlich in mich und sagten: ,Herr Ruef, erheben Sie sofort gegen den Arzt und die Hebamme Anzeige, denn Ihre Frau war gesund, und alles war bei ihr in Ordnung‘, worauf ich nur müde antwortete: ,Da hätte ich viel zu tun.‘ Zu Hause angekommen, fand ich im Schlafzimmer das tote Kind vor und die beiden anderen Kinder in einer sich leicht vorzustellenden Situation. Nun, sollte ich diese wieder unversorgt zurücklassen, vielleicht auf Nimmerwiedersehen?“
Bruder Ruefs Schwiegereltern verlangten, daß die Leiche seiner Frau nach Pocking überführt wurde, wo niemand, der nicht zur Familie gehörte, die Erlaubnis erhielt, am Grab zu sprechen. So kam es, daß Bruder Ruef selbst die Beerdigungsansprache seiner Frau halten mußte, und Jehova gab ihm die Kraft dazu.
Der Gedanke, nun seine beiden Kinder unbeaufsichtigt zurücklassen zu müssen, war Bruder Ruef unerträglich. Da ihm nur noch wenige Stunden blieben, bis der gewährte Urlaub ablief, brachte er eines der beiden Kinder zu seinen Schwiegereltern, obwohl sie keine Zeugen Jehovas waren, und das andere brachte er zu Brüdern, die in der Nähe der Schweizer Grenze lebten. Schließlich unternahm er eine dramatische Flucht in die Schweiz, wo er mit seinem Kind Asyl erhielt.
ERST BESTRAFUNG, DANN „FREUNDLICHKEIT“, UM DIE LAUTERKEIT ZU BRECHEN
Es gab Fälle, in denen Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, vorübergehend im Glauben schwach wurden und tatsächlich in der Gefahr standen, in das nationalsozialistische Lager abgetrieben zu werden, so, wie sich dies die Führer der „Bewegung“ gedacht hatten. Ein Beispiel dafür ist Horst Henschel aus Meißen, der im Jahre 1943 im Alter von 12 Jahren zusammen mit seinem Vater getauft wurde. Er schreibt:
„Meine Kindheit war ... ein Auf und Ab. Ich trat aus der Hitlerjugend aus — soweit das überhaupt möglich war —, freute mich und fühlte mich stark. In der Schule wurde jeden Tag der Hitlergruß verlangt, den ich verweigerte, wofür ich Schläge bekam. Trotzdem war es jedesmal ein Grund zur Freude, wenn ich, gestärkt durch meine Eltern, treu geblieben war. Doch zwischendurch gab es auch immer wieder Gelegenheiten, wo ich entweder nach körperlichen Strafen oder in schwierigen Situationen doch ,Heil Hitler!‘ sagte. Ich weiß, daß ich dann immer mit Tränen in den Augen nach Hause kam, wie wir dann gemeinsam zu Jehova beteten und ich dann wieder die Kraft hatte, den Angriffen des Feindes für die nächste Zeit zu widerstehen, bis mir dann erneut eine solche oder ähnliche Sache passierte.
Dann kam die Gestapo und machte Haussuchung. ,Sind Sie ein Zeuge Jehovas?‘ fragte einer der breitschultrigen SS-Männer meine Mutter. Noch heute sehe ich, wie sie, an den Türrahmen gelehnt, mit einem festen ‚Ja!‘ antwortete. Sie wußte, das bedeutete für sie früher oder später ihre Verhaftung, die auch schon 14 Tage später erfolgte.
Meine Mutter war gerade dabei, meine kleine Schwester, die einen Tag später ein Jahr alt wurde, zu versorgen. Die Polizei kam mit dem Haftbefehl für meine Mutter. ... Da aber mein Vater gerade zu Hause war, blieben wir noch unter seiner Obhut. ... Doch schon vierzehn Tage später wurde auch er verhaftet. Ich sehe heute noch, wie er vor dem Küchenherd hockte und ins Feuer schaute. Bevor ich zur Schule ging drückte ich ihn noch einmal fest an mein Herz. Doch mein Vater drehte sich nicht mehr nach mir um. Ich habe viel über den harten Kampf nachgedacht, den er in diesen Tagen kämpfte. Noch heute bin ich Jehova dafür dankbar, daß er ihm die Kraft gab, mir ein solches Vorbild zu geben. Als ich nach Hause kam, war ich allein. Mein Vater, der zum Wehrdienst eingezogen werden sollte, war inzwischen zum Wehrbezirkskommando des Ortes gegangen, um dort zu erklären, daß er den Kriegsdienst ablehne. Darauf wurde er sofort verhaftet. Meine Großeltern und die anderen Verwandten, die alle gegen Jehovas Zeugen, ja zum Teil Mitglieder der Nazipartei waren, hatten sich inzwischen um meine einjährige Schwester und mich bemüht, so daß wir nicht in ein Heim oder gar in eine Erziehungsanstalt, sondern zu ihnen kamen. Eine zweite Schwester von mir, die zu dieser Zeit 21 Jahre alt war, wurde vierzehn Tage nach der Verhaftung meines Vaters ebenfalls verhaftet. Drei Wochen später starb sie im Gefängnis an Diphtherie und Scharlach.
Nun waren meine kleine Schwester und ich bei meinen Großeltern. Ich erinnere mich noch heute an Gelegenheiten, wie ich vor dem Bett meiner Schwester gekniet habe. Mir wurde nicht erlaubt, in der Bibel zu lesen, aber ich tat es unbeobachtet, nachdem ich von einer Nachbarin heimlich eine bekommen hatte. ...
Einmal machte sich mein Großvater, der nicht in der Wahrheit war, auf, um meinen Vater im Gefängnis zu besuchen. Voller Empörung und außer sich vor Erregung, kehrte er zurück. ,Dieser Verbrecher, dieser Lump! Wie kann er seine Kinder so allein lassen!‘ Mein Vater war an Händen und Füßen gefesselt gewesen, als er vor meinen Großvater gebracht worden war und als an ihn appelliert worden war, um der Kinder willen doch den Kriegsdienst aufzunehmen, war er weiter standhaft geblieben und hatte entschieden abgelehnt, worauf ein Offizier zu meinem Großvater gesagt hatte: ,Und wenn dieser Mann zehn Kinder hätte, er würde nicht anders handeln.‘ Für die Ohren meines Großvaters war dies abscheulich, für mich ein Beweis der Treue meines Vaters, aber auch der Hilfe Jehovas, die er ihm in dieser schwierigen Situation gab.
Ein wenig später erhielt ich einen Brief von meinem Vater. Es war sein letzter. Da er nicht wußte, in welchem Gefängnis sich meine Mutter befand, schrieb er diesen Brief an mich. Ich ging in meine Bodenkammer, in der ich schlief, und las die ersten Worte dieses Briefes: ,Freue Dich, wenn Du diesen Brief erhältst, denn ich habe ausgeharrt. In zwei Stunden wird mein Urteil vollstreckt ...‘ Ich war traurig und habe auch geweint, obwohl ich die Tiefe der Sache damals nicht so erfaßt hatte wie heute.
Bei all diesen einschneidenden Erlebnissen blieb ich relativ stark. Ohne Zweifel gab mir Jehova die nötige Kraft, mit diesen Problemen fertig zu werden. Doch Satan hat viele Wege, um uns in seine Schlinge zu locken. Das mußte ich bald erfahren. Einer meiner Angehörigen ging zu meinen Lehrern und bat sie, Geduld mit mir zu haben. Auf einmal wurden alle sehr, sehr freundlich zu mir. Die Lehrer unternahmen nichts mehr, auch wenn ich nicht mit ,Heil Hitler!‘ grüßte, und auch meine Angehörigen wurden besonders nett und lieb zu mir. Dann geschah es.
Auf eigenen Wunsch ging ich in die Hitlerjugend, ohne von irgend jemand dazu aufgefordert worden zu sein, und das nur wenige Monate vor Ende des Zweiten Weltkrieges. Was also Satan durch Härte nicht erreicht hatte, gelang ihm durch Schmeichelei und List. Ja ich kann heute wohl sagen, daß harte Verfolgungen von außen eine Prüfung für unsere Loyalität sein können, die schleichenden Angriffe Satans auf verschiedenen Gebieten aber keineswegs ungefährlicher sind als Brutalität von außen. Ich weiß heute, daß meine Mutter während dieser Zeit im Gefängnis viele schwere Glaubensprüfungen durchzumachen hatte. Ich erhielt den letzten Brief meines Vaters, der von seiner Treue und Ergebenheit bis zum Tode berichtete und mich noch sehr stärkte. Sie dagegen erhielt seine Wäsche und seine Anzüge, auf denen noch die Blutspuren zu sehen waren — Zeugen der Drangsalierungen vor seinem Tode. Später sagte mir meine Mutter, daß dies für sie alles sehr schwer war, aber ihre härtesten Prüfungen um jene Zeit seien meine Briefe gewesen, die ich ihr dann schrieb, aus denen sie erkennen mußte, daß ich aufgehört hatte, Jehova zu dienen.
Nun ging der Krieg bald zu Ende. Meine Mutter kam wieder nach Hause und half mir, auf den Weg der Hingabe zurückzugelangen. Sie erzog mich weiter in der Liebe zu Jehova und in der Hingabe an ihn. Zurückblickend kann ich heute wohl sagen, daß ich damals dieselben Probleme hatte wie viele jugendliche Brüder in unseren Tagen. Aber meine Mutter kämpfte um mich, damit ich den Weg der Hingabe nicht mehr verließe. Seit zweiundzwanzig Jahren darf ich nun durch Jehovas unverdiente Güte im Vollzeitdienst stehen. In dieser Zeit hatte ich auch das Vorrecht — wie meine Eltern —, sechs Jahre und vier Monate im Gefängnis in der Ostzone zu verbringen.
Oft habe ich mich gefragt, womit ich es verdient habe, daß mich Jehova in der Vergangenheit so reichlich gesegnet hat. Aber ich glaube heute, es sind die Gebete meines Vaters und meiner Mutter gewesen, die mir in meinem christlichen Lauf kein besseres Beispiel geben konnten, als sie es getan haben.“
Es sind 860 Fälle bekanntgeworden, in denen Kinder ihren Eltern fortgenommen wurden, obwohl die genaue Zahl noch wesentlich höher liegen mag. In Anbetracht solcher Unmenschlichkeit ist es nicht verwunderlich, daß die Behörden im Laufe der Zeit so weit gingen, selbst das Zeugen weiterer Kinder unmöglich zu machen, indem einfach der Ehemann einer „Erbkrankheit“ verdächtigt wurde. Er konnte dann aufgrund dieses Gesetzes sterilisiert werden.
VERNEHMUNGSMETHODEN
Eine der grausamen Methoden, die angewandt wurden, war, den Ehepartner und andere Glieder der Familie die Qualen, die ihre Lieben bei den Verhören zu ertragen hatten, unmittelbar miterleben zu lassen. Emil Wilde beschreibt, wie grausam dies war. Er wurde gezwungen, von seiner Zelle aus mit anzuhören, wie seine Frau buchstäblich zu Tode gemartert wurde.
„Am 15. September 1937, früh gegen 5 Uhr, machten zwei Beamte der Gestapo bei uns eine Haussuchung, nachdem sie zuerst meine Kinder ausgefragt hatten. Anschließend wurden meine Frau und ich ins Polizeipräsidium gebracht und dort sogleich in Gefängniszellen eingeschlossen. Nach Verlauf von ungefähr zehn Tagen erfolgte die erste Vernehmung. Wie man mir sagte, sollte am selben Tag auch meine Frau vernommen werden, was auch der Fall war.
Von Mittag, ungefähr 1 Uhr, an hörte ich das laute Schreien einer Frau. Dieses Schreien rührte von den Schlägen her, die ihr fortwährend versetzt wurden, und während es immer lauter wurde, hörte ich um so deutlicher, daß es von meiner Frau kam. Ich klingelte und erkundigte mich, warum die Frau, die meine Frau sei, so geschlagen werde; da sagte man mir, das sei nicht meine Frau, sondern eine andere, die diese Schläge auch verdiene, weil sie sich ungezogen benehme. Am späten Nachmittag setzte das Schreien wieder ein und nahm an Heftigkeit dermaßen zu, daß ich wieder klingelte, um mich über die Behandlung meiner Frau zu beschweren. Abermals stritten die Gestapobeamten ab, daß es meine Frau sei. Nachts gegen 1 Uhr konnte ich es nicht mehr mit anhören. Darum klingelte ich erneut, doch jetzt sagte der Polizeibeamte, dessen Namen ich nicht kenne: ,Wenn du noch einmal klingelst, machen wir es mit dir genauso, wie wir es mit deiner Frau gemacht haben.‘ Jetzt trat Ruhe im ganzen Gefängnis ein, denn meine Frau hatten sie inzwischen in die Nervenklinik gebracht. Am 3. Oktober, am frühen Morgen, kam der Gestapo-Hauptwachtmeister Glassin in meine Zelle und teilte mir mit, daß meine Frau in der Nervenklinik verstorben sei. Da habe ich ihm auf den Kopf zugesagt, daß sie am Tode meiner Frau schuld seien, und erhob am Begräbnistag meiner Frau schriftlich Anklage gegen die Gestapo wegen Totschlags, was zur Folge hatte, daß ich nun meinerseits wegen Beleidigung der Gestapo angeklagt wurde.
Dies hatte auch einen zusätzlichen Prozeß zur Folge, der an meinen ersten angehängt wurde. Als es dann soweit war, standen während der Sondergerichtsverhandlung zwei Schwestern auf und sagten: ,Auch wir haben gehört, daß Frau Wilde geschrien hat: „Ihr schlagt mich ja tot, ihr Teufel!“ ‘ Darauf sagte der Richter zu mir: ,Aber Sie haben es nicht gesehen, sondern nur etwas gehört; deshalb bestrafen wir Sie mit einem Monat Gefängnis.‘ Einige Schwestern, die meine Frau auf der Totenbahre gesehen hatten, bestätigten mir, daß sie ganz entstellt gewesen sei. Am Hals und quer über das Gesicht hätten sie lauter große Striemen gesehen. Ich selbst durfte nicht mit zur Beerdigung gehen.“
In anderen Fällen versuchte man, die Brüder zu hypnotisieren. Einige von ihnen erhielten Speisen, denen Drogen beigefügt waren, so daß sie vorübergehend über das, was sie aussagten, keine Kontrolle mehr hatten. Anderen wurden während einer ganzen Nacht die Hände und Füße auf dem Rücken zusammengeschlossen, um so ein Geständnis zu erpressen. Da einige diesen schrecklichen Folterungen nicht gewachsen waren, gelang es der Gestapo, sich Informationen darüber, wie das Werk der Zeugen Jehovas organisiert war und durchgeführt wurde, zu beschaffen.
FREUNDLICHE BEAMTE UND ARBEITGEBER
Obwohl sich die Beamten der „neuen, kraftvollen und lautstarken Umgangssprache“ bedienten, die besonders die Führer des auf dem sogenannten „Führerprinzip“ aufgebauten neuen Staates kennzeichnete, gab es erfreulicherweise doch hier und da einige Polizeibeamte, die in ihrem Umgang mit Jehovas Zeugen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses zeigten, daß sie in ihrem Innern immer noch etwas Mitgefühl gegenüber ihren Mitmenschen bewahrt hatten.
Carl Göhring wurde aus seiner Stellung bei der Privateisenbahn der Leunawerke bei Merseburg fristlos entlassen, weil er sich geweigert hatte, den Deutschen Gruß zu erweisen und in die Arbeitsfront einzutreten. Das Arbeitsamt weigerte sich, ihm andere Arbeit zu vermitteln, und das Sozialamt lehnte es ab, ihm irgendeine Unterstützung zukommen zu lassen. Aber Jehova, der die Bedürfnisse seines Volkes kennt, lenkte die Dinge so, daß Bruder Göhring bald eine Stellung in der Papierfabrik in Weißenfels fand. Der Direktor, ein Herr Kornelius, stellte alle Brüder aus der Umgebung ein, die aus ihrer Stellung entlassen worden waren, und verlangte von ihnen nichts, was sie mit ihrem Gewissen in Konflikt gebracht hätte.
Wie es sich später herausstellte, gab es auch andere Arbeitgeber wie diesen, allerdings nicht viele. Dadurch sind manche Brüder dem Zugriff der Gestapo entzogen worden.
Es gab auch einzelne Richter, die in ihrem Innern keineswegs mit den gewalttätigen Methoden einverstanden waren, deren sich die Hitlerregierung bediente. Besonders am Anfang legten eine ganze Anzahl Richter den Brüdern ein völlig belangloses Schriftstück zur Unterschrift vor, in dem lediglich erklärt wurde, daß sie sich in keiner Weise politisch betätigen würden. Das konnten die Brüder ohne Bedenken unterschreiben, und viele wurden so davor bewahrt, die Freiheit zu verlieren.
Auch bei Haussuchungen stellte es sich häufig heraus, daß nicht alle Beamten Jehovas Zeugen so haßten, wie es nach außen hin erschienen sein mag. Dies erlebten Bruder Hans Poddig und seine Frau, als ihre Wohnung durchsucht wurde. Sie hatten gerade von Schwester Poddigs leiblicher Schwester, die in den Niederlanden lebte, Post erhalten, unter anderem Exemplare des Wachtturms und anderer Publikationen. Bevor sie jedoch die Gelegenheit hatten, etwas zu lesen, klingelte es plötzlich an der Tür.
„Schnell“, rief Schwester Poddig, „alles in die Speisekammer und abschließen!“ Da dies aber aufgefallen wäre, beschlossen sie in letzter Minute, die Tür offenzulassen. Unterdessen hatte der Gestapobeamte, der von einem SA-Mann begleitet wurde, das Haus betreten. „Na“, sagte er, „dann wollen wir gleich hier beginnen.“ Damit meinte er die Speisekammer, deren Tür gerade offenstand. Da sagte plötzlich der kleine Junge von Bruder Poddig: „In der Speisekammer können Sie aber lange suchen, da finden Sie nichts“ Da mußte der Beamte unwillkürlich lachen und sagte: „Na, dann wollen wir mal ins andere Zimmer gehen.“ Die ganze Haussuchung verlief erfolglos. Ja, Brüder Poddig und seine Familie hatten den Eindruck, daß sie — zumindest der Gestapobeamte — überhaupt nichts finden wollten. Anscheinend dachte der SA-Mann, die Suche sei nicht gründlich genug durchgeführt worden, und wollte die Suche fortsetzen. Doch der Gestapobeamte wies ihn zurecht und verbot ihm weiterzusuchen. Als sie fortgingen, drehte er sich noch einmal allein um und flüsterte Schwester Poddig zu: „Frau Poddig, hören Sie, ich will es Ihnen sagen. Man will Ihnen die Kinder wegnehmen, weil sie nicht in der Hitlerjugend sind. Bitte schicken Sie die Kinder doch dahin, und wenn es nur der Form nach ist.“ „Dann gingen beide fort, und wir konnten in aller Ruhe die Post lesen, die wir aus Holland erhalten hatten und die so manches Neue enthielt, und dankten Jehova, daß auch wieder ein Wachtturm dabei war“, schreibt Bruder Poddig.
ÜBERLISTET
Es gibt natürlich auch zahlreiche Fälle, in denen Gestapobeamte bei Haussuchungen offensichtlich mit Blindheit geschlagen und durch blitzschnelles Handeln der Brüder überlistet wurden, wobei oft ganz klar der Schutz Jehovas und die Hilfe der Engel zu erkennen waren.
Schwester Kornelius aus Marktredwitz erzählt eine solche Erfahrung: „Eines Tages kamen wieder einmal Kriminalbeamte in unsere Wohnung, um eine Haussuchung durchzuführen. Wir hatten einige Publikationen in der Wohnung, darunter einige vervielfältigte Wachttürme. Ich sah im Moment keine andere Möglichkeit, als sie in eine leere Kaffeekanne zu stecken, die gerade auf dem Tisch stand. Nachdem die Beamten alles durchsucht hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch dieses Versteck gefunden hätten. In diesem Augenblick kam zufällig meine leibliche Schwester in unsere Wohnung. Ganz unvermittelt sagte ich zu ihr: ‚Hier, nimm deinen Kaffee mit!‘ Meine Schwester schaute zunächst etwas ungläubig, begriff dann aber sofort und entfernte sich mit der Kaffeekanne. So war die Literatur wieder außer Gefahr. Die Beamten hatten nicht gemerkt, daß sie überlistet worden waren.“
Amüsant ist die Geschichte, die Bruder und Schwester Kornelius über ihren fünfjährigen Sohn Siegfried erzählten, der damals noch keine Schwierigkeiten mit dem „Deutschen Gruß“ und ähnlichen Dingen hatte, weil er noch nicht zur Schule ging. Aber da ihn seine Eltern in der Wahrheit erzogen hatten, wußte er, daß die Literatur seiner Eltern, die sie immer versteckten, nachdem sie sie gelesen hatten, sehr wichtig war und das die Gestapo sie nicht finden durfte. Als er eines Tages sah, wie zwei Beamte auf den Hof seiner Eltern kamen, war ihm sogleich klar, daß sie nach versteckter Literatur suchen würden, und er wußte sofort, was er tun mußte, um zu verhindern, daß sie etwas fanden. Obwohl er noch nicht zur Schule ging, nahm er die Schultasche seines älteren Bruders, leerte sie aus und stopfte die ganze Literatur hinein. Dann hing er sich die Tasche auf den Rücken und ging damit auf die Straße. Dort wartete er, bis die Beamten nach einer erfolglosen Haussuchung wieder fortgingen. Danach ging er ins Haus zurück und versteckte die Literatur wieder dort, wo er sie hergeholt hatte.
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Deutschland (Teil 2)Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974
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Deutschland (Teil 2)
„SCHAFE“ IM GEFÄNGNIS GEFUNDEN
Im Gefängnis kamen die Brüder mit allen Arten von Menschen zusammen, und natürlich erzählten die ihnen, soweit es möglich war, von ihrer Hoffnung. Wie groß war doch ihre Freude, wenn einer ihrer Mitgefangenen die Wahrheit annahm! Von einer solchen Erfahrung berichtet uns Willi Lehmbecker. Er war in einem Gefängnis mit vielen anderen Gefangenen in einem Schlafsaal untergebracht, in dem das Rauchen erlaubt war:
„Ich hatte mein Bett oben. Der unter mir lag, nebelte mich dermaßen ein, daß ich kaum atmen konnte, aber ich konnte ihm, wenn alles schlief, von der Bibel und von Gottes Vorhaben mit den Menschen erzählen und hatte dabei einen sehr aufmerksamen Zuhörer. Dieser junge Mann war politisch eingestellt und war wegen illegaler Zeitschriftenverbreitung in Haft genommen worden. Wir gaben uns das gegenseitige Versprechen, wenn wir wieder frei seien und noch am Leben seien, uns gegenseitig zu besuchen. Aber es kam anders. 1948 traf ich ihn wieder, und zwar bei unserem Kreiskongreß. Er erkannte mich sofort und begrüßte mich freudig. Und dann erzählte er mir seine Geschichte. Er wurde nach Verbüßung seiner Strafe entlassen, anschließend zum Militär eingezogen und kam an die Front nach Rußland. Hier hatte er Gelegenheit, über alles nachzudenken, was ich ihm erzählt hatte. ... Schließlich sagte er zu mir: ‚Heute bin ich dein Bruder geworden.‘ Könnt ihr verstehen, wie mich das bewegte und wie ich mich freute?“
Hermann Schlömer hatte eine ähnliche Erfahrung. Es war ebenfalls auf einem Kreiskongreß, als ein Bruder auf ihn zukam und ihn fragte: „Kennst du mich noch?“ Bruder Schlömer antwortete: „Dein Gesicht ist mir bekannt, aber ich weiß nicht, wer du bist.“ Darauf gab sich der Bruder als der Gefängniswärter vom Gefängnis in Frankfurt-Preungesheim zu erkennen, der Bruder Schlömer während seiner fünfjährigen Einzelhaft zu beaufsichtigen hatte. Bruder Schlömer hatte dem Wärter viel über die Wahrheit erzählt. Er hatte ihn auch gebeten, ihm eine Bibel zu besorgen, nachdem dies der Gefängnisgeistliche abgelehnt hatte. Der Gefängniswärter war menschlich eingestellt und brachte Bruder Schlömer eine Bibel. Damit er sich in seiner eintönigen Einzelhaft etwas beschäftigen konnte, brachte ihm dieser Gefängniswärter die Strümpfe seiner Familie zum Stopfen. Ja, Bruder Schlömer hatte wirklich Grund zur Freude, als er feststellen konnte, daß in diesem Fall Jehovas Wort auf fruchtbaren Boden gefallen war.
DIE GEISTIGE SPEISE WIRD KNAPP
Die geistige Speise begann in Deutschland knapp zu werden. Wie gefährlich es für den einzelnen, aber auch für ganze Gruppen ausgehen konnte, wenn der Kontakt zur Organisation verlorenging und sie nicht länger die Gelegenheit hatten, geistige Speise zu erhalten, berichtet uns Heinrich Vieker:
„Als die Nazis an die Macht kamen, waren wir zwischen 30 und 40 Verkündiger in unserer Versammlung. Das herausfordernde Auftreten dieses Systems veranlaßte bald viele Brüder, sich in den Schatten zu stellen und von der aktiven Tätigkeit zurückzutreten. Es war ungefähr die Hälfte der Verkündiger, die in dieser Zeit nicht mehr in Erscheinung trat. Das hatte zur Folge, daß wir im Umgang mit solchen, die sich zurückgezogen hatten, sehr vorsichtig sein mußten. Wir begrüßten sie zwar, wenn wir sie trafen, brachten ihnen aber keine Zeitschriften, wenn wir welche erhielten. Bei einer Besprechung wurden wir tatsächlich gewahr, daß außer 14 Brüdern alle zur Wahl gegangen waren.“
Natürlich bestand auch die Gefahr, daß einigen Brüdern die geistige Speise vorenthalten wurde, weil sie aus irgendeinen unglücklichen Umstand in den Verdacht gerieten, sich von Jehovas Organisation zurückgezogen zu haben. Dies widerfuhr Grete Klein und ihrer Mutter in Stettin. Hören wir ihre Erfahrung:
„Wir versammelten uns in kleinen Gruppen in den Wohnungen verschiedener Brüder. Unser Versammlungsaufseher gab mir den Wachtturm, damit ich ihn auf Wachsmatrizen schriebe, so daß er vervielfältigt werden konnte. Doch nur für kurze Zeit, dann blieben die von mir so geschätzten Dienstaufträge aus, da die Brüder ängstlich geworden waren und fürchteten, entdeckt zu werden, besonders nachdem sie festgestellt hatten, daß mein Vater ein Gegner der Wahrheit war. Wir, meine Mutter und ich, erhielten nun nicht einmal eine Kopie des Wachtturms. Ja, die Furcht der Brüder ging so weit, daß sie uns auf der Straße überhaupt nicht mehr grüßten. Wir waren also beide vollständig von der Organisation abgeschnitten. In Stettin gab es nun keine Organisation von Bibelforschern mehr, denn obwohl in Freiheit, waren wir ohne Führer und ohne geistige Speise. ...
Daß andererseits Stillstand unbedingt Rückgang bedeutete, zeigte sich bald in meiner geistigen Verfassung. Als der Krieg ausbrach, betete ich immer noch für unsere geistigen Brüder in den Konzentrationslagern, bald aber auch für meine fleischlichen Brüder, die mit fleischlichen Waffen in Rußland und Griechenland kämpften. Dabei kam mir nicht einmal zum Bewußtsein, daß das falsch war. Oftmals kam mir sogar der Gedanke, ob es überhaupt möglich sei, eine neue Ordnung unter Gottes Königreich zu errichten.
Außer mir gab es in der Stettiner Gruppe noch viele Jugendliche, die nicht wußten, wo sie standen. Einige junge Männer, wie Günter Braun, Kurt und auch Artur Wiessmann, standen in der Wehrmacht und kämpften mit weltlichen Waffen. Kurt Wiessmann wurde sogar im Felde getötet. Ein wichtiger Grund für unsere negative Haltung war offensichtlich, daß die verantwortlichen Brüder in der Stettiner Gruppe der Menschenfurcht erlegen waren. ...
Andererseits sind gerade diese Brüder, die in der damaligen Zeit versagten, ein Beispiel für Jehovas Langmut, Liebe und Vergebung, weil, wie mir bekannt geworden ist, einige nach dem Wiederaufbau der Organisation ihren Lauf aufrichtig bereuten und von Jehova wieder in seine Gunst aufgenommen wurden. Einige von ihnen stehen heute noch als Vollzeitdiener im Dienste Jehovas, wie zum Beispiel unser früherer Versammlungsaufseher in Stettin, der aus Menschenfurcht die Brücke zu mir und meiner Mutter abbrach und sich mit seiner Frau in ein Gebiet zurückzog, wo sie völlig unbekannt waren. Doch wie habe ich mich gefreut, als ich sie bei meinem Dienstantritt im Bethel in Wiesbaden wiedertraf und seitdem beobachten konnte, wie beide bis ins hohe Alter noch als Pioniere tätig sind. Viele der Brüder, die durch seine Handlungsweise im Konzentrationslager und im Gefängnis viel leiden mußten, hatten es jedoch schwer, ihm zu vergeben. Schließlich war ihnen aber Jehovas Barmherzigkeit eine große Hilfe und ein großes Vorbild.“
UNSICHERHEIT IN MAGDEBURG UND AN ANDEREN ORTEN
Wenn wir in unserem Bericht noch einmal zum Jahre 1933 zurückkehren, zu dem Jahr, in dem Hitler Reichskanzler wurde, stellen wir fest, daß Bruder Rutherford bald erkannte, daß es die deutsche Regierung auf unser Gebäude und auf die wertvollen Druckmaschinen abgesehen hatte. Daher bemühte er sich sehr, den zuständigen Behörden nachzuweisen, daß es sich bei der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft um eine Tochtergesellschaft der Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania handle und demzufolge das Eigentum der Gesellschaft in Magdeburg — das zu einem beachtlichen Teil aus Spenden von Amerika bestand — in Wirklichkeit amerikanisches Eigentum sei. Unter diesen Umständen war Bruder Balzereit als deutscher Staatsbürger nur in beschränktem Maße in der Lage, erfolgreich für die Freigabe des amerikanischen Eigentums zu kämpfen. Bruder Rutherford bat daher Bruder Harbeck, den Zweigaufseher in der Schweiz, in die Auseinandersetzung einzugreifen und dabei von seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft Gebrauch zu machen.
Bruder Balzereit, der es sich erwählt hatte, aus Sicherheitsgründen in die Tschechoslowakei zu ziehen, meinte nun, er werde in seiner Kompetenz eingeschränkt, und fühlte sich in seinem Ehrgeiz getroffen. Doch er zeigte nur sehr wenig Lust, nach Deutschland zurückzukehren und persönlich die Verhandlungen zu leiten, die im Hinblick auf die Rückgabe des Eigentums der Gesellschaft geführt wurden, und seine Brüder in ihrem Glaubenskampf zu unterstützen. Gleichzeitig beschuldigten Bruder Balzereit und verschiedene andere Brüder, die in der Auseinandersetzung auf seiner Seite Stellung bezogen hatten, Bruder Harbeck der Nachlässigkeit in der Wahrnehmung der Interessen des Werkes in Deutschland, während wieder andere an Bruder Rutherford wegen Bruder Balzereit telegrafierten.
Bruder Rutherford antwortete Balzereit wie folgt: „Geh nun nach Magdeburg zurück und bleibe dort, übernimm die Aufsicht und tu, was Du kannst, aber unterrichte Bruder Harbeck über alles. ... Es wäre bestimmt nicht nötig gewesen, mich um die Erlaubnis zu bitten, nach Deutschland zurückkehren zu dürfen, da Du — soweit es mich betrifft, und das weißt Du sehr wohl — die ganze Zeit dort hättest bleiben können. Du aber hast mich glauben gemacht, Deine persönliche Sicherheit sei davon abhängig, Dich außerhalb des Landes aufzuhalten.“
So neigte sich das Jahr 1933 dem Ende zu, ohne daß irgendeine Einheit bezüglich des Abhaltens regelmäßiger Zusammenkünfte und der Durchführung des Predigtwerkes erreicht worden wäre. Hans Poddig beschreibt diese Situation folgendermaßen: „So entstanden zwei Klassen. Die Furchtsamen sagten zu uns, wir seien ungehorsam und brächten sie und das ganze Werk Jehovas in Gefahr.“ Ein Brief, den Bruder Harbeck im August 1933 schrieb, wurde unter den deutschen Brüdern weit verbreitet, und die Furchtsamen benutzten ihn in ihren Diskussionen als Beweis dafür, daß sie sich richtig verhielten. Unterdessen veröffentlichte die Gesellschaft im Wachtturm einen Artikel unter der Überschrift „Fürchtet euch nicht!“, in dem die Handlungsweise derer unterstützt wurde, die trotz zunehmender Verfolgung und Mißhandlung der Stimme ihres Gewissens gefolgt waren und sich in kleinen Gruppen versammelt und das Predigtwerk im Untergrund fortgesetzt hatten. Dieser Artikel zeigte ihnen, daß ihre Handlungsweise in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen war.
Die Verhandlungen um die Freigabe des Eigentums in Magdeburg waren gescheitert, so daß Bruder Rutherford am 5. Januar 1934 an Bruder Harbeck schrieb: „Ich habe wenig Hoffnung, noch irgend etwas von der deutschen Regierung herauszubekommen. Ich bin der Meinung, daß dieser Flügel der Organisation Satans unser Volk weiter bedrücken wird, bis der Herr einschreitet.“
Unterdessen hatte Bruder Rutherford weitere Briefe von Brüdern in Deutschland erhalten, die ihm eine genauere Vorstellung über den Zustand des Werkes in Deutschland und auch über die geistige Haltung der Brüder vermittelten. Einer dieser Briefe, den Bruder Poddig geschrieben hatte, handelte von dem Wachtturm-Artikel „Fürchtet euch nicht!“ Es hieß darin, einige der Brüder würden sich weigern, diesen Wachtturm als „Speise zur rechten Zeit“ anzuerkennen. Einige versuchten sogar, die Brüder von jeglicher Predigttätigkeit im Untergrund abzuhalten. Bruder Rutherfords Antwort wurde an alle Brüder weitergeleitet. Sie besagte unter anderem: „Der Artikel ,Fürchtet euch nicht!‘, der im Wachtturm vom 1. Dezember erschien, wurde besonders zum Nutzen unserer Brüder in Deutschland geschrieben. Es ist überraschend, daß irgendwelche Brüder sich denen widersetzen sollten, die bestrebt sind, Gelegenheiten, für den Herrn zu zeugen, zu nutzen. ... Der oben erwähnte Artikel bezieht sich auf Deutschland ebensosehr wie auf alle anderen Teile der Erde. Er betrifft insbesondere den Überrest, wo immer er auch sein mag. ... Daraus folgt, daß der Bücherverwalter, der Dienstleiter, der Werkführer oder irgend jemand sonst keinerlei Recht hat, Euch zu sagen, was Ihr tun sollt, und Euch nicht mit Literatur zu versehen, wenn solche vorhanden ist. Eure Tätigkeit im Dienste des Herrn ist nicht ungesetzlich, denn Ihr verrichtet sie im Gehorsam gegen des Herrn Gebot ...“
PLÄNE FÜR EIN VEREINTES HANDELN IN BASEL GESCHMIEDET
Vom 7. bis 9. September 1934 wurde ein Kongreß in dem Mustermesse-Gebäude in Basel (Schweiz) organisiert. Bruder Rutherford hoffte, dort eine Anzahl Brüder aus Deutschland zu treffen, um von ihnen etwas aus erster Hand über die tatsächliche Situation in diesem Land zu erfahren. Unter großen Schwierigkeiten gelang es fast 1 000 Brüdern aus Deutschland, den Kongreß zu besuchen. Später berichteten sie, wie erschüttert Bruder Rutherford war, als er persönlich hörte, wie die Brüder bis dahin schon hatten leiden müssen.
Andererseits mußte er erkennen, daß selbst die reisenden Aufseher, die anwesend waren, hinsichtlich des Predigtwerkes nicht einer Meinung waren. Er sprach mit ihnen darüber, welche Schritte in Deutschland nach dem Kongreß unternommen werden sollten. Es wurden Pläne für ein vereintes Handeln geschmiedet.
Der 7. Oktober 1934 wird in der Erinnerung all derer, die das Vorrecht hatten, an den Ereignissen jenes Tages teilzunehmen, immer etwas Besonderes bleiben. An jenem Tag wurden Hitler und seine Regierung mit dem furchtlosen Handeln der Zeugen Jehovas — in seinen Augen eine lächerliche Minderheit — konfrontiert.
Nähere Einzelheiten enthielt ein Brief von Bruder Rutherford, von dem durch besondere Boten jeder Versammlung in Deutschland ein Exemplar zugestellt werden sollte. Gleichzeitig hatten die Boten den Auftrag, Zusammenkünfte, die an diesem bestimmten Tag in ganz Deutschland stattfinden sollten, vorzubereiten. In dem Brief Bruder Rutherfords hieß es auszugsweise:
„Jede Gruppe der Zeugen Jehovas in Deutschland versammle sich am Sonntag morgen, den 7. Oktober 1934, um 9 Uhr an einem geeigneten Platz ihres Wohnortes. Dann soll diese Mitteilung der versammelten Gruppe vorgelesen werden. Darauf werdet Ihr gemeinsam zu Gott beten und ihn durch Christus Jesus, unser Haupt und unseren König, um Führung, Schutz, Befreiung und um seinen Segen bitten. Unmittelbar darauf sollt Ihr an die Regierungsbeamten Deutschlands ein Telegramm senden, das vorher vorbereitet wurde. Dann möget Ihr eine kurze Zeit Euch dem Studium von Matth. 10:16-24 widmen. Indem Ihr dies tut, ‘stehet Ihr für Euer Leben ein’ (Esther 8:11); dann sollt Ihr die Versammlung schließen und hinausgehen zu Euren Nachbarn und ihnen Zeugnis geben vom Namen Jehovas Gottes und von seinem Königreich unter Christus Jesus.
Eure Geschwister auf der ganzen Erde werden Euer gedenken und zu gleicher Zeit ein ähnliches Gebet an Jehova richten.“
VEREINTE ERKLÄRUNG DES ENTSCHLUSSES, GOTT ZU GEHORCHEN
Natürlich mußten die Vorbereitungen unter größter Geheimhaltung durchgeführt werden. Darum wurde jedem Bruder, der damit zu tun hatte, zur Auflage gemacht, nicht einmal mit seiner eigenen Frau oder einem sonstigen Familienangehörigen über das zu sprechen, was für den 7. Oktober vorbereitet wurde. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen entstand im letzten Moment eine Situation, die verheerende Folgen hätte haben können, wenn nicht Jehovas mächtiger und schützender Arm gewesen wäre. Über das, was in Mainz geschah, berichtet Konrad Franke:
„Da ich schon früh, im Jahre 1933, das erste Mal in ein Konzentrationslager gebracht worden war und nach der Entlassung oft vor der Gestapo erscheinen mußte, die mich jedesmal für die organisierte Tätigkeit in dieser Stadt — wovon die laufenden Anzeigen Zeugnis ablegten — verantwortlich machte, habe ich bald Vorsorge treffen müssen, daß meine Post an eine Deckadresse gesandt wurde, die auch unserem damaligen Bezirksdienstleiter, Bruder Franz Merck, bekannt war. Aber aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen hat er mir nicht, wie es in Basel verabredet worden war, den Brief Bruder Rutherfords persönlich mit entsprechenden Anweisungen überbracht, sondern ihn wirklich in letzter Minute durch die Post an meine offizielle Adresse gesandt. Zum Glück war ich aber schon durch Bruder Albert Wandres, mit dem ich eng zusammenarbeitete, auf die Aktion aufmerksam gemacht worden und kannte so alle Einzelheiten, die dieser Brief enthielt. Da die kurze Zeit bis zum 7. Oktober verging, ohne daß ich diese wichtigen Informationen von Bruder Merck erhielt, traf ich inzwischen ohne seine Hilfe entsprechende Vorbereitungen für die vorgesehene Zusammenkunft bei Brüdern, die in einem Vorort von Mainz wohnten, an der nahezu zwanzig Personen teilnehmen sollten.
Zwei Tage zuvor mußte aber plötzlich eine Umorganisierung vorgenommen werden, weil der für die Zusammenkunft in Aussicht genommene Ort sehr gefährdet war. Nachdem allen in Frage kommenden Brüdern und Schwestern eine andere Adresse genannt worden war, entpuppte sich plötzlich eine Familie in dem Haus, wo wir nun am folgenden Morgen zusammenkommen wollten, als großer Gegner. Sie drohte, jede einzelne ihr als Zeuge Jehovas bekannte Person sofort verhaften zu lassen, die irgendwann in Zukunft das Haus betreten werde. Darum baten mich nun auch die Brüder, denen das Haus gehörte und bei denen wir am kommenden Morgen zusammenkommen wollten, doch davon Abstand zu nehmen. So wurde es notwendig, am 6. Oktober noch einmal alle Brüder zu besuchen, um ihnen einen dritten Ort bekanntzugeben, wo am kommenden Morgen um 9 Uhr die Zusammenkunft stattfinden sollte. Aber wohin sollten wir nun gehen? Alle Möglichkeiten schienen erschöpft zu sein. Nach gebetsvoller Überlegung entschloß ich mich trotz der damit verbundenen Gefahren, die Brüder in meine kleine Pionierwohnung einzuladen.
Als ich dann am 6. Oktober abends müde nach Hause kam, überreichte mir meine Frau einen Brief, den ein Beamter der Stadt noch zu später Stunde — also außerhalb der offiziellen Postzustellungszeit — gebracht hatte, obwohl er normal frankiert war und demzufolge von der Post nicht vordringlich befördert werden mußte. Als ich ihn öffnete, war es der Brief von Bruder Rutherford, den mir Bruder Merck auf diesem Wege zustellte, weil er wahrscheinlich keine Möglichkeit mehr sah, ihn mir noch rechtzeitig persönlich zu übergeben.
Die Begleitumstände waren aber für mich ein klarer Beweis dafür, daß dieser Brief, wie übrigens alle meine Privatpost, erst zur Gestapo gegangen war, die ihn ihrerseits mir auf diese ungewöhnliche Weise in die Hände spielte, offensichtlich in der Annahme, daß ich von der ganzen Aktion noch nichts wüßte, aber aufgrund des Inhaltes dieses Briefes noch während der Nacht alles so organisieren würde, daß sie am nächsten Morgen ohne besondere Anstrengung Gelegenheit hätte, uns aufzuspüren und alle zu verhaften. Ganz abgesehen davon hätte die Zeit auch noch ausgereicht, alle Dienststellen in Deutschland zu alarmieren und so am nächsten Morgen an verschiedenen Orten die versammelten Zeugen Jehovas mühelos zu verhaften.
Was sollte ich nun tun? Meine Wohnung, die sich in einem Gasthaus befand, war wirklich mehr als unsicher. Alle Bewohner dieses Hauses waren bis auf die Besitzerin, eine Schwester, deren Schlafzimmer direkt neben unserer Wohnung lag, erbitterte Gegner. Andererseits waren aber alle Möglichkeiten zusammenzukommen erschöpft. Darum entschloß ich mich, im Vertrauen auf die Hilfe Jehovas an der Sache nichts mehr zu ändern und die Brüder und Schwestern, die zu einem beachtlichen Teil in einem geteilten Haus lebten und von dem Zweck der Zusammenkunft noch nicht die geringste Ahnung hatten, nicht übermäßig zu beunruhigen. In meinem Innern war ich jedoch auf die nächste Verhaftung vorbereitet.
So kam denn der 7. Oktober. Morgens um 7 Uhr erschienen schon die ersten Brüder, denn das Kommen all derer, die eingeladen worden waren, mußte auf zwei Stunden aufgeteilt werden, damit es nicht so sehr auffiel. Als dann die Brüder nach und nach erschienen, waren sie alle in gespannter Erwartung, obwohl sie gemäß den gegebenen Anweisungen immer noch nicht über den Zweck der Zusammenkunft informiert worden waren. Es war aber niemand unter ihnen, der nicht fühlte, daß dies ein äußerst bedeutsamer Tag war. Alle, auch die Schwestern, deren Männer zum Teil große Gegner waren und von denen die meisten außerdem noch kleine Kinder zu betreuen hatten, machten den Eindruck äußerster Entschlossenheit und Bereitschaft, alles zu tun, was im Interesse der Rechtfertigung des Namens Jehovas notwendig war.
Zehn Minuten vor 9 Uhr waren nun alle in unserem kleinen Pionierzimmer versammelt. Ich selbst rechnete jeden Augenblick damit, daß die Gestapo mit einem großen Auto vorfahren und uns alle verhaften werde. Darum fühlte ich mich verpflichtet, nun den Brüdern die Situation zu erklären, ihnen aber auch noch die Möglichkeit zu bieten, von der Teilnahme an dieser Zusammenkunft Abstand zu nehmen, wenn ihnen die Folgen, die sich daraus ergeben könnten, zu schwer erscheinen sollten. Dann sprach ich zu ihnen: ,Die Situation ist so, daß wir in zehn Minuten alle verhaftet werden können. Ich möchte aber nicht, daß mir später einmal jemand von euch den Vorwurf macht, ich hätte ihn in diese Lage gebracht, ohne ihn über den Ernst der Situation zu informieren. Darum bitte ich euch, nehmt bitte eure Bibel zur Hand und schlagt mit mir 5. Mose, Kapitel 20 auf.‘ Dann las ich vor, was nach der Elberfelder Übersetzung in Vers 8 geschrieben steht: ,Wer ist der Mann, der sich fürchtet und verzagten Herzens ist? er gehe und kehre nach seinem Hause zurück, damit nicht das Herz seiner Brüder verzagt werde wie sein Herz.‘ Nachdem ich das vorgelesen hatte, sagte ich zu den Versammelten: ,Jeder, dem nun die Situation zu gefährlich erscheint, hat jetzt noch die Möglichkeit, von der Teilnahme an der Zusammenkunft Abstand zu nehmen.‘
Doch niemand, auch nicht die Schwestern mit einem gegnerischen Mann und mit kleinen Kindern zu Hause, dachte daran, sich jetzt aus Furcht zurückzuziehen. Was jetzt folgte, ist einfach unmöglich in menschliche Worte zu kleiden. Während der wenigen Minuten, die uns noch bis 9 Uhr verblieben, herrschte eine feierliche Stille im Raum. Offensichtlich vertrauten sich alle Anwesenden in einem stillen Gebet dem Schutze Jehovas an. Doch dann war es soweit. Es war Punkt 9 Uhr. Und während sich in meinen Sinn immer wieder der Gedanke einschleichen wollte, gleich werde im Hof die Gestapo vorfahren, eröffnete ich die Zusammenkunft mit einem Gebet. Plötzlich hatten wir alle das Gefühl, es habe sich ein fester, schützender Ring um uns gelegt, der nicht nur die gefährdeten Brüder in Deutschland, sondern auch die der ganzen Welt mit einschloß, die sich gemäß den gegebenen Anregungen in vielen Ländern zur gleichen Stunde versammelt hatten, um gegen die unmenschliche Behandlung ihrer Brüder in Deutschland bei Hitler zu protestieren, und natürlich auch ihre Zusammenkunft mit einem Gebet einleiteten.
Anschließend hielt ich eine Ansprache an die Brüder, indem ich die Hauptgedanken wiederholte, die Bruder Rutherford in seinem denkwürdigen Vortrag zur Ermunterung der deutschen Brüder in Basel besprochen hatte. Dabei ging es um den biblischen Beweis, daß wir trotz der veränderten Verhältnisse von Jehova nicht von unserer Pflicht entbunden worden seien, regelmäßig zusammenzukommen und sein Wort zu studieren und ihn anzubeten, aber auch nicht von der Pflicht, ihm als seine Zeugen zu dienen und öffentlich das Königreich bekanntzumachen. Da wir uns in unserer Wohnung schon seit dem Verbot bemüht hatten, diesen beiden Punkten gewissenhaft nachzukommen, waren uns all die Worte Bruder Rutherfords wie aus dem Herzen gesprochen.“
Darum stimmten auch alle begeistert dem folgenden Brief zu, der noch am gleichen Tag per Einschreiben an Hitler gesandt werden sollte:
„AN DIE REICHSREGIERUNG:
Das in der Heiligen Schrift enthaltene Wort Jehovas ist höchstes Gesetz. Es ist unsere einzige Richtschnur, weil wir uns Gott geweiht haben und wahre, aufrichtige Nachfolger Christi Jesu sind.
Im vergangenen Jahre haben Sie im Widerspruch zu Gottes Gesetz und in Verletzung unserer Rechte uns verboten, uns als Zeugen Jehovas zu versammeln, um Gottes Wort zu erforschen, ihn anzubeten und ihm zu dienen. In seinem Wort befiehlt uns Gott, unser Zusammenkommen nicht zu versäumen (Hebr. 10:25). Er befiehlt uns weiter: ‘Ihr seid meine Zeugen, daß ich Gott bin ..., geht und überbringet dem Volke meine Botschaft’ (Jes. 43:10, 12; 6:9; Matth. 24:14). Es besteht ein direkter Widerspruch zwischen Ihrem Gesetz und Gottes Gesetz. Wir folgen dem Rat der treuen Apostel und „müssen Gott mehr gehorchen als den Menschen“, und das werden wir auch tun (Apg. 5:29). Daher teilen wir Ihnen mit, daß wir um jeden Preis Gottes Gebote befolgen, daß wir uns versammeln werden, um sein Wort zu erforschen, und daß wir ihn anbeten und ihm dienen werden, wie er geboten hat. Wenn Ihre Regierung oder Ihre Regierungsbeamten uns Gewalt antun, weil wir Gott gehorchen, so wird unser Blut auf Ihrem Haupte sein, und Sie werden Gott, dem Allmächtigen, Rechenschaft ablegen müssen.
Mit politischen Angelegenheiten haben wir nichts zu tun, sondern sind Gottes Königreich unter der Herrschaft Christi, seines Königs, völlig ergeben. Wir werden niemandem Leid oder Schaden zufügen. Es würde uns freuen, mit allen Menschen Frieden zu halten und ihnen nach Möglichkeit Gutes zu tun. Da aber Ihre Regierung und Ihre Beamten weiterhin versuchen, uns zum Ungehorsam dem höchsten Gesetz des Universums gegenüber zu zwingen, müssen wir Ihnen kundtun, daß wir durch seine Gnade Jehova Gott gehorchen wollen und daß wir ihm völlig vertrauen, daß er uns von aller Bedrückung und allen Bedrückern befreien wird.“
Jehovas Zeugen kamen auf der ganzen Erde am 7. Oktober zusammen, um ihre deutschen Brüder zu unterstützen, und nach einem vereinten Gebet an Jehova sandten sie ein Telegramm an die Hitlerregierung, das folgende Warnung enthielt:
„Ihre schlechte Behandlung der Zeugen Jehovas empört alle guten Menschen und entehrt Gottes Namen. Hören Sie auf, Jehovas Zeugen weiterhin zu verfolgen, sonst wird Gott Sie und Ihre nationale Partei vernichten.“
Überraschenderweise wurden an jenem Tag nur wenige Brüder verhaftet, obwohl die Gestapo — wenn auch in letzter Minute — über alle Einzelheiten informiert worden war. Schalten wir uns noch einmal in den Bericht von Bruder Franke ein:
„Obwohl nun schon mehr als eine Stunde vergangen war, nachdem wir die Zusammenkunft durch ein Gebet zum Abschluß gebracht hatten, war doch noch niemand von der Gestapo erschienen. Nun begannen die ersten — wieder in gewissen Zeitabständen — die Wohnung zu verlassen. Als noch etwa acht Brüder anwesend waren, brach ich selbst auf und wollte mit dem Fahrrad in die Nachbarstadt Wiesbaden fahren, um den noch in der vorangegangenen Nacht geschriebenen und dort hinterlegten Brief selbst zur Post zu bringen, den die Brüder in Wiesbaden im Falle meiner Verhaftung, mit der ich ziemlich sicher gerechnet hatte, noch am gleichen Tag zur Post gegeben hätten. Als ich das Gartentor passierte, kam ein einzelner Gestapobeamter ebenfalls mit dem Fahrrad angefahren, ohne mich zu erkennen. Die restlichen acht Brüder konnten gewarnt werden und flüchteten in das an unsere Wohnung anschließende Schlafzimmer von Schwester Darmstadt, der das Haus gehörte. Die Fragen, die der Gestapobeamte dann bei einer Durchsuchung unserer kleinen Wohnung meiner Frau stellte, waren eine Bestätigung dafür, daß die Gestapo über unsere Zusammenkünfte genau informiert war. Trotzdem wurde niemand von den Brüdern, auch ich nicht, an diesem Tag verhaftet. Erst einige Monate später wurde mir bei einer erneuten Verhaftung von der Gestapo mitgeteilt, daß sie im Besitz des Briefes von Bruder Rutherford war.“
Während einige Brüder gleich im Anschluß an die Zusammenkunft zu ihren Nachbarn gingen, um deren Aufmerksamkeit auf Gottes Königreich zu lenken, herrschte auf vielen Postämtern außerhalb Deutschlands, besonders auf dem europäischen Kontinent, große Aufregung, weil man sich vielerorts weigerte, das Telegramm zu befördern. Das war auch in Budapest der Fall. Martin Pötzinger hatte dort an der Zusammenkunft teilgenommen und den Auftrag erhalten, das Telegramm zur Post zu bringen. Er berichtet: „Das Telegramm wurde angenommen, aber am nächsten Tag wurde mir per Karte vom Hauptpostamt mitgeteilt, daß ich persönlich vorsprechen möge. Wir dachten alle, die Gestapo würde mich dort in Empfang nehmen und mich des Landes verweisen, was das Ende meiner Tätigkeit bedeutet hätte. ... Aber es geschah nichts. Es wurde mir nur erklärt, daß Ungarn dieses Telegramm nicht absenden würde, worauf mir der entrichtete Betrag zurückerstattet wurde.“ In Doorn (Niederlande), wo der deutsche Kaiser, Wilhelm II., im Exil lebte, weigerte sich das Postamt zunächst, das Telegramm abzuschicken, unterrichtete aber später Hans Thomas, der es aufgegeben hatte, daß es abgeschickt und der Empfang von Berlin bestätigt worden sei.
Welche Wirkung die Briefe und besonders die Telegramme bei Hitler auslösten, geht aus einem von Karl R. Wittig verfaßten Bericht hervor, dessen Echtheit am 13. November 1947 von einem Notar in Frankfurt (Main) bestätigt wurde:
„ERKLÄRUNG — Am 7. Oktober 1934 suchte ich in meiner Eigenschaft als damaliger Bevollmächtigter General Ludendorffs nach vorausgegangener Aufforderung den damaligen Reichs- und Preußischen Minister des Innern, Dr. Wilhelm Frick, im seinerzeitigen Reichsministerium des Innern in Berlin, Am Königsplatz 6 auf, um von letzterem Mitteilungen entgegenzunehmen, die den Versuch enthielten, General Ludendorff zur Aufgabe seines ablehnenden Standpunktes dem nationalsozialistischen Regime gegenüber zu bewegen. Während meiner Unterredung mit Dr. Frick erschien plötzlich Hitler und beteiligte sich an den Verhandlungen. Als unser Gespräch zwangsläufig auch das bisherige Vorgehen des nationalsozialistischen Regimes gegen die Internationale Bibelforscher-Vereinigung [Jehovas Zeugen] in Deutschland streifte, legte Dr. Frick Hitler eine Reihe aus dem Auslande eingelaufener Protesttelegramme gegen die Verfolgung der Bibelforscher im ,Dritten Reich‘ mit folgendem Bemerken vor: ,Wenn sich die Bibelforscher nicht gleichschalten, dann werden wir sie mit den schärfsten Mitteln anfassen‘, worauf Hitler aufsprang, seine Hände zusammenballte, sie erhob und hysterisch schrie: ,Diese Brut wird aus Deutschland ausgerottet werden!‘ Vier Jahre nach dieser Unterredung habe ich mich während meiner sieben Jahre dauernden zweiten Schutzhaft, die bis zu meiner Befreiung durch die Alliierten anhielt, in der Hölle der nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen, Flossenbürg und Mauthausen aus eigener Anschauung davon überzeugen können, daß es sich bei dem Wutausbruch Hitlers um keine leere Drohung gehandelt hat, denn keine Häftlingskategorie ist in den genannten Konzentrationslagern dem Sadismus der SS-Soldateska in einer solchen Weise ausgesetzt gewesen wie die Bibelforscher — ein Sadismus, der durch eine derartige nicht abreißende Kette physischer und seelischer Quälereien gekennzeichnet war, die keine Sprache der Welt wiederzugeben imstande ist.“
Nachdem wir unsere Briefe an Hitler abgeschickt hatten, setzte eine Welle der Verhaftungen ein. Am schlimmsten wurde Hamburg betroffen, wo die Gestapo nur wenige Tage nach dem 7. Oktober 142 Brüder verhaftete.
DIE UNTERGRUNDARBEIT WIRD ORGANISIERT
Da wir nun Hitler in unserem Brief vom 7. Oktober unterrichtet hatten, daß wir trotz des Verbots weiterhin ausschließlich Gottes Geboten gehorchen würden, bemühten wir uns, alle mutigen und einsatzwilligen Brüder und Schwestern zu kleinen Gruppen, die unter der Leitung eines reifen Bruders stehen sollten, zu organisieren, dessen Aufgabe es war, sich ganzherzig der Schafe des Herrn anzunehmen und sie zu weiden.
Das Land wurde in dreizehn Bezirke aufgeteilt, und in jedem Bezirk wurde ein Bruder mit guten Hirteneigenschaften zum „Bezirksdienstleiter“ — wie man damals sagte — ernannt. Es mußte ein Bruder sein, der ungeachtet der damit verbundenen Gefahren bereit war, die kleinen Gruppen aufzusuchen, um sie mit geistiger Speise zu versorgen, sie in ihrer Predigttätigkeit zu unterstützen und im Glauben zu stärken. Mit wenigen Ausnahmen wurden solche Brüder in diese Stellungen eingesetzt, die den Brüdern bis dahin völlig unbekannt waren. Sie hatten jedoch seit Hitlers Machtergreifung bewiesen, daß sie bereit waren, ihre persönlichen Interessen denen des Königreiches unterzuordnen.
VERVIELFÄLTIGUNG UND VERBREITUNG DES „WACHTTURMS“
Die Brüder vervielfältigten und verbreiteten Exemplare des Wachtturms an vielen verschiedenen Orten in ganz Deutschland. In Hamburg zum Beispiel fuhr Helmut Brembach fort, die Brüder in Schleswig-Holstein und in Hamburg mit den von ihm und seiner Frau nachts hergestellten Vervielfältigungen zu versorgen. Schwester Brembach erzählt die folgende Erfahrung, die nur eine von den vielen ist, die sie und ihr Mann gemacht haben:
„Es war vormittags, als es plötzlich klingelte, und zwar heftiger als sonst. Als ich öffnete, standen drei Männer vor der Tür. Ich ahnte schon, worum es ging. ,Gestapo!‘ sagte einer, und schon kamen alle drei in die Wohnung. Das Herz schlug mir bis zum Hals, denn ich dachte an die vielen verbotenen Dinge, die sich in unserem Haus befanden. Während ich innerlich vor Erregung zitterte, betete ich zu Jehova.
Menschlich gesehen, wäre es kein Meisterstück gewesen, die verpackten Wachttürme und die ganze Ausrüstung zu ihrer Herstellung zu finden, denn unser Haus war ein Mehrfamilienhaus, in dem noch zwei Polizeibeamte wohnten. Darum gab es auch keine Versteckmöglichkeit, zumal der Umfang des notwendigen Materials — Papier, Trommel-Vervielfältiger, Schreibmaschine und Farbe sowie Verpackungsmaterial — sehr groß war. Da wir nicht wußten, wie wir die ganze Ausrüstung, die wir alle zwei Wochen immer wieder benötigten, vor den Augen der Unberechtigten verbergen sollten, beschlossen wir, alles in unsere Kartoffelkiste zu verpacken, die frei mitten im Keller stand und zu der auch die anderen Hausbewohner Zutritt hatten. Jedesmal, nachdem wir eine Auflage Wachttürme fertiggemacht hatten, verstauten wir alles in diese Kiste, deckten sie mit leeren Säcken zu und stapelten darauf bis an die Decke leere Tomatenkisten, in der Hoffnung, daß im Ernstfall die suchenden Männer blind waren oder aus Gleichgültigkeit und Trägheit Abstand davon nehmen würden, das alles abzuräumen, um auch die Kiste selbst durchsuchen zu können. So vertrauten wir auf Jehova, weil wir keinen anderen Weg sahen.
Jetzt fragte mich der Beamte, ob wir verbotene Literatur im Hause hatten. Um nicht lügen zu müssen, sagte ich: ,Bitte sehen Sie selbst nach.‘ Sie durchsuchten die Wohnung und verdeckten dabei mit der Tür des Waschtisches die Schreibmaschine, die wir vergessen hatten, in die Kiste zu packen. Wäre sie entdeckt worden, hätte man auch gewußt, daß es die Maschine war, mit der die Matrizen für die zu vervielfältigenden Wachttürme geschrieben wurden. Doch Jehova machte sie blind, und als sie in der Wohnung nichts fanden, wünschten sie in den Keller zu gehen. Nun schien mir die Entdeckung aller Materialien und Unterlagen unvermeidlich. Vor innerer Erregung schlug mein Herz noch heftiger, was ich aber vor den Beamten verbergen mußte. Dazu kam noch, daß hinter der Kiste ein ausschließlich mit Wachttürmen gefüllter Koffer stand, mit dem mein Mann am nächsten Tag auf die Reise gehen wollte. Doch was geschah? Die drei Beamten standen im Keller, wo mitten im Raum — wohlgemerkt, nicht an der Wand — die beschriebene Kiste stand und dahinter der mit Wachttürmen vollgepackte Koffer. Aber keiner schien sie zu sehen. Die Beamten schienen blind zu sein, denn keiner machte irgendwelche Anstrengungen, die Kiste zu durchsuchen oder wenigstens nachzusehen, was sich in dem Koffer befände. Schließlich fragte der leitende Beamte nach einem vorhandenen Dachboden, wo sie dann einige ältere Publikationen fanden. Zufrieden, etwas entdeckt zu haben, verließen sie wieder unser Haus. Das Wichtigste war ihnen dank der Hilfe Jehovas und seiner Engel verborgen geblieben.“
Viele ähnliche Fälle könnten berichtet werden, die zeigen, wie Jehova dafür sorgte, daß das Vervielfältigen lange Zeit durchgeführt und so sein Volk mit Literatur versorgt werden konnte.
ORGANISIERTER PREDIGTDIENST
Nicht jeder, der mit uns verbunden war, beteiligte sich am Predigtwerk. Im Gegenteil, in einigen Versammlungen war es nur die Hälfte. In Dresden zum Beispiel hatte die Versammlung einmal eine Höchstzahl von 1 200 Verkündigern erreicht, aber nach dem Verbot ging die Zahl schnell auf 500 zurück. Aber immerhin mögen es mindestens 10 000 gewesen sein, die sich zu jener Zeit in ganz Deutschland bereit erklärten zu predigen, und das ungeachtet der damit verbundenen Gefahren.
Zunächst arbeiteten die meisten nur mit der Bibel, während ältere Broschüren und Bücher, die vor dem Zugriff der Gestapo hatten gerettet werden können, bei Rückbesuchen abgegeben wurden. Andere fertigten Zeugniskarten an. Wieder andere schrieben Briefe an Personen, die sie kannten, wenn es einen besonderen Anlaß dazu gab. Die Tätigkeit von Tür zu Tür wurde fortgesetzt, obwohl große Gefahren damit verbunden waren. Jedesmal, wenn jemand die Tür öffnete, konnte es ein SA- oder ein SS-Mann sein. Nachdem die Verkündiger an einer Tür vorgesprochen hatten, gingen sie gewöhnlich in ein anderes Haus und in Fällen, in denen es besonders gefährlich war, sogar in eine andere Straße.
Mindestens zwei Jahre lang war es fast überall in Deutschland — an einigen Orten sogar noch länger — möglich, von Haus zu Haus zu predigen. Es besteht kein Zweifel, daß dies nur durch Jehovas besonderen Schutz möglich war.
Die kleinen Restbestände an Literatur, die die Brüder in ihrer Wohnung hatten, waren bald verbraucht. Wir überprüften daher Möglichkeiten, Literatur aus dem Ausland zu erhalten. Ernst Wiesner aus Breslau macht uns mit einigen interessanten Einzelheiten darüber, wie man dabei vorging, bekannt:
„Es handelte sich um Literatur, die von der Schweiz für uns in die Tschechoslowakei gesandt wurde. An der Grenze lagerten wir sie bei einer fremden Person und brachten sie von dort über den Kamm des Riesengebirges nach Deutschland. Die Arbeit, die von einem Team reifer, einsatzbereiter Brüder getan wurde, war äußerst gefährlich und sehr anstrengend. Der Grenzübergang mußte immer um Mitternacht erfolgen. Das Team unserer Brüder war gut organisiert und mit großen Rucksäcken ausgerüstet. Diese Reise machten sie wöchentlich zweimal, obwohl sie am Tage beruflich tätig waren. Im Winter benutzten sie Rodelschlitten und Skier. Sie kannten jeden Weg und Steg, hatten gute Taschenlampen, Ferngläser und auch gutes Schuhwerk. Vorsicht war ihr oberstes Gebot. Wenn sie sich um Mitternacht der deutschen Grenze näherten und auch wenn sie sie überschritten hatten, durfte lange Zeit kein Wort gesprochen werden. Zwei Brüder bildeten den Vortrupp. Begegneten sie irgend jemandem, ließen sie sofort ihre Taschenlampen aufleuchten. Das war für die Brüder, die ihnen mit schwerbepackten Rucksäcken in einer Entfernung von etwa 100 Metern folgten, das Zeichen, daß sie sich sofort seitwärts in die Büsche schlagen und warten mußten, bis die beiden Brüder, die die Vorhut bildeten, zurückkamen und sich durch ein bestimmtes Stichwort, das jede Woche geändert wurde, bemerkbar machten.
Solche Situationen konnten sich natürlich nachts mehrere Male wiederholen. Sobald dann die Luft wieder rein war, zogen die Brüder weiter ihres Weges, bis sie auf deutscher Seite ein bestimmtes Dorf und darin ein bestimmtes Haus erreicht hatten. Hier machten sie halt. Noch in derselben Nacht oder am frühen Morgen wurden die Bücher in kleine Pakete verpackt und beschriftet und beim Morgengrauen per Fahrrad nach Hirschberg und in andere Orte gebracht und dort zur Post gegeben. So erhielten die Brüder ... in verschiedenen Gebieten Deutschlands ihre Literatur. Diese Brüder, die als Team mit großem Eifer und außerordentlicher Geschicklichkeit vorgingen, konnten während eines Zeitraumes von zwei Jahren eine große Menge Literatur nach Deutschland bringen, ohne entdeckt zu werden, wodurch aber viele im ganzen Land sehr gestärkt wurden.“ Ähnliche Möglichkeiten gab es an der französischen Grenze, an der Grenze des Saargebietes, an der Schweizer und an der niederländischen Grenze.
Interessant in dieser Verbindung ist ein Brief, den eine Schwester schrieb: „Wenn Ihr die Berichte im Jahrbuch von Deutschland lest, werdet Ihr Euch fragen, wie es möglich ist, unter solchen Verhältnissen so viel Literatur abzusetzen. Wir fragen uns selbst. Aber wenn Jehova nicht für uns wäre, wäre es unmöglich, denn manche Geschwister werden auf ihren Gängen außerhalb ihres Hauses polizeilich beobachtet. ... Aber Jehova weiß es, er läßt uns trotzdem so viel Speise genießen, daß wir immer wieder gestärkt werden.“
Wir hatten genügend Zeit, die Literatur an verschiedenen Orten zu verstecken, bevor das Verbot ausgesprochen wurde. Um jedoch zu verstehen, was später geschah, ist es wichtig, im Sinn zu behalten, daß die Brüder keinerlei Erfahrung hatten, wie man Literatur unter Verbot am besten lagert. Statt sie unter viele Brüder zu verteilen, bestand daher am Anfang die Tendenz, sie in großen Depots aufzubewahren, was man für sicherer hielt, besonders in Anbetracht der Tatsache, daß die Verantwortlichen glaubten, das Verbot sei nur vorübergehend. In einigen der Depots konnten 30 bis 50 Tonnen Literatur untergebracht werden. Im Laufe der Zeit begannen sich jedoch einige der Brüder Sorgen zu machen und sich zu fragen, was geschehen würde, wenn die Feinde diese großen Depots finden und beschlagnahmen würden. Aus diesem Grund begannen die Brüder, die für die Depots verantwortlich waren, die Bücher für den Predigtdienst freizugeben, ganz gleich, ob sie für einen Beitrag abgegeben werden konnten oder nicht.
Nachdem es einmal klargeworden war, daß die Verfolgung anhalten würde und daß es immer gefährlicher sein würde, die Bücher in den Verstecken zu lassen, begannen die Brüder, so viele Bücher und Broschüren wie möglich abzugeben. Wenn sie in den Predigtdienst gingen, legten sie die Schriften einfach in die Wohnung, wenn niemand zusah, oder schoben sie unter die Fußmatte in der Hoffnung, sie würden in einigen Fällen in die Hände aufrichtiger Personen fallen, damit sie daraus Kraft und Hoffnung schöpfen könnten.
GEDÄCHTNISMAHL
Da wir entschlossen waren, in Übereinstimmung mit Jehovas Gebot unser Zusammenkommen nicht zu versäumen, versteht es sich von selbst, daß wir sehr gewissenhaft darauf achteten, das Gedächtnismahl zu feiern. An einem solchen Tag war die Gestapo besonders aktiv, die in den meisten Fällen das Datum der Gedächtnismahlfeier entweder aus Schriften, die außerhalb Deutschlands gedruckt worden waren, oder aus vervielfältigten Exemplaren des Wachtturms ermittelten, die manchmal in ihre Hände fielen. Ihre Wut konzentrierte sich besonders auf die Gesalbten, die nicht nur in Verbindung mit dem Gedächtnismahl, sondern auch in Verbindung mit Sonderfeldzügen erwähnt wurden. Sie sahen in ihnen die „Führer“ der Organisation, die zuerst vernichtet werden mußten, bevor die Organisation vernichtet werden konnte.
Das Gedächtnismahl am 17. April 1935 war besonders aufregend. Die Gestapo hatte das Datum schon einige Wochen zuvor erfahren und hatte ausreichend Zeit, all ihre Dienststellen zu informieren. In einem geheimen Rundschreiben vom 3. April 1935 hieß es:
„Ein überraschender Zugriff bei den bekannten Funktionären der Bibelforscher zu dem angegebenen Zeitpunkt dürfte u. U. erfolgversprechend sein. Um Erfolgsnachrichten bis zum 22. 4. 1935 wird ersucht.“
Von „Erfolgsnachrichten“ konnte aber kaum die Rede sein, denn die meisten Dienststellen, wie die in Dortmund, konnten nur berichten, daß die Wohnungen derjenigen, die als Führer der Bibelforschervereinigung angesehen wurden, überwacht, daß aber in keinem Fall Zusammenkünfte abgehalten worden seien. Zur Beruhigung fügte man hinzu: „Die leitenden und aktiven Anhänger der Bibelforscher im hiesigen Stadtbezirk befinden sich in Schutzhaft, so daß zur Organisation der Zusammenkünfte die Personen fehlen.“
Doch die Geheimpolizei irrte sich, denn kurz nachdem dieses geheime Rundschreiben abgeschickt worden war, erhielten wir ein Exemplar von einem Freund der Wahrheit, der zu solchen Geheiminformationen Zugang hatte. Die Bezirksdienstleiter warnten alle Diener rechtzeitig und gaben ihnen passenden Rat, wie sie der Entdeckung entgehen und dennoch dem Gebot unseres Herrn und Meisters gehorchen konnten.
So kam es, daß sich viele unmittelbar nach 18 Uhr versammelten, während andere erst den Besuch der Gestapo abwarteten und sich dann mit ihren Brüdern in kleinen Gruppen trafen, um das Gedächtnismahl mitten in der Nacht zu feiern. Jedenfalls mußten die meisten Gestapodienststellen einen ähnlichen Bericht absenden wie die in Dortmund.
Willi Kleissle berichtet, daß die Brüder in Kreuzlingen das Gedächtnismahl gleich nach 18 Uhr feierten. Es war ihnen geraten worden, bevor sie das Haus verließen, sollten sie in den Laden gehen, der sich in dem gleichen Gebäude befand und der einem Bruder gehörte, und dort könnten sie Zucker, Kaffee und ähnliche Waren kaufen. Dann sollten sie durch den regulären Ladenausgang hinausgehen. Die „Knüppelgarde“, wie Bruder Kleissle sie nannte, kam tatsächlich erst, als die Brüder schon alle in den Laden gegangen waren, so daß ihnen nichts nachgewiesen werden konnte. Aber die Fragen, die die Gestapo stellte, sowie verschiedene Äußerungen der Polizei zeigten deutlich, daß sie durch den Wachtturm das Datum der Gedächtnismahlfeier erfahren hatten.
Die Brüder waren jedoch immer auf Überraschungen vorbereitet, und das war gut. Sie versuchten, den Besuch der wöchentlichen Zusammenkünfte und vor allem auch die Teilnahme am Gedächtnismahl mit irgendeiner harmlosen alltäglichen Tätigkeit in Verbindung zu bringen, und das rettete sie oft vor der Verhaftung. Franz Kohlhofer aus der Gegend von Bamberg berichtet:
„An diesem Tage waren die Spitzel besonders auf die Häuser der Zeugen Jehovas scharf, in der Absicht, einige dabei zu überführen und sie dann zu verhaften. ... Und so waren wir schon einige Tage vorher übereingekommen, am Tage des Festes bei einem Bruder zusammenzukommen, der Schweine mästete, und bei ihm wollten wir unser Fest dem Jehova feiern. Jeder sollte in einem Korb die Abfälle von Kartoffeln mitbringen und sich mit diesem am Abend bei dem Bruder einfinden. Natürlich mußte dies alles in Eile geschehen; denn jederzeit konnte die Gestapo eintreffen. Zur Vorsicht nahmen wir auch noch Spielkarten mit, damit wir sie [die Polizisten] damit täuschen konnten falls sie uns überraschten. Und siehe da, eben hatte der Bruder das Schlußgebet zu Ende gesprochen, klopfte es schon an der Tür! In diesem Augenblick saßen wir vier aber schon ganz harmlos zusammen und spielten ,Schafskopf‘. Was sie für Augen machten, als wir sie ruhig und naiv anblickten! Da sie uns nicht überführt hatten, mußten sie unverrichtetersache wieder abziehen.“
TAUFEN
Nicht wenige von denen, die die Wahrheit in dieser Zeit kennenlernten, wurden unter den schwierigsten Umständen getauft. Bald wurden viele dieser Neugetauften ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager geworfen, und eine Anzahl von ihnen verlor ihr Leben genauso wie diejenigen, die ihnen die gute Botschaft überbracht hatten.
Paul Buder war schon im Jahre 1922 auf den „Millionen“-Vortrag aufmerksam geworden, kam aber erst 1935 mehr mit der Wahrheit in Berührung, als ihm ein junges Mädchen, das in dem gleichen Betrieb arbeitete wie er und vor dem er von anderen gewarnt worden war, das Buch Schöpfung gab. „Das war am 12. Mai 1935“, so heißt es in seinen Lebenserinnerungen. „Das hatte ich gesucht! Am 19. Mai 1935 trat ich dann aus der Kirche aus und sagte dem Mädchen, daß ich ein Zeuge Jehovas werden möchte. Oh, wie sie sich freute! Sie war schon sechs Wochen im Gefängnis gewesen, weil sie als eine ,Kolporteurin‘ betrachtet wurde. Dann bekam ich Verbindung mit Bruder und Schwester Woite aus der Versammlung Forst (Lausitz). In dieser Versammlung hielt man mich für einen Spitzel der Nazis. Dessenungeachtet ging ich aber regelmäßig mit einer kleinen Luther-Bibel in den Dörfern von Haus zu Haus. Am 23. Juli 1936 wurde ich dann in der Neiße in Forst getauft — im Beisein von Bruder und Schwester Woite und einem älteren Bruder, der die Ansprache hielt.“
Taufen wurden oft in kleinem Rahmen in Privatwohnungen durchgeführt. Von Zeit zu Zeit fanden sie im Freien statt, manchmal mit nur wenigen Taufbewerbern, manchmal aber auch mit einer größeren Zahl. Heinrich Halstenberg berichtet uns über eine Taufe in der Weser folgendes:
„Im Jahre 1941 wurde von einer Anzahl interessierter Personen der Wunsch geäußert, sich taufen zu lassen. Als wir feststellten, daß in der Umgebung sehr viele den gleichen Wunsch hatten, suchten wir nach einem günstigen Platz, den wir in Dehme an der Weser fanden. Nachdem alles überlegt und sorgfältig geplant worden war, wurde die Taufe auf den 8. Mai 1941 festgesetzt. Schon mittags wurde der Platz von Brüdern und Täuflingen belegt. So kamen wir den anderen Badegästen zuvor. Dann wurden Posten aufgestellt, und nachdem wir noch einmal die Bedeutung der Taufe besprochen hatten, beteten wir gemeinsam zu Jehova. Dann gingen die Täuflinge zur Taufe ins Wasser. Es wurden an diesem Tag über 60 Personen in der Weser getauft und einige Alte und Kranke, die das kühle Wasser nicht vertragen konnten, privat in einer Badewanne, so daß die Gesamtzahl der Täuflinge 87 betrug.“
EINE MENSCHENJAGD BEGINNT
Albert Wandres war schon vor dem 7. Oktober 1934 als Bezirksdienstleiter tätig, und sein Name war der Gestapo bald gut bekannt, besonders durch die laufenden Gerichtsverhandlungen in verschiedenen Städten des Ruhrgebietes, wo er arbeitete. Als Antwort auf die Frage, woher die Angeklagten ihre Literatur erhalten hätten, war oft der Name „Wandres“ zu hören. Die Gestapo setzte alles daran, ihn in ihre Gewalt zu bekommen. Klugerweise hatte er jedoch alle Brüder, die Bilder von ihm besaßen, gebeten, sie ihm entweder zurückzugeben oder sie zu vernichten. So kam es, daß die Gestapo zwar seinen Namen kannte, aber keine Vorstellung hatte, wie er aussah. Er fiel seinen Verfolgern erst nach einer dreieinhalb Jahre dauernden Menschenjagd in die Hände. Hören wir zu, wie uns Bruder Wandres einige seiner Erfahrungen aus der Zeit der Untergrundarbeit erzählt.
„Eine Zeitlang traf ich mich u. a. mit einigen Brüdern von Düsseldorf bei einem Bruder, der ein Kolonialwarengeschäft hatte. Wir dachten, wenn wir kurz vor Ladenschluß durch den Laden hineingingen, fiele es am wenigsten auf. Einmal waren wir bei ihm wieder für eine Stunde versammelt, als plötzlich die Gestapo Einlaß begehrte. Ich flüchtete mit ein paar Schritten noch rechtzeitig vom Lebensmittelmagazin — wo wir unsere Besprechung abgehalten hatten — in den Laden. Dort war zum Glück bereits das Licht gelöscht. Schon im nächsten Moment stürmten die Eindringlinge in das Lebensmittelmagazin und verhafteten alle dort anwesenden Brüder und durchsuchten anschließend den ganzen Raum, wobei man auch auf meine mit Wachttürmen gefüllte Tasche stieß. Plötzlich rief einer der Beamten freudig erregt: ,Das ist ja, was wir suchen! Wem gehört die Tasche?‘ Niemand meldete sich. Er fragte ein zweites Mal: ,Wem gehört die Tasche?‘ Wieder keine Antwort. Jetzt wollte er von dem Bruder, dem das Geschäft gehörte, wissen, wo er seine Wohnung habe. ,Im dritten Stock‘ war dessen Antwort. ,Raus!‘ schrie jetzt der Gestapobeamte die Brüder an, die schnell die Treppe hinaufspringen mußten, gefolgt von den Beamten der Gestapo, die hofften, den Gesuchten oben in der Wohnung des Bruders zu finden.
Jetzt ging ich vorsichtig in das Lebensmittelmagazin zurück, zog meinen Mantel an, setzte mir den Hut auf, nahm meine Tasche in die Hand und vergewisserte mich, ob die Straße frei sei. Dann verließ ich schleunigst das Haus. Als die Herrschaften wieder herunterkamen, mußten sie zu ihrem Leidwesen feststellen, daß der Vogel ausgeflogen und schon wieder auf der Reise nach Elberfeld-Barmen war.“ Bruder Wandres fügt hinzu: „Dies läßt sich natürlich alles schön erzählen, aber es persönlich erleben ist etwas anderes.“
„Einmal“, so berichtet Bruder Wandres weiter, „brachte ich zwei schwere Koffer mit den Büchern Rüstung, die bei Trier über die Grenze gebracht worden waren, nach Bonn und Kassel. Spätabends kam ich in Bonn an, wo ich vorsichtshalber die Koffer beim Versammlungsdiener in den Keller stellte. Am anderen Morgen, etwa um 5.30 Uhr, klingelte es. Wieder war es die Gestapo, die kam, um eine Haussuchung durchzuführen. Bruder Arthur Winkler, der damalige Versammlungsdiener, klopfte an meine Tür und machte mich darauf aufmerksam, daß unerwünschter Besuch käme. Da keine Möglichkeit des Entkommens mehr war, ließen wir die Dinge auf uns zukommen. Als sie [die Polizisten] in mein Zimmer kamen, fragten sie mich, was ich hier tue, worauf ich kurz antwortete, daß ich mich auf einer Rheintour befände und dabei auch den Botanischen Garten in Bonn besuchen wollte. Dann wurden meine Papiere sorgfältig kontrolliert und mir — wenn auch sehr nachdenklich — zurückgegeben, während Bruder Winkler aufgefordert wurde, sich zum Mitgehen fertigzumachen. Im Polizeipräsidium angekommen, meldete einer der Beamten seinem Vorgesetzten — wie mir später Bruder Winkler erzählte —: ,Es war noch einer da!‘ ,Und wo habt ihr ihn?‘ ,Den haben wir nicht mitgenommen.‘ ,Den habt ihr nicht mitgenommen? Na, euch kann man ja schicken!‘ ,Warum?‘ fragte der Angesprochene zurück, ,sollen wir ihn auch holen?‘ ,Holen? Glaubt ihr etwa, der wartet, bis ihr wiederkommt?‘ Tatsächlich nahm ich, kurz nachdem die Beamten das Haus verlassen hatten, einen der beiden Koffer, die sie nicht gefunden hatten, und fuhr damit nach Kassel.
In Kassel angekommen, sagte mir der Versammlungsdiener, Bruder Hochgräfe: ,Du kannst hier nicht bleiben. Du mußt sofort die Wohnung wieder verlassen, denn seit acht Tagen besucht mich jeden Morgen die Gestapo.‘ Wir vereinbarten, daß er fünfzig Meter vor mir vorausgehe, um mir auf diese Weise den Weg zu dem Ort zu zeigen, wo ich die Literatur lassen könnte. Kaum waren wir zweihundert Meter auf der Straße, auf der schönen Kastanienallee, gegangen, als uns auch schon die dem Versammlungsdiener gut bekannten Gestapobeamten entgegenkamen. Da ich etwa fünfzig Meter hinter dem Versammlungsdiener herkam, konnte ich gut beobachten, wie sie ihn hämisch angrinsten, aber sie hielten ihn nicht auf. Wenige Minuten später war wieder einmal die Literatur in Sicherheit gebracht worden, durch die die Brüder im Glauben gestärkt werden sollten.
Ein andermal brachte ich zwei schwere Koffer mit Literatur nach Burgsolms bei Wetzlar. Es war abends elf Uhr, die Nacht war pechschwarz, so daß mich wirklich kaum jemand sehen konnte. Trotzdem hatte ich das unangenehme Gefühl, daß ich beobachtet wurde. Als ich schließlich bei meinem Ziel angekommen war, bat ich den Bruder sofort, erst die Koffer in Sicherheit zu bringen. Am anderen Morgen, gegen 5.30 Uhr, kam der Polizeiwachtmeister jenes Ortes. Ich stand mitten im Zimmer und war gerade im Begriff, mich zu waschen, als er, zu der Schwester hingewandt, sagte: ,Da ist gestern abend ein Mann mit zwei großen, schweren Koffern zu euch gekommen. Da haben Sie doch sicher wieder Literatur bekommen. Wo haben Sie die?‘ Darauf erwiderte die Schwester: ,Mein Mann ist bereits auf die Arbeit gegangen. Und was gestern abend stattfand, entzieht sich meiner Kenntnis, da ich nicht zu Hause war‘, worauf ihr der Wachtmeister entgegnete: ,Wenn Sie die Koffer nicht freiwillig herausgeben wollen, muß ich eben Haussuchung machen. Ich hole schnell den Bürgermeister, denn ohne diesen darf ich keine Haussuchungen durchführen. Bis dahin dürfen Sie aber das Haus nicht verlassen.‘ Während dieser ganzen Unterredung stand ich mitten im Zimmer und wunderte mich, warum der Beamte so glasige Augen hatte und mich überhaupt nicht ansprach. Ich konnte nur annehmen, daß er so mit Blindheit geschlagen war, daß er mich überhaupt nicht sah. Sogleich, nachdem er gegangen war, um den Bürgermeister zu holen, machte ich mich eilig fertig, ging hinaus und stellte mich hinter das Haus. Dort wartete ich, bis der Bürgermeister mit dem Gendarmeriewachtmeister das Haus durch den Haupteingang betrat. In diesem Augenblick entfernte ich mich durch den Gartenausgang. Nachbarn, die das beobachtet hatten, freuten sich offensichtlich über mein Entkommen. Erst im Wald habe ich mich fertig angezogen; darauf lief ich, so schnell es ging, zur nächsten Bahnstation und reiste weiter.“
Ähnliche Erfahrungen machten auch die übrigen Bezirksdienstleiter.
EIN PROZESS ANDERER ART
Während der Jahre 1934 bis 1936 standen treue Hirten ihren Brüdern in ganz Deutschland bei und ermunterten sie, die Zusammenkünfte zu besuchen und trotz der Verfolgung möglichst in allen Dienstzweigen tätig zu sein. Unterdessen fand am 17. Dezember 1935 ein Prozeß in Halle gegen Balzereit, Dollinger und sieben andere statt, die als „prominente“ Brüder angesehen wurden. Für mindestens die Hälfte von ihnen war dieser Prozeß das Ende ihrer christlichen Laufbahn.
Viele Brüder gaben bei den zahlreichen Prozessen, die damals in Deutschland stattfanden, offen zu, was sie getan hatten, um die Königreichsinteressen unter den schwierigen Verhältnissen zu fördern. Im Gegensatz dazu leugneten diese Männer bei dem Prozeß in Halle ab, jemals etwas getan zu haben, was die Regierung verboten hätte. Als Balzereit vom Vorsitzenden gefragt worden war, was er über seine eigene Person zu sagen habe, erklärte er, sobald das Verbot in Bayern verkündet worden sei, habe er Anweisungen herausgegeben, dort nicht zu arbeiten, und das gleiche treffe auch auf alle anderen Länder zu. Er sagte, er habe nie Anweisungen gegeben, durch die jemand ermuntert worden wäre, das Verbot zu mißachten.
Als Balzereit vom Vorsitzenden über die jährliche Gedächtnismahlfeier befragt wurde, antwortete er, auch er habe gehört, daß die Brüder planten, zusammenzukommen, um es trotz des Verbots zu feiern. Er habe sie jedoch davor gewarnt, da er gewußt habe, daß die Polizei an jenem Tag eine besondere Aktion plante.
Natürlich kam auch die persönliche Haltung des Angeklagten hinsichtlich des Militärdienstes zur Sprache, wie es bei allen Prozessen der Fall war, die damals stattfanden. Er erklärte, er stimme völlig mit der Meinung des Führers überein, nämlich, daß jeder Krieg ein Verbrechen sei, aber jedes Land das Recht und die Pflicht habe, das Leben seiner Bürger zu schützen.
Bald darauf schrieb Bruder Rutherford folgenden Brief an die deutschen Brüder:
„An Jehovas treues Volk in Deutschland!
Trotz der ruchlosen Verfolgung und der starken Opposition, die durch Satans Werkzeuge in Eurem Land über Euch gekommen sind, ist es erfreulich, zu wissen, daß der Herr immer noch einige Tausend in jenem Lande hat, die an ihn glauben und darauf bestehen, die gute Botschaft von seinem Königreich zu verteidigen. Eure Treue im Ausharren angesichts der Verfolgung und die Tatsache, daß Ihr dem Herrn treu bleibt, steht im auffallenden Gegensatz zu der Handlungsweise des früheren Leiters der Gesellschaft in Deutschland und derer, die mit ihm verbunden sind. Kürzlich wurde mir eine Kopie der Zeugenaussagen anläßlich des Verhörs in Halle gegeben, und ich bin erstaunt, daraus zu sehen, daß keiner von denen, die dort verhört wurden, ein treues, wahres Zeugnis für den Namen Jehovas ablegte. Es wäre besonders die Sache des früheren Leiters Balzereit gewesen, das Panier des Herrn zu erheben und sich angesichts jeder Opposition für Gott und sein Königreich zu erklären; aber es wurde kein Wort geäußert, wodurch er sein gänzliches Vertrauen auf Jehova gezeigt hätte. Immer wieder machte ich ihn auf Dinge aufmerksam, die in Deutschland getan werden könnten, und er versicherte, daß er jede Anstrengung mache, die Geschwister zu ermutigen, im Zeugnisgeben fortzufahren. Im Verhör aber erklärte er ausdrücklich, daß nichts getan worden sei. Es ist nicht notwendig, daß ich die Sache weiter diskutiere, es genügt, zu hören, daß die Gesellschaft nichts mehr mit ihm zu tun haben will noch mit irgendwelchen, die bei jenem Anlaß eine Gelegenheit hatten, für den Namen Jehovas und sein Königreich Zeugnis abzulegen, und verfehlten, dies zu tun. Die Gesellschaft wird keine Anstrengungen machen, sie aus dem Gefängnis zu befreien, selbst wenn sie irgend etwas tun könnte.
Alle, die den Herrn lieben, mögen nun ihr Angesicht Jehova und seinem Königreich zuwenden und trotz aller Opposition, die sich Euch entgegenstellt, treu und standhaft auf der Seite des Königreiches ausharren. ...“
Die Angelegenheit wurde im Wachtturm vom 15. Juli 1936 behandelt als eine Warnung für diejenigen, die den aufrichtigen Wunsch hatten, unter allen Umständen treue Zeugen für Jehova zu sein.
Im Gegensatz zu vielen treuen Brüdern in Deutschland, die zu Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren verurteilt worden waren, wurde Balzereit nur zu zweieinhalb und Dollinger zu zwei Jahren verurteilt. Nachdem Balzereit seine Strafe im Gefängnis verbüßt hatte, wurde er ins Konzentrationslager Sachsenhausen überführt, wo er gezwungen war, eine äußerst unrühmliche Rolle zu spielen. Er hatte die Erklärung unterschrieben, durch die er sich von der Gemeinschaft mit den Brüdern lossagte, und vermied jeden Kontakt mit ihnen. Ein Jahr später wurde er wegen seines Benehmens entlassen, aber bis dahin mußte er manche Demütigung über sich ergehen lassen, denn die SS haßte im Grunde genommen Verräter. Die SS selbst gab ihm den Namen „Beelzebub“, und einmal verlangte ein SS-Mann von ihm, sich vor alle seine Brüder zu stellen — zu jener Zeit waren etwa 300 im Lager — und die von ihm unterschriebene Erklärung zu wiederholen, durch die er sich von der Gemeinschaft mit Jehovas Zeugen losgesagt hatte, und das tat er auch.
Im Jahre 1946, als Balzereit bereits ein heftiger Gegner der Wahrheit geworden war, schrieb er einen Brief an die Wiedergutmachungsbehörde und offenbarte darin die feindselige Einstellung, die er schon vor dem Prozeß gehabt hatte. Damit ging in der Geschichte des Volkes Gottes in Deutschland ein dunkles Kapitel zu Ende, dessen erste Absätze schon in den zwanziger Jahren geschrieben worden waren.
DIE GESTAPO SCHLÄGT ZU — 28. AUGUST 1936
Zwei Jahre eifriger Tätigkeit gingen vorüber, ohne daß es der Gestapo gelang, die organisierte Untergrundtätigkeit wesentlich zu beeinträchtigen, obwohl sie alle ihr bekannten Zeugen Jehovas sorgfältig beschattete. Aber im Laufe der Zeit erfuhr sie immer mehr über unsere Tätigkeit, und bald war sie über das, was wir taten, gut informiert. Um im Kampf gegen uns eine Hilfe zu haben, wurde gemäß einer vertraulichen Mitteilung der preußischen Geheimen Staatspolizei vom 24. Juni 1936 ein „Sonderkommando bei der Gestapo“ gebildet.
Während der ersten Hälfte des Jahres 1936 legte die Geheime Staatspolizei ein großes Archiv an, das die Anschriften von Personen enthielt, die in dem Verdacht standen, Zeugen Jehovas zu sein oder mindestens mit ihnen zu sympathisieren. Dieses Archiv stützte sich zu einem großen Teil auf die Adressen, die in dem bei Haussuchungen beschlagnahmten Buch Tägliches himmlisches Manna für den Haushalt des Glaubens zu finden waren. Für die Gestapoagenten wurden sogar Sonderkurse abgehalten. Sie wurden im Leiten des Wachtturm-Studiums geschult; sie mußten sorgfältig die neuesten Wachtturm-Artikel studieren, damit sie Fragen beantworten konnten, als wären sie Brüder. Schließlich mußten sie sogar lernen, Gebete zu sprechen. Dies alles hatte den Zweck, wenn möglich, in das Innere der Organisation vorzudringen, um sie von innen zu zerstören.
Anton Kötgen aus Münster berichtet, daß er, kurz nachdem er einer „freundlichen“ Dame Literatur zurückgelassen hatte, plötzlich verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde. „Zur gleichen Zeit“, so berichtet Bruder Kötgen weiter, „besuchten Gestapobeamte in meinem Garten meine Frau. Sie stellten sich als Brüder vor, dies aber nur, um Namen von anderen Brüdern zu erfahren. Meine Frau durchschaute jedoch ihre Absicht und entlarvte sie als Gestapobeamte.“ Aber nicht immer wurde die Gestapo rechtzeitig erkannt.
Inzwischen plante Bruder Rutherford eine Reise in die Schweiz und wollte, wenn möglich, bei dieser Gelegenheit mit Brüdern aus Deutschland sprechen. Es wurden Vorkehrungen für einen Kongreß in Luzern getroffen, der vom 4. bis 7. September 1936 stattfinden sollte. Das Zentralbüro in der Schweiz hatte vorgeschlagen, daß wir Berichte von Brüdern in ganz Deutschland zusammenstellen sollten, die z. B. von ihrer Verhaftung, ihrer Mißhandlung durch die Gestapo und ihrer Entlassung vom Arbeitsplatz wegen Verweigerung des Deutschen Grußes handelten, sowie Berichte über Fälle, in denen Brüder zufolge von Mißhandlungen gestorben waren. Diese Berichte sollten vor Beginn des Kongresses heimlich in die Schweiz gebracht werden, damit Bruder Rutherford die Gelegenheit hätte, sich damit zu beschäftigen.
Aber plötzlich, am 28. August 1936, schlug die Gestapo auf Kommando unbarmherzig zu und setzte eine Kampagne in Gang, während der Jehovas Zeugen wie Freiwild gejagt wurden. Alle verfügbaren Kräfte wurden aufgeboten, um Jehovas Zeugen bei Tag und Nacht — und besonders bei Nacht — einzufangen. Alle Informationen, die die Gestapo im Laufe der vorangegangenen Monate gesammelt hatte, erwiesen sich nun als eine große Hilfe für sie. Ahnungslose Personen, die nie bekannt hatten, Zeugen Jehovas zu sein, wurden in dem Netz eingefangen. Solche Personen berichteten der Gestapo natürlich gern alles, was sie über Jehovas Zeugen wußten, damit sie ihre Freiheit wiedererlangen konnten; und obwohl es oft den Anschein hatte, daß sie nur sehr wenig zu sagen hatten, halfen doch diese kleinen Teilinformationen der Gestapo, das Gesamtbild, das sie sich inzwischen erstellt hatte, zu ergänzen. Bei späteren Verhören rühmte sich die Gestapo oft, diese Informationen hätten ihr geholfen, Tausende von Personen zu fangen, von denen die Mehrheit ins Gefängnis gesteckt und später ins Konzentrationslager gebracht wurde.
Als die Kampagne der Gestapo schließlich auf Hochtouren lief, gelang es ihr in einer Großoffensive, Bruder Winkler, der damals für das gesamte Werk in Deutschland verantwortlich war, und die Mehrheit der Bezirksdienstleiter, deren Namen und Aufgabengebiete zum großen Teil schon bekannt waren, in ihre Gewalt zu bekommen. Die Gestapo maß dieser Kampagne eine solche Bedeutung bei, daß der gesamte Polizeiapparat eingesetzt wurde, um gegen Jehovas Zeugen vorzugehen, so daß die Verbrecherwelt „Schonzeit“ hatte.
Durch die sorgfältige Kleinarbeit, die die Gestapo im Laufe mehrerer Monate leistete, fand sie heraus, daß wichtige Besprechungen zwischen Bruder Winkler und anderen verantwortlichen Dienern aus ganz Deutschland im Berliner Tiergarten stattfanden. Das traf besonders während der wärmeren Jahreszeit zu. Diese Zusammenkünfte konnten lange getarnt werden, weil Bruder Varduhn dort einen Stuhlverleih betrieb. Er konnte den ankommenden Brüdern, ohne Verdacht zu erregen, sagen, an welcher Stelle des Tiergartens ein Bruder auf sie warten und sie zu einem sicheren Versteck geleiten würde, wo die Besprechung stattfinden sollte. Wenn Gefahr drohte, konnte er die Brüder einfach dadurch warnen, daß er zu ihnen ging und das Geld für die Stühle einkassierte, die sie „gemietet“ hatten. Aber diese wunderbare Einrichtung sollte nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben. Irgendwie wurden der Gestapo Einzelheiten bekannt, die ihr bei ihrem raffiniert ausgeheckten Schlachtplan zu Hilfe kamen. Bruder Klohe, der selbst in die Aktion verwickelt war, erzählt uns, was sich in jenen aufregenden Tagen in Berlin abgespielt hat:
„Ich freute mich sehr auf die Zusammenkunft in Luzern, denn ich hatte gute Aussichten, daran teilnehmen zu können, besaß ich doch sogar ein Visum für die Schweiz. Vorher fuhr ich aber noch einmal nach Leipzig, um organisatorische Fragen mit Bruder Frost zu besprechen, dessen Bezirk ich als Bezirksdienstleiter übernehmen sollte, nachdem durch die Verhaftung von Bruder Paul Großmann eine Lücke entstanden war. Ich erreichte aber Bruder Frost gar nicht; dort, wo ich ihn vermutete, nahm mich die Gestapo in Empfang. Zunächst war ich völlig benommen, denn gerade jetzt, wo ich eine solch beglückende Tätigkeit beginnen sollte, wurde ich plötzlich aus der Gemeinschaft der Brüder herausgerissen und zur Gestapo in der Stadt Leipzig gebracht. [Von dort aus brachte man ihn später nach Berlin.]
Inzwischen hatte die Gestapo erfahren, daß wir im Berliner Tiergarten einen Treffpunkt hatten, aber auch sonst war ihr offiziell viel über unsere Organisation bekanntgeworden. Natürlich braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß sie sich diese Informationen auf mannigfaltige Weise beschafft hatte, indem sie auch nicht vor schmutzigen Erpressermethoden zurückschreckte. ...
Wenige Tage später kamen plötzlich fünf Kriminalbeamte mit scharfgeladenen Pistolen zu mir, hießen mich meine Privatkleider anziehen und fuhren mit mir in die Nähe des Goldfischteiches, wo Bruder Varduhn gewerbsmäßig Gartenstühle vermietete. Ihn verdächtigten sie noch nicht, ein Zeuge Jehovas zu sein, denn bis dahin war die Aufmerksamkeit noch nicht auf ihn gefallen. Ich sollte jetzt als eine Art ,Fliegenleim‘ für meine Brüder dienen, die eventuell bei diesem geplanten — und der Gestapo bekanntgewordenen — Treffpunkt erscheinen würden.
Ich hatte kaum den mir bezeichneten Platz eingenommen, als auch schon unsere Schwester Hildegard Mesch auf mich zukam. Ihr war aufgefallen, daß ich nicht zu ihnen kam, da ich doch erwartet wurde, und wollte sehen, was mein Verhalten zu bedeuten habe. Da mir wegen der erhaltenen Schläge meine vereiterten Schienbeine Schmerzen verursachten, fiel es den Beamten nicht auf, daß ich mich in diesem Moment, als sie auf der anderen Seite des Weges an mir vorüberging, niederbeugte, mein Gesicht schmerzlich verzog und ihr mit den Augen verständlich zu machen suchte, daß sich die Gestapo im Tiergarten befände. Schwester Mesch hatte verstanden, stutzte leicht und begab sich auf einem Umweg wieder zu Bruder Varduhn, den sie über die neue Situation verständigte. Das bedeutete größte Gefahr für Bruder Winkler, der auch tatsächlich bald kam und sich ahnungslos auf einen freien Stuhl setzte. Bald darauf ging Bruder Varduhn zu ihm, kassierte von ihm ganz offiziell die Stuhlmiete und unterrichtete ihn gleichzeitig, daß sich Gestapobeamte im Tiergarten befänden. Darum stand Bruder Winkler bald wieder auf, ließ seine Tasche zurück und entkam — wie es schien — durch die Kette der Gestapobeamten. Später erfuhr ich, daß er sich noch spät in der Nacht in die Wohnung von Bruder Kassing begab, wo er aber schon von einer Menge wartender Gestapobeamter empfangen und sogleich verhaftet wurde.“
Schon nach wenigen Tagen waren mindestens die Hälfte der Bezirksdienstleiter in Deutschland zusammen mit Tausenden anderer Brüder und Freunde verhaftet worden. Darunter war auch Bruder Georg Bär, der folgendes berichtet:
„Jeden Abend gegen 10 Uhr hörte ich, wie aus verschiedenen Zellen Gefangene geholt wurden. Kurz danach hörte ich, wie sie unten im Keller geschlagen wurden; ich hörte auch ihr Schreien und ihr Weinen. ... Jeden Abend, wenn das Aufschließen begann, dachte ich: Jetzt bist du an der Reihe. Aber man ließ mich in Ruhe, bis ich am vierten oder fünften Tag abends gegen 6 Uhr zum Verhör geholt wurde. Diesmal war es ein SS-Mann, der mich in sein Zimmer führte und mich aufforderte, dort Platz zu nehmen. Dann sagte er zu mir: ,Wir wissen, daß Sie uns mehr erzählen können, als Sie wollen.‘ Er stand auf und nahm einen Bleistift, den er an einem Papierkorb anspitzte. Dann fuhr er in seiner Rede fort: ,Ich will es Ihnen nicht schwermachen, kommen Sie einmal her.‘ Er forderte mich auf, an seinen Schreibtisch zu treten, zeigte mir einige maschinegeschriebene Blätter und ließ sie mich lesen. Da standen all die Namen der Brüder, die in Deutschland reisten, als letzter auch meiner. Dann konnte ich die Namen der Versammlungen lesen, die wir besucht hatten, und auch die Namen der Brüder. Hier stand schwarz auf weiß, wieviel Literatur, Sprechapparate und Schallplatten wir bestellt hatten. Auch die Spenden und sonstigen Gelder, die wir abzuliefern hatten, waren aufgeführt. Ja, ich konnte es kaum glauben, unsere ganze Untergrundorganisation war hier aufgeführt und lag ausgebreitet in den Händen der Gestapo. Wahrlich, ich brauchte eine Weile, bis ich die Situation begriffen hatte. Woher, dachte ich, kann die Gestapo nur all diese Unterlagen haben? Ich hätte an der Echtheit des Berichtes noch gezweifelt, wenn nicht auch meine eigene Tätigkeit genau aufgezeichnet gewesen wäre. Der mich verhörende SS-Gestapo-Mann mit Namen Bauch aus Dresden ließ mir Zeit, meine Gedanken zu sammeln. Ich glaube, ich habe ein ziemlich dummes Gesicht gemacht, als ich mich wieder auf meinen Platz setzte. Dann sagte er zu mir: ,Nun hat es doch keinen Zweck mehr zu schweigen.‘
Monatelang hat mich der Gedanke gequält, woher die Gestapo all unsere Unterlagen hatte. Später habe ich dann erfahren, daß all unsere Bestellungen, Berichte und abgelieferten Gelder sorgfältig in Karteien eingetragen und aufbewahrt wurden, die dann alle von der Gestapo gefunden und beschlagnahmt wurden.“
MUTIGE TÄTIGKEIT VERWIRRT POLIZEI
Der sorgfältig geplante Kongreß in Luzern, der vom 4. bis 7. September 1936 stattfinden sollte, bekam plötzlich durch die Massenverhaftungen, die zwei Wochen zuvor eingeleitet worden waren, ein ganz anderes Gepräge. Vielleicht hat der Kongreß, von dem die Gestapo ebenfalls Kenntnis hatte, das Datum ihres Zuschlagens mitbestimmt. Jedenfalls wurde alles getan, um den Brüdern aus Deutschland die Teilnahme an diesem Kongreß unmöglich zu machen. Das geht aus einem geheimen Rundschreiben der Geheimen Staatspolizei vom 21. August 1936 hervor, worin es bezüglich der Brüder, die zu dem Kongreß reisen wollten, hieß: „Die Ausreise der betreffenden Personen ist zu verhindern. Der Reisepaß ist in diesen Fällen den Teilnehmern zu entziehen.“
Tatsächlich konnten von den mehr als 1 000 Personen, die die Reise geplant hatten, nur etwa 300 das Ziel erreichen. Aber die meisten von ihnen mußten die Grenze illegal überschreiten, und viele wurden auf dem Rückweg verhaftet.
Bruder Rutherford nahm natürlich die Gelegenheit wahr, mit den Dienern aus Deutschland, die anwesend waren, über ihre Probleme zu sprechen. Er war besonders daran interessiert, wie man den Brüdern geistig helfen könnte. Heinrich Dwenger war selbst zugegen und berichtet über die weitere Besprechung:
„Nun sollten die Bezirksdienstleiter Vorschläge machen. Sie schlugen vor, daß mich Bruder Rutherford wieder nach Deutschland zurücksenden sollte. Sie wünschten, daß ich selbst den Vorschlag einbringen sollte, aber ich sagte ihnen, daß ich das nicht könne, denn ich sei nach Prag gesandt worden und könne deshalb nicht sagen, daß ich wieder nach Deutschland möchte. Ich würde so den Eindruck erwecken, als wäre ich nicht mit meinem Auftrag zufrieden. So kam es, daß Bruder Frost zunächst die Verantwortung übertragen wurde. Dann fragte Bruder Rutherford: ,Was ist aber, wenn auch du verhaftet wirst?‘ Für diesen Fall wurde Bruder Dietschi von den Brüdern vorgeschlagen, die Verantwortung für das Werk in Deutschland zu tragen, wenn Bruder Frost verhaftet werden sollte.“
Es wurde eine Resolution gefaßt, und etwa zwei- bis dreitausend Exemplare wurden an Hitler und an Regierungsmitglieder in Deutschland geschickt. Ein weiteres Exemplar wurde an den Papst in Rom geschickt. Franz Zürcher aus Bern, der die Resolution am 9. September 1936 abgeschickt hatte, erhielt von der Post die Bestätigung, daß die Resolution an den Vatikan in Rom sowie an die Reichskanzlei in Berlin ausgeliefert worden sei. Die Resolution, die einen Umfang von dreieinhalb maschinegeschriebenen Seiten hatte, enthielt folgende Gedanken:
„Wir erheben scharfen Protest gegen die grausame Behandlung der Zeugen Jehovas durch die römisch-katholische Hierarchie und ihre Verbündeten in Deutschland und in allen anderen Erdteilen, aber wir überlassen gerne den Ausgang dieser Sache völlig der Hand des Herrn, unseres Gottes; denn nach seinem Worte wird er ihnen volle Vergeltung zuteil werden lassen. ... Wir senden herzliche Grüße an unsere verfolgten Geschwister in Deutschland und bitten sie, guten Mutes zu sein und sich völlig auf die Verheißungen des allmächtigen Gottes, Jehova, und auf Christus zu verlassen ...“
Es wurden Vorkehrungen getroffen, die angenommene Resolution durch eine Blitzkampagne einer großen Anzahl Menschen in Deutschland zugänglich zu machen. Von den 300 000 Exemplaren, die in Bern gedruckt wurden, wurden 200 000 nach Prag gesandt, und von dort wurden sie über die Grenze in die Nähe von Zittau und an einige Orte im Riesengebirge gebracht. Die anderen 100 000 Exemplare sollten über die Niederlande nach Deutschland gebracht werden, aber leider wurden sie in den Niederlanden beschlagnahmt. So mußten verschiedene Bezirksdienstleiter die fehlenden Exemplare für Berlin und Norddeutschland selbst herstellen. Als Datum der Verbreitung wurde der 12. Dezember 1936, 17 bis 19 Uhr festgesetzt.
Gemäß später erstellten Berichten nahmen 3 450 Brüder und Schwestern an der Aktion teil. Jeder hatte zwanzig bis höchstens vierzig Exemplare erhalten, und es galt, sie in dem zugeteilten Gebiet so schnell wie möglich zu verbreiten. Sie sollten einfach in Briefkästen gesteckt oder unter die Türen geschoben werden.
In jedem Haus wurde ein Exemplar zurückgelassen; in großen Wohnhäusern im allgemeinen nicht mehr als drei Exemplare. Dann eilten diejenigen, die die Flugblätter verteilten, in eine Nachbarstraße und gingen dort genauso vor, damit die Exemplare über ein möglichst großes Gebiet verteilt würden.
Die Wirkung auf die Gegner war verheerend. Erich Frost, der während der acht Monate, in denen er für das Werk in Deutschland verantwortlich war, mit dem Büro in Prag in enger Berührung stand, gab anläßlich eines seiner Besuche in Prag folgenden Bericht über diese Kampagne:
„Die Verteilung der Resolution hat sich als ein gewaltiger Schlag gegen die Regierung und die Gestapo erwiesen. Wir haben diese Aktion schlagartig durchgeführt, und zwar am 12. Dezember 1936. Es wurde alles aufs präziseste vorbereitet, alle treuen Mitarbeiter wurden verständigt, jeder erhielt 24 Stunden vor Beginn der Arbeit seinen Plan und sein Päckchen Resolutionen. Schlag 17 Uhr begann die Verbreitung. Eine Stunde später waren bereits Polizei, SA und SS auf den Beinen und patrouillierten durch die Straßen, um den mutigen Verteilern aufzulauern. Sie erwischten bei der Arbeit nur wenige, im ganzen Reich wohl kaum mehr als ein Dutzend. Am darauffolgenden Dienstag jedoch kamen die Beamten in die Wohnungen der Geschwister und sagten jedem die Beteiligung an dieser Arbeit auf den Kopf zu. Unsere Geschwister wußten natürlich von nichts, und so fanden verhältnismäßig wenig Verhaftungen statt.
Wie nun aus der Presse hervorgeht, hat man nicht nur entsetzliche Wut über unsere Kühnheit, sondern noch viel größere Angst. Man ist vollständig verblüfft darüber, daß es in einem seit vier Jahren terrorisierten Hitlerreich noch möglich ist, eine staatsfeindliche Aktion unter solcher Verschwiegenheit und in einem so gewaltigen Umfang durchzuführen. Vor allem fürchtet man das Volk. Von verschiedenen Seiten waren Anzeigen an die Polizei ergangen. Als nun die Beamten und uniformierten Leute in die Häuser gingen und die Menschen fragten, ob sie ein solches Blatt erhalten hätten, verneinten sie es alle, weil in Wirklichkeit doch in jedem Haus nur zwei, höchstens drei Familien eine solche Resolution erhalten hatten. Das weiß aber die Polizei nicht, sondern sie nimmt an, daß diese an jeder Tür abgegeben wurde.
Infolgedessen hält man dafür, daß die Menschen unsere Resolution erhalten haben und dies doch aus gewissen Gründen vor der Polizei ableugnen, und das bewirkt bei diesen Leuten eine ungemeine Verwirrung und Furcht.“
Das war für die Gestapo eine böse Enttäuschung, denn sie hatte gedacht, sie hätte unsere Tätigkeit durch ihren Großeinsatz am 28. August völlig zerschlagen. Und nun diese Großaktion mit der Resolution, die sie größer einschätzte, als sie in Wirklichkeit war! Es ist eine unleugbare Tatsache, daß es dem Feind gelungen war, eine gewaltige Bresche in die Reihen des Volkes Gottes zu schlagen, aber es gelang ihm nie, das Werk zum völligen Stillstand zu bringen. Die Brüder führten ihren Predigtauftrag weiterhin aus, wie dies aus dem Bericht der Bezirksdienstleiter zu ersehen ist, der für Bruder Rutherford zusammengestellt wurde und der die Zeit vom 1. Oktober bis 1. Dezember 1936 umfaßte. Er wies folgende Ergebnisse auf (bei allen Zahlen handelt es sich um ungefähre Angaben): 3 600 Verkündiger, 21 521 Stunden, 300 Bibeln, 9 624 Bücher und 19 304 Broschüren. Dies ist ein guter Bericht, verglichen mit dem letzten Monatsbericht vor der Verhaftungswelle (16. Mai bis 15. Juni): 5 930 Verkündiger, 38 255 Stunden, 962 Bibeln, 17 260 Bücher und 52 740 Broschüren.
BLOSS-STELLUNG DURCH EINEN „OFFENEN BRIEF“
Bei fast allen Verhören und Prozessen, die nach dem 12. Dezember 1936 stattfanden, kam die Verbreitung der Resolution zur Sprache. Die Behörden bereiteten vielen unserer Brüder noch größere Schwierigkeiten, da die Erklärungen in der Resolution, wie sie behaupteten, unwahr seien und wir keine Beweise für unsere Behauptungen hätten. Die verantwortlichen Brüder schlugen daher Bruder Rutherford vor, daß ein „offener Brief“ genauso schlagartig verbreitet werden sollte wie die Resolution selbst. Dadurch sollte der Gestapo die Antwort auf ihre unwahren Behauptungen gegeben werden. Bruder Rutherford gab seine Zustimmung und bat Bruder Harbeck in der Schweiz, den „offenen Brief“ zu schreiben, da er Zugang zu dem ganzen Material hatte, das bis zum Jahre 1936 über die Verfolgung gesammelt worden war.
Der folgende daraus zitierte Abschnitt zeigt deutlich, mit welch schonungslosen Argumenten die Brüder damals dem Feind in aller Öffentlichkeit antworteten:
„In christlicher Geduld und aus Scham haben wir lange genug zurückgehalten, die Öffentlichkeit in Deutschland und im Ausland auf diese Schandtaten aufmerksam zu machen. Es befindet sich in unseren Händen ein erdrückendes Beweismaterial von oben erwähnten grausamen Mißhandlungen der Zeugen Jehovas. Bei der Mißhandlung haben sich u. a. besonders der Kriminalassistent Theiß aus Dortmund, Tennhoff und Heimann von der Geheimen Staatspolizei Gelsenkirchen und Bochum hervorgetan. Man hat sich nicht gescheut, Frauen mit Ochsenziemern und Gummiknüppeln zu mißhandeln. Für sadistische Grausamkeit bei der Behandlung von christlichen Frauen ist, wie erwähnt, besonders Kriminalassistent Theiß in Dortmund und ein Mann der Staatspolizei in Hamm bekannt. Wir besitzen auch nähere Angaben und Namen von zirka achtzehn Fällen, wo Jehovas Zeugen gewaltsam getötet worden sind. Anfang Oktober 1936 wurde zum Beispiel der in der Neuhüllerstraße, Gelsenkirchen, Westfalen, wohnhaft gewesene Zeuge Jehovas Peter Heinen von Beamten der Geheimen Staatspolizei im Rathaus zu Gelsenkirchen erschlagen. Dieser traurige Vorfall wurde dem Herrn Reichskanzler Adolf Hitler berichtet. Abschriften davon erhielten auch der Reichsminister Rudolf Heß und der Chef der Geheimen Staatspolizei, Himmler.“
Nachdem der „offene Brief“ fertig war, wurde der gesamte Text in Bern auf Aluminiummatrizen geschrieben und nach Prag gesandt. Von Zeit zu Zeit erhielt Ilse Unterdörfer, die während der Untergrundtätigkeit eng mit Bruder Frost zusammenarbeitete, von ihm den Auftrag, Berichte zu überbringen und Informationen entgegenzunehmen. Auf einer dieser Reisen nach Prag erhielt Schwester Unterdörfer die Matrizen, mit denen auf einem kurz zuvor gekauften Rotaprint-Vervielfältigungsapparat der „offene Brief“ gedruckt werden sollte. Am 20. März 1937 traf Schwester Unterdörfer mit ihrem wertvollen Paket in Berlin ein.
„Ich nahm das Paket in Empfang“, berichtet Bruder Frost, „und übergab den ,gefährlichen‘ Inhalt einer anderen Schwester, die ihn in Sicherheit brachte. Noch in der gleichen Nacht wurden Schwester Unterdörfer und ich in unserer Unterkunft verhaftet. Welch eine Fügung! So hart es uns traf, daß nun unsere Freiheit für die Dauer der Nazi-Herrschaft aussein würde, machte uns doch der Gedanke glücklich, die in Vorbereitung befindliche neue Flugzettelaktion gesichert zu wissen.“
Doch Bruder Frost irrte sich. Während er zum Gefängnis transportiert wurde, entdeckte er den Rotaprint-Vervielfältigungsapparat neben sich im Polizeiwagen. Die Gestapo hatte ihn bei einer ihrer Haussuchungen gefunden. Außerdem waren die Matrizen, die nicht auf jeder Maschine gebraucht werden konnten, anscheinend verschwunden und wurden nie wieder gefunden.
Ida Strauß, der Bruder Frost die Matrizen gegeben hatte und die mit den Einzelheiten der Kampagne gut vertraut war, dachte ähnlich. „Ich hatte die Aluminiummatrizen in der Tasche“, erinnert sie sich, „um sie dahin zu bringen, wo die Maschine abgestellt war. Es war spätabends im Dunkeln; der Hauseigentümer, ein Interessierter, stand auf der Treppe und rief: ,Gehen Sie sofort weg, und bringen Sie sich in Sicherheit; die Gestapo hat die Maschine beschlagnahmt, die Brüder verhaftet und wartete bis vor kurzem auch auf Sie, dann haben es die Beamten aufgegeben.‘ Was würde sich nun ergeben? In den nächsten Tagen mußte ich feststellen, daß in der vorhergegangenen Nacht viele Brüder verhaftet worden waren, und ich traf keinen mehr, der noch Verbindung zur Organisation hatte.
Ich suchte nun einen Bruder und auch einige Schwestern, die furchtlos bereit waren, sich weiterhin den Interessen des Werkes Jehovas zu widmen. Ich wußte, daß ich bei der Gestapo auf der schwarzen Liste stand, und mußte jeden Tag damit rechnen, auch verhaftet zu werden. Als es geschah, freute ich mich, daß die Interessen des Werkes in treuen Händen waren.“
Soweit es sich aber um die Matrizen für den „offenen Brief“ handelte, irrte sich auch Schwester Strauß. Die Matrizen konnten nicht mehr verwendet werden, weil der Apparat beschlagnahmt worden war und ein anderer nicht zur Verfügung stand.
Nun, nachdem Bruder Frost verhaftet worden war, übernahm Heinrich Dietschi die Verantwortung für das Werk, so, wie es in Luzern anläßlich der Besprechung mit Bruder Rutherford beschlossen worden war. Er sah nun seine erste Aufgabe darin, den „offenen Brief“ herauszubringen. Daher trat er sofort mit Bruder Strohmeyer, der in Lemgo wohnte, in Verbindung. Bruder Strohmeyer und Bruder Kluckhuhn waren gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden, wo sie eine Strafe von sechs Monaten verbüßt hatten, weil sie das Jahrbuch 1936 gedruckt hatten. Doch Bruder Strohmeyer sagte seine Hilfe zu.
Nun galt es, wieder Matrizen aus der Schweiz zu beschaffen. Diesmal aber waren es Pappmatern, die zuerst von den Brüdern stereotypiert werden mußten, um die Druckplatten für die Schnellpressen zu erhalten. Bruder Dietschi hatte die Matern aus der Schweiz besorgt, nachdem dort 200 000 Exemplare des „offenen Briefes“ gedruckt worden waren, doch die Versuche, sie über die Grenze nach Deutschland zu bringen, gescheitert waren.
Nachdem hinsichtlich des Druckens alle Fragen geklärt worden waren, wurde entschieden, daß der „offene Brief“ am 20. Juni 1937 in einer Blitzaktion verbreitet werden sollte. Schwester Elfriede Löhr berichtet: „Bruder Dietschi, der damalige verantwortliche Leiter für das deutsche Werk, organisierte diese Aktion. Wir waren alle mit Mut erfüllt, und es war alles wunderbar eingerichtet, und jeder Bezirk hatte eine genügende Anzahl dieser Briefe erhalten. Ich holte einen großen Koffer für den Bezirk Breslau von der Bahn ab und brachte diesen nach Liegnitz zu den Brüdern. Ich selbst hatte auch meine bestimmte Anzahl erhalten, die ich zur festgesetzten Zeit — wie alle Brüder — verteilte.“
Die Verbreitung des „offenen Briefes“ muß die Gestapo unvorbereitet getroffen haben, denn sie hatte sich schon monatelang damit gebrüstet, die Organisation vollständig vernichtet zu haben. Um so größer war nun ihre Aufregung. Es war, als hätte jemand plötzlich in einen Ameisenhügel gestochen. Fast kopflos und ohne klares Ziel vor Augen, rannte man in größter Verwirrung durcheinander, besonders Personen wie Theiß in Dortmund.
Doch auch für Theiß ging die gute Zeit zu Ende. Da Theiß glaubte, er dürfte in seiner Behandlung der Zeugen Jehovas keine Barmherzigkeit zeigen, ließ er eines Tages eine Haussuchung bei einem ehemaligen Bruder namens Wunsch durchführen, der sich jedoch in der Zwischenzeit von der Wahrheit abgewandt hatte und Fliegerfeldwebel geworden war. Als Wunsch nach Hause kam, erzählte ihm seine Frau von der Haussuchung. Sogleich suchte er Theiß in Dortmund auf und fragte ihn, warum er dies getan habe. Theiß erschrak, als er sah, daß ein Fliegerfeldwebel vor ihm stand, und stammelte: „Sie sind doch bei den Bibelforschern?“ Wunsch erwiderte: „Vorträge von ihnen habe ich gehört, aber ich war auch überall, wo es etwas zu hören gab.“ Jetzt unterbrach Frau Theiß das Gespräch, worauf ihr Mann erregt sagte: „Hätte ich doch nie angefangen, die Bibelforscher auszurotten! Man kann ja dabei verrückt werden. Man denkt, jetzt hat man so ein Biest eingesperrt, und schon gehen wieder zehn andere los. Ich bedaure es, damit angefangen zu haben.“
Es ist nicht anzunehmen, daß sich das Gewissen dieses Agenten des Teufels jemals wieder beruhigte. Im Gegenteil, in dem Buch Kreuzzug gegen daß Christentum hieß es am Schluß, unter der Überschrift „Du hast gesiegt, Galiläer!“:
„Zum Beispiel wird noch mitgeteilt, daß der mehrfach erwähnte Kriminalassistent Theiß in Dortmund als Folge seiner Verbrechen seit einiger Zeit furchtbare Gewissensqualen erleide und durch seine Dämonen zum Wahnsinn getrieben werde. Vor Monaten rühmte er sich, 150 Zeugen Jehovas ,kaputtgeschlagen‘ zu haben. Er war es, der jenen Spottspruch tat: ,Jehova, ich künde dir ewig Hohn, es lebe der König von Babylon.‘
Jetzt aber sucht er diese Leute auf, verspricht, keinen mehr peinigen zu wollen, und bittet flehentlich darum, ihm zu sagen, was er tun soll, um der drohenden Strafe zu entgehen und alle entsetzliche, seelische Qual loszuwerden. Er sagt, er habe die ,Befehle zum Mißhandeln von oben‘ erhalten und wolle nun aufhören, weil immer wieder neue Zeugen Jehovas aufstehen. Wie Judas, nachdem er den Meister an die Feinde verraten hatte, sucht Theiß nun die Reue und findet sie nicht. Wenn auch noch vereinzelt, so gibt es immer mehr solche Fälle, wo Gestapoagenten und andere Parteileute, durch die Standhaftigkeit der Zeugen Jehovas beunruhigt, den Irrtum ihres Weges erkennen und ihre Ämter niederlegen.“
Die Verbreitung des „offenen Briefes“ verursachte unter der Gestapo große Unruhe, und kurz darauf leitete sie eine Großfahndung ein. Schon nach wenigen Tagen führte sie eine Spur direkt nach Lemgo zu Bruder Strohmeyer und Bruder Kluckhuhn, die den „offenen Brief“ gedruckt hatten. Man konnte ihnen nachweisen, daß sie mindestens 69 000 Exemplare gedruckt hatten. Beide wurden zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, und nachdem sie diese Strafe verbüßt hatten, nahm sie die Gestapo als „unverbesserlich“ sofort wieder in Schutzhaft.
Da die Mehrheit der Bezirksdienstleiter verhaftet worden war, wurden Schwestern gebeten, in die Bresche zu springen und die Verbindung zwischen Bruder Dietschi und den Versammlungen aufrechtzuerhalten. Eine von ihnen war Elfriede Löhr, die versuchte, mit Bruder Dietschi Verbindung aufzunehmen, nachdem Bruder Frost und Schwester Unterdörfer verhaftet worden waren. Sie fuhr nach Württemberg, und nachdem sie einige Zeit gesucht hatte, fand sie Bruder Dietschi in Stuttgart. Er nahm sie mit auf die Reise, um sie mit den verschiedenen Methoden vertraut zu machen, die angewandt wurden, um den Kontakt mit den Brüdern aufrechtzuerhalten. Es wurden auch gründliche Vorbereitungen für einen fahrbaren Radiosender getroffen, der in den Niederlanden gebaut und etwa im Herbst 1937 eingesetzt werden sollte. Die Gestapo hatte davon schon Kenntnis erhalten und war sehr wütend auf Bruder Dietschi, dessen Name ihr schon lange bekannt war, den sie aber bis dahin ebensowenig fassen konnte wie Bruder Wandres.
Etwa um diese Zeit muß es gewesen sein, daß Schwester Dietschi von der Gestapo verhaftet und auf die berüchtigte „Steinwache“ in Dortmund gebracht wurde. Dort versuchte man sie zu zwingen, den Aufenthaltsort ihres Mannes preiszugeben, aber sie weigerte sich zu reden. Sie wurde so schwer mißhandelt, daß hinterher ein Bein kürzer war als das andere. Außerdem mußte sie nach ihrer Freilassung einige Wochen lang völlig in Bandagen eingewickelt werden, die mit Alkohol getränkt waren.
NACHWIRKUNGEN DES KONGRESSES IN PARIS 1937
Auf dem Kongreß, der 1937 in Paris stattfand, sollte, wie ein Jahr zuvor in Luzern, Bruder Rutherford anwesend sein. Diesmal gelang es nur ganz wenigen Brüdern aus Deutschland, dorthin zu reisen. Der Feind hatte große Breschen in die Reihen der Brüder geschlagen. Bruder Riffel, einer der wenigen, die den Kongreß besuchen konnten, erzählte später, daß allein in Lörrach und Umgebung vierzig Brüder und Schwestern in Gefangenschaft kamen, von denen zehn erhängt, vergast oder erschossen wurden, verhungerten oder an den Folgen der „medizinischen Versuche“, die in den Konzentrationslagern durchgeführt wurden, starben.
In Paris wurde eine weitere Resolution angenommen, in der erneut unsere klare und ungebeugte Stellung gegenüber Jehova und seinem Königreich unter der Herrschaft Jesu Christi zum Ausdruck gebracht und offen auf die brutale Verfolgung in Deutschland aufmerksam gemacht wurde und in der die Verantwortlichen vor dem gerechten Gericht Gottes gewarnt wurden.
Während der zweiwöchigen Abwesenheit des letzten Bezirksdienstleiters hatte sich in Deutschland wieder einiges ereignet. Schwester Löhr, die bei den meist wöchentlich stattfindenden Zusammenkünften anwesend war, bei denen Bruder Dietschi mit etwa fünfzehn Brüdern und Schwestern alle Dienstangelegenheiten besprach, war verhaftet worden. Das kam so:
Da die Besprechungen, die in den meisten Fällen morgens gegen 9 Uhr begannen, sich oft bis 17 Uhr ausdehnten, hatten die teilnehmenden Brüder und Schwestern den Wunsch geäußert, mittags eine gemeinsame Mahlzeit einzunehmen. Schwester Löhr wurde gebeten, das Kochen zu übernehmen. Aus Sicherheitsgründen wechselten die Brüder jede Woche den Ort ihrer Zusammenkunft, und das machte es notwendig, den großen Topf, in dem meist ein Eintopfgericht gekocht wurde, zuvor dorthin zu bringen, wo die nächste Zusammenkunft stattfinden sollte. Ob nun der Gestapo durch die Aussagen von Brüdern, die neu verhaftet worden waren, oder auf einem anderen Weg der Ort der letzten Zusammenkunft vor dem Kongreß in Paris bekannt wurde, kann niemand sagen. Jedenfalls behielt die Gestapo diese Wohnung unter Beobachtung, und als Schwester Löhr kam, um den Kochtopf drei oder vier Tage vor der nächsten Zusammenkunft abzuholen, folgte ihr die Gestapo zu dem neuen Treffpunkt und verhaftete sie dort. Die Gestapo erkannte bald, daß sie nicht nur den neuen Treffpunkt gefunden hatte, sondern auch Bruder Dietschis geheimen Aufenthaltsort. Nach dem Kongreß in Paris kehrte er unmittelbar nach Berlin zurück und betrat seine Wohnung, ohne sich zu vergewissern, ob von irgendeiner Seite Gefahr drohe. Bruder Dietschi ging in die Falle und wurde auf der Stelle verhaftet. Natürlich mußten nun die Zusammenkünfte der erneut dezimierten reisenden Diener örtlich und auch zeitlich verlegt werden.
Bruder Dietschi hatte viele Jahre unermüdlich in der Untergrundtätigkeit gedient und war nicht vor Gefahren zurückgeschreckt. Er wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber nicht wie die meisten seiner Brüder in ein Konzentrationslager, nachdem er seine Strafe verbüßt hatte.
Im Jahre 1945, als das Werk wiederaufgebaut wurde, war er einer der ersten, die den Brüdern als „Diener für die Brüder“ dienten. Leider begann er Jahre später, eigene Theorien zu entwickeln, und wandte sich von Jehovas Organisation ab.
Doch wollen wir zum Jahre 1937 zurückkehren. Nachdem wieder einmal gefährliche Lücken in den Reihen unserer Brüder entstanden waren, versuchte Bruder Wandres, diese wenigstens vorübergehend zu schließen, um so die Versorgung der Brüder mit geistiger Speise sicherzustellen. Nach der Verhaftung von Bruder Franke hatte er dessen Gebiet übernommen, aber nun fühlte er sich auch für die anderen freigewordenen Gebiete verantwortlich, und so bat er Schwester Auguste Schneider aus Bad Kreuznach, die Brüder in Bad Kreuznach, Mannheim, Kaiserslautern, Ludwigshafen, Baden-Baden sowie im ganzen Saargebiet mit geistiger Speise zu versorgen. Wie alle, die damals unter diesen äußerst schwierigen Verhältnissen reisen mußten, erhielt auch sie einen anderen Namen; von nun an war sie „Paula“.
Bruder Wandres, der erkannte, daß der Feind besonders in Sachsen gewütet hatte, bat Hermann Emter aus Freiburg, sich dieses Gebietes anzunehmen. Am 3. September fuhren sie beide nach Dresden. Obwohl Bruder Wandres noch nie dort gewesen war, wurden sie von der Gestapo erwartet. So ging eine Menschenjagd von mindestens drei Jahren zu Ende.
Etwa Mitte September erwartete nun die ahnungslose „Paula“ gemäß der getroffenen Verabredung Bruder Wandres auf dem Bahnhof in Bingen. Sie hatte zwei große Koffer voll Literatur bei sich. Plötzlich trat ein Herr auf sie zu und sagte: „Guten Tag, Paula! Albert kommt nicht, und Sie müssen jetzt mit mir gehen!“ Es war sinnlos, Widerstand zu leisten, denn der Fremde war ein Gestapoagent. Er fügte hinzu: „Sie brauchen nicht auf Albert zu warten; wir haben ihn bereits verhaftet und haben ihm auch sein Geld abgenommen. ... Herr Wandres hat gesagt, daß Sie mit zwei Koffern ankommen würden und daß Sie Paula sind!“ Bis heute ist es ein Geheimnis geblieben, woher die Gestapo diese Information hatte. Aber sie wandte hier eine beliebte Methode an, indem sie gewissen Brüdern irgendwelche Informationen in den Mund legte, um so das Vertrauen unter den Brüdern zu zerstören und um sie zu veranlassen, sich von solchen „Verrätern“ zurückzuziehen.
DAS ZIEL: STÄNDIGE HAFT
Mit dieser Serie von Verhaftungen ging ein wichtiger Zeitabschnitt für die deutschen Brüder zu Ende. Die Zeit der gutorganisierten Tätigkeit war vorüber. Alles deutete nun auf den Beginn einer neuen Phase des Kampfes hin. Das Ziel der Gestapo war nun, jeden einzelnen, der noch den Mut hatte, an Jehova festzuhalten, zu vernichten und damit auch die Organisation zu zerschlagen.
Nach einem Runderlaß, den die Düsseldorfer Gestapo am 12. Mai 1937 herausgab, sollten Bibelforscher von nun an in Konzentrationslager gebracht werden, selbst wenn kein richterlicher Haftbefehl gegen sie vorlag, und zwar schon auf bloßen Verdacht hin. Ähnliche Erlasse wurden in ganz Deutschland herausgegeben. Außerdem sollten die Bibelforscher automatisch in Konzentrationslager überführt werden, nachdem sie ihre vom Gericht verhängte Haftstrafe verbüßt hätten. Diese Entscheidung wurde im April 1939 noch erhärtet und ergänzt. Von nun an sollten nur diejenigen freigelassen werden, die bereit waren, eine Erklärung zu unterschreiben, durch die sie sich von Jehova und von seiner Organisation lossagten. Viele Brüder erhielten noch nicht einmal die Gelegenheit, sich zu entscheiden, ob sie die Erklärung unterzeichnen wollten oder nicht.
Als Heinrich Kaufmann aus Essen seine Gefängnisstrafe verbüßt und wieder seine Zivilkleider angezogen hatte, teilte ihm ein Kriminalbeamter lediglich mit, er werde nun in Schutzhaft genommen. Doch zuerst brachte man ihn in seine Wohnung, die er schon eineinhalb Jahre nicht mehr gesehen hatte, und fragte ihn: „Wollen Sie von Ihrem Glauben ablassen und Hitler nachfolgen?“ Gleichzeitig zeigte man ihm den Hausschlüssel und ein Paket mit zwanzig Pfund Lebensmitteln und versprach ihm, auch seine Frau würde aus dem Konzentrationslager Ravensbrück wieder zurückgebracht. Bruder Kaufmann lehnte das Angebot ab.
Manchmal versuchte man, die Brüder zu überlisten, wie Ernst Wiesner berichtet. Kurz bevor er entlassen werden sollte, legte man ihm ein Schriftstück vor. Die Erklärung war so allgemein gehalten, daß er, nachdem er sie sorgfältig durchgelesen hatte, bereit war, sie zu unterschreiben. Aber nun kam der Trick. Bruder Wiesner sollte seine Unterschrift ganz unten auf den Bogen setzen, obwohl die untere Hälfte der Seite unbeschrieben war. Zweifellos wollte die Gestapo später Dinge hinzufügen, die Bruder Wiesner nicht mit gutem Gewissen hätte unterschreiben können. Aber er erkannte sogleich ihr Vorhaben, und bevor man ihn hindern konnte, schrieb er seinen Namen direkt unter den maschinegeschriebenen Text. Die Folge war, daß er trotz seiner Unterschrift nicht entlassen wurde, sondern er wurde von der Geheimpolizei drei Wochen vor Beendigung seiner Haft unterrichtet, er werde unwiderruflich in ein Konzentrationslager überführt.
DIE KONZENTRATIONSLAGER — EIN GÄHNENDER ABGRUND
In dem Vierteljahresheft für Zeitgeschichte schreibt Hans Rothfels in Heft 2, Jahrgang 1962: „Die Inhaftierung in den Konzentrationslagern stellte für die Ernsten Bibelforscher die letzte und schwerste Phase ihrer Leidenszeit unter dem Nationalsozialismus dar. ...“
Tröstlich für die meisten war die Tatsache, daß bereits treue Brüder da waren, die durch die Hitze der Verfolgung gehärtet worden waren. Mit ihnen in Berührung zu kommen und ihre liebevolle Hilfe zu verspüren wirkte sich auf jeden neuen „Zugang“ tröstlich und herzerquickend aus.
Doch jedesmal, wenn die Standhaftigkeit unserer Brüder beobachtet und der Regierung gemeldet wurde, dachte man nur daran, wie man ihre Leiden vermehren könnte. So kam es, daß eine geraume Zeit Jehovas Zeugen neben anderen brutalen Quälereien grundsätzlich mit fünfundzwanzig Hieben, die mit einer Stahlrute ausgeteilt wurden, empfangen wurden, wenn sie im Lager eintrafen. Ihr Frondienst begann morgens um 4.30 Uhr, wenn die Lagerglocke zum Wecken läutete. Gleich darauf brach ein Tumult los: Betten bauen, waschen, Kaffee trinken, Antreten zum Appell — und das alles im Laufschritt. Niemand durfte sich im normalen Schritt bewegen. Darauf marschierten sie zum Morgenappell und schlossen sich dann den verschiedenen Arbeitskommandos an. Was nun folgte, war ein einziges Drama: Kies tragen, Sand tragen, Steine tragen, Pfähle tragen, ganze Barackenteile tragen, und das den ganzen Tag — alles im Laufschritt. Die Fronvögte, die die Häftlinge pausenlos durch Schreien und Schlagen zum Einsatz ihrer letzten Kräfte antrieben, waren die schlimmsten, die Hitler aufzuweisen hatte.
Der Gedanke, daß Jesus Ähnliches erlitten hatte, war für sie tröstlich und ermunternd und gab ihnen immer wieder die Kraft, unter der unmenschlichen Behandlung auszuharren.
Zur Abwechslung gab es auch manchmal aus ganz nichtigen Gründen „Strafexerzieren“. Die Brüder wurden oft gezwungen, ohne Nahrung auszukommen. Es konnte eine wirkliche Prüfung werden, wenn ein erschöpfter Bruder, statt eine Mahlzeit einnehmen zu können, noch weitere vier bis fünf Stunden auf dem Appellplatz strammstehen mußte, nur weil einem der Brüder ein Knopf an seiner Jacke fehlte oder wegen irgendeiner anderen unbedeutenden Verletzung der Regeln.
Endlich durften sie dann schlafen gehen, sofern ihnen der Hunger das Schlafen erlaubte. Aber die Nächte waren nicht immer nur zum Schlafen da. Nicht selten kam einer oder auch mehrere der berüchtigten „Blockführer“ mitten in der Nacht, um die Gefangenen zu terrorisieren. Dieses Ereignis wurde manchmal mit einem Revolverschuß in die Luft oder in das Gebälk der Baracke eingeleitet. Dann mußten die Insassen im Nachthemd um die Baracke laufen und manchmal sogar darüberklettern, solange es dem „Blockführer“ beliebte. Es ist verständlich, daß die älteren Brüder am meisten unter einer solchen Behandlung zu leiden hatten, und viele verloren dabei das Leben.
Im März 1938 wurde es Jehovas Zeugen in den Konzentrationslagern völlig verboten, Briefe zu schreiben. Dieses Verbot dauerte neun Monate, und in dieser Zeit konnten die Brüder in keiner Weise mit ihren Angehörigen in Verbindung treten und diese auch nicht mit ihnen. Auch nachdem das Schreibverbot wiederaufgehoben worden war, blieb für mindestens dreieinhalb bis vier Jahre — in manchen Lagern sogar noch länger — die Einschränkung bestehen, daß jeder Zeuge Jehovas monatlich nur fünf Zeilen an seine Angehörigen schreiben durfte. Der Text war vorgeschrieben und lautete: „Habe Euren Brief erhalten, herzlichen Dank dafür. Es geht mir gut. Bin gesund und munter. ...“ Aber es gab Fälle, in denen die Todesnachricht noch vor dem Brief eintraf, in dem zu lesen war: „Bin gesund und munter.“ Auf dem freien Platz des Briefbogens wurde folgender Text aufgestempelt: „Der Schutzhäftling ist nach wie vor hartnäckiger Bibelforscher und weigert sich, von der Irrlehre der Bibelforscher abzulassen. Aus diesem Grunde ist ihm lediglich die Erleichterung, den sonst zulässigen Briefwechsel zu pflegen, genommen worden.“
„VIERKANT“ FINDET SEINEN MEISTER
Das Leben im Konzentrationslager war täglich voller Aufregungen, die oft vom Lagerkommandanten selbst verursacht wurden. In Sachsenhausen war eine Zeitlang ein Mann namens Baranowsky Lagerkommandant, der wegen seiner kräftigen Gestalt von den Häftlingen bald den Spottnamen „Vierkant“ erhielt.
Wenn ein neuer Transport mit Häftlingen eintraf, war er meistens persönlich zugegen und hielt ihnen seine „Begrüßungsansprache“. Sie begann gewöhnlich mit den Worten: „Ich bin der Kommandant und werde ,Vierkant‘ genannt. Mal herhören! Ihr könnt bei mir alles haben: Kopfschuß, Brustschuß, Bauchschuß. Ihr könnt euch auch die Kehle durchschneiden oder die Pulsader öffnen. Ihr könnt aber auch in den elektrischen Draht laufen. Merkt euch, meine Jungs schießen gut! Dann kommt ihr auch gleich in den Himmel.“ Er versäumte nie eine Gelegenheit, sich über Jehova oder seinen heiligen Namen lustig zu machen.
Aber zu Anfang des Verbots lernte in Dinslaken ein junger Mann von etwa dreiundzwanzig Jahren die Wahrheit kennen. Sein Name war August Dickmann. Obwohl er noch nicht getauft war, verhaftete ihn die Gestapo und stellte ihn vor Gericht. Nachdem er seine Strafe abgebüßt hatte, gab er dem Druck der Gestapo nach und unterschrieb die „Erklärung“, zweifellos in der Hoffnung, ihm würde dadurch weitere Verfolgung erspart bleiben. Dennoch wurde er unmittelbar nach Verbüßung seiner Gefängnisstrafe, im Oktober 1937, nach Sachsenhausen gebracht. Die Brüder dort nutzten jede Gelegenheit, freudige und ermunternde Gespräche miteinander zu führen, und nun, da er in ihrer Mitte war, erkannte er, daß er aufgrund seiner Schwäche mit dem Feind einen Kompromiß eingegangen war. Er bereute und bat darum, daß die Erklärung, die er unterschrieben hatte, annulliert würde.
Inzwischen war auch sein leiblicher Bruder Heinrich ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert worden. August erzählte ihm, er habe die Erklärung unterschrieben, habe die Unterschrift aber in der Zwischenzeit wieder rückgängig gemacht.
Die nächsten Wochen gingen schnell vorüber. Als der Zweite Weltkrieg in der zweiten Hälfte des Jahres 1939 ausbrach, begann der Lagerkommandant Baranowsky, seine Pläne auszuführen. Er sah seine Gelegenheit gekommen, als August Dickmanns Frau ihrem Mann den Wehrpaß zusandte, der an seine Adresse in Dinslaken geschickt worden war. Drei Tage nach Ausbruch des Krieges wurde August zur „politischen Abteilung“ bestellt. Doch vor dem Appell warnte ihn sein Bruder Heinrich, den er von der neuen Entwicklung unterrichtet hatte, daß nun der Krieg ausgebrochen sei und er sich auf alles gefaßt machen müsse. Er müsse sich jetzt völlig darüber im klaren sein, was er zu tun gedenke. August antwortete: „Sie mögen mit mir machen, was sie wollen. Ich werde nicht unterschreiben, ich werde keinen Kompromiß mehr eingehen.“
Das Verhör fand an jenem Nachmittag statt, aber August kehrte nicht zu den Brüdern zurück. Wie es sich später herausstellte, hatte er nicht nur die Unterschrift unter den Wehrpaß verweigert, sondern darüber hinaus noch ein sehr schönes Zeugnis gegeben. Er wurde in einer Einzelzelle im Bunker untergebracht, während der Lagerkommandant diesen Fall Himmler vortrug und um die Erlaubnis bat, Dickmann öffentlich in Gegenwart der Brüder und des gesamten Lagers hinzurichten. Er war überzeugt, daß eine große Zahl Zeugen Jehovas angesichts des Todes die Unterschrift leisten würde. Bis jetzt hätten sich die meisten geweigert zu unterschreiben, aber es seien nur Drohungen ausgesprochen worden. Himmler antwortete postwendend, daß Dickmann zum Tode verurteilt sei und hingerichtet werden solle. Jetzt war der Weg für „Vierkants“ großes Schauspiel frei.
Es war ein Freitag. Über dem ganzen Lager lastete eine unheimliche Stille, während plötzlich ein Kommando anrückte und in kurzer Zeit mitten auf dem Appellplatz einen Schießstand errichtete. Dies gab natürlich zu allen möglichen Gerüchten Anlaß. Die Spannung stieg noch höher, als die Arbeitskommandos den Befehl erhielten, die Arbeit eine Stunde früher als üblich zu beenden. Paul Buder erinnert sich noch, daß beim Einmarschieren der Arbeitskommandos ein SS-Mann lachend zu ihm sagte: „Heute machen wir Himmelfahrt. Heute fährt einer von euch in den Himmel.“
Als das Arbeitskommando, dem Heinrich Dickmann zugeteilt worden war, einrückte, ging der Lagerälteste auf ihn zu und fragte ihn, ob er wisse, was hier vor sich gehe. Als er erwiderte, er wisse es nicht, wurde ihm gesagt, sein Bruder August solle erschossen werden.
Doch war jetzt nicht die Zeit für lange Diskussionen. Alle Gefangenen erhielten den Befehl, auf dem Appellplatz aufzumarschieren. Jehovas Zeugen mußten sich unmittelbar vor dem Schießstand aufstellen. Alle Augen waren auf diesen Punkt gerichtet. Dann zogen die Wachen der SS auf; die Sicherheitsmaßnahmen wurden um das Vierfache verstärkt. Der Überzug, der die Maschinengewehre verdeckte, wurde entfernt, und die Munitionsgurte wurden in die Waffen eingeführt, so daß sie zum sofortigen Einsatz bereit waren. Auf der hohen Mauer saßen die SS-Leute in Erwartung der kommenden Dinge — es waren so viele, daß man den Eindruck hatte, die ganze Truppe sei zu diesem blutigen Schauspiel abkommandiert worden. Am Haupttor, das aus starken Rundeisenstäben gefertigt worden war, standen und hingen die sensationslüsternen SS-Leute wie eine Traube. Einige von ihnen waren sogar auf die Querstangen geklettert, um besser sehen zu können. Ihren Augen konnte man nicht nur die Neugierde, sondern auch den Blutdurst ablesen. Bei einigen war es aber auch ein gewisses Grauen, denn schließlich wußten sie alle, was in wenigen Minuten vor sich gehen sollte.
Dann wurde, begleitet von einigen hohen SS-Offizieren, August Dickmann vorgeführt, dessen Hände vorn gefesselt waren. Jeder war von seiner Ruhe und Gelassenheit beeindruckt. Er wirkte wie jemand, der schon den Kampf gewonnen hatte. Etwa sechshundert Brüder waren anwesend; sein leiblicher Bruder Heinrich stand nur wenige Meter von ihm entfernt.
Plötzlich war ein Knacken in den Lautsprechern zu hören, als die Mikrofone eingeschaltet wurden. „Vierkants“ Stimme war zu hören: „Häftlinge, herhören!“ Sofort trat Stille ein. Nur das kurze, asthmatische Atmen dieses Ungeheuers war zu vernehmen. Dann fuhr er fort:
„Der Häftling August Dickmann aus Dinslaken, geboren am 7. Januar 1910, verweigert den Wehrdienst, weil er ein Bürger des Königreiches Gottes sei. Er sagt: ,Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden.‘ So hat er sich außerhalb der Volksgemeinschaft gestellt und wird auf Anordnung des ,Reichsführers SS‘ Himmler erschossen.“
Während nun Totenstille über dem weiten Platz lag, fuhr „Vierkant“ fort: „Ich habe den Häftling Dickmann vor einer Stunde davon unterrichtet, daß sein elendes Leben um sechs Uhr ausgelöscht wird.“
Einer der Beamten trat zu ihm heran und fragte ihn, ob der Häftling noch einmal gefragt werden solle, ob er seinen Sinn geändert habe und doch den Wehrpaß unterschreiben wolle, worauf ihm „Vierkant“ antwortete: „Es hat keinen Zweck.“ An August Dickmann gerichtet, befahl er: „Dreh dich um, du Schwein!“ Dann gab er den Befehl zum Schießen. Darauf wurde August von hinten von drei SS-Unterführern erschossen. Anschließend ging ein hoher SS-Führer zu ihm und schoß ihm noch eine Kugel durch den Kopf, so daß das Blut über seine Wange lief. Nachdem ihm ein SS-Mann niederen Grades die Handschellen abgenommen hatte, wurden vier Brüder beauftragt, ihn in eine schwarze Kiste zu legen und ins Revier zu tragen.
Während nun alle anderen Gefangenen abtreten und in ihre Baracken gehen durften, mußten Jehovas Zeugen stehenbleiben. Jetzt war für „Vierkant“ die Zeit gekommen, seine Behauptung wahr zu machen. Mit großem Nachdruck stellte er die Frage, wer nun bereit sei, die Erklärung zu unterschreiben. Wer diese Erklärung unterschrieben hätte, hätte nicht nur seinem Glauben abgeschworen, sondern sich auch bereit erklärt, Soldat zu werden. Keiner meldete sich. Dann traten zwei vor — aber nicht, um die Erklärung zu unterschreiben. Sie baten darum, daß die Unterschrift, die sie beide vor etwa einem Jahr gegeben hatten, annulliert würde.
Das war für „Vierkant“ zuviel. Wütend verließ er den Appellplatz. Wie zu erwarten war, ging es den Brüdern an jenem Abend und in den darauffolgenden Tagen sehr schlecht. Aber sie blieben standhaft.
Dickmanns Hinrichtung wurde in den nächsten Tagen mehrmals im Rundfunk bekanntgemacht, offensichtlich in der Absicht, die anderen Zeugen, die sich noch in Freiheit befanden, einzuschüchtern.
Drei Tage später wurde sein Bruder Heinrich zur „politischen Abteilung“ gerufen. Zwei hohe Gestapobeamte waren aus Berlin eingetroffen, um festzustellen, wie die Hinrichtung seines Bruders auf ihn gewirkt habe. Nach seinem eigenen Bericht verlief die Unterhaltung wie folgt:
„ ,Hast du gesehen, wie dein Bruder erschossen wurde?‘ Meine Antwort war: ,Jawohl.‘ ,Welche Lehre ziehst du daraus?‘ ,Ich bin und bleibe ein Zeuge Jehovas.‘ ,Dann bist du der nächste, der erschossen wird.‘ Darauf konnte ich einige Fragen biblisch beantworten, bis mich der Beamte anschrie: ,Ich will nicht wissen, was geschrieben steht, ich will deine Meinung wissen!‘ Und während er mir die Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung begreiflich machen wollte, flocht er immer Sätze wie diese ein: ,Du bist der nächste, der erschossen wird, ... der nächste, der kippt, ... der nächste, der fällt‘, bis der andere Beamte sagte: ,Es hat keinen Zweck, mach die Akten fertig!‘ “
Dann wurde Bruder Dickmann noch einmal die Erklärung zur Unterschrift vorgelegt. Er lehnte sie mit den Worten ab: „Wenn ich damit Staat und Führung anerkenne, würde ich damit auch das Todesurteil meines Bruders gutheißen und unterschreiben. Das kann ich nicht.“ Die Antwort: „Dann kannst du dir ausrechnen, wie lange du noch lebst.“
Aber wie erging es „Vierkant“, der Jehova geschmäht und herausgefordert hatte wie kaum jemand anders? Er wurde nur noch ein paarmal im Lager gesehen und dann überhaupt nicht mehr. Die Häftlinge fanden jedoch heraus, daß er kurz nach August Dickmanns Hinrichtung von einer schrecklichen Krankheit heimgesucht wurde. Er starb fünf Monate später, ohne noch einmal die Gelegenheit gehabt zu haben, Jehova oder seine Zeugen zu verspotten. „Ich habe einen schweren Kampf mit Jehova aufgenommen. Wir wollen sehen, wer stärker ist — ich oder Jehova.“ Das hatte „Vierkant“ gesagt, als er am 20. März 1938 die Brüder in die „Isolierung“ führte. Der Kampf hatte sich entschieden. „Vierkant“ hatte verloren. Und während unsere Brüder ein paar Monate später aus der „Isolierung“ herauskamen und in einigen Fällen eine gewisse Erleichterung erfuhren, verbreitete sich im Lager immer mehr das Gerücht, „Vierkant“ sei ernsthaft krank und immer, wenn er von Offizieren an seinem Krankenlager besucht würde, würde er jammern: „Die Bibelforscher beten mich tot, weil ich ihren Mann habe erschießen lassen.“ Fest steht, daß seine Tochter nach dem Tode ihres Vaters immer, wenn sie nach der Ursache des Todes ihres Vaters gefragt wurde, sagte: „Die Bibelforscher haben meinen Vater in den Tod gebetet.“
DACHAU
Bruder Friedrich Frey aus Röt schreibt über die Behandlung in der „Isolierung“ in Dachau: „Der Hunger, die Kälte und die Folterungen — dies alles ist kaum zu beschreiben. Einmal trat mir so ein Scherge mit dem Stiefel in den Magen, so daß ich ein schweres Leiden davongetragen habe. Ein andermal wurde mir das Nasenbein krumm geschlagen, so daß ich seither Atembeschwerden habe, weil das Nasenbein beide Luftwege versperrt. Ein andermal nahm ich während der Arbeit ein paar alte Krumen Brot zu mir, um den Hunger zu stillen, was ein SS-Mann beobachtete. Dieser kam sofort zu mir, trat mir ebenfalls mit dem Stiefel in den Bauch, so daß ich kopfüber stürzte. Danach wurde ich zur Strafe noch an einen drei Meter hohen Pfahl gehängt. Dabei wurden die Arme mit einer Kette auf dem Rücken zusammengebunden. Da durch das Körpergewicht in diesem unnormalen Zustand das Blut in den Adern gestaut wurde, entstand ein unsagbarer Schmerz, der nicht zu beschreiben ist. Ein SS-Mann hat mich dann zusätzlich an den Beinen gepackt und hin und her geschwenkt, indem er gleichzeitig schrie: ,Sind Sie immer noch ein Zeuge Jehovas?‘ Doch ich konnte nicht mehr antworten, der Todesschweiß stand mir bereits auf der Stirn. Von dieser Tortur habe ich heute noch ein Nervenzucken zurückbehalten. Ich mußte dabei immer an die letzte Stunde unseres Herrn und Meisters denken, dem sogar die Hände und Füße durchschlagen wurden.“
In Dachau wurde kurz vor Weihnachten ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt und mit elektrischen Kerzen und anderen Schmucksachen behängt. Die 45 000 Häftlinge des Lagers, darunter 100 Zeugen Jehovas, hofften, ein paar friedliche Tage verleben zu dürfen. Doch was geschah? Am sogenannten Heiligen Abend, als alle Häftlinge schon in ihren Baracken waren, ertönte um 8 Uhr plötzlich die Lagersirene; die Gefangenen sollten so schnell wie möglich auf dem Appellplatz aufmarschieren. Schon von weitem hörte man die SS-Kapelle spielen. Fünf Kompanien der SS marschierten in voller Ausrüstung ein. Der Lagerkommandant, begleitet von SS-Offizieren, hielt eine kurze Rede und erklärte den Häftlingen, an diesem Abend wollten sie mit ihnen auf ihre Art Weihnachten feiern. Darauf zog er aus seiner Aktentasche eine Liste hervor und las fast eine ganze Stunde lang die Namen der Häftlinge vor, denen schon in den vergangenen Wochen eine Strafe zugedacht worden war. Dann wurde der „Bock“ herausgebracht und aufgestellt und der erste Häftling darübergeschnallt. Anschließend bezogen zwei mit einer Stahlrute ausgerüstete SS-Männer rechts und links von dem Bock Stellung und begannen zu schlagen, während die Musikkapelle das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ spielte, das alle Lagerinsassen mitsingen mußten. Gleichzeitig mußte der Häftling, der die fünfundzwanzig Schläge erhielt, diese laut mitzählen. Jedesmal, wenn ein neuer Häftling auf den Bock geschnallt wurde, traten zwei neue, ausgeruhte SS-Männer aus den fünf Kompanien hervor, um die verhängte Strafe auszuteilen. Wahrlich, ein würdiges Weihnachtsfest für eine „christliche Nation“!
Angesichts einer solchen Behandlung benötigten unsere Brüder einen starken Glauben, einen Glauben, der durch ein sorgfältiges Studium des Wortes Gottes gestärkt worden war. Wie gefährlich es sein kann, wenn jemand das Studium versäumt und demzufolge nicht genügend auf derartige Prüfungen vorbereitet ist, erfuhr Helmut Knöller. Wir wollen ihn seine eigene Erfahrung erzählen lassen:
„Die ersten Tage in Dachau waren sehr hart. Unter den Neulingen war ich mit meinen zwanzig Jahren der jüngste. Ich wurde sofort in ein Sonderkommando gesteckt, das auch am Sonntag arbeiten mußte. Der Kapo, der uns zu beaufsichtigen hatte, nahm mich besonders hart heran. Ich mußte alles, selbst die schwersten Arbeiten, die ich nicht gewohnt war, im Laufschritt machen. Ich brach wiederholt zusammen, wurde aber jedesmal zur Ernüchterung im Keller bis zur Hüfte ins Wasser gestellt und dort zusätzlich mit Wasser übergossen.
Ich wurde dann immer weiter gejagt, bis ich fast physisch zusammengebrochen war. So ging es Tag für Tag, und ich war nahe daran zu verzweifeln, wenn ich dachte, daß dies wochen-, ja monatelang so weitergehen würde. ... Doch die Schwierigkeiten im Lager wurden dann so groß, daß ich mich eines Tages bei der Lagerführung meldete und dort den bekannten Schrieb unterzeichnete, wonach ich nichts mehr mit der IBV [Internationale Bibelforscher-Vereinigung] zu tun haben wollte. Ich unterschrieb, weil ich zu Hause wenig studiert hatte. Meine Eltern hatten selbst zu wenig studiert, so daß wir Kinder nur mangelhaft von ihnen unterrichtet worden waren. ... Es war mir vor Augen geführt worden, daß wir ein solches Schreiben ruhig unterzeichnen könnten, da erstens nur etwas von Bibelforschern darin gesagt werde und nichts von Jehovas Zeugen und wir zweitens den Feind ruhig belügen könnten, wenn wir dadurch wieder frei würden, um Jehova draußen noch besser dienen zu können.“ Erst später, als er in Sachsenhausen war, halfen ihm reife Brüder, die Bedeutung der christlichen Lauterkeit zu verstehen, und stärkten seinen Glauben.
MAUTHAUSEN
Obwohl schon in Dachau viele Menschen vergast und auf andere grausame Weise ums Leben gebracht wurden, war Mauthausen ein ausgesprochenes Vernichtungslager. Der Lagerführer Ziereis sagte immer wieder, er wolle nur Totenscheine sehen. Tatsächlich wurden innerhalb von sechs Jahren in den beiden modernen Krematorien, die es dort gab, 210 000 Männer verbrannt, das ist ein Durchschnitt von täglich 100.
Soweit Häftlinge dort überhaupt zum Arbeitseinsatz kamen, mußten sie im allgemeinen im Steinbruch arbeiten. Dort befand sich eine steile Wand, die von der unmenschlichen SS die „Mauer der Fallschirmspringer“ genannt wurde. Hunderte von Häftlingen wurden dort hinuntergestoßen, die dann zerschmettert liegenblieben oder in einem mit Regenwasser gefüllten Graben ertranken. Viele verzweifelte Häftlinge stürzten sich sogar freiwillig in diesen Abgrund.
Eine andere Attraktion war die „Todestreppe“. Hierbei handelte es sich um eine Treppe mit 186 verschiedenartigen und auch verschieden hohen, lose übereinandergelegten Blöcken, die Stufen genannt wurden. Nachdem die Häftlinge schwere Steine auf ihren Schultern nach oben geschleppt hatten, machten sich die SS-Männer einen Spaß daraus, einen Massensturz in Gang zu setzen, indem sie sie traten oder mit dem Kolben ihres Gewehres schlugen und sie dadurch die „Treppe“ wieder hinunterstießen. Viele fanden dabei den Tod, und die Zahl der Erschlagenen wurde durch die herabstürzenden Steine immer größer. Valentin Steinbach aus Frankfurt erinnert sich, daß häufig Strafkommandos, die morgens noch eine Stärke von 120 Mann hatten, abends nur mit 20 Mann zurückkehrten.
KONZENTRATIONSLAGER FÜR FRAUEN
Nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen wurden Konzentrationslager errichtet. Eines davon wurde schon 1935 in Moringen, in der Nähe von Hannover, in Betrieb genommen. Als im Jahre 1937 der Druck auf Jehovas Zeugen verstärkt wurde, wurde das Lager in Moringen aufgelöst. Im Dezember wurden ungefähr 600 Häftlinge in das Lager Lichtenburg gebracht. Da die Bemühungen, unsere Schwestern von ihrer konsequenten Haltung abzubringen, scheiterten, wurde eine Strafstation eingerichtet. Ihre Aufseherinnen gaben ihnen sehr wenig zu essen und suchten ständig, Gründe zu finden, um sie zu bestrafen. Der Lagerkommandant sagte ihnen dann: „Wenn ihr leben wollt, dann kommt zu mir und unterschreibt.“
Eine Methode, die man anwandte, um unsere Schwestern zu veranlassen, ihre Lauterkeit aufzugeben, schildert Schwester Ilse Unterdörfer: „Eines Tages wurde Schwester Elisabeth Lange aus Chemnitz zum Direktor gerufen. Da sie entschieden ablehnte, sich umzustellen, das heißt den üblichen Revers zu unterschreiben, ließ er sie in eine Arrestzelle bringen. Die Arrestzellen befanden sich im Keller dieser alten Burg. Wie sich wohl jeder, der die alten Burgen und ihre Burgverliese kennt, denken kann, war der Aufenthalt dort äußerst unheimlich. Es waren dunkle Löcher mit einem kleinen vergitterten Fenster. Die Bettstatt war aus Steinen gemauert. Auf diesem kalten, harten Lager mußte man meistens ohne Strohsack liegen. In diesem Kellerloch mußte Schwester Lange ein halbes Jahr in Einzelhaft verbringen, aber auch dies konnte sie in ihrer Standhaftigkeit nicht erschüttern, obwohl sie gesundheitlich sehr litt.“
Eine andere Methode, die angewandt wurde, um die Standhaftigkeit unserer Schwestern zu erschüttern, bestand darin, daß man ihnen schwere körperliche Arbeit aufbürdete. Aus diesem Grund wurde eine Anzahl Schwestern nach Ravensbrück gebracht. Am 15. Mai 1939 traf dort die erste Gruppe ein, und andere folgten bald darauf. Das Lager war bald auf 950 Frauen angewachsen, und etwa 400 von ihnen waren Zeuginnen Jehovas. Alle wurden zu den schwersten Aufbau- und Aufräumungsarbeiten herangezogen, Arbeiten, die normalerweise nur von Männern verlangt werden. Der neue Lagerkommandant, der sich durch besondere Brutalität auszeichnete, glaubte nun, die Schwestern durch die harte Arbeit mürbe machen zu können.
Natürlich verloren bei einer solchen Behandlung sehr viele Schwestern das Leben. Darüber hinaus wurden ganze Transporte nach Auschwitz gebracht, ein Lager, das wie das Lager Mauthausen besonders zur Massenvernichtung eingerichtet war. Frauen, die alt oder krank waren und die nicht den Maßstäben entsprachen, die die SS-Männer an Frauen anlegten, die eine „Herrenrasse“ hervorbringen konnten, mußten mit dem Tod rechnen. Berta Maurer erzählt uns, was dort vor sich ging:
„Zur Auswahl mußten wir alle nackt vor einer Kommission erscheinen. Gleich danach ging auch schon der erste Transport nach Auschwitz. Unter ihnen befand sich eine ganze Anzahl Schwestern, denen man zwar vortäuschte, sie kämen in ein Lager, wo sie es leichter hätten, obwohl alle wußten, daß das Leben in Auschwitz noch unerträglicher war. Dasselbe wurde auch denen gesagt, die den zweiten Transport bildeten. Darunter befanden sich ebenfalls viele schwache und kranke Schwestern.“ Bald darauf wurden ihre Verwandten von ihrem Tod unterrichtet. In den meisten Fällen gab man als Todesursache „Kreislaufstörung“ an.
Etwas anderes, was für unsere Schwestern eine Prüfung hätte darstellen können, berichtet Auguste Schneider aus Bad Kreuznach:
„Eines Tages kam ein Häftling zu mir und sagte: ,Frau Schneider, ich gehe jetzt fort von hier.‘ Ich fragte sie, wohin sie denn gehen wolle, worauf sie mir antwortete: ,Es sind zu viele Männer da, und es muß ein Freudenhaus eingerichtet werden. Wir sind gefragt worden, und es haben sich zwanzig bis dreißig Frauen gemeldet. Wir bekommen jetzt schöne Kleider und werden ganz fein gemacht.‘ Ich fragte sie dann, wo das sein sollte, worauf sie antwortete: ,Im Männerlager.‘
Es ist kaum zu beschreiben, was sich dann dort alles abgespielt hat. Doch eines Tages sagte ein SS-Führer zu mir: ,Frau Schneider, Sie werden gehört haben, was im Männerlager vor sich geht. Doch das muß ich sagen, keiner von den Zeugen Jehovas war dabei!‘ “
Ravensbrück wurde als das berüchtigtste aller Frauenkonzentrationslager bekannt. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war die Zahl der Schwestern dort auf etwa 500 angestiegen.
Eines Tages wurden einige Schwestern plötzlich aus ihren Zellen gerufen und erhielten den Auftrag, den ganzen Bau auf Hochglanz zu bringen, da Himmler angedeutet hatte, er werde das Lager besichtigen. Aber der Tag ging vorüber, ohne daß er kam. Unsere Schwestern hatten sich schon zum Schlafen fertiggemacht, das heißt, sie hatten ihre Schuhe ausgezogen, die ihnen als Kopfkissen dienten. Wegen der Kälte schliefen sie in ihren Kleidern. Sie legten sich so dicht wie möglich aneinander, damit sie sich gegenseitig wärmten. Von Zeit zu Zeit wechselten sie ihre Plätze, so daß jeder einmal an die Außenseite kam, wo es natürlich kälter war. Plötzlich waren laute Stimmen in den Gängen zu hören, und die Zellentüren wurden aufgeschlossen. Jetzt standen unsere Schwestern vor dem Mann, der in Deutschland über Leben und Tod entschied. Himmler musterte die Schwestern scharf, stellte ihnen einige Fragen und mußte sich davon überzeugen, daß sie nicht bereit waren, irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
Noch am gleichen Abend, nachdem Himmler und seine Begleiter wieder fort waren, wurde eine ganze Anzahl Häftlinge herausgerufen, und andere Häftlinge konnten ihre Schreie hören. Himmler hatte die „verschärfte“ Strafe auch für Frauen eingeführt; sie erhielten fünfundzwanzig Schläge mit der Stahlrute auf das entblößte Gesäß.
Eine Schwester berichtet von dem Mut, mit dem viele ihre Probleme ertrugen: „In meinem Block war auch eine Jüdin, die die Wahrheit angenommen hatte. Auch sie wurde eines Nachts geweckt. Ich hörte es, stand auf und gab ihr noch einige Worte des Trostes mit auf den schweren Gang. Doch sie sagte: ‚Ich weiß genau was mir bevorsteht. Doch ich bin glücklich, noch die wunderbare Hoffnung der Auferstehung kennengelernt zu haben. Ich gehe gefaßt in den Tod.‘ Und tapfer schritt sie von dannen.“
SPALTUNGEN VERSCHLIMMERN DIE MÜHSALE
Als die Brüder in den Lagern von den Brüdern draußen abgeschnitten waren, spürten sie ein großes Verlangen nach geistiger Speise. Neuankömmlinge wurden von den Brüdern ausgefragt, was inzwischen im Wachtturm veröffentlicht worden sei. Manchmal wurden die Informationen genau vermittelt, manchmal aber auch nicht. Es gab auch Brüder, die versuchten, anhand der Bibel das Datum festzustellen, an dem sie befreit werden würden, und obwohl ihre Argumente schwach waren, griffen doch einige hoffnungsvoll nach diesem „Strohhalm“.
In dieser Zeit wurde ein Bruder, der ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis hatte, nach Buchenwald gebracht. Zuerst war seine Fähigkeit, sich zu erinnern und anderen die Dinge mitzuteilen, die er gelernt hatte, eine Quelle der Ermunterung für die Brüder. Aber im Laufe der Zeit wurde er ein Idol, „das Wunder von Buchenwald“, und seine Äußerungen, sogar seine persönliche Meinung, wurden als maßgebend betrachtet. Von Dezember 1937 bis 1940 hielt er jeden Abend einen Vortrag, insgesamt also etwa 1 000 Vorträge, und viele davon wurden in Kurzschrift mitgeschrieben, damit sie vervielfältigt werden konnten. Obwohl es viele ältere Brüder im Lager gab, die die Fähigkeit hatten, Vorträge zu halten, war dieser Bruder der einzige, der dies tat. Alle, die nicht völlig in Übereinstimmung mit ihm waren, wurden als „Feinde des Königreiches“ und als „Achans Familie“ bezeichnet und sollten von den „Treuen“ gemieden werden. Fast vierhundert Brüder waren mehr oder weniger bereit, diese Vorkehrung anzuerkennen.
Diejenigen, die so zu „Feinden“ gestempelt wurden, waren ebenfalls Brüder, die bereit waren, ihr Leben einzusetzen, um die Königreichsinteressen nach bestem Können zu fördern. Auch sie waren ins Lager gebracht worden, weil sie entschlossen waren, ihre Lauterkeit selbst bis zum Tode zu beweisen. Zwar wandten einige von ihnen biblische Grundsätze nicht völlig an. Doch wenn sie mit den Verantwortlichen Verbindung aufnehmen wollten, damit auch sie aus der geistigen Speise Nutzen ziehen konnten, die in Buchenwald erhältlich war, betrachteten diese es als „unter ihrer Würde“, solche Angelegenheiten zu besprechen.
Wilhelm Bathen aus Dinslaken, der Jehova immer noch treu dient, erzählt, wie es ihm persönlich erging: „Als ich wußte, daß ich auch ausgeschlossen war, war ich seelisch derart herunter und deprimiert, daß ich mich fragte, wie so etwas möglich sein könne. ... Ich habe oft auf den Knien gelegen und zu Jehova gebetet, er möge mir ein Zeichen geben. Ich fragte mich, ob ich etwa selbst daran schuld sei und ob auch er mich ausgeschlossen habe. Da ich eine Bibel hatte, habe ich darin bei verdunkeltem Licht gelesen und fand großen Trost bei dem Gedanken, daß dies mir zur Prüfung widerfahren sei. Sonst wäre ich zugrunde gegangen, denn es war ein gewaltiger Schmerz, von der Gemeinschaft der Brüder ausgeschlossen zu sein.“
So trugen menschliche Unvollkommenheiten und eine übertriebene Ansicht über die eigene Wichtigkeit zu Spaltungen unter Gottes Volk bei, und das bedeutete für einige eine schwere Prüfung.
VON DEM WUNSCH ZU „ÜBERLEBEN“ ÜBERMANNT
Einige, die in ein Lager gebracht wurden, da sie entschlossen waren, keine Kompromisse einzugehen, ließen später ihren Wunsch zu „überleben“ stärker werden als ihre Liebe zu Jehova und zu ihren Brüdern. Wenn jemand in der Lagerorganisation eine verantwortliche Stellung erhalten konnte und mit der Aufsicht über irgendeinen Arbeitsbereich betraut wurde, mußte er seine Kraft nicht mehr bei harter Zwangsarbeit verschleißen. Aber das war gefährlich. In vielen Fällen erforderte dies, daß er eng mit der SS zusammenarbeitete, daß er die Häftlinge zu schnellerer Arbeit antrieb und daß er Häftlinge — sogar seine eigenen Brüder — anzeigte, damit sie bestraft würden.
Ein Bruder namens Martens befand sich in einer solchen Lage, als er im Lager Wewelsburg war. Zuerst hatte er die Aufsicht über 250 Bibelforscher. Er bemühte sich ständig, ein sehr guter „Lagerältester“ in den Augen der SS zu sein. Im Laufe der Zeit wurden auch viele politische und andere Häftlinge ins Lager gebracht. Martens wollte seine Stellung nicht verlieren, und daher vertrat er die Interessen der SS und wandte ihre Methoden an.
Es dauerte nicht lange, und er verbot den Brüdern, den Tagestext zu besprechen oder gemeinsam zu beten. Bald führte er Leibesvisitationen durch und schlug diejenigen, bei denen er einen Zettel mit dem Tagestext fand, mit einem Gummischlauch. Eines Morgens, als mehrere Brüder gemeinsam beteten, sprang er in ihre Mitte, unterbrach sie und rief: „Kennt ihr nicht die Lagerordnung? Soll ich euretwegen hier Schwierigkeiten haben?“ So wurde einer großen Zahl treuer Brüder zusätzliches Leid durch einige wenige bereitet, die ihr Ziel aus dem Auge verloren hatten.
DAS PROBLEM DES HUNGERS
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden alle verfügbaren Nahrungsmittel an die Front geschickt. Die Mahlzeiten in den Konzentrationslagern bestanden größtenteils aus Steckrüben, die im allgemeinen nur als Tierfutter verwendet werden. Alles wurde so lieblos zubereitet, daß man oft von Häftlingen hören konnte, selbst Schweine würden ein derartiges Futter ablehnen. Aber es ging nicht darum, etwas Schmackhaftes zu sich zu nehmen, sondern einfach zu überleben. Viele verhungerten. „Die größte Prüfung war für mich persönlich der Hunger“, schreibt Bruder Kurt Hedel und erklärt in seinem Bericht weiter: „Ich bin 1,90 Meter groß und habe ein Normalgewicht von 105 kg. Aber im Winter 1939/40 wog ich nur noch 40 kg und weniger. Ich war nur noch Haut und Knochen, denn ich bekam trotz meiner Körpergröße nicht mehr zu essen als diejenigen, die kleiner waren. Oft habe ich dagestanden und mir vor Schmerzen die Fäuste in die Magengegend gedrückt, bis mir ein reifer Bruder den Rat gab, mein Problem Jehova im Gebet darzulegen und ihn zu bitten, er möge mir helfen, die Schmerzen zu ertragen. Bald darauf durfte ich erkennen, welche Hilfe das Gebet in solchen Situationen bietet.“ Ein anderer Bruder erinnert sich, daß er oft etwas Sand in den Mund nahm, um damit gegen das Hungergefühl anzukämpfen.
Wie wohltuend wirkte sich in solchen Situationen dann die brüderliche Gemeinschaft aus! Ja, es war ergreifend zu sehen, wenn Brüder, die selbst schon vom Tode gezeichnet waren, denjenigen, denen es noch schlechter ging, etwas von ihrer kargen Brotration abgaben. Oft waren es nur Krumen, die sie denen heimlich unter ihr Kopfkissen legten, denen das Essen aus irgendeinem Grund entzogen worden war und die bis zum Schlafengehen bei grimmiger Kälte mit dürftiger Kleidung auf dem Appellplatz stehen mußten. Wie ermutigend war aber auch für diejenigen, die der Feind beinahe „mürbe“ gemacht hatte, ein ermunterndes Wort aus dem Mund eines reifen Bruders, das wie Öl in eine Wunde träufelte und neue Kraft vermittelte, wenn die Lage fast unerträglich geworden war! Und wie machtvoll wirkte sich das gemeinsame Gebet aus! Häufig wurden abends, nachdem die Baracken abgeschlossen worden waren und in den Schlafräumen alles ruhig geworden war, Probleme gemeinsam Jehova im Gebet vorgetragen. Oft handelte es sich dabei um Angelegenheiten, die sie alle betrafen, aber genausooft auch um Probleme, die einzelne Brüder hatten. Wenn dann Jehova — wie in so zahlreichen Fällen — sofort handelte und ein Unheil abwendete, gab es schon am nächsten Tag Ursache für ein gemeinsames Dankgebet. Die Brüder wären mit bestimmten Situationen nicht allein fertig geworden, aber sie erkannten immer wieder, daß sie nie allein waren.
WAS MIT DENEN GESCHAH, DIE KOMPROMISSE SCHLOSSEN
Es ist interessant, daß die SS, die oft die schmutzigsten Tricks anwandte, um jemand zur Unterschrift unter die Erklärung zu verleiten, sich häufig gegen die wandte, die tatsächlich unterschrieben, und diese später mehr drangsalierte als zuvor. Karl Kirscht bestätigt dies: „Jehovas Zeugen wurden in den Konzentrationslagern am meisten schikaniert. Man glaubte, sie dadurch zur Unterschrift einer Widerrufserklärung bewegen zu können. Wir wurden wiederholt gefragt, ob wir zu dieser Unterschrift bereit wären. Einzelne taten dies, mußten aber in den meisten Fällen über ein Jahr auf ihre Entlassung warten. Während dieser Zeit wurden sie von der SS oft öffentlich als Heuchler und Feiglinge beschimpft und mußten manchmal sogar eine ,Ehrenrunde‘ um ihre Brüder machen, bevor sie das Lager verlassen durften.“
Wilhelm Röger erinnert sich an einen Bruder, der nach dem Besuch seiner Frau und seiner Tochter das Schriftstück unterschrieb, aber seinen Brüdern im Lager nichts davon erzählte. „Einige Wochen später wurde er aufgerufen, um entlassen zu werden. (Solche mußten sich dann gewöhnlich am Tor aufstellen, bis sie aufgerufen wurden.) Dieser Bruder stand aber abends noch am Tor, so daß er wieder in die Baracke zu den Brüdern zurückgehen mußte. Nach dem Abendappell, den der gefürchtete Oberscharführer Knittler abnahm, mußte der erwähnte Bruder einen Schemel aus der Baracke holen und sich auf dem Appellplatz vor die aufmarschierten Brüder stellen. Jetzt wies Knittler auf diesen Bruder hin, indem er uns alle scharf anschaute und sagte: ,Seht da, euer Feigling, der unterschrieben hat, ohne euch etwas davon zu sagen!‘ Tatsächlich hätte es die SS gern gesehen, wenn wir alle unterschrieben hätten. Doch dann wäre es mit der Achtung, die sie uns doch immerhin im geheimen zollte, vorbei gewesen.“
Schwester Dietrichkeit erinnert sich an zwei Schwestern, die die Erklärung unterschrieben. Als sie zurückkehrten, erklärten sie Schwester Dietrichkeit, sie hätten unterschrieben, weil sie fürchteten, verhungern zu müssen. Sie verschwiegen auch nicht, daß die SS sie gefragt hatte: „So, jetzt habt ihr euren Gott Jehova abgeleugnet. Welchem Gott wollt ihr jetzt dienen?“ Die beiden Schwestern wurden bald darauf entlassen, aber als die Russen ins Land kamen, wurden beide aus irgendeinem Grund erneut verhaftet und von den Russen ins Gefängnis gebracht, wo sie tatsächlich verhungerten. In einem anderen Fall wurde eine Schwester, die die Unterschrift leistete, noch in den letzten Tagen des Krieges von Russen vergewaltigt und darauf ermordet.
Eine große Anzahl Brüder, die die Erklärung unterschrieben, wurden zum Militär eingezogen und an die Front gebracht, wo die meisten von ihnen umkamen.
Obwohl es genügend Beweise dafür gibt, daß die Brüder, die die Unterschrift leisteten, sich dadurch außerhalb des Schutzes Jehovas begaben, waren sie in den meisten Fällen keine „Verräter“. Viele machten ihre Unterschrift vor ihrer Entlassung rückgängig, nachdem ihnen verständnisvolle, reife Brüder geholfen hatten, zu erkennen, was sie getan hatten. Reuevoll baten sie Jehova, ihnen noch eine Gelegenheit einzuräumen, ihre Treue zu beweisen, und viele von ihnen schlossen sich nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes sogleich den Reihen der Verkündiger an und begannen als Versammlungsverkündiger zu arbeiten, später als Pioniere, Aufseher, ja sogar als reisende Aufseher und förderten auf beispielhafte Weise die Interessen des Königreiches Jehovas. Viele wurden durch die Erfahrung getröstet, die Petrus machte, der ebenfalls seinen Herrn und Meister verleugnet hatte, aber später wieder seine Gunst erlangte. — Matth. 26:69-75; Joh. 21:15-19.
VERRAT
Während einige vorübergehend ihr geistiges Gleichgewicht aufgrund der raffinierten Methoden, die angewandt wurden, oder aufgrund menschlicher Schwäche verloren, gab es andere, die Verräter wurden und viel Leid über ihre Brüder brachten.
In den Jahren 1937/38 kam, wie Julius Riffel berichtet, „ein Bruder Hans Müller aus Dresden ins Bethel in Bern und versuchte auf diesem Wege, mit Brüdern aus Deutschland in Verbindung zu kommen, angeblich mit dem Ziel, ,nach der Verhaftung so vieler Brüder die Untergrundorganisation in Deutschland wiederaufzubauen‘.
Natürlich erklärte ich mich — und auch noch einige andere Brüder — bereit mitzuarbeiten. Leider war es uns damals nicht bekannt, daß dieser Bruder Müller bereits mit der Gestapo in Deutschland zusammenarbeitete. Wir haben darum in unserer Ahnungslosigkeit in Bern unsere Pläne gemacht und gingen dann an die Arbeit. Ich sollte Baden-Württemberg übernehmen. Im Februar 1938 ging ich allein über die Grenze nach Deutschland und versuchte, neue Fäden zu knüpfen und Verbindungen zu jenen Brüdern herzustellen, die noch in Freiheit waren. Aber schon nach vierzehn Tagen wurde ich verhaftet. ... Die Gestapo war über unsere Tätigkeit bis ins kleinste informiert, und dies durch diesen falschen Bruder, der zuerst mithalf, die Untergrundorganisation aufzubauen, um sie dann der Gestapo wieder auszuliefern. Dasselbe tat dieser angebliche ,Bruder‘ ein Jahr später in Holland und auch in der Tschechoslowakei. ...
Im Jahre 1939 wurde ich einmal im Gefängniswagen zu einem Gerichtsprozeß nach Koblenz am Rhein gebracht, um als Zeuge in Verbindung mit drei Schwestern vernommen zu werden, die mit mir im Untergrundwerk in Stuttgart zusammengearbeitet hatten. Dort war ich Ohrenzeuge, wie ein Gestapobeamter einem Justizbeamten erzählte, wie sie über uns in allen Einzelheiten Bescheid wußten, was Deckadressen, Decknamen sowie den Aufbau der Organisation betraf. Als wir uns einmal im Gang aufhalten mußten, sagte derselbe Gestapobeamte zu mir, daß sie nicht so leicht hinter unsere Tätigkeit gekommen wären, wenn wir nicht Strolche in unseren Reihen hätten. Leider konnte ich ihm nicht unrecht geben. ... Es war mir möglich, von Zeit zu Zeit aus dem Gefängnis vor diesem verräterischen ,Bruder‘ zu warnen, jedoch hat Bruder Harbeck die Warnung nie beachtet, weil er es nicht glauben konnte. Nach meiner Auffassung hat dieser Müller Hunderte unserer Brüder ins Gefängnis gebracht.“
DER STROM FLIESST WEITER
Obwohl der Feind wiederholt neue Breschen in die Reihen des Volkes Gottes schlug und die Zahl derer, die sich noch in Freiheit befanden, immer mehr dezimiert wurde, gab es stets einige, die die Notwendigkeit erkannten, die Brüder mit geistiger Speise zu versorgen. Dies taten sie unter Einsatz ihres Lebens. Einer der Brüder, die eine Wachtturm-Verteilerorganisation wiederaufbauten, während Müller seine schmutzige Arbeit in Dresden fortsetzte, war Ludwig Cyranek. Er tat dies, bis er verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Doch sobald Bruder Cyranek aus dem Gefängnis freigelassen wurde, begab er sich wieder an die Arbeit.
Viele Schwestern füllten freudig die Lücken aus, die durch die Verhaftung der Brüder entstanden waren, obwohl ihnen bewußt war, daß sie zufolge der verschärften Kriegsgesetze das Leben verlieren konnten, wenn sie ertappt würden. Unter denen, die den Wachtturm verteilten, befanden sich zum Beispiel Schwester Neuffer aus Holzgerlingen, Schwester Pfisterer aus Stuttgart und Schwester Franke aus Mainz. Bruder Cyranek schrieb diesen Schwestern Briefe harmlosen Inhalts, die die Schwestern erst bügeln mußten, damit sie die geheime Botschaft lesen konnten, die er darunter mit Zitronensaft geschrieben hatte und durch die sie erfuhren, wohin sie die vervielfältigten Exemplare des Wachtturms bringen sollten und wie viele.
Von Zeit zu Zeit fuhr Bruder Cyranek nach Stuttgart, wo Maria Hombach für ihn als Sekretärin, arbeitete. Er diktierte ihr Berichte über das Werk in Deutschland, die er dann an Arthur Winkler in den Niederlanden sandte, der für Deutschland und Österreich zuständig war. Schwester Hombach schrieb diese Briefe ebenfalls mit Zitronensaft, damit wichtige Informationen nicht in unbefugte Hände fielen.
Daß diese Untergrundtätigkeit mindestens ein Jahr lang funktionierte, kann nur der Führung Jehovas zugeschrieben werden. Oft sorgte er dafür, daß sein Volk seltsame Wege geführt wurde, damit es geistige Speise zur rechten Zeit empfing. Müller sah bald die Zeit dafür gekommen, diesen ganzen Organisationsring an die Gestapo zu verraten. Jeder der Beteiligten wurde innerhalb einiger Tage verhaftet. Während des Prozesses in Dresden wurde Bruder Cyranek zum Tode verurteilt, und die anderen erhielten hohe Zuchthausstrafen. Am 3. Juli 1941, nur wenige Stunden vor seiner Hinrichtung, schrieb er an seine Verwandten folgenden Brief:
„Mein lieber Bruder, meine liebe Schwägerin, meine lieben Eltern, alle anderen Geschwister mit eingeschlossen!
Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre! Nunmehr muß ich Euch die schmerzliche Eröffnung machen, daß ich mich bei Ankunft dieses Briefes nicht mehr in diesem Dasein befinde. Seid bitte, bitte nicht allzu traurig. Denket, daß es für den allmächtigen Gott ein leichtes ist, mich aus dem Tode zu erwecken. Ja, er vermag alles, und wenn er mich den bitteren Kelch trinken läßt, dann hat es auch seinen Zweck. Wißt, daß es mein Bestreben war, ihm in meiner Schwachheit zu dienen, und ich bin überzeugt davon, daß Gott mir bis zum Ende beisteht. Ich befehle mich in seine Hände. Ich scheide von Euch, indem meine Gedanken bei Euch, Ihr Lieben, in der letzten Stunde verweilen. Möge Euer Herz nicht erschrecken, vielmehr fasset Euch, denn so ist es ja sicherlich besser für Euch, als mich dauernd im Zuchthaus wissend, was eine ständige Sorge für Euch wäre. Und nun will ich Euch, liebe Mutter, lieber Vater, danken für alles Gute, das Ihr mir erwiesen habt. Ich kann ja nur einen schwachen Dank stammeln. Möge Jehova Euch alles vergelten. Mein Flehen ist, daß er Euch bewahren und segnen möge, denn sein Segen allein macht reich. Lieber Toni! Ich glaube gern, daß Du alle Hebel in Bewegung gesetzt hättest, um mich aus der „Löwengrube“ herauszuholen, doch vergebens. Heute abend erhielt ich Bescheid, daß das Gnadengesuch abgelehnt wurde und morgen früh die Vollstreckung erfolgt. Niemals habe ich selbst eine Eingabe gemacht und um Gnade von Menschen gebeten. Ich anerkenne aber Deinen guten Willen, mir zu helfen, und danke Dir sowie Luise aus tiefstem Herzensgrund für das Gute, das Ihr mir schenktet. Die Zeilen, die Eure Anteilnahme bekunden, haben mir wohlgetan. So seid alle miteinander herzlich gegrüßt und geküßt, besonders habe ich Karl in mein Herz geschlossen. Gott mit Euch, bis wir uns wiedersehen. Es umarmt Euch alle [gez.] Ludwig Cyranek“
Julius Engelhardt, der den Wachtturm zusammen mit Schwester Frey in Bruchsal vervielfältigte, hatte in Süddeutschland eng mit Bruder Cyranek zusammengearbeitet. Es war vorgesehen, daß er im Falle der Verhaftung Bruder Cyraneks das Werk fortsetzen sollte. Leider wurde auch er von Müller an die Gestapo verraten, und bald fand man seinen Schlupfwinkel in seiner Heimatstadt Karlsruhe. Aber Bruder Engelhardt hatte die Schwestern immer mit den Worten ermuntert: „Mehr als unseren Kopf kann es nicht kosten“, und er war entschlossen, seine Freiheit so teuer wie möglich zu verkaufen. Obwohl ihn der Gestapobeamte schon gefaßt hatte, riß er sich plötzlich los, eilte die Treppen hinab und verschwand auf der Straße unter der Menge, bevor ihn die Polizei aufhalten konnte. Es ist interessant, was weltliche Chronisten in dem Buch Widerstand und Verfolgung in Essen 1933—1945 aus den Gestapoakten über die Tätigkeit von Bruder Engelhardt zusammengetragen haben:
„Mit der Verhaftung von Cyranek, Noernheim und anderen war die Versorgung mit illegalem Schriftenmaterial keineswegs unterbunden, denn Engelhardt, der zuerst im Südwesten operiert hatte, mußte sich von dort im März 1940 nach dem Ruhrgebiet absetzen, da ihm in seinem bisherigen Stützpunkt Karlsruhe die Festnahme drohte. Nach vorübergehendem Aufenthalt in Essen fand er eine illegale Unterkunft in Oberhausen-Sterkrade, wo er von Anfang 1941 bis zum April 1943 27 verschiedene Auflagen des ,Wachtturms‘ in einer Auflage von zuerst 240 und später 360 Exemplaren herstellte sowie anderes Schriftenmaterial. Vom Ruhrgebiet aus richtete er Stützpunkte in München, Mannheim, Speyer, Dresden sowie Freiberg in Sachsen ein und übernahm Kassiereraufgaben im ganzen Reich. ... Gegen die Mitglieder einer Essener Gruppe, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit Engelhardts Zusammenkünfte abhielten und regelmäßig den ,Wachtturm‘ sowie das ,Mitteilungsblatt der deutschen Verbreitungsstelle des Wachtturms‘ verteilt hatten, wurden am 18. September 1944 vom Oberlandesgericht in Hamm hohe Zuchthausstrafen verhängt. Viele von ihnen sind umgebracht worden.“
Christine Hetkamp gibt uns ebenfalls einen ermutigenden Bericht über Bruder Engelhardts Tätigkeit. „Von dieser Zeit an wurde mein Mann, der auch ein getaufter Zeuge Jehovas war, ein sehr bösartiger Verfolger der Wahrheit. ... Ich [habe] keine Versammlung versäumt, die abwechselnd in der Wohnung meiner Mutter, in meiner und in der meines Bruders stattfanden. Ich konnte es in meiner Wohnung tun, da mein Mann unsere Wohnung verließ, und zwar von Montag bis Samstag. Er hielt sich die ganze Woche bei seiner Schwester auf, die etwas außerhalb unserer Heimatstadt wohnte. Diese Familie war eine sehr politische Nazi-Familie, wo mein Mann Unterschlupf fand, denn er konnte unseren Geist nicht mehr ertragen, was auch verständlich war. So wurde während seiner Abwesenheit in meiner Wohnung fast drei Jahre lang unterirdisch Der Wachtturm gedruckt. Ein Bruder [Bruder Engelhardt], der bei uns drei Jahre verborgen lebte, schrieb auf der Schreibmaschine erst die Matrizen, mit denen er dann den Wachtturm vervielfältigte. Anschließend begab er sich mit meiner Mutter auf die Reise. Sie fuhren nach Berlin, Mainz und Mannheim usw. und gaben die Zeitschriften an zuverlässigen Stellen ab. Von dort aus wurden sie weiterverteilt. So hatten Bruder Engelhardt und meine Mutter alle Fäden in der Hand, während ich das Essen kochte und die Wäsche wusch. Als meine Mutter inhaftiert wurde, habe ich die Wachttürme selbst nach Mainz und Mannheim zu den Stützpunkten gebracht. ... Im April 1943 wurde meine Mutter zum zweiten Mal verhaftet. Diesmal für immer. Anschließend auch Bruder Julius Engelhardt, der noch so lange die Fäden in den Händen behielt und das Untergrundwerk leitete.“
Später wurden Schwester Hetkamps Tochter, ihr Schwager, ihre Schwester, ihre Schwägerin und ihre Tante verhaftet. Ihr Prozeß fand am 2. Juni 1944 statt. Bruder Engelhardt und sieben weitere Angeklagte, darunter Schwester Hetkamps Mutter, wurden zum Tode verurteilt. Bald danach wurden sie alle enthauptet.
Von da an wurden die Zustände in Deutschland immer verworrener. Es ist jetzt nicht mehr genau festzustellen, wo um diese Zeit noch Der Wachtturm vervielfältigt wurde, aber er wurde verfielfältigt.
TREU BIS ZUM TODE
Die zahlreichen Hinrichtungen, die während des Dritten Reiches vollstreckt wurden, nehmen einen besonderen Platz in der Geschichte der Verfolgung ein. Laut unvollständigen Berichten wurden mindestens 203 Brüder und Schwestern enthauptet oder erschossen. In dieser Zahl sind nicht diejenigen inbegriffen, die an Hunger, Krankheit oder brutaler Mißhandlung starben.
Über einen Bruder, der zum Tode verurteilt worden war, berichtet Bruder Bär: „Alle Mitgefangenen und auch die Vollzugsbeamten waren voller Bewunderung für ihn. Da er als Schlosser Reparaturarbeiten machte, kam er im ganzen Gefängnis herum. Er machte täglich seine Arbeit, ohne mißmutig oder traurig zu sein; im Gegenteil, er sang bei seiner Arbeit zum Preise Jehovas.“ Eines Tages wurde er gegen Mittag aus der Werkstatt geholt und noch an jenem Abend hingerichtet.
Bruder Bär fährt dann in seinem Bericht fort: „Meine Frau sah einmal eine ihr unbekannte Schwester im Gefängnis in Potsdam. Sie begegnete ihr im Gefängnishof, wo sie an ihr vorübergeführt wurde. Als die Schwester meine Frau sah, hob sie ihre beiden gefesselten Hände empor und winkte meiner Frau freudig zu. Obwohl zum Tode verurteilt, lag in ihrem Blick weder Schmerz noch Traurigkeit.“ Diese Ruhe und dieser Frieden, die unsere zum Tode verurteilten Brüder und Schwestern ausstrahlten, gewinnen noch an Wert, wenn man bedenkt, was sie in ihren Zellen erdulden mußten.
Während unsere Brüder und Schwestern entschlossen und gefaßt, ja manchmal sogar freudig waren angesichts des schweren Weges, den sie gehen mußten, brachen andere, die keine Zeugen waren, oft in ihrer Todesangst zusammen und schrien laut, bis sie gewaltsam zum Schweigen gebracht wurden.
Jonathan Stark aus Ulm fiel nicht dieser Furcht zum Opfer. Zwar war er erst siebzehn Jahre alt, als er von der Gestapo verhaftet und ohne gesetzliche Formalitäten nach Sachsenhausen geschickt wurde, wo man ihn in die „Todesbaracke“ steckte. Sein Vergehen? Er hatte sich geweigert, den Arbeitsdienst zu leisten. Emil Hartmann aus Berlin hörte, daß Jonathan in diese Baracke gebracht worden war, und obwohl Bruder Hartmann hätte schwer bestraft werden können, gelang es ihm doch, mit diesem jungen Bruder Verbindung aufzunehmen und ihn zu stärken. Für beide waren diese kurzen Besuche sehr ermunternd. Jonathan war immer sehr glücklich. Obwohl er mit dem Tod rechnen mußte, tröstete er seine Mutter mit der wunderbaren Hoffnung auf die Auferstehung. Als ihn nur zwei Wochen nach seiner Ankunft der Lagerkommandant zur Hinrichtungsstätte führte, waren Jonathans letzte Worte: „Für Jehova und für Gideon.“ (Gideon war ein treuer Diener Jehovas, der Jesus Christus vorschattete.) — Ri. 7:18.
Elise Harms aus Wilhelmshaven erinnert sich, daß ihr Mann siebenmal aufgefordert wurde zu widerrufen, nachdem er verurteilt worden war, und als er sich weigerte, erhielt sie die Erlaubnis, ihn zu besuchen, doch unter der Bedingung, daß sie mit all ihrer Kraft versuchte, seine Meinung zu ändern. Aber sie konnte es nicht. Als er enthauptet war, war sie glücklich, daß er Jehova treu geblieben war und daß er nicht länger unter dem Druck stand, untreu zu werden. Inzwischen war sein Vater, Martin Harms, zum dritten Mal verhaftet und nach Sachsenhausen gebracht worden. Ergreifend ist, was ihm sein Sohn kurz vor seiner Hinrichtung am 9. November 1940 schrieb:
„Mein lieber, guter Vater!
Noch trennen uns gut drei Wochen vom 3. Dezember, von dem Tag, an dem wir uns beide vor zwei Jahren zum letzten Mal sahen. Ich sehe noch Dein liebes Lächeln, als Du im Keller des Gefängnisses warst, um dort zu arbeiten, und ich auf dem Gefängnishof spazierenging. In den Morgenstunden ahnten wir noch nicht, daß mein liebes Lieschen [seine Frau] und ich am Mittag entlassen werden sollten und Du, mein lieber Vater, zu unser aller Schmerz an dem gleichen Tag nach Vechta gebracht wurdest, um später nach Oranienburg [Sachsenhausen] ins Konzentrationslager überführt zu werden. Noch sind mir die letzten Augenblicke in bester Erinnerung, als wir beide allein im Geschäftszimmer des Gefängnisses in Oldenburg waren, als ich meinen Arm um Dich schlang und Dir versprach, für Mutter und auch für Dich zu sorgen, soweit es in meinen Kräften stehe. Meine letzten Worte waren: „Bleibe treu, mein lieber Vater!“ In den letzten 1 3⁄4 Jahren [21 Monaten], in denen ich die Knechtschaft in Freiheit ertragen durfte, habe ich mein Versprechen an Dir wahr gemacht, um es am 3. September, als ich eingezogen wurde, an Deine anderen Kinder abzutreten. Mit Stolz habe ich in der Zeit auf Dich geschaut und mit Bewunderung gesehen, wie Du Dein Los in der Treue zum Herrn trägst. Und nun ist auch mir Gelegenheit gegeben, dem Herrn gegenüber die Treue zu beweisen, ja die Treue nicht nur bis an den Tod, sondern bis in den Tod. Schon jetzt ist das Todesurteil gegen mich ausgesprochen, ich liege Tag und Nacht in Fesseln — die Druckstellen [auf dem Papier] stammen von den Handschellen —, aber ich habe noch nicht bis aufs Blut widerstanden. Das Stehen wird einem Zeugen Jehovas nicht so leicht gemacht. So ist auch mir immer noch die Gelegenheit gegeben, mein irdisches Leben zu retten, um das wirkliche Leben zu verlieren. Ja sogar angesichts des Schafotts wird dem Zeugen Jehovas nochmals Gelegenheit gegeben, seinen Bund zu brechen. Darum bleibt auch der Kampf für mich noch bestehen, und auch ich habe noch viele Siege zu erringen, um sagen zu können: „Ich habe den Kampf gekämpft, ich habe den Glauben bewahrt, fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche Gott, der Gerechte, geben wird.“ Der Kampf ist zweifelsohne schwer, ich bin aber dem Herrn von ganzem Herzen dankbar, daß er mir nicht nur bis hierher die Kraft gegeben hat zu stehen, sondern mir auch jetzt, angesichts des Todes, eine Freudigkeit gegeben hat, die ich gern mit allen meinen Lieben teilen möchte.
Mein lieber Vater, noch bist Du ja auch ein Gefangener, und ob Dich dieser Brief jemals erreicht, das weiß ich nicht. Wenn Du aber einmal freikommst, dann bleibe auch dann noch treu, denn Du weißt, wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes. ...
Wenn Du, lieber Vater, wieder zu Hause bist, dann nimm Dich auch ganz besonders meines lieben Lieschens an, denn es wird für sie dann ganz besonders schwer sein, weiß sie doch, daß sie ihren Liebsten nicht zurückerwarten braucht. Ich weiß, daß Du dies tun wirst, ich sage Dir schon jetzt vielen Dank dafür. Mein lieber Vater, im Geiste rufe ich Dir zu, bleibe auch Du treu, wie ich mich bemühe, treu zu sein, dann werden wir uns wiedersehen. Ich werde auch Deiner bis zuletzt gedenken.
Dein Sohn Johannes
Auf Wiedersehen!“
WORTE DER ERMUNTERUNG AN DIEJENIGEN, DIE SICH IN FREIHEIT BEFANDEN
Nicht nur wurden Todeskandidaten von Brüdern, die sich noch in Freiheit befanden, ermuntert, sondern diejenigen, die sich in Freiheit befanden, wurden oft noch mehr von ihren Brüdern im Gefängnis ermuntert. Schwester Auschner aus Kempten kann dies bestätigen. Sie empfing am 28. Februar 1941 einen Brief von ihrem einundzwanzigjährigen Sohn, in dem die folgenden kurzen Zeilen an seinen achtzehneinhalbjährigen Bruder gerichtet waren: „Mein lieber Bruder! Im letzten Brief hatte ich Dich an ein Buch erinnert, und ich hoffe, daß Du es Dir inzwischen zu Herzen genommen hast, was Dir gewiß nur von Nutzen sein wird.“ Zweieinhalb Jahre später empfing Schwester Auschner von ihrem jüngsten Sohn einen Abschiedsbrief. Er hatte sich zu Herzen genommen, was sein älterer Bruder geschrieben hatte, und folgte ihm auf demselben Weg in den Tod.
Die beiden Brüder Ernst und Hans Rehwald aus Stuhm (Ostpreußen) standen einander in der gleichen Weise bei. Nachdem Ernst vor ein Militärgericht gestellt und zum Tode verurteilt worden war, schrieb er in seiner Todeszelle einen Brief an seinen Bruder Hans, der sich in Stuhm im Gefängnis befand: „Lieber Hans, sollte es Dir so ergehen wie mir, dann denke an die Macht des Gebetes. Ich kenne keine Furcht, denn in meinem Herzen ist der Friede Gottes.“ Kurze Zeit später befand sich sein Bruder in der gleichen Lage, und obwohl er erst neunzehn Jahre alt war, wurde er hingerichtet.
EINE PRÜFUNG DER LOYALITÄT FÜR EHEPARTNER
Es war beeindruckend zu sehen, wie enge Angehörige ihre Lieben ermutigten, in ihrer Lauterkeit nicht nachzugeben. Schwester Höhne aus Frankfurt (Oder) begleitete ihren Mann bis zum Bahnhof, nachdem er seinen Gestellungsbefehl erhalten hatte, und sah ihn nie wieder. Ihre letzten Worte waren: „Sei treu“ — Worte, die Bruder Höhne bis zum Tode beherzigt hat.
In vielen Fällen waren die Brüder jung verheiratet, und wäre ihre Liebe zu Jehova und Christus Jesus nicht so stark gewesen, wären sie bestimmt nicht in der Lage gewesen, das Zerschneiden des Bandes zu ihren Angehörigen zu ertragen. Zwei Schwestern, die nun seit über dreiunddreißig Jahren Witwen sind, blicken jetzt dankbar auf die turbulente Zeit zurück, weil Jehova ihnen Hilfe gewährte. Schwester Bühler und Schwester Ballreich aus Neulosheim in der Nähe von Speyer heirateten beide kurz vor Beginn des Verbotes und lernten die Wahrheit ungefähr um die gleiche Zeit kennen. Im Jahre 1940 wurden beide Ehemänner eingezogen, und als sie sich weigerten, Militärdienst zu leisten, wurden sie verhaftet.
Schwester Ballreich fuhr darauf zum Wehrbezirkskommando in Mannheim, wo sie erfuhr, daß die beiden Brüder nach Wiesbaden gebracht worden seien, wo sie vor ein Kriegsgericht gestellt werden sollten. Schwester Ballreich erhielt die Erlaubnis, ihren Mann zu besuchen, doch nur unter der Bedingung, daß sie versuchte, ihn zu einer Sinnesänderung zu bewegen. Unter der gleichen Bedingung erhielt Schwester Bühler die Erlaubnis, ihren Mann zu besuchen. Beide Schwestern fuhren sofort nach Wiesbaden. Schwester Bühler berichtet:
„Das war ein Wiedersehen — ich kann es nicht schildern, wie traurig es war. Er [ihr Mann] fragte nur: ,Warum kommst du?‘, worauf ich ihm antwortete, daß ich ihn beeinflussen solle. Aber er tröstete mich, gab mir biblischen Rat und bat mich, nicht traurig zu sein wie die übrigen, die keine Hoffnung haben, sondern mein ganzes Vertrauen auf unseren großen Gott Jehova zu setzen. ... Ein junger Gerichtsschreiber, der uns beide — Schwester Ballreich und mich — ins Gefängnis begleitete, gab uns den Rat, bis Dienstag in Wiesbaden zu bleiben, denn an diesem Tag wäre die Hauptverhandlung. Wenn wir anwesend wären, so würden wir ihr bestimmt beiwohnen dürfen. Und so blieben wir bis Dienstag. Auf der Straße warteten wir, bis unsere beiden Männer — begleitet von zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren — wie zwei Schwerverbrecher durch die Stadt geführt wurden. Wirklich, ein Schauspiel für Engel und Menschen! Schwester Ballreich und ich sprangen auf der Straße neben ihnen her bis zur Gustav-Freytag-Straße. Wir konnten bei der Verhandlung zugegen sein. Es dauerte nicht einmal eine Stunde, bis zwei unbescholtene, brave Männer ,wegen Wehrzersetzung‘ zum Tode verurteilt waren. Anschließend durften wir noch etwa zwei Stunden mit ihnen im Erdgeschoß zusammen sein. Doch als wir das Gerichtsgebäude wieder verlassen hatten, liefen wir beide in Wiesbaden umher wie zwei verlorene Schafe.“
Wenig später erhielten die beiden jungen Schwestern die Nachricht, daß ihre Männer am 25. Juni 1940 durch Erschießen hingerichtet worden seien. „Es lebe Jehova!“ seien ihre letzten Worte gewesen.
ELTERN UND KINDER SETZEN JEHOVA AN DIE ERSTE STELLE
Ein Fall, der nicht nur die Aufmerksamkeit der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verteidiger, sondern auch die der Öffentlichkeit erregte, betraf zwei Brüder der Familie Kusserow in Paderborn. Aufgrund der guten Unterweisung in Jehovas Wegen, die sie zu Hause erhalten hatten, waren sie bereit, ihr Leben furchtlos niederzulegen. Und ihre Mutter nahm ihren Tod als Anlaß, um anderen in ihrer Nachbarschaft von der Auferstehungshoffnung zu erzählen. Ein dritter Bruder, Karl, wurde drei Monate später verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht; er starb vier Wochen nach seiner Entlassung. Diese Familie zählte dreizehn Glieder; zwölf von ihnen wurden ins Gefängnis gesteckt und zu insgesamt fünfundsechzig Jahren Haft verurteilt, wovon sie sechsundvierzig Jahre verbüßten.
Ähnlich wie bei der Familie Kusserow, wo nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder die Interessen des Königreiches ihren eigenen voranstellten, war es bei der Familie Appel aus Süderbrarup. Sie besaß dort eine kleine Buchdruckerei. Was ihnen widerfuhr, lassen wir Schwester Appel selbst erzählen:
„Im Jahre 1937, als die große Verhaftungswelle über Deutschland hinwegrollte, wurden mein Mann und ich am 15. Oktober spätabends von unseren vier Kindern weggeholt. Es kamen acht Personen in die Wohnung (Gestapo und Polizeibeamte). Sie durchsuchten alles, vom Boden bis zum Keller. Dann nahmen sie uns mit. ... Nach der Verurteilung kam mein Mann nach Neumünster und ich ins Frauengefängnis nach Kiel. ... Im Jahre 1938 wurden wir im Zuge einer Amnestie entlassen. ... Als jedoch der Zweite Weltkrieg ausbrach, wußten wir, was uns bevorstand, denn mein Mann war entschlossen, in dieser kriegerischen Auseinandersetzung die Neutralität zu bewahren. Darum besprachen wir alles mit unseren Kindern und machten sie auf biblische Aussprüche bezüglich der Verfolgung aufmerksam.
Soweit es uns möglich war, schafften wir Kleidung für die Kinder an, damit sie fürs erste versorgt wären. Nachdem mein Mann seine biblischen Gründe, weshalb er am Krieg nicht teilnehmen könne, dem zuständigen Wehrbezirkskommando mitgeteilt hatte, ordnete er auch seine persönlichen Sachen. So legten wir Jehova täglich unsere Sorgen im Gebet vor. Am 9. März 1941 schließlich klingelte es schon vormittags acht Uhr. Zwei Soldaten waren gekommen, um meinen Mann abzuholen. Sie blieben draußen vor der Tür stehen und gaben meinem Mann eine Viertelstunde Zeit, sich zu verabschieden. Unser Sohn Walter war schon fort zur Schule. Die übrigen drei Kinder und Schwester Helene Green, die bei uns in der Druckerei in Süderbrarup arbeitete, wurden telefonisch gebeten, sofort in die Wohnung zu kommen. Die letzte Bitte meines Mannes war: ,Singt noch das Lied: „Alle Getreuen, alle Ergebenen, sind von der Menschenfurcht frei“.‘ Obgleich uns die Worte in der Kehle würgten — wir sangen. Nach einem Gebet kamen die Soldaten herein und führten meinen Mann ab. Das war das letzte Mal, daß unsere Kinder ihren Vater sahen. Mein Mann wurde nun nach Lübeck gebracht, wo ein höherer Offizier lange Zeit väterlich auf ihn einsprach und ihm empfahl, doch erst einmal die Uniform anzuziehen. Aber Jehovas unveränderliches Gesetz war so fest im Herzen meines Mannes verankert, daß es für ihn kein Zurück mehr gab. ...
Es war am 1. Juli 1941, als frühmorgens ein Polizeibeamter kam und mir ein Schreiben ... überreichte mit der Nachricht, daß unser Personenwagen zwecks Einziehung kommunistischen Vermögens beschlagnahmt sei und die Buchdruckerei sofort polizeilich geschlossen werde. Dann überreichte er mir ein weiteres Schreiben, darin stand: ,Sie haben Ihre Kinder am 3. Juli 1941 vormittags auf dem Gemeindebüro abzuliefern. Kleider und Schuhzeug sind mitzubringen.‘ Das war ein schwerer Schlag.
So kam es, daß am Morgen des 3. Juli die dafür zuständigen Personen aus den Erziehungsanstalten kamen, um unsere Kinder dorthin zu bringen. Die Beamtin, die meine beiden fünfzehn und zehn Jahre alten Mädchen, Christa und Waltraud, abholte, sagte mir: ,Ich weiß schon einige Wochen, daß ich Ihre Kinder abholen soll, und seitdem habe ich nachts nicht mehr schlafen können, weil ich Kinder aus geordneten Familienverhältnissen herausreißen soll. Aber ich muß es tun.‘
Einige Personen aus der Bevölkerung hatten aus ihrer Empörung keinen Hehl gemacht. Doch da wurde von der zuständigen Stelle gleich eine Warnung in Umlauf gesetzt: ,Wer über den Fall Appel spricht, begeht Volkszersetzung.‘ Darum waren auch drei Polizeibeamte vorsichtshalber abkommandiert worden, um die Abfahrt der Kinder zu überwachen. ... Natürlich wurde mein Mann über die getroffenen Maßnahmen bezüglich des Geschäftes und der Kinder ebenfalls von den Behörden unterrichtet. Man hoffte, daß er dadurch weich werden würde. In Verbindung damit machte man ihm täglich die größten Vorwürfe, wie unehrlich und gewissenlos er handle, indem er so seine Familie im Stich ließe. Mein Mann schrieb uns darauf einen sehr lieben Brief. Er schrieb, daß er am nächsten Morgen früh aufstand, niederkniete und seine Familie im Gebet Jehova anbefahl. ...
An demselben Tag, als die Kinder abgeholt wurden, bekam ich vom Reichskriegsgericht Berlin-Charlottenburg die Aufforderung, dorthin zu kommen. Hier wurde ich dem Oberreichsanwalt vorgeführt. Dieser verlangte von mir, daß ich meinen Mann beeinflussen sollte, die Uniform anzuziehen. Als ich ihm den biblischen Grund nannte, warum ich dies nicht tun könne, rief er wutentbrannt: ,Dann bekommt er den Kopf abgehackt!‘ Als ich dann aber trotzdem um eine Sprecherlaubnis bat, gab er mir zwar keine Antwort, drückte aber auf eine Klingel, so daß der Soldat herbeigerufen wurde, der mich vorgeführt hatte. Dieser brachte mich eine Etage tiefer, wo einige Offiziere saßen, die mich mit eisiger Miene empfingen und dann mit Vorwürfen überhäuften. Als ich hinausging, kam einer mir nach, nahm meine Hände und sagte: ,Frau Appel, bleiben Sie so standhaft wie jetzt, Sie gehen den richtigen Weg.‘ Ich war wirklich überrascht. Wichtig war aber, daß ich meinen Mann sprechen konnte.
Während der Tage, da ich in Berlin war, hatten die Nazis unser Geschäft schon verkauft. Ich mußte den Kaufvertrag unterschreiben, denn ich sei — so sagte man mir — vogelfrei, andernfalls käme ich in ein Konzentrationslager.
Nachdem ich meinen Mann noch einige Male in Berlin besucht hatte, wurde er zum Tode verurteilt. Dabei sagte sein ,Verteidiger‘: ,Man hat dem Mann goldene Brücken gebaut, er hat sie aber nicht betreten‘, worauf mein Mann antwortete: ,Ich habe mich für Jehova und sein Königreich entschieden, und dabei bleibt es.‘
Am 11. Oktober 1941 wurde mein Mann im Zuchthaus in Brandenburg an der Havel enthauptet. In seinem letzten Brief, den er nur wenige Stunden vor seiner Hinrichtung schreiben durfte, brachte er zum Ausdruck: ,Wenn Dich dieser Brief erreicht, meine geliebte Maria, und meine vier Kinder, Christa, Walter, Waltraud und Wolfgang, ist alles schon geschehen, und ich habe den Sieg errungen durch Jesus Christus und hoffe, ein Überwinder zu sein. Ich wünsche Euch von Herzen einen gesegneten Eingang in Jehovas Königreich. Bleibt getreu! Nebenan sitzen drei junge Brüder, die morgen früh denselben Weg gehen wie ich. Ihre Augen strahlen.‘
Kurze Zeit danach mußte ich auch meine Wohnung in Süderbrarup räumen. Die Möbel wurden an fünf verschiedenen Stellen untergebracht. Ich persönlich landete völlig verarmt bei meiner Mutter.
Meinen Sohn Walter nahm man dann in der Erziehungsanstalt von der Schule. Er kam nach Hamburg in die Buchdruckerlehre. Im Jahre 1944 wurde er, erst siebzehnjährig, eingezogen. Auf wunderbare Weise war er vorher in den Besitz des Buches Die Harfe Gottes gelangt. Aus diesem Buch hat er während der vielen Bombennächte in Hamburg, die er in einer kleinen Dachkammer verbrachte, viel Erkenntnis geschöpft, so daß er den Wunsch hatte, sich Jehova hinzugeben. Nach vielen Schwierigkeiten gelang es dann doch, daß er zu Silvester 1943/44 nach Malente kommen konnte, wo er in einer verdunkelten Waschküche bei einem Bruder heimlich untergetaucht wurde. ...
Es gelang ihm, mich heimlich zu benachrichtigen. Ich habe viele Stunden auf den Straßen in Hamburg gewartet, bis er kam, denn mir war jegliches Zusammentreffen mit meinen Kindern verboten.
Zu seiner Stärkung konnte ich ihm noch sagen, daß ich von den Brüdern, die sich im Konzentrationslager Sachsenhausen befanden und die dort von unserem Geschick gehört hatten, einen Brief bekommen hatte. Darin schrieb Bruder Ernst Seliger, daß abends, wenn sich das Lager zur Ruhe begab, einige hundert Brüder verschiedener Nationen vor Jehova ihre Knie beugten und dabei auch unser im Gebet gedachten. Dann wurde mein Sohn zwangsweise nach Ostpreußen zu der zuständigen Einheit gebracht. In der eisigen Kälte nahm man ihm seine Kleidung weg und legte ihm die Uniform hin, die er aber nicht anzog. Auch bekam er 48 Stunden kein warmes Essen. Aber mein Sohn blieb standhaft.
In Hamburg hatten wir voneinander Abschied genommen. Dort sagte er mir, daß er denselben Weg gehen werde, wie ihn sein Vater gegangen sei. Nach etwa sieben Monaten wurde er, nachdem man seine Papiere verändert, ihn also älter gemacht hatte, als er in Wirklichkeit war, ohne eine Gerichtsverhandlung enthauptet. Rechtmäßig stand er noch unter dem Jugendschutz.
Ein Polizeiwachtmeister von Süderbrarup kam dann zu mir und las mir vor, was der Polizei aus Ostpreußen berichtet worden war. Ich selber bekam nichts in die Hände. Obgleich ich nicht mehr damit gerechnet hatte, daß mein Junge denselben Weg gehen mußte wie sein Vater, weil er noch ein Jugendlicher war und das Ende des Krieges abzusehen war, stieg doch trotz des großen Schmerzes ein einziges Dankgebet von mir zu Jehova empor. Ich konnte nur sagen: ,Habe Dank, Herr Jehova, daß er für dich gefallen ist!‘
Dann kam der große Umsturz 1945. Zu meiner großen Freude bekam ich meine drei mir verbliebenen Kinder zurück. Die beiden jüngsten waren die letzten drei Jahre aus der Erziehungsanstalt herausgekommen und bei einem Direktor des Arbeitsamtes untergebracht worden, wo sie nationalsozialistisch erzogen werden sollten. Dort durfte ich sie nur alle vierzehn Monate besuchen und einige Stunden unter Aufsicht mit ihnen sprechen. Trotzdem konnten mir meine beiden Mädchen einmal zuflüstern, daß sie ein kleines Testament hätten, das sie immer wieder sorgfältig versteckten. Wenn sie dann allein seien, würde immer eine an der Tür horchen, ob auch niemand käme, während die andere einige Verse vorläse. Natürlich war ich darüber sehr glücklich.
Jetzt, 1945, kamen die treuen Brüder aus der Gefangenschaft zurück. In Flensburg lag ein Schiff mit vielen Brüdern und Schwestern, hauptsächlich aus dem Osten. Zugleich begann eine emsige Tätigkeit. Dabei lernte ich auch meinen jetzigen Mann, Bruder Josef Scharner, kennen. Auch er war neun Jahre seiner Freiheit beraubt worden. Wahrlich, wir hatten beide sehr viel Schweres durchgemacht und hatten nun beide den gemeinsamen Wunsch, die letzte verbleibende Zeit mit allen unseren Kräften Jehova zu dienen.“
SOGAR IN DER HINRICHTUNGSZELLE WURDEN JÜNGER GEMACHT
Daß selbst in einer Hinrichtungszelle noch Jünger gemacht werden können, klingt fast unglaublich. Doch Bruder Massors berichtet eine solche Erfahrung in einem Brief an seine Frau, der das Datum vom 3. September 1943 trägt:
„Nun will ich Dir einen Bericht über Anton Rinker geben. In den Jahren 1928, 1930 und 1932 war ich ja in Prag [als Pionier]. Dort wurden Vorträge gehalten, und die Stadt wurde mit Büchern der Wahrheit belegt. Dabei kam ich zu einem politischen Redner der Regierung, zu Anton Rinker. Ich unterhielt mich lange mit ihm. Er kaufte damals eine Bibel und einige Bücher. Er erklärte mir aber auch, daß er jetzt keine Zeit habe, solche Sachen zu studieren, da er für seine Familie und sein Fortkommen sorgen müsse, erwähnte aber auch, daß seine Angehörigen alle sehr gottgläubig seien, nur daß sie nicht in die Kirche gingen.
In den Jahren 1940/41, schätze ich, war es dann, daß ich wieder — wie so oft — einen neuen Zelleninsassen bekam. Er war sehr bedrückt, als er hereinkam, doch das geht allen so, denn schließlich wird einem erst recht bewußt, wo man sich befindet, wenn die Zellentür hinter einem zufliegt. ,Anton Rinker heiße ich und bin aus Prag‘, sagte der Neue. Ich erkannte ihn sofort und sagte: ,Anton, ja Anton! Kennst du mich noch?‘ ,Nun, bekannt kommst du mir vor. ...‘ Es dauerte dann eine Weile, bis es ihm klar wurde, daß ich 1930/32 bei ihm gewesen war und er bei dieser Gelegenheit einige Bücher sowie eine Bibel von mir gekauft hatte. ,Was‘, sagte Anton, ,wegen des Glaubens bist du hier? Das kann ich nicht verstehen, das macht ja kein Pfarrer. Was glaubst du denn eigentlich?‘ Er sollte es sofort erfahren.
,Aber warum sagt uns die Geistlichkeit das nicht?‘ war seine Frage. ,Das ist die Wahrheit. Nun weiß ich auch, warum ich in dieses Gefängnis mußte. Ich will es dir sagen, lieber Franz, daß ich, bevor ich in diese Zelle kam, zu Gott gebetet habe, er solle mich doch zu einem gläubigen Menschen senden, sonst wolle ich mir das Leben nehmen. ...‘
So vergingen Wochen und Monate. Dann sagte Anton einmal: ,Ehe ich von dieser Welt scheide, möge Gott noch meiner Frau und meinen Kindern die Wahrheit zeigen, auf daß ich in Frieden scheide.‘ ... Da kam plötzlich ein Brief von seiner Frau, in dem u. a. folgendes zu lesen war:
,... Unsere Freude würde nur sein, wenn Du die Bibel und die Bücher lesen könntest, die Du damals von dem deutschen Mann gekauft hast, ja es ist alles so gekommen, wie in den Büchern geschrieben steht. Viele lesen es jetzt, denn es ist die Wahrheit, für die wir nie Zeit hatten.‘ “
[Bild auf Seite 171]
Hof am Eingang des Konzentrationslagers Mauthausen mit einer Gruppe unbekleideter Neuankömmlinge
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Deutschland (Teil 3)Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974
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Deutschland (Teil 3)
GEISTIGE SPEISE IN DEN KONZENTRATIONSLAGERN
In den Jahren, in denen die Brüder, besonders die in den Konzentrationslagern, „isoliert“ waren, hatten sie sehr wenig Gelegenheit, in den Besitz einer Bibel oder anderer biblischer Schriften zu gelangen. Um so eifriger rekonstruierten sie den Inhalt wichtiger Wachtturm-Artikel, wenn sie stundenlang auf dem Appellplatz stehen mußten oder wenn sie abends in ihrer Baracke etwas Ruhe hatten. Besonders groß war ihre Freude, wenn es ihnen möglich war, irgendwie in den Besitz einer Bibel zu gelangen.
Jehova bediente sich manchmal interessanter Methoden, um seinen Dienern eine Bibel zukommen zu lassen. Franz Birk aus Renchen (Schwarzwald) erzählt, daß er eines Tages in Buchenwald von einem weltlichen Häftling gefragt wurde, ob er gern eine Bibel hätte. Er hatte eine in der Papierfabrik, in der er arbeitete, gefunden. Natürlich nahm Bruder Birk das Angebot dankbar an.
Bruder Franke kann sich noch daran erinnern, wie im Jahre 1943 ein älterer SS-Mann, der dieser Organisation nur unter dem Druck der Verhältnisse beigetreten war, an einem dienstfreien Tag eine ganze Anzahl Geistliche aufsuchte und sie um eine Bibel bat. Sie alle bedauerten, keine Bibel mehr zu besitzen. Erst am Abend fand er einen Geistlichen, der ihm sagte, er besitze eine kleine Luther-Bibel, die er für besondere Zwecke aufbewahrt habe. Er war jedoch so glücklich, daß ein SS-Mann Interesse an der Bibel bekundete, daß er ihm sagte, er könne die Bibel haben. Am nächsten Morgen gab dieser grauhaarige SS-Mann die Bibel Bruder Franke und war sichtlich erfreut, dem Häftling, den er bewachte, dieses Geschenk machen zu können.
Mit der Zeit gelang es, auch neue Wachtturm-Artikel in die Konzentrationslager zu schmuggeln. Im Konzentrationslager Birkenfeld geschah das auf folgende Weise: Unter den Häftlingen befand sich ein Bruder, der wegen seiner Fachkenntnisse als Tiefbauarchitekt mit einem Zivilisten zusammen arbeiten mußte, der wiederum Jehovas Zeugen gegenüber freundlich eingestellt war. Über diesen freundlichen Mann nahm der Bruder Verbindung mit Brüdern außerhalb des Lagers auf, die ihm bald die neuesten Wachttürme zukommen ließen.
Unsere Brüder im Lager Neuengamme hatten ähnliche Gelegenheiten. Die meisten der etwa siebzig im Lager untergebrachten Brüder wurden zu Aufräumungsarbeiten nach Fliegerangriffen in Hamburg eingesetzt. Dort, in Hamburg, fielen ihnen auch Bibeln in die Hand, und einmal fanden sie innerhalb weniger Minuten sogar drei Exemplare. Willi Karger, der dies persönlich erlebt hat, erzählt: „Ich möchte hier noch von weiterer geistiger Speise berichten, die uns durch eine Schwester aus Döbeln überbracht wurde. Das sei ihr nie vergessen. Ihr Bruder, Hans Jäger, gehörte mit zu unserem Außenkommando in Bergedorf bei Hamburg, das in der Eisenfirma Glunz eingesetzt war. Schwere Arbeit und scharfe SS-Bewachung war unser Los. Trotzdem war es Bruder Jäger gelungen, seiner Schwester durch einen nach draußen geschmuggelten Brief über seinen Arbeitsplatz und auch über den Ort zu berichten, wo wir unsere Mittagspause abhielten. Die Schwester fuhr per Bahn nach Hamburg und tastete sich von dort mit aller Umsicht bis zu unserem Arbeitsplatz vor, um dort ihrem Bruder die erbetenen Wachtturm-Abschriften in die Hände zu spielen, was ihr auch gelang. Somit erreichten uns trotz der SS-Posten diese wertvollen Schriften, und unter der Überwaltung Jehovas konnten wir sie auch, ohne entdeckt zu werden, in das Lager bringen.“
Jeder dachte sich andere Methoden aus, und mit der Zeit gab es eine ganze Anzahl Bibeln im Lager. Ein Bruder schrieb seiner Frau in Danzig, er würde gern „Elberfelder Pfefferkuchen“ essen, und mit dem nächsten Lebensmittelpaket (das die Brüder in diesem Lager damals empfangen durften) bekam er eine Elberfelder Bibel, fein in Pfefferkuchen eingebacken. Einige hatten auch Kontakt mit Häftlingen, die im Krematorium arbeiteten. Diese erzählten, daß dort viele Bücher und Zeitschriften verbrannt würden, und so vereinbarten die Brüder heimlich, daß sie ihnen im Austausch gegen einige der Lebensmittel Bibeln und Zeitschriften geben sollten.
In Sachsenhausen gelangten einige Bibeln in die Hände von Brüdern die sich noch in der „Isolierung“ befanden. So seltsam es klingen mag, erwies sich in diesem Fall die Isolation als ein gewisser Schutz, da ein Bruder nicht nur beauftragt war, die Tür zum Isolierungsgebiet zu bewachen, sondern auch den Schlüssel hatte und die Tür auf- und abschließen mußte. In einem Raum standen sieben große Tische, an denen fünfundsechzig Brüder sitzen konnten. Eine ganze Zeit lang gab jeweils einer der Brüder einen fünfzehnminutigen Kommentar über den Text, während die anderen Brüder ihr Frühstück aßen. Das wechselte dann turnusgemäß von Tisch zu Tisch sowie unter den Brüdern, die an den Tischen saßen. Dieser Kommentar war dann Gegenstand der Gespräche, wenn die Brüder stundenlang auf dem Appellplatz stehen mußten.
Während des schweren Winters 1939/40 beteten die Zeugen zu Jehova um Literatur. Und welch ein Wunder! Jehova hielt seine schützende Hand über einen Bruder, dem es trotz sorgfältiger Durchsuchung gelang, in seinem Holzbein drei Wachttürme in die „Isolation“ zu schmuggeln. Wenn auch die Brüder unter das Bett kriechen mußten und nur beim Schein einer Taschenlampe lesen konnten, während rechts und links Brüder Wache standen, war es ein Beweis für Jehovas wunderbare Führung. Als guter Hirte verläßt er sein Volk nie.
Im Winter 1941/42, als die Brüder aus der „Isolation“ freigelassen worden waren, trafen sieben Wachttürme, in denen Daniel, Kapitel 11 und 12 behandelt wurde, sowie der erste Teil der Artikelserie über das Bibelbuch Micha, ein Buch, betitelt Kreuzzug gegen das Christentum, und ein Bulletin (jetzt Königreichsdienst) zur gleichen Zeit ein. Das war wirklich ein Geschenk des Himmels, denn nun konnten sie wie ihre Brüder in anderen Ländern ein klares Verständnis über den „König des Südens“ und den „König des Nordens“ erlangen.
Dank der Tatsache, daß die Häftlinge, die nicht in der Isolierung waren, Sonntag nachmittags frei hatten und der Blockälteste der politischen Abteilung nachmittags in andere Baracken ging, um seine Freunde zu besuchen, war es den Brüdern mehrere Monate lang möglich, jeden Sonntag ein Wachtturm-Studium durchzuführen. Durchschnittlich beteiligten sich 220 bis 250 Brüder an diesem Studium, während 60 bis 70 auf dem Weg zum Lagereingang Wache hielten und bei Gefahr ein bestimmtes Zeichen gaben. So kam es, daß sie während ihres Studiums nie von einem SS-Mann überrascht wurden. Ein Studium, das an einem Sonntag im Jahre 1942 durchgeführt wurde, wird für die Anwesenden unvergeßlich bleiben. Die Brüder waren von den wunderbaren Erklärungen über die Prophezeiung aus Daniel, Kapitel 11 und 12 so beeindruckt, daß sie am Schluß in freudigem Marschtempo abwechselnd Volkslieder und dazwischen Königreichslieder sangen, so daß selbst der Wachtposten, der, wenige Meter von der Baracke entfernt, seinen Dienst auf einem Turm verrichtete, keinen Verdacht schöpfte, sondern sich auch an dem herrlichen Gesang erfreute. Man stelle sich einmal vor: Da ertönten die Stimmen von 250 Männern, die trotz ihrer Gefangenschaft in Wirklichkeit frei waren und von ganzem Herzen Lieder zum Preise Jehovas sangen. Welch eine Situation! Ob die Engel im Himmel wohl mitgesungen haben?
ERSTE ERLEICHTERUNGEN IN DEN KONZENTRATIONSLAGERN
Obwohl das Blut treuer Zeugen Jehovas an den Hinrichtungsstätten der Nationalsozialisten weiterhin bis zum völligen Zusammenbruch des Regimes floß, begannen doch die Waffen derer, die immer wieder geschworen hatten, Jehovas Zeugen würden die Konzentrationslager nur durch die Schornsteine des Krematoriums verlassen, stumpf zu werden. Dazu kamen die Probleme, die der Krieg verursachte. So gab es besonders von 1942/43 an Zeiten, in denen Jehovas Zeugen verhältnismäßig in Frieden gelassen wurden.
Der Krieg, der nun ein totaler Krieg war, hatte die Lage derart verändert, daß alle verfügbaren Kräfte mobilisiert wurden. Aus diesem Grunde begann man im Jahre 1942, die Häftlinge soweit wie möglich für Projekte einzusetzen, die der Förderung der Wirtschaft dienten. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Stellungnahme zu einer „Bestandsmeldung über die Konzentrationslager“ von dem SS-Führer Pohl an seinen Chef Himmler:
„Der Krieg hat eine sichtbare Strukturänderung der Konzentrationslager gebracht und ihre Aufgaben hinsichtlich des Häftlingseinsatzes grundlegend geändert.
Die Verwahrung von Häftlingen nur aus Sicherheits-, erzieherischen oder vorbeugenden Gründen allein steht nicht mehr im Vordergrund [erwähnt wird nicht die Massenvernichtung]. Das Schwergewicht hat sich nach der wirtschaftlichen Seite hin verlagert. Die Mobilisierung aller Häftlingsarbeitskräfte zunächst für Kriegsaufgaben (Rüstungssteigerung), später für Friedensaufgaben, schiebt sich immer mehr in den Vordergrund.
Aus dieser Erkenntnis ergeben sich die notwendigen Maßnahmen, welche eine allmähliche Überführung der Konzentrationslager aus ihrer früheren einseitigen politischen Form in eine den wirtschaftlichen Aufgaben entsprechende Organisation erfordern.“
Diese Umstellung setzte natürlich voraus, daß die Häftlinge besseres Essen erhielten, wenn sie mehr zu Arbeiten eingesetzt werden sollten. Das brachte eine weitere Erleichterung für die Brüder mit sich. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die Beamten auch klug genug, nicht zu versuchen, die Brüder in der Rüstungsindustrie einzusetzen. Sie wurden statt dessen, ihren handwerklichen Fähigkeiten entsprechend, in den verschiedenen Werkstätten eingesetzt.
Inzwischen hatte Jehova das Seine getan, denn er kann das Herz der Menschen — auch das seiner Feinde — beeinflussen. Ein markantes Beispiel dafür ist Himmler. Jahrelang glaubte er, er allein könne über das Leben der treuen Diener Jehovas entscheiden, aber plötzlich begann er seine Meinung über die „Bibelforscher“ zu ändern. Sein Leibarzt, ein finnischer Mediziner namens Kersten, spielte dabei eine entscheidende Rolle.
Der Masseur Kersten begann einen starken Einfluß auf Himmler auszuüben, der sich immer krank fühlte. Er erfuhr, daß Jehovas Zeugen grausam verfolgt wurden, und bat eines Tages Himmler, ihm für sein Gut in Hartzwalde, etwa fünfzig Kilometer nördlich von Berlin, einige der Frauen als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Nach einigem Zögern sagte Himmler zu, und später gewährte er Kersten eine weitere Bitte und entließ eine Schwester aus einem Konzentrationslager, damit sie in Kerstens zweiter Wohnung in Schweden arbeiten konnte. Erst durch diese Schwestern erfuhr Kersten die Wahrheit über die Zustände in den Konzentrationslagern und über die unbeschreiblichen Leiden, die dort seit Jahren besonders über Jehovas Zeugen gebracht worden waren. Er war sehr empört, denn er wußte, daß er durch seine Massagen diesen Unmenschen immer wieder so weit herstellte, daß er sein Mordgeschäft weiterbetreiben konnte. Er beschloß daher, seinen Einfluß geltend zu machen, damit das Leiden all dieser Häftlinge wenigstens etwas gemildert wurde. Es kann daher seinem Einfluß zugeschrieben werden, daß Zehntausende, besonders gegen Ende des Krieges, nicht umgebracht wurden. Besonders für Jehovas Zeugen wirkte sich sein Einfluß sehr nützlich aus. Das kann man aus einem Brief ersehen, den Himmler an seine engsten Mitarbeiter, die obersten SS-Führer Pohl und Müller, schrieb. Dieser Brief, mit „Geheim“ abgestempelt, enthielt folgende Gedanken:
„Anliegend einen Vorgang über die zehn Bibelforscherinnen, die auf dem Gut meines Arztes Kersten arbeiten. Ich hatte die Gelegenheit, dort die Frage der Ernsten Bibelforscher von allen Seiten zu studieren. Mir wurde von Frau Kersten ein sehr guter Vorschlag gemacht. Sie sagte mir, daß sie noch nie ein so gutes, williges, treues und gehorsames Arbeitspersonal hatte wie die zehn Frauen. Aus Liebe und Güte tun diese Menschen sehr viel. ... Eine der Frauen bekam einmal 5 RM Trinkgeld von einem Gast. Sie nahm das Geld an, um das Haus nicht zu blamieren, lieferte es aber bei Frau Kersten ab, weil der Besitz von Geld im Lager verboten wäre. Die Frauen übernahmen dort freiwillig jede Arbeit. Am Abend strickten sie. Sonntags sind sie ebenfalls in irgendeiner Form tätig. Im Sommer haben sie bei zehn-, elf- und zwölfstündiger Arbeit, als Pilze im Wald zu finden waren, es sich nicht nehmen lassen, zwei Stunden früher aufzustehen, um Körbe voll Pilze zu sammeln. Insgesamt ergänzen diese Tatsachen mein Bild, das ich von diesen Bibelforschern habe. Es sind unerhört fanatische, opferbereite und willige Menschen. Könnte man ihren Fanatismus für Deutschland einspannen oder insgesamt für die Nation im Kriege einen derartigen Fanatismus beim Volk erzeugen, so wären wir noch stärker, als wir heute sind! Natürlich ist die Lehre dadurch, daß sie den Krieg ablehnt, derart schädlich, daß wir sie nicht zulassen können, wenn wir nicht den größten Schaden für Deutschland haben wollen. ...
Strafen verfangen bei ihnen gar nicht, da sie mit Begeisterung von jeder Strafe erzählen. ... Jede Strafe ist für sie ein Verdienst im Jenseits. Deshalb wird sich jeder echte Bibelforscher ... ohne weiteres hinrichten lassen und ohne weiteres sterben. Jeder Dunkelarrest, jeder Hunger, jedes Frieren ist ein Verdienst, jede Strafe, jeder Schlag ist ein Vorzug bei Jehova.
Sollten in den Lagern mit den Bibelforschern oder Bibelforscherinnen wieder Schwierigkeiten auftreten, so verbiete ich, daß der Lagerkommandant eine Strafe ausspricht. Jeder Fall ist für die nächste Zeit mir unter kurzer Darstellung des Sachverhaltes zu melden. Ich beabsichtige, in Zukunft bei einem solchen Fall das Gegenteil zu machen und der betreffenden Person zu sagen: ,Ich verbiete, daß Sie jetzt arbeiten. Sie sollen ein besseres Essen haben als die anderen und brauchen nichts zu tun.‘
Denn während dieser Zeit ruht nämlich nach dem Glauben dieser gutmütigen Irren jeder Verdienst, im Gegenteil, es werden frühere Verdienste von Jehova abgezogen. ...
Nun zu dem Vorschlag: Ich ersuche, den Einsatz der Bibelforscher und Bibelforscherinnen in die Richtung zu lenken, daß sie alle in Arbeiten kommen — in der Landwirtschaft z. B. —, bei denen sie mit Krieg und allen ihren Tollpunkten [das den Nationalsozialisten unverständliche Verhalten der Zeugen Jehovas] nichts zu tun haben. Hierbei kann man sie bei richtigem Einsatz ohne Aufsicht lassen, sie werden nie weglaufen. Man kann ihnen selbständige Aufträge geben, sie werden die besten Verwalter und Arbeiter sein.
Nun noch eine Verwendung, und dies ist, wie oben erwähnt, der Vorschlag von Frau Kersten: Nehmen wir doch die Bibelforscherinnen als Personal in unsere Lebensbornheime [Heime, in denen Kinder aufgezogen wurden, die von SS-Männern zur Hervorbringung einer „Herrenrasse“ gezeugt worden waren], nicht als Pflegerinnen, aber als Köchinnen, Hausmädchen, Wäscherinnen und für derartige Aufgaben. Auch als Hausmeister, wo wir da und dort noch Männer haben, können kräftige Bibelforscherinnen genommen werden. Ich bin überzeugt, daß wir in den wenigsten Fällen mit ihnen Kummer haben werden.
Auch mit sonstigen Vorschlägen, wie Abstellung einzelner Bibelforscherinnen in kinderreiche Haushalte, bin ich sehr einverstanden. Geeignete Bibelforscherinnen, die das Können dafür haben, bitte ich einzeln herauszusuchen und mir zu melden. Ich werde sie auf entsprechende Haushalte kinderreicher Familien persönlich verteilen. In solchem Haushalt dürfen sie dann allerdings keine Sträflingskleider tragen, sondern einen anderen Anzug, und man müßte den dortigen Aufenthalt ähnlich wie für die freigelassenen und internierten Bibelforscherinnen in Hartzwalde gestalten.
Bei all diesen für solche Aufgaben abgestellten Halbfreigelassenen wollen wir schriftliches Abschwören oder sonstige Unterschriften vermeiden und lediglich die Verpflichtung auf Handschlag vornehmen.
Ich ersuche um Vorschläge für die Durchführung und Bericht.“
Und so kam es. Innerhalb kurzer Zeit wurde ein beachtlicher Teil der Schwestern in SS-Haushalte, in Gärtnereien, auf Bauerngüter und auch in „Lebensbornheime“ geschickt.
Es gab jedoch auch andere Gründe, weshalb die SS bereit war, Zeugen Jehovas in ihre Haushalte aufzunehmen. Die SS spürte den heimlichen Haß, der unter der Bevölkerung immer größer wurde. Es kam ihr zu Bewußtsein, daß man aufgehört hatte, sich in vertrauten Kreisen Witze über sie zu erzählen. Darum trauten viele selbst ihren Dienstmädchen nicht mehr und fürchteten, daß sie ihnen einmal Gift ins Essen geben oder sie auf eine andere Art umbringen könnten. Mit der Zeit wagten es hohe SS-Führer nicht mehr, zu irgendeinem Friseur zu gehen, weil sie befürchteten, er könnte ihnen die Kehle durchschneiden. Max Schröer und Paul Wauer wurden beauftragt, hohe SS-Offiziere regelmäßig zu rasieren, da sie wußten, daß sich Jehovas Zeugen nie rächen und ihre menschlichen Feinde umbringen würden.
Die Brüder und Schwestern, die außerhalb der Konzentrationslager arbeiteten, erhielten sogar die Erlaubnis, Besuche von ihren Verwandten zu empfangen oder ihre Verwandten zu Hause zu besuchen. Einige erhielten zu diesem Zweck einige Wochen Urlaub. Dies bedeutete schließlich, daß die Brüder und Schwestern besser ernährt wurden, so daß sich ihr Gesundheitszustand schnell besserte und die Zahl der Todesfälle, die durch Hunger oder Mißhandlung verursacht wurden, erheblich zurückging.
Wie sehr sich die Stimmung in den Konzentrationslagern zugunsten der Zeugen Jehovas änderte, geht aus einer Erfahrung hervor, die Reinhold Lühring machte. Im Februar 1944 wurde er plötzlich von seinem Arbeitskommando zur Lagerverwaltung gerufen. Das war der Ort, wo so viele mißhandelt worden waren und wo man so oft versucht hatte, die Brüder zu überreden, ihrem Glauben an Jehova abzuschwören. Wie überrascht war Bruder Lühring, als Offiziere, die ihm gegenübersaßen, fragten, ob er ein Gut verwalten und dort auch Arbeiter beschäftigen und richtig zur Arbeit anleiten könnte. Da er alle Fragen bejahen konnte, wurde er später zusammen mit fünfzehn anderen Brüdern in die Tschechoslowakei gebracht, um das Gut der Frau Heydrich zu verwalten.
Ein anderes Arbeitskommando, das aus zweiundvierzig Brüdern, alles gute Handwerker, bestand, wurde zum Wolfgangsee, nach Österreich, gebracht, um dort ein Haus für einen hohen SS-Offizier zu bauen. Obwohl die Bauarbeiten an einem Bergabhang nicht leicht waren, erhielten die Brüder sonst viele Erleichterungen. Zum Beispiel wurde Erich Frost, der zu dieser Gruppe gehörte, die Erlaubnis gegeben, sich sein Akkordeon von zu Hause schicken zu lassen. Nachdem er es erhalten hatte, durfte er abends oft mit einigen Brüdern hinaus auf den See fahren, wo er Volkslieder und auch alte, bekannte Konzertstücke spielte, an deren Klängen sich nicht nur seine Brüder erfreuten, sondern auch diejenigen, die am See wohnten, einschließlich der SS, unter deren Aufsicht die Brüder arbeiteten.
Es wurde auch immer leichter, die Brüder in den Konzentrationslagern mit geistiger Speise zu versorgen. Dr. Kersten spielte dabei keine geringe Rolle, da er oft zwischen seiner Wohnung in Schweden und seinem Gut in Hartzwalde hin- und herreiste. Er ließ seine Koffer immer von den Schwestern, die ihm Himmler zur Arbeit auf seinem Gut und in seiner Wohnung in Schweden zur Verfügung gestellt hatte, packen. Zwischen ihnen bestand die stillschweigende Vereinbarung, daß die Schwester in Schweden einige Ausgaben des Wachtturms in Kerstens Koffer legte, wenn sie ihn packte. Wenn er dann in Hartzwalde ankam, sagte er der Schwester, die in seinem Haushalt tätig war, sie möge den Koffer auspacken. Das ließ er sie immer allein tun. Nachdem die Schwestern diese Wachttürme sorgfältig studiert hatten, gaben sie sie in das nahe gelegene Konzentrationslager weiter.
Der Besitz von Herrn Kersten in Hartzwalde lag ideal, etwa 35 Kilometer südlich vom Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und etwa 30 Kilometer nördlich vom Männerkonzentrationslager Sachsenhausen. Zu beiden Lagern wurden ständig irgendwelche Dinge transportiert, so daß es nicht schwierig war, geistige Speise für die Brüder und Schwestern in die Lager zu schmuggeln.
So entstand ein immer engerer Kontakt zwischen den verschiedenen Lagern und den Privatwohnungen, wo unsere Schwestern zur Arbeit bei SS-Familien eingesetzt waren. Ilse Unterdörfer berichtet über diese interessante Zeit:
„Da wir auf unseren Arbeitsplätzen ziemlich viel Freiheit hatten, gelang es uns, einige Briefe an unsere Angehörigen zu schicken, die nicht durch die Kontrolle gingen. Auch konnten wir briefliche Verbindung mit unseren Brüdern im Lager Sachsenhausen durch Brüder aufnehmen, die ebenfalls in Außenbetrieben oder bei hohen SS-Führern in Vertrauensstellungen arbeiteten und so mehr Freiheit hatten. Ja, es gelang uns sogar, Verbindung mit Brüdern in der Freiheit aufzunehmen und auf diese Weise den Wachtturm ins Lager zu bekommen. Nach den vielen Jahren, in denen wir nur von dem früher Gelernten und dem, was Zugänge an neuen Wahrheiten mitbrachten, zehren mußten, war es nach so langer Zeit eine wunderbare Erfrischung für uns, den Wachtturm selbst zu lesen. Ich persönlich war auf dem SS-Gut, das in der Nähe des Lagers Ravensbrück unter der Oberaufsicht des Obergruppenführers Pohl stand, als Anweisehäftling [Aufseherin] eingesetzt und trug somit die Verantwortung für die Arbeit, die unsere Schwestern dort verrichten mußten. Einige von uns schliefen sogar dort; sie kamen also gar nicht mehr in das Lager. So gelang es mir, mit Bruder Franz Fritsche aus Berlin in Verbindung zu kommen, mit dem ich mich am Abend in einem Wald, der zum Gut gehörte, zu einer über eine Schwester in Berlin brieflich vereinbarten Zeit traf. Von ihm erhielt ich immer eine ganze Reihe von Wachtturm-Ausgaben. Darüber hinaus bekamen wir aber noch auf einem anderen Weg geistige Speise ins Lager. Es waren zwei liebe Schwestern, die in einer Fabrik arbeiteten und uns ebenfalls weitere Wachtturm-Exemplare ins Lager brachten. So sorgte Jehova in liebevoller Weise für uns, als es am dringendsten wurde.“
Jehova segnete die Brüder, die leichter Zugang zu geistiger Speise hatten und die sich bemühten, sie anderen zugänglich zu machen, wie dies aus dem Bericht von Franz Birk hervorgeht. Er gehörte zu denen, die auf das Gut Hartzwalde gebracht worden waren. Sie erfuhren bald, daß andere gefangene Brüder unter der Aufsicht eines Soldaten etwa zehn Kilometer entfernt in einem Wald ein Haus bauten. Da sich die Brüder auf dem Gut Hartzwalde bereits eines gewissen Maßes an Freiheit erfreuten, suchten sie nach einer Gelegenheit, mit diesen Brüdern im Wald Verbindung aufzunehmen.
„An einem Sonntagmorgen“, berichtet Bruder Birk, „machten Bruder Krämer und ich mit den Fahrrädern eine Erkundungsfahrt zu unseren Brüdern. Als wir in einen Wald hineinfuhren, sahen wir bald eine Schneise, wo ein Neubau erstellt wurde. Wir beobachteten, wie ein Häftling über den Hof kam. Jetzt machten wir uns bemerkbar, indem wir ihm zuwinkten. Der Bruder hatte uns gesehen und kam sofort durch den Wald auf uns zu, und als wir seinen lila Winkel sahen, erkannten wir sofort, daß es ein Bruder war. Nachdem wir ihm gesagt hatten, daß wir vom Kommando Hartzwalde seien, nahm er uns sofort mit in den Neubau. Da wir neue Wachttürme bei uns hatten, begannen wir sofort mit einem Studium. Fortan besuchten wir jeden Sonntag unsere Brüder, die unter der Bewachung eines Feldwebels aus Freiburg standen, der den Brüdern aber gut gesinnt war. Kurz vor Weihnachten sagte ich zu dem Feldwebel: ,Herr Feldwebel, wie wäre es, wenn Sie über die Feiertage mit unseren Brüdern einen Besuch auf Gut Hartzwalde machen würden?‘, wozu er nachdenklich bemerkte, daß er in diesen Tagen mit den Männern irgendwo hingehen wollte, um ihnen die Haare schneiden zu lassen. Als er aber hörte, daß wir auch in Hartzwalde einen Friseur hätten, sagte er sofort zu. So kamen tatsächlich am ,1. [Weihnachts-]Feiertag‘ in aller Frühe unsere Brüder mit ihrem Feldwebel in unser Lager. Schwester Schulze aus Berlin, die die Küche verwaltete, nahm sich des Feldwebels besonders an, so daß wir eine ungestörte Gemeinschaft hatten. Am Nachmittag folgte dann eine schöne Zusammenkunft, während am Abend die Brüder, voller Freude über unser segensreiches Zusammentreffen, wieder mit ihrem Feldwebel zu ihrer Arbeit zurückkehrten. Man bedenke: Dies geschah alles im Angesicht unserer Feinde.“
Im Laufe der Zeit ergaben sich in allen Konzentrationslagern immer mehr Möglichkeiten, geistige Speise zu erhalten. Gertrud Ott und achtzehn weitere Schwestern, die in Auschwitz inhaftiert waren, wurden zur Arbeit in ein Hotel geschickt, in dem die Familien von SS-Männern lebten. Da dort auch andere Personen essen und trinken konnten, dauerte es nicht lange, bis Schwestern, die sich noch in Freiheit befanden, ihre Schwestern aus dem Konzentrationslager beim Fensterputzen entdeckten. „Wir sind auch Schwestern“, murmelten sie im Vorübergehen, ohne aufzuschauen. Drei Wochen später richteten sie es ein, daß sie sich in der Toilette trafen. Von da an kamen die Schwestern von draußen regelmäßig und brachten den Schwestern, die im Hotel arbeiteten, Wachttürme und andere Publikationen, die dann nach Ravensbrück weitergeleitet wurden.
Anfang Dezember 1942 ergab sich eine besonders schöne Gelegenheit für etwa vierzig Brüder, die in Wewelsburg zurückgeblieben waren, um sich dort besonderer Arbeiten anzunehmen. Obwohl sie weiterhin als Lagerinsassen behandelt wurden, hatten sie doch etwas mehr Freiheit, denn es gab keinen elektrisch geladenen Stacheldraht und keine Postenketten mehr, die sie von der Außenwelt getrennt hätten.
Bruder Engelhardt war zu dieser Zeit immer noch frei und hatte die Brüder, die in der Nähe wohnten, beauftragt, einen Weg ausfindig zu machen, wie man den Wachtturm ins Lager schaffen könnte. Nach Überwindung einiger Schwierigkeiten erkundeten Sandor Beier aus Herford und Martha Tünker aus Lemgo die Lage, indem sie einfach wie ein junges Paar durch das Gebiet spazierengingen. Bald nahmen sie mit den Brüdern Verbindung auf und versorgten sie später regelmäßig mit Ausgaben des Wachtturms. Das erstemal trafen sie die Brüder an einem bestimmten Grab auf einem Friedhof; das nächste Mal versteckten sie die Zeitschriften in einem Strohhaufen, oder sie lieferten sie den Brüdern um Mitternacht an einem vorher verabredeten Platz persönlich aus. Für die Übergabe wurde jedesmal ein anderer Platz verabredet. Nachdem Bruder Engelhardt und die Schwestern, die die Zeitschriften hergestellt und verbreitet hatten, verhaftet worden waren, entstand die Frage, wie diejenigen, die sich noch in Freiheit befanden, weiter mit geistiger Speise versorgt werden könnten.
Diesmal suchten die Brüder in Wewelsburg selbst eine Lösung zu finden. Es gelang ihnen, sich eine Schreibmaschine zu beschaffen, auf der ein Bruder dann Matrizen schrieb. Ein anderer Bruder konstruierte einen primitiven Vervielfältigungsapparat aus Holz. Schwestern außerhalb des Lagers, mit denen sie noch Kontakt hatten, brachten den Brüdern das zum Vervielfältigen notwendige Material. Hier wurden schließlich so viele Exemplare des Wachtturms hergestellt, daß ein großer Teil Norddeutschlands damit versorgt werden konnte. Elisabeth Ernsting erinnert sich, daß sie immer fünfzig Exemplare erhielt, womit sie das Gebiet versorgte, das sie betreute. So war es fast zwei Jahre lang, bis zum Zusammenbruch des Regimes (im Jahre 1945), möglich, die Brüder in Westfalen und in anderen Gebieten mit dem Wachtturm zu versorgen.
Die Versorgung der Brüder und Schwestern in den Konzentrationslagern mit geistiger Speise verbesserte sich so weit, daß man im Jahre 1942 in Sachsenhausen schon von einem kleinen Strom sprechen konnte. Bruder Fritsche aus Berlin, der kurz vor dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet wurde, war in der Lage, die Brüder über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren nicht nur mit allen neuen Zeitschriften, sondern auch mit einer Anzahl älterer Ausgaben sowie mit allen Büchern und Broschüren, die in der Zwischenzeit erschienen waren, zu versorgen. Es war so, als wären die Brüder auf fette Weiden geführt worden, denn jeder Bruder hatte ein Exemplar einer der Veröffentlichungen der Gesellschaft zum abendlichen Studium zur Verfügung. Welch ein Wandel! Aber das ist noch nicht alles. Die Organisation funktionierte so gut, daß Bruder Fritsche Briefe an die Verwandten der Brüder, in andere Lager oder an ausländische Zweigbüros weiterleiten konnte. So war es möglich, daß innerhalb von eineinhalb Jahren einhundertfünfzig Briefe aus dem Lager und fast genauso viele in das Lager geschmuggelt wurden. Die Briefe, die hinausgeschickt wurden, zeugten von der guten geistigen Verfassung der Brüder. Verständlicherweise wurden viele Abschriften dieser Briefe hergestellt. Einige wurden sogar vervielfältigt und dienten den Brüdern draußen und besonders den Verwandten derer, die inhaftiert waren, zur Ermunterung.
MUTIGE ERKLÄRUNG DER THEOKRATISCHEN EINHEIT IN DEN LAGERN
Alles ging ungefähr eineinhalb Jahre sehr gut, bis Bruder Fritsche im Herbst des Jahres 1943 verhaftet wurde. Berichte über Sachsenhausen, die bei Haussuchungen gefunden worden waren, hatten die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Die Polizei fand in seinem Besitz nicht nur Wachttürme und andere Publikationen, sondern auch einige Briefe von Brüdern, die er weiterleiten sollte. Die Polizei, die entdeckte, daß der Briefverkehr fast international geführt wurde, bekam nun Zweifel an der Fähigkeit oder Bereitschaft der Lagerleiter, ihre Pflichten zu erfüllen. Himmler ordnete daher an, daß alle verdächtigen Konzentrationslager sofort durchsucht werden sollten.
Die Aktion begann Ende April. Eines Morgens kamen einige Beamte der Geheimpolizei nach Sachsenhausen. Der Überraschungsangriff auf die Brüder war gut geplant. Diejenigen, die im Lager arbeiteten, wurden von ihren Arbeitsplätzen abgerufen und mußten auf dem Appellplatz Aufstellung nehmen, wo sie über die Tagestexte befragt und dann einer Leibesvisitation unterzogen wurden. Man fand einige Schriften. Diese Aktion war wie gewöhnlich von Schlägen begleitet. Aber es gelang der Gestapo nicht, die Brüder zum Nachgeben zu veranlassen, denn Jehova hatte sie inmitten ihrer Feinde reichlich ernährt. Sie hatten eine klare Vision von ihrem Auftrag und fürchteten sich nicht, vereint für die theokratische Herrschaft einzustehen.
Ernst Seliger war als Verbindungsmann zu Bruder Fritsche bekannt geworden, und daher wurde ihm besondere „Aufmerksamkeit“ geschenkt. Er hatte sich bemüht, nicht nur die fleischlichen, sondern auch die geistigen Wunden zu verbinden, und in seiner demütigen, väterlichen Weise hatte er sehr zu der Einheit beigetragen, die in diesem Lager herrschte. Aber er war sehr beunruhigt über den Ausgang seines ersten Verhörs, und er betete zu Jehova, er möge seine „Niederlage“, wie er meinte, in einen Sieg verwandeln. Doch dies sollte nicht eine Prüfung für einen einzelnen werden. Wilhelm Röger aus Hilden beschreibt die Situation folgendermaßen: „Jetzt galt es: Einer für alle und alle für einen!“ Alle Brüder bestätigten die Erklärung Bruder Seligers, der zugab, Tagestexte zu ihrer Ermunterung herausgegeben zu haben. Sie bestätigten ferner, daß sie die Literatur gelesen hatten, die Bruder Seliger ins Lager gebracht hatte, und daß sie einander weiterhin ermuntern und auch in der Zukunft über ihre Hoffnung sprechen würden.
So vergingen vier Tage. Am Sonntagmorgen erschien Bruder Seliger vor der Lagerverwaltung, wo ein Protokoll aufgenommen werden sollte. Über sein Erlebnis berichtet er folgendes: „Ich gab erst in drei Krankensälen [wo er als Helfer eingesetzt war] ... Zeugnis. In dieser Freudigkeit ging ich erneut in die ,Höhle des Löwen‘. Ein Arzt und der Apotheker studierten gerade unsere nach draußen gesandten illegalen Briefe. Es gab noch zwei heiße Stunden. Als es nun so weit war, daß das Protokoll zum Abschluß gebracht werden konnte, sagte der Vernehmungsbeamte: ,Seliger, was werden Sie nun tun? Wollen Sie weiter Tagestexte schreiben und Ihre Brüder ermuntern? Und wollen Sie auch weiter hier im Lager unter anderen Häftlingen die Botschaft verkündigen?‘ ... ,Jawohl, das werde ich tun und nicht nur ich, sondern alle meine Brüder mit mir!‘ ... Um 2 Uhr wurde der Ausgang dieser Sache und die im Namen aller Brüder abgegebene Erklärung allen Brüdern zur Kenntnis gebracht, worauf die Brüder sich anschließend sofort voller Freude in den Verkündigungsdienst begaben“ — und zwar in die Baracken des Lagers.
Die Brüder erinnerten sich daran, daß nun fast zehn Jahre vergangen waren, seit sie am 7. Oktober 1934 Hitler in einem Brief benachrichtigt hatten, daß sie trotz aller Drohungen nicht aufhören würden, zusammenzukommen und zu predigen. Nun erkannte die Gestapo nach fast zehn Jahren, daß der Kampfgeist des Volkes Gottes noch nicht gebrochen war, weder innerhalb der Konzentrationslager noch außerhalb. Davon legten die Briefe Zeugnis ab.
Die Gestapo überprüfte nun die anderen Konzentrationslager, um festzustellen, ob die vielbesprochene „theokratische Einheit“ auch dort vorhanden war. Das nächste Lager war Berlin-Lichterfelde, ein Zweiglager von Sachsenhausen. Bruder Paul Großmann, der als Verbindungsmann zwischen Sachsenhausen und Lichterfelde diente, berichtete später über die Untersuchung:
„Am 26. April 1944 holte die Gestapo zu einem neuen großen Schlage aus. Um 10 Uhr morgens erschienen zwei Gestapobeamte in Lichterfelde, um bei mir als Verbindungsbruder zwischen dem Außenkommando Lichterfelde und dem Konzentrationslager Sachsenhausen eine strenge Durchsuchung vorzunehmen. Sie zeigten mir zwei illegale Briefe, die ich an Berliner Geschwister geschrieben hatte. Aus diesen Briefen war alles ersichtlich, wie die Sache bei uns lief. [Wir können daraus erkennen, wie unklug es ist, Briefe zu schreiben, die solche Informationen enthalten, denn es ist zu erwarten, daß die Beamten sie früher oder später bei Verhaftungen oder Haussuchungen finden werden.] Die Behörde war also über die Einzelheiten in unserer Organisation, unserer Arbeit im Lager und auch darüber hinaus genau informiert, daß wir laufend von der ,Mutter‘ Speise erhielten.
Obwohl sie bei mir alles auf den Kopf stellten, fanden sie zunächst nur einen Wachtturm. Ich wurde ans Tor gestellt. Jetzt holte man die anderen Brüder von ihren Arbeitsstellen. Auch sie wurden untersucht und in zwei Meter Abstand ans Tor gestellt. Das gab eine Sensation im Lager, das eine solche Großaktion seit langem nicht erlebt hatte. Bei der Untersuchung fehlte es nicht an Stockschlägen, Stößen und Beschimpfungen gemeinster Art. Man fand noch Tagestexte und weitere Wachtturm-Abschriften, während ein großer Bericht über die Lagererfahrungen in Sachsenhausen, eine Bibel und anderes noch sichergestellt werden konnten. Die Brüder machten keinen Hehl daraus, daß sie aktiv für die Interessen der Theokratie gearbeitet und auch die verschiedenen Wachttürme gelesen hatten. So standen wir bis abends 11 Uhr am Tor. Inzwischen war die ,grüne Minna‘ vorgefahren, mit der die zwölf ,Haupträdelsführer‘ nach Sachsenhausen gebracht werden sollten. Das bedeutete, daß sie dort an einem Galgen zu Tode gebracht werden sollten. Darum mußten sie auch ihre Löffel, Eßschüsseln usw. abgeben. Aber der Transport ging aus unbekannten Gründen nicht ab, auch am folgenden Tag nicht, obwohl die Todesnachrichten an die Angehörigen schon ausgestellt worden waren. Am dritten Tag gab es eine Überraschung. Die zwölf Brüder wurden nicht hingerichtet, sondern wieder in den Arbeitsprozeß eingereiht.“
Den Brüdern in Lichterfelde wurde dann eine Erklärung zur Unterzeichnung vorgelegt, in der es hieß: „Ich, ........., Zeuge Jehovas, im Lager seit ........., bekenne mich zu der ,theokratischen Einheit‘, die hier im KZ Sachsenhausen vorhanden ist. Auch habe ich alle Schriften und Tagestexte erhalten, gelesen und weitergegeben.“ Jeder unterschrieb dies nur allzugern.
Ähnliche Razzien führte die Polizei mit dem gleichen Ergebnis auch in anderen Lagern durch, eine zum Beispiel am 4. Mai 1944 in Ravensbrück, weil aus den Briefen hervorging, daß zwischen Sachsenhausen und Ravensbrück eine Verbindung bestand. Gegen die „Rädelsführer“ in diesem Lager ergriff man harte Maßnahmen. Aber es dauerte nicht lange, bis die Schwestern auch hier an ihre alten Arbeitsplätze zurückkehren konnten, nachdem die zuständigen Abteilungsleiter sie angefordert hatten. Dies war ein Beweis dafür, daß die Macht des Tyrannen zu dieser Zeit schon ziemlich gebrochen war.
Die Niederlage des deutschen Heeres an der Ostfront im Jahre 1944 forderte so viele Menschenleben, daß nicht nur alte Männer und die Hitlerjugend in das Kriegsgeschehen mit einbezogen wurden, sondern sogar Häftlinge die Gelegenheit erhielten, sich an der Ostfront zu bewähren. Aus diesem Grund kamen Kommissionen in die Konzentrationslager und machten politischen Häftlingen das Angebot, in die Division des degradierten Generals Dirlewanger einzutreten. Sollten sie sich dort bewähren, würden sie als freie Deutsche betrachtet werden. Es war jedoch interessant, daß alle Häftlinge, die einen lila Winkel trugen, immer in ihre Baracken geschickt wurden, bevor den anderen dieses Angebot unterbreitet wurde. Sie wußten, welche Antwort sie von Jehovas Zeugen erhalten würden, und hatten es daher aufgegeben, sie zu fragen.
EILIGE EVAKUIERUNG DER LAGER
So kam das Jahr 1945. Der pausenlose Bombenhagel der amerikanischen und der englischen Luftstreitkräfte bei Tag und bei Nacht und der Rückzug der deutschen Armee, der zuletzt fast den Charakter der Flucht hatte, machten jedem klar, daß das Ende des Zweiten Weltkrieges nahe war. Die SS hatte aufgehört, ihre Selbstsicherheit zur Schau zu stellen. Sie befand sich in keiner beneidenswerten Lage, wenn man bedenkt, daß Hunderttausende in den Konzentrationslagern fieberhaft auf die Befreiung warteten. Diese Massen waren unberechenbar, ja wie Explosivstoff geworden, so daß sich viele SS-Leute vor den Häftlingen fürchteten. Aber Himmler folgte weiterhin den Befehlen seines Führers und sandte folgendes Telegramm an die Kommandanten von Dachau und Flossenbürg: „Die Übergabe kommt nicht in Frage. Das Lager ist sofort zu evakuieren. Kein Häftling darf lebendig in die Hände des Feindes kommen. [Gez.] Heinrich Himmler.“ Ähnliche Anweisungen wurden auch an die anderen Lager gesandt.
Dies war der letzte teuflische Plan, der noch einmal das Leben der treuen Diener Gottes in den Lagern gefährdete. Aber sie waren nicht übermäßig besorgt. Sie setzten ihr Vertrauen auf Jehova, ungeachtet dessen, was ihnen persönlich bevorstehen mochte.
Die SS-Offiziere, die die Pflicht hatten, die Häftlinge zu liquidieren, standen vor einer unlösbaren Aufgabe. Bruder Walter Hamann, der in der SS-Kantine arbeitete, hörte zufällig einmal eine interessante Unterhaltung zwischen SS-Offizieren. Er erzählt: „Die Offiziere sprachen vom Vergasen aller Häftlinge. Doch die Einrichtung war für das ganze Lager viel zu klein. Dann hörte ich ein Telefongespräch über die Lieferung von Heizöl für die Verbrennungsöfen; aber auch dies konnte nicht mehr beschafft werden. Dann diskutierte man darüber, das Lager samt allen Insassen in die Luft zu sprengen. Es wurden bereits Sprengkisten an den Baracken aufgestellt, insbesondere am Krankenrevier. Aber auch diesen teuflischen Plan gab man wieder auf. Schließlich entschloß man sich, die 30 000 Häftlinge zu evakuieren; man sagte ihnen, sie kämen in ein neues, großes Lager, das aber gar nicht existierte, sondern man meinte damit das nasse Massengrab in der Lübecker Bucht, wo man uns auf Schiffe verladen und versenken wollte. Dazu brauchte man weder Gas noch Öl und auch nicht so viel Sprengstoff.“
Inzwischen nahm das Tempo, mit dem die alliierten Streitkräfte aus dem Osten und aus dem Westen heranrückten, immer mehr zu. Die SS begann nun, um ihr eigenes Leben zu bangen, und wurde immer kopfloser, besonders nachdem die Entscheidung der Regierung, die Lager zu liquidieren, bekanntgeworden war. Da ihnen unüberwindliche Probleme entgegenstanden, trieben sie die Häftlinge einfach auf die Straßen und ließen sie, mit ganz wenig Proviant ausgerüstet, marschieren. Wer später einmal die Märsche, die zu Recht als „Todesmärsche“ bezeichnet wurden, auf der Landkarte verfolgte, konnte feststellen, daß sie alle dasselbe Ziel anstrebten. Ihr Ziel war die Lübecker Bucht oder irgendwo im Norden das offene Meer, wo die Häftlinge dann auf Schiffe geladen und vor dem Eintreffen der feindlichen Streitkräfte versenkt werden sollten.
Bald gab es nichts mehr zu essen und manchmal nicht einmal einen Schluck Wasser. Dennoch wurden die hungernden Häftlinge gezwungen, tagelang bei strömendem Regen und bei einer Durchschnittstemperatur von 4 °C den ganzen Tag zu marschieren. Nachts durften sie sich im Wald auf den vom Regen durchtränkten Boden legen. Diejenigen, die mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit nicht Schritt halten konnten, wurden von der Nachhut der SS unbarmherzig durch Genickschuß liquidiert. Wie groß die Verluste an Menschenleben auf diesen Märschen waren, geht aus dem Beispiel von Sachsenhausen hervor. Von den 26 000 Häftlingen, die zur Zeit der Evakuierung noch am Leben waren, blieben auf dem Weg von Sachsenhausen nach Schwerin 10 700 erschossen liegen.
In einer gefährlichen Situation befanden sich auch die wenigen Brüder, die in Mauthausen überlebt hatten. Dort waren einige große Stollen in den Berg hineingetrieben worden, wo die gefürchteten „V-2“-Raketen hergestellt wurden. Eines Tages wurde einer der Stollen zugemauert und vermint. Der Plan war, einen Fliegeralarm vorzutäuschen und darauf die 18 000 Häftlinge in den Stollen zu treiben, der dann in die Luft gesprengt werden sollte. Aber die Lagerverwaltung wurde von dem schnellen Vorrücken der russischen Panzer überrascht, und die SS zog es vor, die Häftlinge sich selbst zu überlassen und möglichst ihr eigenes Leben zu retten. Aber sie kam nicht sehr weit. Nur wenige Tage später wurde der Lagerkommandant, der durch seinen Ausspruch: „Ich will nur Totenscheine sehen!“ bekannt geworden war, von den Häftlingen erkannt und zu Tode getrampelt. Politische Häftlinge begannen nun, Rache an den Mithäftlingen zu nehmen, die als Lagerälteste, Blockälteste und Vorarbeiter viel Blutschuld auf sich geladen hatten.
Der Todesmarsch der Insassen des Lagers Dachau führte durch Wälder, und wer nicht mehr Schritt halten konnte, wurde von der SS erschossen. Ihr Ziel waren die Ötztaler Alpen, wo alle, die das Ziel noch lebend erreichen würden, erschossen werden sollten. Die Brüder hielten zusammen und halfen einander, was manchen vor dem sicheren Tod bewahrte, bis sie Bad Tölz erreichten, wo sie befreit wurden. Bruder Ropelius kann sich noch daran erinnern, daß sie die letzte Nacht unter einer Schneedecke im Wald von Waakirchen verbrachten. Als der Tag graute, kamen Beamte der bayerischen Landespolizei auf sie zu und sagten ihnen, sie seien frei und die SS sei geflohen. Tatsächlich sahen die Brüder unterwegs mehrere an die Bäume gelehnte Waffen, aber es war kein SS-Mann mehr zu sehen.
Die SS nahm den Befehl der Regierung, alle Häftlinge zu liquidieren, sehr ernst, und nur wenige Tage vor der Kapitulation wurden in Neuengamme Transporte zusammengestellt und auf ein Frachtschiff gebracht, das sie zu dem Luxusdampfer „Cap Arcona“ bringen sollte, der in der Neustädter Bucht vor Anker lag. Etwa 7 000 Häftlinge befanden sich bereits auf diesem 200 Meter langen Schiff. Die SS hatte vor, mit der „Cap Arcona“ auf die offene See zu fahren und sie dann mit den Häftlingen zu versenken. Aber das Schiff hatte immer noch die Kriegsflagge gehißt und wurde daher am 3. Mai 1945 von englischen Kampfflugzeugen versenkt. Auch der Frachter „Thielbeck“ ging mit 2 000 bis 3 000 Häftlingen an Bord unter. Etwa 9 000 Häftlinge fanden in der Neustädter Bucht ein nasses Grab. Es ist verständlich, daß die Überlebenden heute noch schaudern, wenn sie sich daran erinnern. Noch heute werden jährlich 12 bis 17 Skelette dieser ertrunkenen Häftlinge am Neustädter Strand von Badegästen oder bei Grabungen gefunden.
Das gleiche Geschick hatte man auch den Häftlingen von Sachsenhausen zugedacht, unter denen sich 220 Brüder befanden. In einem mörderischen Gewaltmarsch legten sie in zwei Wochen ungefähr 200 Kilometer zurück.
Die Zeugen hatten früh erkannt, welche Gefahr ihnen drohte, und so hatten sie ihre Schuhe repariert und eine Anzahl kleiner Wagen beschafft, auf denen das wenige Gepäck der Schwachen und auch die Schwächsten selbst transportiert werden konnten. Wenn diese Brüder den ganzen Weg hätten zu Fuß gehen müssen, wären sie unter den mehr als 10 000 Toten gewesen. Aber auf diese Weise konnten die Brüder, die körperlich nicht so schwach waren, die Schwachen mitnehmen. Auf dem Wege wurden dann andere auf die Wagen geladen, deren Kräfte verbraucht waren. Wenn sie nach einigen Tagen der Ruhe wieder genügend Kraft erlangt hatten, beteiligten sie sich auch wieder am Ziehen der Wagen. So blieben sie sogar auf diesem Todesmarsch alle als eine große Familie zusammen und erfreuten sich des Schutzes Jehovas bis zum Ende.
Als dieser Zug flüchtender Häftlinge nur noch drei Tagereisen von Lübeck entfernt war, befahl die SS eines Nachmittags allen, in einem Wald in der Nähe von Schwerin ihr Lager zu beziehen. Die Brüder hatten sich inzwischen schon zu kleinen Gruppen zusammengetan und bauten mit ihren Decken kleine Hütten. Den Boden bedeckten sie mit Laub, um die Kühle der Nacht abzuhalten. In jener Nacht, in der die Kugeln der Russen um Ihre Köpfe pfiffen und in der die Amerikaner auf dem Vormarsch waren, brach dieser Teil der deutschen Front zusammen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl für die, die dabei waren, als plötzlich mitten in der Nacht ein Ruf erscholl, der sich wie ein Echo tausendfach fortpflanzte: „WIR SIND FREI!“ Die ungefähr 2 000 SS-Leute, die bis dahin die Häftlinge beaufsichtigt hatten, hatten unauffällig ihre Uniform ausgezogen und sich als Zivilisten getarnt, ja einige hatten sogar Häftlingsuniformen angezogen, um ihre Identität zu verbergen. Ein paar Stunden später wurden jedoch einige von ihnen erkannt und unbarmherzig hingemordet.
Sollten die Brüder das Angebot der amerikanischen Offiziere, die inzwischen eingetroffen waren, annehmen und das Lager mitten in der Nacht abbrechen? Nachdem sie die Lage gebetsvoll geprüft hatten, entschlossen sie sich, bis zum Sonnenaufgang zu warten. Doch selbst dann blieben sie noch einige Stunden länger, denn ein Bauer, der sich den Flüchtlingen angeschlossen hatte, hatte den Brüdern zwei Zentner Erbsen geschenkt. Es wurde ein wunderbares Mahl zubereitet. O wie dankbar die Brüder doch waren! Nahezu zwei Wochen lang hatten sie fast nichts gehabt außer etwas Tee, den sie unterwegs gesammelt und abends im Wald gekocht hatten, sofern etwas Wasser zur Verfügung stand.
Wie dankbar waren sie doch, als sie feststellten, daß keiner von ihnen fehlte! Aber wie sie später feststellten, hatten sie noch einen weiteren Grund, Jehova dankbar zu sein, denn während ihres Marsches in Richtung Norden waren sie einmal von der SS mehrere Tage in einem Wald festgehalten worden, weil man sich nicht sicher war, wo sich die Front befand. Das war gerade die Zeit, die noch erforderlich gewesen wäre, um Lübeck zu erreichen, bevor die Front schließlich zusammenbrach.
Jetzt hatten sie es nicht mehr so eilig weiterzuziehen. Gleich dort, im Wald von Schwerin, begannen sie einen Bericht über ihre Erlebnisse auf einer Schreibmaschine zu schreiben, die Soldaten aus einem fahrbaren Büro geworfen hatten. Der Bericht enthielt auch eine Resolution, die sie unter dem unbeschreiblichen Gefühl, seit einigen Stunden wieder frei zu sein, aber auch aus Wertschätzung für Jehovas Schutz während der vielen Jahre ihres Aufenthaltes in der „Löwengrube“ verfaßten. Dies ist die Resolution:
RESOLUTION
„3. Mai 1945
Entschließung der in einem Wald bei Schwerin in Mecklenburg versammelten 230 Zeugen Jehovas aus sechs verschiedenen Nationen.
Wir versammelten Zeugen Jehovas senden unsere allerherzlichsten Grüße an das treue Bundesvolk Jehovas und seine Gefährten in aller Welt mit Psalm 33:1-4 und 37:9. Es sei Euch kund, daß unser großer Gott, dessen Name Jehova ist, sein Wort wahr gemacht hat an seinem Volke, insbesondere im Gebiet des Nordkönigs. Eine lange, harte Probezeit liegt nun hinter uns, und die aus dem Feuerofen hervorgezogenen Bewährten haben nicht einmal den Geruch des Brandes an sich. (Siehe Daniel 3:27.) Im Gegenteil, sie sind voller Kraft und Stärke Jehovas und warten brennend auf neue Befehle des Königs zur Wahrnehmung der theokratischen Interessen. Unsere Entschlüsse und [unsere] Dienstbereitschaft sind ausgedrückt in Jesaja 6:8 und Jeremia 20:11 (Menge-Übersetzung). Die Absicht des Feindes, Gottes treues Volk in diesem Lande durch unzählige teuflische Gewaltmethoden sowie tausend mittelalterliche Inquisitionsmethoden körperlicher und geistiger Art und auch durch vielerlei Schmeicheleien und Verführungskünste zur Untreue zu verleiten, ist dank des Herrn großer Hilfe und seines gnädigen Beistandes den dämonischen Hassern der Theokratie nicht gelungen. All das vielseitig Erlebte, dessen Schilderung viele Bände erfordern würde, ist kurz umschrieben in den Worten des Apostels Paulus in 2. Korinther 6:4-10, 2. Korinther 11:26, 27 und vor allem in Psalm 124 (Elberfelder Übersetzung). Satan und seine dämonisierten Werkzeuge stehen erneut als Lügner da. (Joh. 8:44) Die große Streitfrage ist wiederum zum Ruhme Jehovas ausgetragen worden. — Hiob 1:9-11.
Zu unser und Euer aller Freude sei Euch noch besonders mitgeteilt, daß uns der Herr Jehova eine reiche Beute schenkte, indem er uns sechsunddreißig Menschen guten Willens hinzufügte, die bei unserem Auszug aus Sachsenhausen ... aus freien Stücken erklärten: „Wir wollen mit euch ziehen, denn wir haben gesehen, daß Gott mit euch ist.“ Hier erfüllt sich Sacharja 8:23. Wegen des übereilten Auszuges konnten viele Freunde der Theokratie sich uns nicht mehr anschließen, aber Jehova wird es überwalten, daß sie bald wieder den Weg zu uns finden werden.
Wir, Jehovas Zeugen, erklären erneut unsere unbedingte Treue Jehova gegenüber und unsere restlose Hingabe an die Theokratie.
Wir geloben, daß wir nur einen Wunsch haben, nämlich aus tiefster Dankbarkeit zufolge der langen Kette unendlich vieler Beweise wunderbarster Bewahrungen und Errettungen aus all den tausend Nöten, Kämpfen und Bedrängnissen während des Aufenthaltes in der Löwengrube Jehova und seinem großen König, Jesus Christus, willigen und freudigen Herzens [bis] in alle Ewigkeit zu dienen. Dies wäre unser schönster Lohn.
Unsere Resolution schließen wir in der freudigen Gewißheit des baldigen Wiedersehens mit Psalm 48.
Eure Mitarbeiter für Jehovas heiligen Namen“
Erst als die Brüder ihre Dankbarkeit für Jehovas unverdiente Güte, für seinen Schutz und nun auch für die wiedererlangte Freiheit zum Ausdruck gebracht hatten, brachen sie von ihrem Lager auf. Obwohl in jener ersten Nacht der Freiheit 900 bis 1 000 Häftlinge umgekommen waren, erreichten die Brüder Schwerin völlig unversehrt. Da die Brücken über die Elbe zerstört worden waren, mußten sie jedoch zwei bis drei Monate dort bleiben. Sie fanden in dem Pferdestall einer Kaserne Unterkunft und konnten dort Wachttürme vervielfältigen und jeden Vormittag ein Wachtturm-Studium durchführen, um sich geistig auf das vor ihnen liegende Werk vorzubereiten. Gleichzeitig nahmen sie den Predigtdienst wieder auf, obwohl sie aufgrund der gegebenen Verhältnisse gezwungen waren, ihn in ihrer Häftlingsuniform zu verrichten. Schließlich konnten sie aber ihre Reise nach Westen fortsetzen, um mit ihren Verwandten wieder Kontakt aufzunehmen und um zu sehen, was alles in Verbindung mit der Neuorganisierung des Königreichswerkes getan werden konnte.
EIN BERICHT DER LAUTERKEIT
Dieser Bericht ist das Ergebnis der Bemühungen, einen wichtigen Zeitabschnitt in der neuzeitlichen Geschichte des Volkes Jehovas zu rekonstruieren. Aber nur ein kleiner Teil der interessanten Erfahrungen, die die Brüder und Schwestern in Deutschland während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gemacht haben, konnte berichtet werden. Viele, viele Bücher müßten geschrieben werden, wenn alles berichtet werden sollte, was geschah, weil die Zeugen an der wahren Anbetung festhielten und Jehovas Namen verteidigten. Mögen daher die aufgezeichneten Erlebnisse einzelner für die vielen sprechen, die der Erwähnung wert gewesen wären, doch nicht, um Menschen, sondern vielmehr, um Jehova dadurch zu rühmen und zu ehren. Er war es, der zur rechten Zeit Schritte unternahm, um sein Volk als Gruppe zu befreien, obwohl er zuließ, daß viele ihr Leben für seinen heiligen Namen niederlegten.
Jeder, der im Jahre 1945 mit denen sprach, die aus der Tyrannei befreit worden waren, wird sich daran erinnern, wie oft sie gemeinsam Jehova mit den Worten aus Psalm 124 priesen. Sie dachten an die wunderbaren Wachtturm-Artikel zurück, die am Anfang der Verfolgung erschienen waren und durch die sie Jehova auf jene schwierige Zeit vorbereitet hatte. Nun verstanden sie, was Jesus gemeint hatte, als er gesagt hatte, sie sollten sich nicht vor denen fürchten, die den Leib töten könnten. Sie wußten, was es bedeutete, in einen Feuerofen oder wie Daniel in eine Löwengrube geworfen zu werden. Aber sie erkannten auch, daß Jehova mächtiger ist und daß er ihre Stirn härter gemacht hatte als die ihrer Feinde. Selbst Außenstehende erkennen diese Tatsache an, und sie wird oft erwähnt, wenn Historiker über diesen Abschnitt der Geschichte Deutschlands sprechen. Zum Beispiel schrieb Michael H. Kater in dem Vierteljahresheft Zeitgeschichte, 1969, Heft 2:
„Das ,Dritte Reich‘, das jeglichem inneren Widerstand stets nur mit brutalster Gewalt begegnen konnte und es selbst dann oft nicht vermochte, der Kräfte der Auflehnung im deutschen Volk Herr zu werden, hat auch das Problem der Ernsten Bibelforscher von 1933 bis 1945 nicht bewältigen können. Die Zeugen Jehovas gingen 1945 aus der Verfolgung geschwächt, aber ungebrochenen Sinnes hervor.“
Auch in dem „Auszug aus dem Buch ,Kirchenkampf in Deutschland‘ “ von Friedrich Zipfel kann man lesen:
„Es gibt wohl kaum eine Analyse oder ein Erinnerungsbuch über die Konzentrationslager, in dem nicht das gläubige Denken, die Arbeitsamkeit, Hilfsbereitschaft und das fanatische Märtyrertum der Ernsten Bibelforscher geschildert wird. Hingegen wird in der allgemeinen Widerstandsliteratur der den Inhaftierungen vorausgegangene Kampf der ,Zeugen Jehovas‘ nicht, oder allenfalls am Rande, erwähnt. Dabei handelt es sich bei der Tätigkeit und Verfolgung der Bibelforscher um einen ganz eigenartigen Vorgang. Die Mitglieder dieser kleinen Religionsgemeinschaft sind zu 97 %, d. h. nahezu ausnahmslos, zu Opfern von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen geworden. Ein Drittel von ihnen fand dort ,durch Hinrichtung, sonstige Gewaltakte, Hunger, Krankheit oder Frondienst‘ den Tod. Diese beispiellose Härte der Unterdrückung ist das Ergebnis eines kompromißlosen Glaubens, der in unüberbrückbaren Gegensatz zu der nationalsozialistischen Ideologie treten mußte.“
Wie war doch nun der Führer des zerschlagenen Deutschen Reiches gedemütigt worden! Goebbels hatte am 31. Dezember 1944 über ihn gesagt: „Wenn die Welt wirklich wüßte, was er ihr zu sagen und zu geben hat und wie tief seine Liebe über sein eigenes Volk hinaus der ganzen Menschheit gehört, dann würde sie in dieser Stunde noch Abschied nehmen von ihren falschen Göttern und ihm ihre Huldigung darbringen ..., dem Mann, der sich zum Ziel gesetzt hat, sein Volk zu erlösen. ... Nie kommt ein Wort der Falschheit oder einer niedrigen Gesinnung über seine Lippen. Er ist die Wahrheit selbst.“ Doch dieser Mann, der ein Gott sein wollte, beging Selbstmord.
Wie waren auch diejenigen gedemütigt worden, die ihr Vertrauen auf ihn gesetzt hatten — zum Beispiel Himmler, der gewissenlos Hitlers Befehle ausführte! Gerade Himmler hatte viele Jahre den treuen Dienern Jehovas das Leben schwergemacht. Für wie viel vergossenes Blut muß er die Verantwortung tragen! Im Jahre 1937 sagte er unseren Schwestern in Lichtenburg prahlerisch: „Ihr werdet auch noch nachgeben, euch kriegen wir schon noch klein. Wir halten es länger aus als ihr!“ Und wie niedergedrückt war er nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, als er auf der Flucht Bruder Lübke in Hartzwalde traf und ihn fragte: „Na, Bibelforscher, was ist nun?“ Bruder Lübke gab ihm darauf ein gründliches Zeugnis und erklärte ihm, daß Jehovas Zeugen immer mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und mit ihrer Befreiung gerechnet hätten. Himmler wandte sich wortlos ab. Nicht viel später vergiftete er sich, nachdem er von britischen Soldaten festgenommen worden war.
Doch wie freuten sich diejenigen, die Jehova anbeteten, und das trotz der schwierigen Verhältnisse! Sie hatten das Vorrecht, dem souveränen Herrscher des Universums ihre Lauterkeit zu beweisen. Während Hitlers Herrschaft hatten 1 687 ihre Stellung verloren, 284 ihr Geschäft und 735 ihre Wohnung, und 457 war die Ausübung ihres Berufs verboten worden. In 129 Fällen wurden Grundstücke beschlagnahmt, 826 Rentnern wurde die Unterstützung entzogen, und 329 weitere erlitten sonstige Vermögensnachteile. 860 Kinder waren ihren Eltern fortgenommen worden. In 30 Fällen waren Ehen „von Amts wegen“ geschieden worden, in 108 Fällen auf Antrag des Ehegefährten, der ein Gegner der Wahrheit war. Insgesamt 6 019 waren verhaftet worden, einige davon zweimal, dreimal oder sogar noch öfter, so daß insgesamt 8 917 Verhaftungen registriert wurden. Sie waren zu insgesamt 13 924 Jahren und 2 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Das ist zweieinviertelmal so lange, wie Zeit seit der Erschaffung Adams vergangen ist. Ins Konzentrationslager wurden 2 000 Brüder und Schwestern eingeliefert, wo sie 8 078 Jahre und 6 Monate verbrachten, das ist ein Durchschnitt von vier Jahren. Insgesamt 635 waren in der Haft gestorben, 253 waren zum Tode verurteilt worden, und 203 davon wurden tatsächlich hingerichtet. Welch ein Bericht der Lauterkeit!
DER WIEDERAUFBAU BEGINNT
Unmittelbar nach dem Krieg waren die Brüder im Schweizer Bethel die einzigen, die Verbindung zu den Brüdern in Deutschland hatten. Als sie erfuhren, daß selbst nach der Freilassung der Brüder aus den Lagern in vielen Versammlungen gewisse unerwünschte Tendenzen bestanden, sandten sie folgendes Rundschreiben an die Versammlungen:
„An die lieben Mitverbundenen in Deutschland
Liebe Geschwister in Christo,
endlich seid Ihr vom nazistischen Joche befreit! — Manche von Euch haben Jahre hindurch sehr gelitten, indem sie sich entweder in Gefängnissen oder in Konzentrationslagern befanden oder sonstwie verfolgt wurden. ...
Es wird sich aber auch niemand von denen, die besonderer Leiden um des Namens des Herrn willen wert geachtet wurden, etwas darauf einbilden und sich mit dem Nimbus eines Märtyrers umgeben oder sich über andere erheben, die nicht [Jahre] in Gefängnissen oder Konzentrationslagern zubringen mußten. ... Es sollte sich niemand von Euch vor den Mitmenschen wegen seiner Leiden brüsten oder besonders hervortreten. Man vergesse nicht, daß auch manche von den Geschwistern, die zu Hause zurückblieben, mit vielerlei Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und ebenfalls unter Druck gesetzt wurden. Der Christ kann sich seine Leiden nicht wählen. Der Herr bestimmt sie respektive läßt sie zu.
Darum, liebe Geschwister, laßt uns nicht ungerecht und parteiisch sein, und laßt uns niemand verurteilen, der vielleicht in einiger
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