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  • Die Liebe meiner Familie zu Gott trotz Gefängnis und Tod
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Der Wachtturm verkündigt Jehovas Königreich 1985
w85 1. 9. S. 10-15

Die Liebe meiner Familie zu Gott trotz Gefängnis und Tod

Von Magdalena Reuter geb. Kusserow erzählt

MEIN Bruder Wilhelm sollte am nächsten Morgen von den Nationalsozialisten hingerichtet werden. Sein Verbrechen? Aus Gewissensgründen weigerte er sich, in der deutschen Wehrmacht zu dienen. Der 25jährige wußte, daß seine Hinrichtung durch ein Exekutionskommando kurz bevorstand. Am Abend des 26. April 1940 schrieb er uns folgenden Abschiedsbrief, wonach er friedlich zu Bett ging und ruhig einschlief.

„Meine lieben Eltern und Geschwister, Ihr wißt ja alle, wie sehr ich an Euch hänge, dieses kommt mir immer wieder zum Bewußtsein, wenn ich unser Familienfoto betrachte. Wie groß war doch unsere Harmonie immer zu Hause. Aber wir müssen trotzdem Gott über alles lieben, wie es unser Führer Jesus Christus vorschrieb. Wenn wir für ihn geradestehen, wird er uns auch dafür belohnen.“

In seiner letzten Nacht dachte unser lieber Wilhelm an uns — seine christlichen Eltern, seine fünf Brüder und fünf Schwestern, eine ungewöhnlich große, harmonische Familie. Durch die Wirren der Zeit hindurch haben wir als Familie die Liebe zu Gott über alles andere gestellt.

Unser „Goldenes-Zeitalter“-Haus

Meine Eltern, Franz und Hilda Kusserow, waren seit ihrer Taufe im Jahre 1924 — dem Jahr, in dem ich als ihr achtes Kind geboren wurde — eifrige Bibelforscher (Zeugen Jehovas). Es war eine herrliche Jugendzeit, die wir elf Kinder gemeinsam mit unseren Eltern verbrachten. Zufolge seiner frühzeitigen Pensionierung konnte sich unser Vater voll und ganz der Familie widmen, und er tat es auch vorbildlich gemäß biblischen Grundsätzen. Es verging kein Tag, an dem wir nicht biblische Unterweisung erhielten. Unsere Eltern erkannten bereits, daß Kinder nicht automatisch Lobpreiser Jehovas werden, nur weil die Eltern es sind.

Vater folgte 1931 einem Vorschlag der Wachtturm-Gesellschaft und zog mit seiner Familie in ein Gebiet, wo es zu dieser Zeit weit und breit noch keine Ortsversammlung gab. In Paderborn und Umgebung — insgesamt etwa 200 Ortschaften — hatten wir vollauf zu tun, die Königreichsbotschaft zu verbreiten. Meine älteste Schwester Annemarie diente als Sonderpionierin, während mein Vater und mein 15jähriger Bruder Siegfried im allgemeinen Pionierdienst standen.

An zwei Seiten unseres Hauses in Bad Lippspringe hatte unser Vater mit Farbe die Aufschrift geschrieben: LESEN SIE DAS GOLDENE ZEITALTER (wie die Zeitschrift Erwachet! früher hieß). Schon von weitem sprangen diese Worte ins Auge. Da sich vor dem Haus eine Haltestelle der Straßenbahn befand, die zwischen den Städten Paderborn und Detmold verkehrte, rief der Schaffner oft aus: „Haltestelle GOLDENES ZEITALTER!“ Dieses Haus, zu dem drei Morgen Land gehörten, einschließlich eines schönen Gartens mit Buschwerk und Bäumen, wurde für die kinderreiche Familie zum Mittelpunkt christlicher Erziehung und Tätigkeit, bei der sich alles um das kommende „goldene Zeitalter“ — Gottes Königreich — drehte (Matthäus 6:9, 10).

In Harmonie

Der Haushalt einer so großen Familie mußte besorgt werden. Gemüse und Obst mußten geerntet werden, die Hühner und die Enten wollten versorgt sein, und dem Schäfchen der Familie mußte die Flasche gegeben werden. Auch um den Dackel „Fiffi“ und die Katze „Pussi“, die mit zur Familie gehörten, mußte man sich kümmern. Vater stellte daher einen Zeitplan auf und teilte uns Kindern die Hausarbeit, die Gartenarbeit und die Versorgung der Haustiere zu. Jedes Kind verrichtete eine Arbeit, die in der einen Woche von einem Jungen und in der nächsten von einem Mädchen getan wurde.

In dem Plan wurde aber auch die Freizeitgestaltung berücksichtigt, zu der Musizieren, Malen und vieles andere mehr gehörte, was unsere Mutter, die von Beruf Lehrerin war, uns Kindern beibrachte. Wir besaßen fünf Geigen, ein Klavier, ein Harmonium, zwei Akkordeons, eine Gitarre und einige Flöten. Ja, unsere Eltern überwachten nicht nur unsere Hausaufgaben, sondern machten auch das Musizieren und Singen zu einem Teil unseres Erziehungsprogramms.

Heute weiß ich, wie wichtig es war, daß kein Tag verging, an dem wir nicht irgendwelche geistige Unterweisung erhielten, sei es bei Tisch durch Antworten auf unsere Fragen oder dadurch, daß wir verschiedene Bibeltexte auswendig lernten. Vater bestand auch darauf, daß wir uns genau ausdrückten. Mit anderen Worten: Wir führten ein ideales Familienleben — weit besser, als man es überhaupt erzählen kann. Natürlich hatten wir auch unsere Schwächen, und Vater züchtigte uns oft mit Worten, die uns mehr schmerzten als körperliche Bestrafung. Er lehrte uns auch, uns für Fehler zu entschuldigen und anderen zu vergeben. Damals erkannten wir natürlich noch nicht, wie wichtig diese Schulung einmal für uns werden sollte.

Das jüngste Glied der Familie, der kleine Paul-Gerhard, wurde 1931 geboren. Er wurde von seinen Brüdern Wilhelm, Karl-Heinz, Wolfgang, Siegfried und Hans-Werner, von mir und von meinen Schwestern Annemarie, Waltraud, Hildegard und Elisabeth willkommen geheißen.

Die Drangsal beginnt

Kurz darauf kam in Deutschland Adolf Hitler an die Macht. Es schien, daß Vater wußte, welche Probleme auf uns zukommen würden, und er bereitete uns immer mehr auf die vor uns liegenden schwierigen Jahre vor. Er zeigte uns aus der Bibel, daß einige treue Zeugen verfolgt, ins Gefängnis geworfen und sogar getötet würden (Matthäus 16:25; 2. Timotheus 3:12; Offenbarung 2:10). Damals dachte ich allerdings, es würde nicht unbedingt unsere Familie treffen. Ich ahnte nicht, was die Zukunft für uns bringen sollte.

Der erste Schlag war der Tod meines Bruders Siegfried nach einem Badeunfall. Dann, im Frühjahr des Jahres 1933, wurden wir zum Angriffsziel der Nationalsozialisten. Die Geheime Staatspolizei ließ die Schrift an unserem Haus überstreichen. Die Farbe war zu jener Zeit aber so schlecht, daß die Worte LESEN SIE DAS GOLDENE ZEITALTER immer wieder hindurchschienen. Und noch immer rief der Schaffner: „Haltestelle GOLDENES ZEITALTER!“

Doch der Druck wurde allmählich stärker. Mitzeugen, die von der Gestapo mißhandelt worden waren, flüchteten in unser Haus. Das Ruhegehalt meines Vaters wurde gekürzt, weil er den Hitlergruß nicht erwiderte. Zwischen 1933 und 1945 durchsuchte die Gestapo unser Haus 18mal. Wurden wir Kinder aber dadurch eingeschüchtert? Meine Schwester Waltraud erinnert sich: „Während die Verfolgung im Gange war, fühlten wir uns durch unsere Eltern gestärkt, da sie das Bibelstudium auch weiterhin regelmäßig mit uns durchführten. Nach wie vor richteten wir uns nach dem von unserem Vater aufgestellten Zeitplan.“

Die Jüngsten unter Druck

Jeden Tag gingen wir, die Jüngsten der Familie, mit Herzklopfen in die Schule. Die Lehrer verlangten von uns, die Fahne zu grüßen, Nazilieder zu singen und mit erhobenem Arm „Heil Hitler!“ zu sagen. Weil wir uns weigerten, wurden wir zum Gegenstand des Gespötts. Doch was half uns, standhaft zu bleiben? Wir sind uns darin einig, daß das tägliche Gespräch mit unseren Eltern über die Probleme der einzelnen, die aufgetaucht waren, wesentlich dazu beigetragen hat (Epheser 6:4). Sie zeigten uns, wie wir uns verhalten und uns mit Hilfe der Bibel verteidigen konnten (1. Petrus 3:15). Das haben wir oft anhand von Fragen und Antworten geübt.

Meine Schwester Elisabeth dachte oft an die schwere Prüfung, die sie und die beiden Jüngsten durchzustehen hatten: „Für uns war es ein sehr schwerer Augenblick, den man wohl nie vergißt, als uns im Frühjahr 1939 der Schulleiter als geistig und sittlich verwahrlost denunzierte und dafür sorgte, daß wir auf Gerichtsbeschluß von der Schule abgeholt und an einen unbekannten Ort verschleppt wurden. Ich war 13, Hans-Werner 9 und der kleine Paul-Gerhard gerade 7 Jahre alt.“

Erst vor kurzem, über 40 Jahre später, schrieb ein Beamter, den das Gewissen plagte, an Paul-Gerhard: „Ich war damals der Polizeibeamte, der Sie und Ihre Geschwister nach einem Erziehungsheim gebracht hat. Ich habe Sie in den Abendstunden des damaligen Tages abgeliefert.“ Man muß sich das einmal vorstellen: Drei schutzlose Kinder wurden ohne Benachrichtigung der Eltern von der Schule abgeholt!

Mutter bemühte sich wochenlang, herauszufinden, wohin man die Kinder gebracht hatte. Schließlich erfuhr sie, daß sie sich in einem Erziehungsheim für sittlich verwahrloste Kinder in Dorsten befanden. Die Heimleitung stellte bald fest, daß die Kinder gut erzogen waren und absolut nicht in dieses Heim gehörten. Daher wurden sie nach einigen Monaten entlassen — doch sie kamen nicht zu Hause an. Was war geschehen? Meine Geschwister waren von der Gestapo abgefangen und in ein Heim in Nettelstedt bei Minden gebracht worden, in dem Kinder in nationalsozialistischem Sinne erzogen wurden. Der Besuch von Angehörigen war natürlich verboten, aber Mutter versuchte alles, um ihre Kinder zu stärken, auch durch versteckte Briefe. Einmal gelang es ihr sogar, sie heimlich zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Später wurden die Kinder getrennt und an verschiedene Orte gebracht. Sie bewahrten jedoch ihre Lauterkeit und weigerten sich, die Fahne zu grüßen oder „Heil Hitler!“ zu sagen. Sie wiesen auf Apostelgeschichte 4:12 hin, wo von Jesus gesagt wird: „Es ist in keinem anderen das Heil“ (Elberfelder Bibel).

Die ganze Familie wird geprüft

In der Zwischenzeit verbüßte Vater zwei Gefängnisstrafen. Am 16. August 1940 wurde er aus dem Gefängnis entlassen, jedoch nur, um einige Monate später in das Zuchthaus Kassel-Wehlheiden eingeliefert zu werden, wo er seine dritte Strafe verbüßen sollte. Doch er erlebte während der 8 Monate in Freiheit die große Freude, Hildegard (19 Jahre), Wolfgang (18 Jahre) und mich (damals 16) zu taufen.

Zur selben Zeit wie Vater wurden auch Mutter und Hildegard eingesperrt. Auch ich kam vor Gericht, und mit 17 Jahren wurde ich zu Einzelhaft in der Jugendstrafanstalt Vechta verurteilt. Dort hatte ich kaum etwas zu tun. Früh aufstehen, den ganzen Tag dasitzen und nur auf die weißen Kalkwände schauen — das war nicht so einfach. Ich versuchte, mir soviel wie möglich aus meinem erworbenen Gedankengut ins Gedächtnis zurückzurufen, und war erstaunt, welch ein Reichtum an geistigen Gütern dort zu finden war. Ich konnte mich an den Text von Königreichsliedern erinnern und arbeitete biblische Gespräche aus. Wie dankbar war ich doch für die gute Schulung, die mir meine Eltern mitgegeben hatten!

Nachdem ich fast sechs Monate im Gefängnis verbracht hatte, wurde ich in das Büro der Gefängnisdirektorin gerufen. Sie erklärte mir, daß ich freigelassen würde, wenn ich ein Dokument unterschriebe, durch das ich meinen Glauben als falsche Lehre widerrufen würde. Erneut hatte ich das Vorrecht, meinen Glauben zu verteidigen. Sie gab mir keine Antwort. Dann sagte sie traurig, daß sie mich jetzt wieder der Gestapo übergeben müsse. Vier Monate später brachte man mich in das Konzentrationslager Ravensbrück.

Meine Mutter und Hildegard befanden sich zu jener Zeit noch in einem anderen Gefängnis. Ich traf sie später wieder, als auch sie nach Ravensbrück gebracht wurden. Mutter und ich konnten dort bis zum Ende des Krieges zusammenbleiben. Annemarie und Waltraud befanden sich ebenfalls im Gefängnis. Alle Glieder der Familie waren jetzt entweder eingesperrt oder verschleppt worden. Das große Haus in Bad Lippspringe, das einst von Kinderlachen und Gesang erfüllt war, stand jetzt leer. Die Schrift am Haus, die man immer wieder überstrichen hatte, war nicht mehr zu sehen. Es war wahrlich kein GOLDENES ZEITALTER mehr.

Ravensbrück — Freunde und Feinde

Als ich in Ravensbrück ankam, versuchte ich sofort, andere Zeugen zu treffen. Aber wie sollte ich sie unter all den Tausenden Gefangenen finden? Zur Empfangsprozedur gehörte auch die Entlausung. Die Gefangene, die meinen Kopf absuchte, fragte mich leise: „Warum bist du hier?“ „Ich bin ein Bibelforscher“, antwortete ich. Freudig sagte sie: „Ein herzliches Willkommen, meine liebe Schwester!“ Dann wurde ich in den Bibelforscher-Block gebracht, wo mich Schwester Gertrud Pötzinger in ihre Obhut nahm.

Am nächsten Tag wurde ich in das Büro des Lagerkommandanten gerufen. Auf seinem Schreibtisch lag eine große Bibel, die bei Römer, Kapitel 13 geöffnet war. Er befahl mir, den ersten Vers zu lesen, wo es hieß: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit.“ Nachdem ich zu Ende gelesen hatte, sagte er: „Und jetzt werden Sie mir erklären, warum Sie der Obrigkeit nicht gehorchen wollen.“ Ich antwortete: „Um das zu erklären, muß ich das ganze Kapitel lesen.“ Abrupt schloß er die Bibel und schickte mich weg. So begannen meine dreieinhalb Jahre in Ravensbrück.

Das Schlimmste an dieser Erfahrung war außer der Brutalität der SS-Wachen die Winterzeit. Jeden Morgen mußten wir uns in klirrender Kälte auf dem Appellplatz zum Durchzählen aufstellen. Es begann um 4 Uhr morgens und konnte zwei bis fünf Stunden dauern. Es war nicht erlaubt, die Hände in die Taschen zu stecken. Daher bekam ich Frostbeulen an Händen und Füßen und benötigte ärztliche Behandlung.

Aber wir nutzten auch die Stunden auf dem Appellplatz, um uns geistig zu erbauen. Wenn die SS-Wachen außer Hörweite waren, wiederholten wir einen Text, der von Mund zu Mund ging, und konzentrierten so unseren Sinn auf Gottes Wort. Bei einer Gelegenheit lernten wir alle Psalm 83 auswendig, indem ihn einer nach dem anderen wiederholte, natürlich so, daß die Wachen nichts bemerkten. Dies half uns, geistig stark zu bleiben und auszuharren. Laßt uns aber nun zum Frühjahr 1940 zurückkehren.

Der erste Märtyrer

Mein älterer Bruder Wilhelm wurde zum Tode verurteilt und in Münster öffentlich hingerichtet. Er war der erste Märtyrer in der Familie. Mutter und ich besuchten ihn kurz vor seinem Tod. Wir waren beeindruckt, wie gefaßt er war. Er gab Mutter seinen Mantel und sagte: „Ich brauche ihn jetzt nicht mehr.“

Hitler wies Wilhelms dritten Einspruch gegen das Todesurteil zurück und unterzeichnete persönlich den Hinrichtungsbefehl. Aber sogar noch als Wilhelms Augen verbunden wurden, wurde ihm eine letzte Gelegenheit gegeben, seinem Glauben abzuschwören. Er weigerte sich. Sein letzter Wunsch? Er forderte die Männer auf, gut zu zielen. Einige Jahre später schrieb sein Pflichtverteidiger an die Familie: „Er empfing den Tod aufrecht und war sofort tot. Seine Haltung hat das ganze Gericht und uns alle zutiefst beeindruckt. Er starb entsprechend seiner Überzeugung.“

Mutter fuhr sofort nach Münster und machte dort ihren Anspruch auf den Leichnam geltend. Sie war entschlossen, Wilhelm in Bad Lippspringe begraben zu lassen. „Wir werden den Menschen, die ihn kannten, ein großes Zeugnis geben“, sagte sie. „Ich werde Satan dafür zahlen lassen, daß er meinen Wilhelm getötet hat.“ Mutter beantragte, daß Vater für vier Tage das Gefängnis verlassen dürfe, um am Begräbnis teilzunehmen. Zu unserer Überraschung wurde es ihm gestattet!

Vater sprach bei dem Begräbnis das Gebet, und Karl-Heinz, sein drittältester Sohn, sprach zu einer großen Menge Trauergäste, die sich an Wilhelms Grab versammelt hatten, Worte des Trostes aus der Bibel. Einige Wochen später wurde Karl-Heinz ohne Gerichtsverhandlung ebenfalls in ein Konzentrationslager gebracht, zunächst nach Sachsenhausen und später nach Dachau.

Ein weiterer Blutzeuge

Als sich mein anderer älterer Bruder, Wolfgang, taufen ließ, bezog er Stellung für den wahren Gott, obwohl er wußte, daß das auch seinen Tod bedeuten konnte. Aber er konnte die hervorragenden Beispiele der Standhaftigkeit von seiten seines Vaters und seiner Brüder nicht vergessen, ja die Standhaftigkeit der ganzen Familie. Am 27. März 1942, eineinhalb Jahre nach seiner Taufe, saß er selbst in einer Zelle in Berlin und schrieb den folgenden Abschiedsbrief:

„Nun werde ich als Euer dritter Sohn und Bruder morgen früh von Euch gehen müssen. So seid nicht traurig, es wird einmal die Zeit kommen, wo wir wieder alle zusammensein werden. ... Wie groß wird die Freude sein, wenn wir uns alle wiedersehen. ... So sind wir nun alle auseinandergerissen, jeder steht seinen Mann, ja das wird uns alles belohnt werden.“

Hitler hatte entschieden, daß der Tod durch Erschießen für einen Kriegsdienstverweigerer zu gut sei. Er befahl daher die Hinrichtung durch das Fallbeil. Als zweiter Blutzeuge unserer Familie wurde Wolfgang im Zuchthaus von Brandenburg enthauptet. Er war gerade 20 Jahre alt.

Die Liebe zu Gott kommt immer noch an die erste Stelle

Was ist aus den Familiengliedern geworden, die die Nazizeit überlebten? Waltraud und Hans-Werner waren die ersten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Bad Lippspringe zurückkehrten. Hildegard, Elisabeth und Paul-Gerhard folgten. Vater trat mit einem gebrochenen Bein auf einem Viehtransporter zwischen Schafen seinen Rückweg an.

„Nun waren wir glücklich, unseren Vater in Freiheit bei uns zu haben“, erinnert sich Waltraud. „Er war sehr krank. Im Juni 1945 brachte eine Krankenschwester unseren schwerkranken Bruder Karl-Heinz aus dem KZ Dachau. Im Juli 1945 kam Annemarie aus dem Zuchthaus Hamburg-Fuhlsbüttel auf Umwegen nach Bad Lippspringe. Die letzten, unsere Mutter und Magdalena, kamen erst im September 1945 nach vielen Hindernissen aus dem KZ Ravensbrück zurück. Das Erzählen nahm kein Ende.“

Hatte die Zeit der Verfolgung die Liebe der Familie zu Gott gedämpft? Keineswegs! Vater ruhte trotz seiner Krankheit nicht, bis er das Zeugniswerk, einschließlich der Predigttätigkeit von Haus-zu-Haus, neu organisiert und Vorkehrungen für Zusammenkünfte getroffen hatte. Wir stellten in der Familie einen Zeitplan auf, denn die Kranken mußten gepflegt werden, und wir mußten uns auch danach umsehen, den nötigen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch bei allem wurde nie außer acht gelassen, daß unsere Liebe zu Gott zuallererst kam. Wir zogen auch die Möglichkeit des Vollzeitdienstes in Betracht. Elisabeth und ich nahmen 1946 den Sonderpionierdienst auf, und Annemarie und Paul-Gerhard dienten als allgemeine Pioniere.

Die Nachwirkungen

Die Auswirkungen der harten Haftzeit auf unsere Gesundheit wurden schon bald sichtbar. Im Oktober 1946 starb Karl-Heinz im Alter von 28 Jahren an Tuberkulose. Mein geliebter Vater beendete im Juli 1950 seinen irdischen Lauf in der Überzeugung, daß seine Werke gleich mit ihm gingen. Meine Mutter, die ebenfalls himmlische Hoffnung hatte, starb 1979. (Siehe Offenbarung 14:13.)

Elisabeth mußte zwar den Vollzeitdienst aufgeben, aber sie blieb bis zu ihrem Tod im Jahre 1980 treu. Mutter hatte 1951 den Pionierdienst aufgenommen und konnte dreieinhalb Jahre in diesem Dienst stehen, obwohl sie schon über 60 Jahre alt war. Es bereitete ihr große Freude, daß die meisten ihrer Enkelkinder den Vollzeitdienst aufnahmen.

Mein jüngster Bruder, Paul-Gerhard, arbeitete in der Druckerei im Bethel, bis er 1952 eingeladen wurde, die 19. Klasse der Missionarschule Gilead zu besuchen. Nach vielen weiteren Jahren im Vollzeitdienst mußte er leider ausscheiden, da seine Frau ernsthaft erkrankte. Sie hat sich von der Krankheit nie wieder völlig erholt und muß gepflegt werden. Meinem Bruder ist es immerhin möglich, als Ältester zu dienen, und ihre Tochter Brigitte steht heute im Sonderpionierdienst. Detlev, der Sohn, ist schon 14 Jahre lang Pionier. Jethro und Wolfgang, die beiden Kinder von Elisabeth, stehen ebenfalls seit vielen Jahren im Vollzeitdienst.

Auch ich ging 1948 ins Bethel nach Wiesbaden. In der Bethelfamilie fühlte ich mich geborgen, ja wie zu Hause. Es wurde hart gearbeitet. Fast täglich waren wir bis spät in die Nacht hinein tätig, um riesige Schiffsladungen mit Büchern aus Brooklyn zu bewältigen. Im Jahre 1950 heiratete ich Georg Reuter, der ebenfalls im Bethel diente. Damit begann für mich an der Seite meines Mannes ein neuer Zeitabschnitt voller wunderbarer Erfahrungen im Kreis- und Bezirksdienst sowie im Missionardienst in Togo (Afrika), in Luxemburg und jetzt in Südspanien.

Und der Rest der Familie? Annemarie, Waltraud und Hildegard zogen zusammen mit unserer Mutter 1960 in eine Kleinstadt in der Nähe von Frankfurt am Main, wo sie mit englisch- und italienischsprachigen Versammlungen zusammenarbeiten konnten. Hildegard, die fast fünf Jahre Gefängnis und Konzentrationslager überlebt hatte, starb 1979. Annemarie und Waltraud bekunden immer noch ihren Geist der Selbstaufopferung und stehen im Dienst für Gott.

Unsere Familie, in der die Liebe zu Gott stets an der ersten Stelle stand, hat die Wahrheit der Worte Jesu erfahren, daß der ‘Teufel fortfahren wird, einige ins Gefängnis zu werfen’, so daß die Treue „selbst bis in den Tod“ erprobt wird. Aber wir haben niemals vergessen, was Jesus auch noch sagte: „Wer siegt, der wird keinesfalls vom zweiten Tod Schaden erleiden“ (Offenbarung 2:10, 11).

Daher blicken wir mit Zuversicht dem kommenden GOLDENEN ZEITALTER entgegen — wenn die Worte nicht mehr nur auf einer Mauer geschrieben stehen —, in dem wir alle wieder vereint sein werden. Unter dem Königreich Gottes wird es Wirklichkeit werden! (Offenbarung 20:11 bis 21:7).

[Bild auf Seite 11]

Das letzte Foto von der ganzen Familie (von links nach rechts): Siegfried, Karl-Heinz, Wolfgang, Vater, Mutter, Annemarie, Waltraud, Wilhelm, Hildegard; davor: Paul-Gerhard, Magdalena, Hans-Werner und Elisabeth

[Bild auf Seite 12]

Das Haus der Familie an der Straßenbahnhaltestelle GOLDENES ZEITALTER

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