Ein halbes Jahrhundert unter totalitärer Gewaltherrschaft
Von Lembit Toom erzählt
Im Jahr 1951 wurde ich zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Zusammen mit anderen wurde ich Tausende von Kilometern weit weg in ein Lager gebracht, das weit jenseits des nördlichen Polarkreises lag. Die Arbeit war ermüdend, das Wetter war brutal, und die Lebensbedingungen waren schrecklich. Ich würde gern erklären, wie es dazu kam, daß ich ins Lager gebracht wurde, und warum wir dort nicht umsonst gelitten haben.
MEIN Vater galt in Estland, dem baltischen Land, wo ich am 10. März 1924 geboren wurde, als Intellektueller. Dennoch bewirtschaftete er in seinen späteren Lebensjahren das Gut der Familie in Järvamaa in Mittelestland. Wir waren eine große lutherische Familie mit neun Kindern; drei von ihnen starben sehr jung. Ich war der Jüngste. Mein Vater starb, als ich 13 war.
Im darauffolgenden Jahr ging ich von der Schule ab. Ich konnte die Schule nicht weiterbesuchen, weil mein Bruder Erich beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 zum Militär eingezogen wurde. 1940 wurde Estland schließlich der Sowjetunion angegliedert, und ein Jahr später wurde es von den Deutschen besetzt. Erich geriet in deutsche Gefangenschaft, wurde aber wieder freigelassen und kam im August 1941 nach Hause. Ab 1942 konnte ich dann eine Landwirtschaftsschule besuchen.
Als ich 1943 in den Weihnachtsferien zu Besuch nach Hause kam, erzählte mir meine Schwester Leida, unser Hausarzt habe mit ihr über die Bibel gesprochen. Er hatte ihr ein paar Broschüren gegeben, die von der Watch Tower Bible and Tract Society herausgegeben worden waren. Nachdem ich die Broschüren gelesen hatte, suchte ich umgehend Dr. Artur Indus auf, der von da an die Bibel mit mir studierte.
Zu einer Entscheidung gezwungen
Inzwischen spitzten sich die Kämpfe zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu. Bis zum Februar 1944 waren die Russen bis kurz vor die estnische Grenze vorgedrungen. Erich wurde zur deutschen Wehrmacht eingezogen, und auch ich erhielt meinen Stellungsbefehl. Ich war der Ansicht, daß Gottes Gesetz es verbietet, seinen Nächsten zu töten, und Dr. Indus sagte, er würde mir helfen, ein Versteck zu finden, wo ich bleiben könnte, bis der Krieg vorüber sei.
Eines Tages tauchten ein Polizist und der Leiter der örtlichen Zivilverteidigung auf unserem Bauernhof auf. Sie hatten Order, mich zu verhaften, weil ich unter Verdacht stand, mich dem Militärdienst entziehen zu wollen. Mir wurde klar, daß ich entweder mein Zuhause verlassen oder mich darauf gefaßt machen müßte, in ein deutsches Konzentrationslager zu kommen.
Auf dem Bauernhof eines Zeugen Jehovas fand ich Unterschlupf. In meinem Versteck las ich in der Bibel und in den Publikationen der Watch Tower Society soviel, wie ich konnte, um meinen Glauben zu stärken. Eines Nachts schlich ich mich nach Hause, um mir etwas zu essen zu holen. Im Haus wimmelte es von deutschen Soldaten, weil mein Bruder Erich mit einigen seiner Freunde ein paar Tage Heimaturlaub bekommen hatte. Es gelang mir, in jener Nacht auf der Dreschtenne heimlich ein paar Worte mit Erich zu wechseln. Das war das letzte Mal, daß ich ihn sah.
Knapp entkommen
In derselben Nacht wurde der Bauernhof, auf dem ich mich versteckt hielt, durchsucht. Ich war gerade in mein Versteck zurückgekehrt, als der Polizist aus dem Ort und Männer der Zivilverteidigung erklärten, sie würden auf eine Meldung hin agieren, gemäß der sich jemand auf dem Bauernhof versteckt halten soll. Ich glitt in den Kriechkeller unter dem Boden und hörte kurz darauf die Nagelstiefel über meinem Kopf. Der Beamte bedrohte den Bauern mit einem Gewehr und schrie: „In diesem Haus versteckt sich ein Mann! Wie kommen wir zu dem Kriechkeller unter dem Boden?“ Ich konnte sehen, wie sie mit ihren Taschenlampen alles absuchten. Ich bewegte mich zentimeterweise weiter nach hinten, blieb dort liegen und wartete ab. Nachdem sie gegangen waren, verharrte ich noch eine Weile im Kriechkeller, um sicherzugehen, daß die Luft rein war.
Noch vor Tagesanbruch verließ ich den Hof; ich war Jehova dankbar, daß man mich nicht entdeckt hatte. Glaubensbrüder halfen mir, einen neuen Unterschlupf zu finden, wo ich bis zum Ende der deutschen Besatzung blieb. Später erfuhr ich, daß der Polizist und der Leiter der Zivilverteidigung umgebracht worden waren, anscheinend von russischen Partisanen. Am 19. Juni 1944 ließ ich mich als Symbol meiner Hingabe an Gott taufen, und meine Schwester Leida wurde ebenfalls eine Zeugin Jehovas.
Im Juni 1944 fingen die Sowjets erneut an, Estland zu besetzen, und ein paar Monate später durfte ich in Freiheit nach Hause zurückkehren, um dort in der Landwirtschaft zu helfen. Doch nicht lange nach meiner Rückkehr — im November — erhielt ich den Befehl, mich bei der russischen Armee zu melden. Freimütig gab ich dem Rekrutierungsausschuß Zeugnis. Man erklärte mir, das sowjetische System sei an meinen Glaubensansichten nicht interessiert und jeder müsse in der Armee dienen. Dennoch schaffte ich es, bis zum Ende des Krieges nicht eingezogen zu werden, und ich half mit ganzer Kraft dabei, meine Glaubensbrüder mit biblischen Veröffentlichungen zu versorgen.
Aktivitäten nach dem Krieg
Als der Krieg im Mai 1945 endete und allen, die den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigert hatten, eine Amnestie gewährt wurde, besuchte ich wieder die Schule. Anfang 1946 kam ich jedoch zu dem Schluß, daß es für mich in der Landwirtschaft in Estland keine Zukunft gab, weil die sowjetische Kollektivierung der Landwirtschaft auf den privaten Sektor übergegriffen hatte. So ging ich von der Schule ab und fing an, mich mehr am Königreichspredigtwerk zu beteiligen.
Unter der sowjetischen Regierung konnten wir nicht mehr so frei in den Predigtdienst gehen. Eigentlich war der Kontakt zur Watch Tower Society während des Zweiten Weltkriegs abgerissen. Darum half ich mit, von den Publikationen, die wir noch hatten, mit einer alten Vervielfältigungsmaschine Kopien herzustellen. Wir taten auch unser möglichstes, um die Versammlungszusammenkünfte abzuhalten.
Im August 1948 fing der KGB (das sowjetische Komitee für Staatssicherheit) an, Jehovas Zeugen zu verfolgen. Fünf der Brüder, die die Leitung des Werkes innehatten, wurden verhaftet und ins Gefängnis gebracht, und bald war klar, daß der KGB alle verhaften wollte. Zu viert bildeten wir ein Komitee, das das Predigtwerk organisieren, unsere Glaubensbrüder ermuntern und den Brüdern im Gefängnis beistehen sollte. Da ich immer noch verhältnismäßig viel Bewegungsfreiheit hatte, wurde mir die Aufgabe übertragen, mit anderen Zeugen Verbindung aufzunehmen.
Am 22. September 1948 wurde ein offizielles Protestschreiben verfaßt, das sowjetischen Beamten in Estland zugestellt wurde. Darin wurde unsere Organisation und der Zweck unseres Werkes beschrieben und die Freilassung unserer inhaftierten Glaubensbrüder gefordert. Was war die Reaktion? Weitere Verhaftungen. Am 16. Dezember 1948 schickten wir dem Obersten Gerichtshof der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik ein zweites Protestschreiben, in dem wir die Freisprechung und Freilassung unserer Brüder forderten. Noch heute findet man in den Archiven der Stadt Tallinn Exemplare dieser und anderer Petitionen.
Im Land umherzureisen war gefährlich, weil wir nicht die erforderlichen Papiere bekamen. Doch wir hatten von einem russischen Offizier ein leistungsstarkes Motorrad, eine Vierzylindermaschine, mit Beiwagen gekauft, und damit besuchten wir die Versammlungen in Aravete, Otepää, Tallinn, Tartu und Võru. Wir nannten es liebevoll unseren „Streitwagen“.
Protestbrief an Stalin
Am 1. Juni 1949 wurde eine weitere Petition an die höchste Stelle der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik sowie an Nikolai Schwernik, den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, gesandt. Von diesem Dokument haben wir ein Exemplar in den Archiven in Tallinn wiedergefunden, das den Stempel von Nikolai Schwernik trägt und somit beweist, daß er es erhielt und eine Durchschrift davon an Jossif Stalin, den Regierungschef der Sowjetunion, weiterleitete. Im letzten Teil der Petition heißt es:
„Wir fordern, daß Jehovas Zeugen aus dem Gefängnis freigelassen werden und ihre Verfolgung eingestellt wird. Der Organisation von Jehova Gott, vertreten durch die Watchtower Bible and Tract Society, sollte gestattet werden, allen Einwohnern der Sowjetunion ungehindert die gute Botschaft von Jehovas Königreich zu predigen; ansonsten wird Jehova die Sowjetunion und die kommunistische Partei vollständig vernichten.
Das fordern wir im Namen Jehovas Gottes und des Königs seines Königreichs, Jesus Christus, ebenso im Namen aller inhaftierten Glaubensbrüder.
Unterzeichnet: Jehovas Zeugen in Estland (1. Juni 1949).“
Die Verfolgung wird heftiger
Anfang 1950 erhielten wir von jemand, der aus Deutschland zurückkam, drei Ausgaben des Wachtturms. Damit alle unsere christlichen Glaubensbrüder von dieser geistigen Speise profitieren konnten, wurde beschlossen, am 24. Juli 1950 einen Kongreß abzuhalten, und zwar in der Nähe des Ortes Otepää in der Scheune eines Mannes, der die Bibel studierte. Doch irgendwie bekam der KGB Wind davon und wappnete sich für eine großangelegte Verhaftungsaktion.
Zwei Lkws voll Soldaten wurden am Bahnhof in Palupera stationiert, dem Bahnhof, an dem die Brüder aussteigen sollten. Auf der Strecke zwischen Otepää und Palupera, nicht weit entfernt vom „Kongreßgelände“, lag außerdem ein Soldat mit einem Sender auf der Lauer. Als einige Brüder, die wir früher erwarteten, nicht pünktlich ankamen, vermuteten wir, daß unser Plan aufgeflogen war.
Zusammen mit Ella Kikas, einer Glaubensschwester, raste ich mit dem Motorrad zu dem Bahnhof, der zwei Bahnstationen vor Palupera lag. Der Zug war gerade eingefahren; also stiegen Ella und ich ein — einer vorn, der andere hinten —, und wir rannten durch die Waggons und riefen allen zu, sie sollten aussteigen. Nachdem die Zeugen ausgestiegen waren, änderten wir unsere Pläne und hielten den Kongreß am darauffolgenden Tag in einer anderen Scheune ab. Auf diese Weise machten wir dem KGB, der eine großangelegte Verhaftung geplant hatte, einen Strich durch die Rechnung.
Zwei Monate nach dem Kongreß setzte allerdings dann doch eine Verhaftungswelle ein. Ich und die drei anderen Brüder, die in dem Komitee waren, das das Predigtwerk in Estland beaufsichtigte, wurden am 22. September 1950 zum Verhör geholt. Man hielt uns acht Monate lang im KGB-Gefängnis in der Pagaristraße in Tallinn fest. Danach wurden wir in das reguläre Gefängnis in der Kaldastraße überführt, das man „Bunker“ nannte. Dort blieben wir drei Monate. Verglichen mit dem KGB-Gefängnis, wo man uns in einen Keller gesperrt hatte, glich dieses Gefängnis an der Ostsee einem Ferienplatz.
Ein hartes Leben in Sibirien
Kurz danach wurde ich zusammen mit Harri Ennika, Aleksander Härm, Albert Kose und Leonhard Kriibi zu zehn Jahren Lager verurteilt, und zwar im weit entfernten Norilsk (Sibirien). Dort geht die Sonne im Sommer zwei Monate lang nicht unter, und im Winter ist sie zwei Monate lang nicht zu sehen.
Im August 1951 ging unsere Reise von Tallinn nach Norilsk los. Die erste Etappe legten wir mit dem Zug zurück. Wir fuhren über Pskow, St. Petersburg (ehemals Leningrad), Perm, Jekaterinburg (ehemals Swerdlowsk), Nowosibirsk und Krasnojarsk am Jenissei — insgesamt rund 6 000 Kilometer. Anfang Oktober gingen wir in Krasnojarsk endlich an Bord eines Schleppkahns, der mehr als 1 600 Kilometer in Richtung Norden geschleppt wurde. Zwei Wochen später kamen wir in Dudinka, einer Stadt weit jenseits des nördlichen Polarkreises, an. In Dudinka wurden wir erneut in einen Zug verfrachtet, mit dem wir die 120 Kilometer bis nach Norilsk fuhren. Vom Bahnhof in Norilsk aus legten wir die letzten 16 Kilometer bis zum Arbeitslager außerhalb der Stadt im dicksten Schnee zu Fuß zurück.
Da meine Wintersachen auf dem Schleppkahn gestohlen worden waren, hatte ich nur einen Sommermantel, eine Mütze und leichtes Schuhwerk. Die vielen Wochen, die wir seit unserer Abreise in Tallinn unterwegs gewesen waren, hatten uns entkräftet, und wir hatten nicht einmal unsere magere Tagesration an Essen erhalten. Einige Häftlinge klappten deshalb um. Wir halfen ihnen weiterzugehen, bis man Pferde geholt hatte und wir sie auf Pferdeschlitten legen konnten.
Als wir im Lager ankamen, wurden wir registriert, anschließend in die Sauna gesteckt, und dann erhielten wir unsere Essenration für den Tag. Die Baracken waren geheizt, und ich fiel bald in einen tiefen Schlaf. Mitten in der Nacht wachte ich jedoch mit heftigen Schmerzen auf — ich hatte eine Ohrenentzündung. Am darauffolgenden Morgen wurde ich ärztlich behandelt und von der Arbeit befreit. Aber manche Gefangenenaufseher waren ärgerlich, daß ich nicht arbeiten konnte, und schlugen mich. Ich wurde einen Monat lang in eine Einzelzelle gesperrt, weil ich, wie sie sagten, „den Frieden im Lager stören“ würde. Zum Glück bekam ich von der Krankenstation Medizin, und während der Zeit in Einzelhaft konnte ich mich gesundheitlich ganz gut regenerieren.
Der erste Winter im Lager war am schwersten. Die Arbeit, zumeist im Tagebau in den Nickelminen, war sehr ermüdend, und die wenigen Lebensmittel, die wir erhielten, waren von minderer Qualität. Bei vielen zeigten sich Anzeichen für Skorbut, und wir erhielten Vitamin-C-Spritzen, um die Krankheit einzudämmen. Im Lager stießen wir aber auf viele andere Zeugen aus Moldawien, Polen und der Ukraine, und darüber freuten wir uns.
Veränderungen im Lagerleben
Im Frühjahr 1952 fing man damit an, den Gefangenen einen kleinen Lohn zu zahlen, so daß wir uns zusätzlich zu dem, was wir bekamen, Lebensmittel kaufen konnten. Außerdem erhielten einige Zeugen Lebensmittelpakete mit einem doppelten Boden, in dem biblische Publikationen versteckt waren. Ein Zeuge aus Moldawien erhielt einmal eine Büchse Schweineschmalz. Sowie das Schmalz verbraucht war, kam in der Büchse ein Schweinemagen zum Vorschein. Darin befanden sich drei Ausgaben des Wachtturms.
Nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 änderte sich das Leben im Lager gewaltig. Anfangs gab es Streiks und Aufstände, weil die Gefangenen ihre Freilassung forderten. Um die Aufstände zu unterdrücken, wurden Truppen der Armee ins Lager gesandt. In Norilsk kamen bei einer Revolte 120 Gefangene um; aber da sich die Zeugen nicht an den Aufständen beteiligten, wurde keiner von ihnen verwundet oder getötet. Im Sommer 1953 stellte man die Arbeit in der Nickelmine zwei Wochen lang ein. Danach wurde das Leben im Lager leichter. Einige Gefangene ließ man frei, bei anderen wurde die Zeit der Gefangenschaft verkürzt.
Ein treuer Zeuge
Nach den Unruhen im Lager wurde ich in ein Lager weiter südlich, in der Nähe der Stadt Taischet im Gebiet Irkutsk, gebracht. Dort traf ich Artur Indus wieder, der als erster mit mir die Bibel studiert hatte. Er hatte sich geweigert, im Lager als Arzt zu arbeiten, und es vorgezogen, eine schwere körperliche Arbeit zu tun. Seine Erklärung war: „Ich konnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, gesunde Gefangene, die eine Aufsichtsposition erhalten hatten, krank zu schreiben, während wirklich kranke Gefangene gezwungen wurden zu arbeiten.“
Bruder Indus war damals ziemlich ausgemergelt und krank, denn er hatte nur selten zuvor körperlich schwer arbeiten müssen. Er sagte mir jedoch, er habe das Gefühl, sein Herz sei durch das, was er mitgemacht habe, geläutert worden. Wir waren ungefähr drei Wochen lang zusammen. Dann wurde er ins Lagerkrankenhaus gebracht, wo er im Januar 1954 starb. Irgendwo in den riesigen Weiten des subarktischen Waldes liegt sein namenloses Grab. Er starb als treuer Christ und wartet auf die Auferstehung.
Freilassung und Heimreise
Im Jahr 1956 wurde eine Kommission des Obersten Sowjets in unser Lager geschickt, um die Akten der Gefangenen durchzugehen. Als ich vor die Kommission trat, fragte mich der verantwortliche General: „Was werden Sie nach Ihrer Freilassung tun?“
„Das sehen wir, wenn es soweit ist“, erwiderte ich.
Ich wurde aus dem Zimmer geschickt, und als man mich wieder hereinholte, sagte der General: „Sie sind der schlimmste Feind der Sowjetunion — weil sie ein ideologischer Feind sind.“ Trotzdem meinte er weiter: „Wir werden Sie freilassen, aber wir werden Sie im Auge behalten.“ Ich wurde am 26. Juli 1956 freigelassen.
Ich hielt mich zwei Tage lang in Sujeticha, einem Dorf in der Nähe von Taischet, auf und besuchte dort ukrainische Zeugen, die 1951 dorthin verbannt worden waren. Dann verbrachte ich vier Tage im Bezirk Tomsk; in dieser Gegend befand sich meine Mutter im Exil. Vom Bahnhof aus ging ich 20 Kilometer zu Fuß bis ins Dorf Grigorjewka. Wie ich feststellen mußte, waren die Verhältnisse dort noch schlimmer als die, unter denen viele von uns in den Lagern leben mußten. Meine Schwester Leida war aus einem Lager in Kasachstan freigelassen worden und ein paar Monate zuvor in diese Gegend gekommen, um in der Nähe unserer Mutter zu sein. Da man jedoch ihren Paß einbehalten hatte, war es ihr bis dahin nicht möglich gewesen, nach Estland zurückzukehren.
Unter Druck in Estland
Nach einiger Zeit kam ich zu Hause in Estland an und ging geradewegs zum Bauernhof meiner Eltern. Wie ich bereits gerüchtweise in Sibirien gehört hatte, hatte die Regierung alle uns gehörenden Gebäude zerstört. Ein paar Tage später erkrankte ich an Kinderlähmung. Ich war sehr lange im Krankenhaus und anschließend weiter in Behandlung. Bis heute hinke ich etwas.
Bald danach bekam ich Arbeit bei einer Firma, für die ich im Sommer 1943 gearbeitet hatte, einem Torfstichunternehmen in Lehze. Die Firma stellte mir auch eine Wohnung zur Verfügung, und als Mutter und Leida im Dezember 1956 aus dem Exil zurückkamen, konnten sie bei mir in Lehze wohnen.
Im November 1957 heiratete ich Ella Kikas, die ebenfalls kurz zuvor aus einem Lager in Sibirien zurückgekehrt war. Zwei Monate später zogen wir nach Tartu, wo wir in einem Privathaus eine kleine Wohnung erhielten. Schließlich bekam ich Arbeit als Fahrer bei der Bezirkskonsumgenossenschaft in Tartu.
In Sibirien hatte ich zehn Studienartikel des Wachtturms aus dem Russischen ins Estnische übersetzt; ich hatte sie mit nach Hause gebracht. Später erhielten wir das Buch Vom verlorenen Paradies zum wiedererlangten Paradies, das wir ebenfalls ins Estnische übersetzten. Dann vervielfältigten wir das Buch mit der Schreibmaschine. In der Zwischenzeit standen wir weiter unter Beobachtung des KGB. Da wir seine Spioniermethoden kannten, waren wir immer sehr wachsam und vorsichtig wie Tiere, die gejagt wurden.
Zielscheibe des KGB
Anfang der 60er Jahre setzte der KGB eine Hetzkampagne gegen die Zeugen in Gang. Meine Frau und ich waren ihre Hauptzielscheibe. In den Zeitungen erschienen Hetzartikel; im Rundfunk und im Fernsehen wurde über uns geschimpft. Zweimal beraumte der KGB an meinem Arbeitsplatz eine öffentliche Sitzung an. Außerdem führten Schauspieler am Estnischen Theater in Tallinn eine satirische Komödie über mich auf. All das erinnerte mich an die Worte Davids: „Die im Tor Sitzenden begannen sich mit mir zu befassen, und ich wurde das Thema der Lieder derer, die berauschende Getränke trinken“ (Psalm 69:12).
Die Bemühungen, uns in den Augen anderer schlechtzumachen, gingen bis 1965 weiter; in jenem Jahr fand in Tartu im Amt für die Öffentliche Gesundheit der Arbeiter die letzte Veranstaltung dieser Art statt. In dem vollbesetzten Saal saßen auch Agenten des KGB sowie Ella und ich. Jedesmal, wenn Ella verhört wurde, reagierten die Zuhörer mit Applaus. Es war offensichtlich, daß die Zuhörerschaft auf unserer Seite war — sehr zur Enttäuschung und zum Ärger der KGB-Agenten.
Geistiger Hunger gestillt
Obwohl die Kommunisten die Verbreitung unserer Publikationen zu verhindern suchten, konnten wir unsere Glaubensbrüder von 1965 an relativ gut damit versorgen. Das Übersetzen und Drucken im Untergrund an geheimen Orten kostete jedoch viel Zeit und Kraft. Über meine Untergrundarbeit und meine Methode, Literatur zu transportieren, sagte ein KGB-Agent einmal zu mir: „Toom, du bist wie ein Koffer mit doppeltem Boden.“
Unsere Zusammenkünfte fanden natürlich geheim und in kleinen Gruppen statt. Und unser Predigtwerk führten wir informell durch. Unsere Brüder mußten jederzeit darauf gefaßt sein, daß ihre Wohnung durchsucht würde. Daher war es notwendig, die Veröffentlichungen der Watch Tower Society sorgfältig zu verstecken. Doch sogar unter diesen Bedingungen wurden viele Menschen gefunden, die die biblische Wahrheit liebten und sich auf die Seite des Königreichs stellten.
Als der sowjetische Regierungschef Michail Gorbatschow in den 80er Jahren Reformen einleitete, erhielten wir, was unsere Religionsausübung angeht, mehr Freiheit. Im Jahr 1991 zerfiel die Sowjetunion schließlich, und Jehovas Zeugen wurden gesetzlich anerkannt. Jetzt gibt es in Tartu vier Versammlungen, und vor kurzem wurde unser eigener Königreichssaalkomplex fertiggestellt. Heute gibt es mehr als 3 800 Zeugen, die sich in Estland am Predigtwerk beteiligen. Als ich vor gut einem halben Jahrhundert anfing zu predigen, waren es im Vergleich dazu vielleicht 40 oder 50.
Ein befriedigendes Leben als Christ
Niemals habe ich an der Richtigkeit meiner Entscheidung, Jehova zu dienen und mich auf seine Seite zu stellen, gezweifelt. Rückblickend empfinde ich tiefe Befriedigung, und ich freue mich zu sehen, daß Jehovas Organisation mit energischen Schritten voranschreitet und es immer mehr Menschen gibt, die Jehova dienen möchten.
Ich bin Jehova sehr dankbar, daß meine Frau und ich in den vielen Jahren von seiner Liebe getragen wurden und seinen Schutz verspürten. Im Sinn zu behalten, daß Jehovas gerechtes System vor der Tür steht, hat uns Kraft verliehen. Wenn wir an die großartige Mehrung denken, an all die Menschen, die Jehova anbeten, sind wir überzeugt, daß wir nicht umsonst gelitten haben (Hebräer 6:10; 2. Petrus 3:11, 12).
[Karte auf Seite 12, 13]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Eine Karte, auf der die zwei Monate lange Reise von Tallinn in das berüchtigte Lager in Norilsk eingezeichnet ist
Tallinn
Pskow
St. Petersburg
Perm
Jekaterinburg
Nowosibirsk
Krasnojarsk
Dudinka
Norilsk
NÖRDLICHER POLARKREIS
[Bildnachweis]
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[Bild auf Seite 14]
Artur Indus, ein treuer christlicher Märtyrer
[Bild auf Seite 14]
Häftlinge in Sibirien (1956); ich bin der vierte von links in der hinteren Reihe
[Bild auf Seite 15]
Meine Frau und ich vor der ehemaligen Zentrale des KGB, wo wir oft verhört wurden