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Das Problem des inneren GleichgewichtsErwachet! 1975 | 8. Oktober
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Das Problem des inneren Gleichgewichts
AM FRÜHEN Morgen des 7. August 1974 erlebten die New Yorker in Lower Manhattan eine Überraschung: Als sie zu den Zwillingstürmen des Welthandelszentrums aufblickten, sahen sie in einer Höhe von 412 m auf einem zwischen den beiden Türmen gespannten Drahtseil einen Artisten balancieren und dabei akrobatische Kunststücke ausführen. Was war die Voraussetzung für diese Balanceakte? Die Fähigkeit, das Körpergleichgewicht zu bewahren.
Heute wird es immer schwieriger, ein anderes Gleichgewicht zu bewahren. So, wie jener Akrobat durch einen starken Windstoß sein Gleichgewicht hätte verlieren können, so verlieren immer mehr Menschen durch Ereignisse, die in ihrem Leben eintreten, das innere oder seelische Gleichgewicht.
Die auslösenden Faktoren
Peter Sainsbury (Chichester, England), Professor der Psychiatrie, weist mit folgenden Worten auf einen Faktor hin, der in vielen Fällen eine Geisteskrankheit auszulösen vermag. Er schreibt, daß es zu einer geistigen Erkrankung komme, wenn „die sozialen Belastungen nicht mehr bewältigt werden“ könnten.
Sainsbury erklärt, daß in vielen Fällen dem Ausbruch einer Geisteskrankheit wie Depression und Schizophrenie Streßperioden — zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder erzwungene Trennung — unmittelbar vorausgingen. Aus einem anderen Bericht geht hervor, daß Krankheit in der Familie zu psychischen Störungen führen kann. So benötigten mehr als 50 Prozent der Familien, in denen ein Kind an Leukämie starb, psychiatrische Behandlung.
Ein weiterer Faktor, der eine Geisteskrankheit auslösen kann, ist der Streß, im Rampenlicht der Öffentlichkeit leben zu müssen. So erlitt einer der ersten Astronauten, die den Mond betraten, kurz nach seinem Mondflug einen „Nervenzusammenbruch“. Nach seiner Genesung wurde er zum Präsidenten des US-Instituts für Psychohygiene gemacht. Aber er war auch dem Streß dieses Amtes nicht gewachsen. Als er im Mai 1974 eine Rede halten sollte, mußte er sie absagen, weil er erneut unter Depressionen litt.
Vor einiger Zeit machte die Frau eines Ministerpräsidenten aus einem ähnlichen Grund von sich reden. Sie habe sich in psychiatrische Behandlung begeben müssen, sagte sie, weil sie auf den Pomp und die Publizität, die mit einem so hohen Amt verbunden seien, schlecht vorbereitet gewesen sei. Dann bekannte sie: „Ich sehne mich nach dem Tag, an dem mein Mann nicht mehr Ministerpräsident sein wird.“
Auch das Kriegselend gehört zu den Faktoren, die psychische Störungen auslösen. Eine Schlagzeile, die in der New York Times vom 22. Januar 1975 erschien, lautete: „Verschleierte psychische Schäden — schwerer Tribut des langjährigen Krieges in Vietnam“. In Vietnam ist die Zahl der Mütter, die unter Depressionen leiden, enorm gestiegen, ebenso die Zahl ihrer minderjährigen Söhne, die an Schizophrenie leiden. Diese Geisteskrankheit findet ihren Niederschlag in einer erschreckend hohen Selbstmordrate und einer starken Zunahme an Gewaltverbrechen. Unter den Vietnamesen, die von klein auf dazu erzogen werden, aggressive Impulse im Umgang mit andern zu unterdrücken, sind diese Verbrechen bisher selten gewesen.
Der Umfang des Problems
Die Zahl der Kranken, die an irgendeiner der verschiedenen Geisteskrankheiten leiden, ist überall erschreckend hoch. In der Bundesrepublik sollen gegenwärtig rund sechs Millionen psychisch gestörte Menschen leben, und wie das US-Institut für Psychohygiene meldet, leidet wenigstens jeder zehnte Amerikaner an psychischen oder emotionellen Störungen. In jenem Land werden etwa eine halbe Million Patienten in psychiatrischen Kliniken betreut. Außerdem gibt es dort weitere zehn Millionen, die an einer Geisteskrankheit leiden, und jedes Jahr werden 250 000 neue Patienten in psychiatrische Kliniken eingewiesen.
Ungeheuer hoch sind auch die Kosten, die die psychiatrische Krankenversorgung verursacht. In den USA werden dafür jährlich rund 20 000 000 000 Dollar ausgegeben. Ein düsteres Bild ergibt außerdem die Selbstmordstatistik. In der Bundesrepublik nehmen sich jährlich über 22 000 Menschen das Leben. Auch in anderen europäischen Ländern ist die Zahl der Selbstmorde sehr hoch. In vielen Fällen ist eine Geisteskrankheit die Ursache. Dasselbe gilt für die Selbstmordversuche, deren Zahl um das Zehnfache höher ist als die der Selbstmorde.
Die Nationale Vereinigung für Psychohygiene in England berichtet, daß psychische Störungen die wichtigste Einzelursache für lange Arbeitsunfähigkeit seien; wegen solcher Störungen gingen der Wirtschaft jedes Jahr rund 32 Millionen Arbeitstage verloren. Die Vereinigung kritisiert auch, daß für psychisch Kranke nur ein Fünftel des Betrages aufgewendet werde, der für die Versorgung von körperlich Kranken ausgegeben werde, obschon die Hälfte aller Klinikbetten von psychisch Kranken belegt sei.
Bist du schon einmal so großen Belastungen ausgesetzt gewesen, daß du sie nicht mehr zu tragen vermochtest? Oder ist das einem deiner Angehörigen jemals widerfahren? Hast du schon einmal einen „Nervenzusammenbruch“ erlitten, oder hat sich bei dir schon je eine Geisteskrankheit bemerkbar gemacht? Wenn ja, dann weißt du, daß alles das sehr qualvoll sein kann, sowohl für den Patienten als auch für seine Angehörigen.
Welche Formen der Geisteskrankheit gibt es?
[Bild auf Seite 3]
HOHE PREISE
PROBLEME MIT DEN KINDERN
ZU VIEL ZU TUN
ANGST VOR VERBRECHEN
KRANKHEIT
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Die verschiedenen Formen der GeisteskrankheitErwachet! 1975 | 8. Oktober
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Die verschiedenen Formen der Geisteskrankheit
ES GIBT viele verschiedene Formen der Geisteskrankheit. Man könnte sie mit einem Schauspieler vergleichen, der verschiedene Kostüme trägt oder sich verkleidet, je nach der Rolle, die er verkörpert.
Über diese Leidenszustände tappt man noch so sehr im dunkeln, daß bekannte Psychiater sogar behaupten, es gebe keine Geistes„krankheit“. Nach ihrer Meinung handelt es sich jeweils lediglich um ein abnormes Verhalten. Aber es ist nachgewiesen, daß jemand vorübergehend geisteskrank werden kann, wenn man ihm Blut eines Schizophrenen einspritzt. Das sowie die Tatsache, daß dieses Leiden erblich ist, widerlegt die Behauptung, es gebe keine Geisteskrankheit.
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