Papst Pius XII. und die Nationalsozialisten — Neue Gesichtspunkte
WAR es richtig, daß er schwieg? Die Kontroverse über das Schweigen Pius’ XII. zu den Grausamkeiten der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges hält nun schon drei Jahrzehnte an. Kritiker sagen, Millionen von Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn der Papst gegen die Nationalsozialisten protestiert hätte. Aber der gegenwärtige Papst, Paul VI., behauptet: „Protest und Verdammung wären nicht nur nutzlos gewesen, sondern hätten sogar schädliche Folgen gehabt.“
Doch warum die Sache wieder zur Sprache bringen? Rührt man damit nicht eine tote Streitfrage auf? Nein. Der Vatikan selbst hält sie lebendig. Er hat sogar seine Politik aufgegeben, Dokumente aus seinen Archiven erst mit fünfzigjähriger Verzögerung für die Öffentlichkeit freizugeben. Man erkennt, daß, wenn die Menschen die Handlungsweise der Kirche nicht richtig verstehen, Kritiker ein machtvolles Argument für den sittlichen Verfall der Kirche in der Hand haben.
Viele aufrichtige Katholiken möchten eine Antwort erhalten. Sie wissen, daß sogar Papst Paul VI. damals als enger Mitarbeiter Pius’ XII. in diese Sache verwickelt war. Und so veröffentlicht ein aus Jesuiten gebildetes Komitee seit 1965 ausgewählte Dokumente aus den Archiven des Vatikans. Das letzte, betitelt „Der Heilige Stuhl und die Kriegsopfer“, ist im April 1974 herausgekommen. Vermittelt es irgendwelche neuen Gesichtspunkte?
Die eigentliche Streitfrage
Presseberichte befassen sich besonders mit den dokumentierten Beweisen dafür, daß der Vatikan schon sehr früh viele Informationen über die Grausamkeiten der Nationalsozialisten erhalten hat. Doch viel bedeutsamer ist ein anderes, wenig beachtetes Dokument. Es zeigt, daß einer der Vertrauten Pius’ XII. eine Frage aufwarf, die viel tiefer geht als die Frage, warum der Papst nicht öffentlich gegen die Nationalsozialisten gesprochen hat. „Monsignore“ Domenico Tardini (später Kardinal) soll erbittert gefragt haben:
„Daß der Heilige Stuhl Hitler nicht veranlassen kann, sich zu benehmen, versteht jeder. Aber wer kann verstehen, daß er nicht einmal einen Priester im Zaum halten kann?“
Leere Debatten darüber, wieviel Gutes ein Einschreiten Pius’ XII. bewirkt hätte, hat diese weit entscheidendere Streitfrage in den Hintergrund gedrängt. Ehrliche Christen stehen vor der Frage: Wie hätten die Nationalsozialisten ihre Grausamkeiten begehen können, wenn sie nicht die Unterstützung des Volkes und seiner geistlichen Führer gehabt hätten? Fünfundneunzig Prozent aller Deutschen waren damals entweder katholisch oder evangelisch. Fast 32 Millionen Deutsche, über 40 Prozent, waren Katholiken; auch fast die gesamte Bevölkerung der europäischen Verbündeten Deutschlands — ganz Österreich und Italien — war katholisch. Sogar die gefürchtete SS bestand noch im Jahre 1939 zu fast einem Viertel aus Katholiken, obwohl die SS-Führung darauf drängte, aus der Kirche auszutreten1.
Pius XII. selbst brachte das eigentliche Problem zur Sprache, und zwar in einem vor kurzem veröffentlichten Privatbrief an den Priester, der Anlaß zu „Msgr.“ Tardinis Verbitterung gegeben hatte. Der Priester Josef Tisoa herrschte während des Krieges (1939—1945) als Staatspräsident über die Slowakei, damals ein Protektorat des Deutschen Reiches. Pius schrieb „Monsignore“ Tiso, er habe gehofft, Regierung und Volk der Slowakei, „fast gänzlich aus Katholiken bestehend, würden niemals mit der gewaltsamen Beseitigung von Personen beginnen, die der jüdischen Rasse angehören“, und er sei über die Tatsache, daß „solche Maßnahmen unter einem Volk mit großer katholischer Tradition und von einer Regierung, die sich als deren Befolger und Bewahrer bezeichnet, ergriffen werden“, tief enttäuscht (7. April 1943)2.
Doch wie konnte ein Volk, von dem der Papst selbst sagte, es bestehe fast gänzlich aus Katholiken und habe eine große katholische Tradition, irgendeine Form der Zusammenarbeit mit dem Programm der Nationalsozialisten zur Ausrottung der jüdischen Rasse auch nur erwägen? Man sollte annehmen, daß es aufgrund der Sittenlehre der Kirche für „Msgr.“ Tiso und seine Herde undenkbar gewesen sei, irgendeinen Anteil am Völkermord zu haben. Die Geschichte läßt erkennen, ob das der Fall war. Ehrlichgesinnte Kirchenmitglieder möchten gewiß eine Erklärung für ein solches Verhalten haben sowie für das Verhalten der anderen sogenannt christlichen Nationen, die sich mit den Nationalsozialisten verbündet hatten.
Einen der Gründe nannte Kurienkardinal Eugène Tisserantb gegenüber einem Freund mit einer Aufrichtigkeit und Offenheit, wie sie nur in einem privaten Briefc möglich ist. Nach dem Fall Frankreichs im Jahre 1940 schrieb er bedauernd an Kardinal Suhard von Paris: „Aber die Ideologie der Faschisten und die Hitlers haben das Gewissen der Jungen umgewandelt, und diejenigen, die unter fünfunddreißig sind, sind bereit, auf Befehl ihres Führers jedes Verbrechen für irgendeinen Zweck zu begehen.“ Doch wie war es möglich, daß das von der Kirche geschulte Gewissen dieser Menschen so leicht „umgewandelt“ werden konnte? Schließlich hatte Hitler sie nur sieben Jahre lang bearbeitet, während die Kirche ihre Herde schon über tausend Jahre lang geschult hatte!
„Das Wesentliche des Christentums“
Gewiß hätte Papst Pius etwas dagegen tun können, daß die Nationalsozialisten in dieses traditionell kirchliche Gebiet eindrangen: das menschliche Gewissen. Aber Kardinal Tisserant klagt:
„Seit Anfang Dezember [1939] fordere ich den Heiligen Vater eindringlich auf, eine Enzyklika herauszugeben, in der die Pflicht des einzelnen, dem Gebot des Gewissens zu folgen, dargelegt wird, denn das ist das Wesentliche des Christentums“ (Kursivschrift von uns).
Doch die Geschichte zeigt, daß der Papst während des Krieges keine Erklärung über das „Wesentliche des Christentums“ abgegeben hat. Ja, Tisserant machte folgende melancholische Vorhersage: „Ich fürchte, die Geschichte wird eines Tages dem Heiligen Stuhl vorzuwerfen haben, er habe eine Politik getrieben, die nur den eigenen Vorteilen diente, und sonst nichts Großes geleistet. Das ist äußerst traurig.“3
Zweifellos trug die „Politik“ des Papstes, im Umgang mit den Nationalsozialisten diplomatische Vorsicht walten zu lassen, dazu bei, daß der Vatikan und die Kirche den „Vorteil“ hatten zu überleben. Pius selbst machte die deutschen Bischöfe darauf aufmerksam, daß die „Gefahr von Repressalien und Druckmaßnahmen“ oder Schlimmerem „Zurückhaltung“ in den Äußerungen gebiete, damit noch schlimmeres Unheil vermieden werde. Das sei auch einer der Beweggründe, weshalb er sich in seinen eigenen Erklärungen Einschränkungen auferlege, schrieb er (30. April 1943)4.
Diese Erklärung hilft uns verstehen, warum sich Pius so vorsichtig verhielt. Aber eines bleibt dabei ungeklärt: Warum waren Priester und auch Gemeindemitglieder bereit, sich die nationalsozialistischen Grausamkeiten mit anzusehen, sie zu unterstützen oder gar selbst zu begehen — und das fast ohne Ausnahme? Was war mit ihrem Gewissen geschehen?
Kirche und Gewissen
Die Ursache muß in der Schulung gelegen haben, die das Gewissen dieser Menschen erhalten hatte. Wie sollte beispielsweise ein loyaler Katholik den Hirtenbrief verstehen, den Pius XII. am 8. Dezember 1939 unter dem Titel Asperis Commoti Anxietatibus an die Feldgeistlichen der verschiedenen Armeen der kriegführenden Nationen geschickt hatte? (Über 500 Feldgeistliche dienten in Hitlers Armeen.) Der Papst forderte die Feldgeistlichen auf beiden Seiten auf, ihren jeweiligen Armeebischöfen zu vertrauen und den Krieg als eine Offenbarung des Willens eines himmlischen Vaters anzusehen, der das Böse immer zum Guten wende, und „als Kämpfer unter der Fahne ihres eigenen Landes auch für die Kirche zu kämpfen“5 (Kursivschrift von uns).
Dieser verwirrende Widerspruch ist auch in den Briefen des Papstes an die Bischöfe beider Seiten zu finden. In einem vom 6. August 1940 datierten Brief an die deutschen Bischöfe brachte Pius seine Bewunderung für die Katholiken zum Ausdruck, die „in Hingabe und Treue bis zum Tode ihre Opfer- und Leidensgemeinschaft mit den übrigen Volksgenossen unter Beweis stellen“6. Doch nur neun Monate zuvor hatte der Papst eine ähnliche Botschaft an die französischen Bischöfe gerichtet und ihnen mitgeteilt, sie hätten das Recht, alle Maßnahmen zu unterstützen, die dazu dienten, ihr Vaterland gegen eben diese treuen deutschen Katholiken zu verteidigen7. Italienische Metropoliten erhielten den gleichen Rat, kurz bevor Italien in den Krieg eintrat8.
Wenn also der Papst, das Oberhaupt der Kirche, tatsächlich einmal über Gewissensangelegenheiten sprach, lobte er, wie es fast alle Geistlichen taten, die Gewissensentscheidung derer, die „treu“ in der Armee ihres Landes dienten. Ja, als der Berliner Korrespondent des Osservatore Romano, der halbamtlichen Zeitung des Vatikans, Pius XII. einmal fragte, ob man nicht gegen die Judenvernichtung protestieren müsse, antwortete ihm der Papst: „Lieber Freund, vergessen Sie nicht, daß in den deutscher Heeren Millionen Katholiken sind. Soll ich sie in Gewissenskonflikte bringen?“9
Trugen die evangelischen Geistlichen weniger Verantwortung? Nun, beachte, was der Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche am 30. Juni 1941 an Hitler telegrafierte:
„Der allmächtige Gott wolle Ihnen und unserem Volk beistehen, daß wir gegen den doppelten Feind [England und Rußland] den Sieg gewinnen, dem all unser Wollen und Handeln gelten muß. Die Deutsche Evangelische Kirche ... ist mit allen ihren Gebeten bei Ihnen und bei unseren unvergleichlichen Soldaten, die nun mit so gewaltigen Schlägen darangehen den Pestherd zu beseitigen.“10
Was konnten die Herden bei dieser Anleitung durch ihre „Hirten“ tun? Was sie tatsächlich taten, spricht für sich selbst.
Hatte Hitler damals, im Jahre 1933, mit seiner geringschätzigen Einstellung gegenüber den Kirchen recht? Er behauptete höhnisch: „Die Pfaffen ... werden ihren lieben Gott an uns verraten. Um ihr erbärmliches Gelumpe von Stellung und Einkommen werden sie alles preisgeben. ... Zu was brauchen wir uns streiten. Sie werden alles schlucken, um ihre materiellen Positionen halten zu können.“11 (Während des ganzen Krieges erhielten die großen Kirchen staatliche Zuschüsse von der Hitlerregierung12.)
Um zu erkennen, ob Hitler mit seiner Meinung über die Kirchen wirklich recht hatte, braucht man sich nur zu fragen: „Was hätten mir meine geistlichen Führer geraten und was hätte ich getan, wenn ich in dieser Zeit in Deutschland, Österreich oder Italien ein aufrichtiges Kirchenmitglied gewesen wäre?“ Nehmen wir an, du sagst: „Ich hätte Hitler nicht gedient.“ Was hättest du dann zu erwarten gehabt — nicht von den Nationalsozialisten, sondern von deinen eigenen geistlichen Führern?
Kirche mit Gewissensentscheidungen konfrontiert
Der katholische Gelehrte und Erzieher Gordon Zahn konnte bei seinen gründlichen Nachforschungen nur den Fall eines einzigen Katholiken unter 32 Millionen deutschen Katholiken finden, der sich aus Gewissensgründen geweigert hatte, in Hitlers Heeren zu dienen. Abgesehen von den Geistlichen, die wegen ihrer politischen Opposition gegen die Nationalsozialisten verfolgt wurden, fand er in Deutschland und im katholischen Österreich insgesamt nur sieben Personen, die sich aus Gewissensgründen geweigert hatten, den militärischen Eid abzulegen13. Sicher wunderst du dich, warum es nur so wenige waren.
Zahn kommt nach umfassenden Gesprächen mit Personen, die diese Männer kannten, zu folgendem Schluß: „Der deutsche Katholik unterstützte Hitlers Kriege ..., weil seine geistlichen Führer ihn formell dazu aufforderten.“ Wer den Kriegsdienst verweigerte, konnte „mit keinem klaren Ausdruck eindeutiger Unterstützung seitens eines anerkannten Leiters seiner Kirche rechnen“. Ironischerweise waren die wenigen, die den Kriegsdienst verweigerten und standhaft blieben, für ihre „geistlichen Führer“ tatsächlich ein Grund zur Verlegenheit.
Zum Beispiel reichte Erzbischof Konrad Gröber von Freiburg bei einem nationalsozialistischen Gericht ein Gnadengesuch für einen Priester ein, der sich gegen den Krieg ausgesprochen hatte, und er schrieb über diesen Priester, er sei ein „Idealist, dem die Wirklichkeit immer fremder geworden ist“. Er habe seinem Volk und Vaterland helfen wollen, aber sei von falschen Voraussetzungen ausgegangen14. Anderen wurde von Gefängnisgeistlichen als Strafe für ihre Weigerung, ihre „Christenpflicht“ zu erfüllen und den militärischen Eid abzulegen, die Kommunion verweigert15.
Der dokumentierte Fall des österreichischen Bauern Franz Jägerstätter veranschaulicht, was ein Kirchenmitglied von seinen geistlichen Führern tatsächlich erwarten konnte. Jägerstätter wurde schließlich wegen seines Standpunktes in Linz (Österreich) inhaftiert und später enthauptet. Der katholische Gefängnisgeistliche schrieb dazu: „Ich suchte ihm klarzumachen, daß er bei aller Hochachtung seines persönlichen ideellen Prinzips sein und seiner Familie Wohl im Auge behalten müsse.“ (Das gleiche Argument hatte schon der Dorfpriester Jägerstätters lange vor dessen Verhaftung gebraucht.) „Bei meinem letzten Besuch schien er dies eingesehen zu haben“, berichtet der Geistliche, „und versprach, gemäß meinen Vorstellungen zu handeln und den [militärischen] Eid zu leisten.“16
Kam dieser Rat von einem Nationalsozialisten? Nein, er kam von einem Priester, der noch lange nach dem Krieg in gutem Ansehen stand! Aber das war nicht der einzige Druck, der von geistlichen Führern ausgeübt wurde. Bischof Fließer von der Diözese Linz schrieb, er „kenne Jägerstätter persönlich“ und er habe ihm umsonst klargemacht, daß er nicht für die „Taten der Obrigkeit“ verantwortlich sei. Weiter schrieb der Bischof: „Darum ist Jägerstätter ein ganz besonderer Fall, der mehr zu bewundern als nachzuahmen ... ist.“ Bischof Fließer schrieb nach dem Krieg einem Priester, warum er sich geweigert habe, die Veröffentlichung der Geschichte Jägerstätters im Kirchenblatt der Linzer Diözese zu erlauben. Die Geschichte könne „Verwirrung und unruhige Gewissen ... schaffen“, sagte er.
Demgemäß betrachtete Bischof Fließer den Fall eines Mannes, der seinem Gewissen folgte, als einen „ganz besonderen Fall“, der nicht nachzuahmen sei. „Ich halte jene idealen katholischen Jungen und Theologen und Priester und Väter für die größeren Helden, die in heroischer Pflichterfüllung und in der tiefgläubigen Auffassung, den Willen Gottes auf ihrem Platz zu erfüllen, ... gekämpft haben und gefallen sind“, fuhr er fort. Sogar der vom Gericht eingesetzte Anwalt Feldmann gebrauchte dieses Argument, um Jägerstätter zu einem Kompromiß zu bewegen, indem er erwähnte, daß Millionen Katholiken, darunter Geistliche, mit „reinem“ Gewissen am Krieg teilnähmen. Feldmann erinnert sich, daß er Jägerstätter schließlich aufgefordert habe, auch nur einen einzigen Fall anzuführen, in dem ein Bischof die Katholiken aufgerufen habe, den Krieg nicht zu unterstützen oder den Militärdienst zu verweigern17. Er wußte keinen. Weißt du einen?
Bischof Fließer nahm dann wieder auf den abgelehnten Artikel Bezug, der betitelt war: „Heldenhafte Konsequenz“, und schrieb vorwurfsvoll: „Oder sind die Bibelforscher [Jehovas Zeugen] und Adventisten, die ,konsequent‘ lieber im KZ starben als zur Waffe griffen, die größten Helden?“ Er war der Ansicht, sie hätten sich von einem „irrigen Gewissen“ leiten lassen, und schrieb dann weiter: „Für die Pädagogik an den Menschen sind die Beispiele der Helden, die aus eindeutig richtigem Gewissen konsequent gehandelt haben, die besseren Vorbilder.“18
Somit betrachtete selbst nach dem Krieg ein österreichischer Bischof das Gewissen derjenigen Kirchenmitglieder als „eindeutig richtig“, die sich in die nationalsozialistischen Armeen treiben ließen, um ihre Glaubensbrüder aus anderen Ländern hinzuschlachten. Diejenigen, die eher bereit waren, in einem Konzentrationslager zu sterben, als den Nationalsozialisten zu dienen, waren, wie der Bischof andeutete, irrende Feiglinge. Wie denkst du darüber?
Die Kirche unterstützte Bischof Fließers Ansicht über die christlichen Bibelforscher unter der Hitlerregierung mit Taten. In dem Oberhirtlichen Verordnungsblatt für die Diözese Passau, vom 6. Mai 1933 wird berichtet, daß die Kirche den Auftrag der Nationalsozialisten angenommen hatte, alle bayerischen Zeugen Jehovas zu melden, die immer noch ihren Glauben ausübten, nachdem sie im vorangegangenen Monat verboten worden waren19.
Bedeutsamerweise hatte der Standpunkt, den diese Christen mutig vertraten, einen gewissen Einfluß auf den Katholiken Franz Jägerstätter. Gordon Zahn berichtet, Jägerstätters Dorfpfarrer habe sich noch gut erinnern können, daß „Franz oft voller Bewunderung von ihrer Treue und Standhaftigkeit gesprochen hatte“, und Dorfbewohner, die ihn gekannt hatten, betonten immer wieder, er und sein Bibelforscher-Vetter, der einzige Nichtkatholik im Dorf, hätten „stundenlang über religiöse Fragen diskutiert und gemeinsam die Bibel gelesen“20.
Sogar die Diffamierung der Juden durch die Nationalsozialisten hielt die Zeugen nicht von ihrer Gewissenspflicht ab, jedem christliche Güte und Freundlichkeit zu erweisen. Der frühere Herausgeber des Danziger Informators, J. Kirschbaum, schrieb in der jiddischen New Yorker Tageszeitung Der Tog vom 2. Juli 1939, Jehovas Zeugen hätten in Danzig, „als alle möglichen Lebensmittelgeschäfte wie eine Epidemie das bekannte Schild ,Juden unerwünscht‘ aushängten, ihre jüdischen Nachbarn oder Bekannten mit Lebensmitteln oder Milch versorgt, ohne einen Lohn dafür zu verlangen“.
Dieser jüdische Autor bewunderte auch die Kinder der deutschen Zeugen, die sich im Gegensatz zu ihren katholischen und evangelischen Klassenkameraden aus Gewissensgründen „weigerten, das Hakenkreuz zu grüßen und ,Heil Hitler!‘ zu sagen; alle Drohungen gegen die Kinder ... sind umsonst. Die Kinder erklären klar und deutlich, daß nur Gott ,Heil‘ zugeschrieben werden kann und nicht Menschen, denn das wäre eine Gotteslästerung.“
Warum der Gegensatz?
Angesichts dieser geschichtlichen Tatsachen müssen sich denkende Christen fragen: Warum konnte eine Organisation mit all den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und nachdem sie über tausend Jahre Zeit gehabt hatte, das Gewissen ihrer Gläubigen zu schulen, nur einen einzigen deutschen Katholiken unter 32 Millionen (0,000003 Prozent) hervorbringen, dessen Gewissen es ihm nicht gestattete, für die Nationalsozialisten zu kämpfen? Doch von den 19 000 deutschen Zeugen Jehovas, die es im Jahre 1933 gab, „litt ein höherer Prozentsatz (97 Prozent) unter irgendeiner Form von Verfolgung als von irgendeiner der anderen Kirchen“, wie der Historiker J. S. Conway berichtete. Sie standen als erste auf der „Liste der seit 1933 verbotenen Sekten“, die das Gestapo-Hauptquartier am 7. Juni 1939 in Umlauf setzte (The Nazi Persecution of the Churches 1933-45, S. 196, 370).
Warum wurden Jehovas Zeugen so sehr verfolgt? Im Gegensatz zu einigen Geistlichen, die wegen antinationalsozialistischer politischer Betätigung verfolgt wurden, war ihr Widerstand, wie Conway berichtete, „hauptsächlich gegen jede Form der Zusammenarbeit mit den Nazis und gegen den Kriegsdienst gerichtet. Sie stützten ihren Standpunkt auf das Gebot der Bibel und weigerten sich sogar, gegen die Feinde der Nation die Waffen zu erheben. ... somit standen sie praktisch alle unter dem Todesurteil“ (S. 198; Kursivschrift von uns). Die Nationalsozialisten richteten tatsächlich 203 der 253 zum Tode verurteilten Zeugen hin, 635 Zeugen starben in der Haft, und 6 019 wurden zu insgesamt 13 924 Jahren Gefängnis verurteilt.
Aber standen nicht die Katholiken und Protestanten, die Hitler dienten, unter dem gleichen „Gebot der Bibel“? Doch, aber mit ihnen verhielt es sich ähnlich wie mit den geistlichen Führern in Jesu Tagen, die auch Gottes Gesetz kannten. Jesus wunderte sich damals: „Sehr geschickt setzt ihr Gottes Gebot außer Kraft und haltet euch an eure Überlieferung“ (Mark. 7:9, katholische Einheitsübersetzung).
Du kannst selbst beobachten, wie „geschickt“ die heutigen religiösen Führer „Gottes Gebot außer Kraft“ setzen, wenn du die New Catholic Encyclopedia unter dem Stichwort „Pazifismus“ aufschlägst. Dort wird unter anderem versichert: „Auch besteht kein wirklicher Widerspruch zwischen einem gerechten Krieg und dem Gebot Christi, daß wir unsere Feinde lieben sollten. Ein gerechter Krieg bringt eher den Haß gegen eine böse Tat zum Ausdruck als gegen den Übeltäter. ... Katholiken steht es gewiß frei, sich ihre eigene Meinung darüber zu bilden, ob die Bedingungen, die zu einer Rechtfertigung notwendig sind, in einem zukünftigen Krieg erfüllt werden ...“ (Ausg. 1967, Bd. 10, S. 856).
Wie wirkt sich diese „geschickte“ Argumentation in der Praxis aus? Nun, wie viele Kriege, an denen katholische oder protestantische Völker beteiligt waren, sind dir aus der Geschichte bekannt, die die „Bedingungen, die zu einer Rechtfertigung notwendig sind“, nicht erfüllten, so daß sich die Herde geweigert hätte, für ihre politischen Herren zu kämpfen? Glaubst du wirklich, die Kirchen würden sich anders verhalten, wenn sie sich heute unter den gleichen Umständen befänden wie damals unter den Nationalsozialisten? Können sich zum Beispiel europäische und amerikanische Katholiken sicher fühlen in dem Glauben, daß die Millionen polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen Katholiken ihre Glaubensbrüder im Fall einer Ost-West-Konfrontation nicht angreifen würden? Oder ist die Ansicht realistischer, die in der katholischen Zeitschrift St. Anthony Messenger zum Ausdruck gebracht wurde, nämlich daß Priester und Pastoren „oft den Eindruck erwecken, daß sie jeden Krieg und jedes Unterfangen segnen werden, das die Staatsführer in Gang setzen“? (Mai 1973, S. 21).
Christus Jesus dagegen, als dessen Jünger sich die Geistlichen bezeichnen, stellte folgende Regel für christliche Jünger auf: „Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe habt zueinander.“ Auch sagte er einem Jünger, der ihn mit Hilfe von Gewaltanwendung verteidigen wollte — und zwar bestimmt zu einem „gerechten“ Zweck: „Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Joh. 13:35; Matth. 26:52, Einheitsübersetzung). Wenn man dich bitten würde, die zu nennen, die den Namen „Christen“ heute wirklich zu Recht tragen, weil sie sich an die Richtlinien Jesu halten, könntest du dann mit gutem Gewissen eine der Kirchen der Christenheit nennen? Wer hat in der Praxis echte Liebe bewiesen — die Eigenschaft, die Christus selbst als Merkmal wahrer Christen bezeichnete? Wer sind diejenigen, die „nicht lieben mit Wort und Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“? (1. Joh. 3:18, Einheitsübersetzung). Die geschichtlichen Tatsachen sprechen für sich. Aufrichtige Menschen werden darüber nachdenken. Viele machen sich jetzt die Hilfe, die Jehovas Zeugen kostenlos anbieten, zunutze, um ein biblisch geschultes Gewissen zu entwickeln, das unter Prüfungen nicht versagt.
QUELLENVERZEICHNIS
1. Interner SS-Bericht, Nationalarchive, Washington, T-580, Spule 42, Akte 245.
2. The Vatican in the Age of the Dictators, Anthony Rhodes, 1973, S. 347.
3. Tisserant an Suhard, 11. Juni 1940 (aufbewahrt im Bundesarchiv in Koblenz, R 43 II/1440a).
4. Documentation Catholique, Paris, 2. Febr. 1964.
5. Veröffentlicht in Seelsorge und kirchliche Verwaltung im Krieg, Konrad Hoffmann, 1940, S. 144.
6. Pius XII. an die deutschen Bischöfe, Kopie im bischöflichen Zentralarchiv Regensburg.
7. Zitiert in Was sagen die Weltkirchen zu diesem Krieg? Zeugnisse und Urteile, Matthes Ziegler, 1940, S. 107—112.
8. Nachricht vom 24. April 1940, zitiert in Der Vatikan und der Krieg, Alberto Giovannetti, 1961, S. 300.
9. Erklärung am 11. März 1983 in Berlin, veröffentlicht in Summa iniuria oder Durfte der Papst schweigen?, Fritz J. Raddatz, 1963, S. 223.
10. Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1933—1944 (Gütersloh, 1948), S. 478, 479.
11. Gespräche mit Hitler, Hermann Rauschning, 1940, S. 51, 53.
12. Siehe Artikel 17, 18 des Konkordats zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl vom 20. Juli 1933, veröffentlicht im Reichsgesetzblatt (Teil II) vom 18. September 1933.
13. Die deutschen Katholiken und Hitlers Kriege, Gordon Zahn, 1986, S. 84, 85.
14. Kopie in den Akten des Ordinariats der Erzdiözese Freiburg.
15. Franz Reinisch: Ein Märtyrer unserer Zeit, Heinrich Kreutzberg, 1953, S. 86.
16. Er folgte seinem Gewissen, Gordon Zahn, 1964, S. 90.
17. Ibd., S. 102.
18. Brief vom 27. Februar 1946, in der Jägerstätter-Akte der Pfarre von St. Radegund (Österreich).
19. Oberhirtliches Verordnungsblatt für die Diözese Passau, Nr. 10, 6. Mai 1933, S. 50, 51.
20. Er folgte seinem Gewissen, Gordon Zahn, 1964, S. 127—129.
[Fußnoten]
a „Während seines ganzen Lebens war er in der Gemeindearbeit tätig ... [Nach dem Krieg wurde er] als slowakischer ,Kollaborateur‘ zum Tode verurteilt und trotz eindringlicher Gnadengesuche hingerichtet“ (New Catholic Encyclopedia [Ausg. 1967], Bd. 14, S. 173, 174).
b Kardinaldekan bis zu seinem Tod im Jahre 1972.
c Von Deutschen bei der Durchsuchung des erzbischöflichen Palastes in Paris gefunden und später von Tisserant beglaubigt.
[Bild auf Seite 18]
Wie war es möglich, daß Menschen mit einem von der Kirche geschulten Gewissen bereit waren, jedes von ihren Führern befohlene Verbrechen zu begehen?
[Bilder auf Seite 19]
Wer war dafür verantwortlich?
[Bild auf Seite 20]
[New York Post, 27. August 1940, S. 15]
Nazi-Armee gepriesen
Deutsche katholische Bischöfe loyal
[New York Times, 7. Dezember 1941, späte Stadtausgabe, S. 33]
KRIEGSGEBET FÜRS „REICH“
Katholische Bischöfe in Fulda beten um Segen und Sieg
[New York Times, 25. September 1939, späte Stadtausgabe, S. 6]
Deutsche Soldaten von Kirchen ermuntert
Protestanten und Katholiken wünschen „Reich“ Sieg und gerechten Frieden
Obige Ausschnitte sind aus englischsprachigen Publikationen übersetzt