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Die Kinder eine Fremdsprache lehrenErwachet! 1984 | 22. September
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Die Kinder eine Fremdsprache lehren
HEUTZUTAGE — in einer Welt, in der die Völker in Bewegung geraten sind — mag schon morgen jemand, dessen Muttersprache dir fremd ist, dein nächster Nachbar sein. Aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen oder auch um eine bessere Bildung zu erhalten, ziehen die Menschen in die verschiedensten Teile der Erde. Möglicherweise gibt es dort, wo du wohnst, bereits fremdsprachige Bevölkerungsgruppen. Ja, Osten, Westen, Norden und Süden begegnen sich wie nie zuvor. Wenn also die Kinder nach Hause gelaufen kommen und ausrufen „Papa! Mama! Wir haben einen neuen Spielkameraden, der ganz anders spricht als wir!“, solltet ihr als Eltern ernsthaft in Erwägung ziehen, eure Kinder eine andere Sprache zu lehren.
„Wer? Wir?“ mögt ihr einwenden. „Wir können kaum unsere eigene Sprache richtig sprechen!“
Bevor man jedoch seinen Sinn vor dieser Aussicht vollständig verschließt, sollte man folgendes in Betracht ziehen: Eine der besten Lernhilfen, die es gibt, ist es, mit Menschen in ihrer Muttersprache zu sprechen. Wenn man mit ihnen bekannt wird und ihnen Gastfreundschaft erweist, wird es einem möglich sein, einiges über ihre Sprache zu lernen, was einen in die Lage versetzt, seine Kinder zu belehren. Viele einsame Fremdsprachenliebhaber würden viel darum geben, mit euch zu tauschen. In ihrer Abgeschiedenheit stoßen sie bei ihren Studien oft auf die Schwierigkeit, ein Sprachgefühl wie in ihrer Muttersprache zu entwickeln.
Somit müßten Eltern als ersten Schritt bei der Unterweisung ihrer Kinder eine ...
Bekanntschaft anknüpfen
In dem Bericht über den christlichen Apostel Paulus, der mit 275 anderen vor der Insel Malta Schiffbruch erlitt, wird gesagt, ‘daß die fremdsprachigen Leute ihnen eine außergewöhnliche Menschenfreundlichkeit erwiesen’ (Apostelgeschichte 27:37; 28:1, 2). Obwohl die Bewohner der Insel Malta mit der Verkehrssprache des Römischen Reiches nicht vertraut waren, also nicht Griechisch sprachen, wußten sie doch um die Bedürfnisse schiffbrüchiger Mitmenschen. Ebenso könnte durch den aufrichtigen Wunsch, Fremden bei der Beschaffung von lebensnotwendigen Dingen zu helfen, die Sprachenschranke überwunden werden, und ein Sprachunterricht für beide Seiten mag sich ergeben. Sind die neuen Nachbarn erst vor kurzem aus dem Ausland angereist? Vielleicht benötigen sie Decken, Bettwäsche, Handtücher, Töpfe oder Pfannen, bis ihre eigenen Sachen eintreffen. Hier bietet sich für euch als Familie die Gelegenheit, die Wörter für diese Gegenstände in ihrer Sprache zu lernen und sie die entsprechenden Wörter in eurer Sprache zu lehren, sofern sie sie nicht bereits kennen.
Am Anfang kann es wirklich Freude bereiten, zusammen mit den Nachbarn und den Kindern für häufig vorkommende Gegenstände jeweils die Sprache des anderen zu benutzen: Tür, Fenster, Hut, Schuh, Buch usw. Wenn ihr später als Familie zusammen seid, werdet ihr die Wörter, die ihr gelernt habt, vermutlich noch einmal durchgehen. Euer Wortschatz wird ständig wachsen. Ihr Eltern seid die Lehrer eurer Kinder geworden und lernt gleichzeitig mit. Zugleich wächst die Wertschätzung dafür, daß Gott „aus e i n e m Menschen jede Nation der Menschen gemacht“ hat, was genauso wichtig ist (Apostelgeschichte 17:26). Nach wenigen Begegnungen werdet ihr — und eure Kinder — ausreichend davon überzeugt sein, daß alle Menschen ähnliche physische Bedürfnisse haben und sich danach sehnen, von ihren Mitmenschen mit Würde behandelt zu werden. Neben dem Erlernen einer fremden Sprache vermittelt ihr Eltern euren Sprößlingen eine Belehrung von unschätzbarem Wert.
Falls es natürlich dort, wo ihr wohnt, schon fremdsprachige Bevölkerungsgruppen gibt, werden andere Angehörige der eigenen Nationalität für die dringendsten Bedürfnisse gesorgt haben. Insofern müßtet ihr erfinderisch sein, wenn ihr eine Bekanntschaft anknüpfen möchtet. Vielleicht könntet ihr jedoch über die Schule, euren Arbeitsplatz, verschiedene Einrichtungen der Gemeinde oder beim Einkaufen jemand kennenlernen, der eine andere Sprache spricht. Jehovas Zeugen und ihre Kinder kommen wiederholt mit Menschen anderer Sprachgruppen in Kontakt, wenn sie sie zu Hause besuchen, um mit ihnen über die Bibel zu sprechen.
Gelerntes richtig zusammenfügen
Um zu erreichen, daß man eine fremde Sprache in der Praxis beherrscht, ist mehr erforderlich als eine Reihe von Substantiven und einige Verben. Man muß verstehen (fühlen) lernen, wie die einzelnen Bestandteile der Sprache ineinandergreifen. Man wird begreifen wollen, welche Wortzusammensetzungen natürlich und welche komisch klingen oder sogar auf denjenigen, dessen Muttersprache man spricht, lächerlich wirken. Es ist von praktischem Wert, seine Unterhaltung großzügig mit Idiomen zu würzen, die für den Sinn eine herausfordernde Aufgabe darstellen, aber auch anregend wirken. Bei einem Idiom handelt es sich um eine Wendung, die einer Sprache eigen ist und nicht durch eine Wort-für-Wort-Übersetzung verstanden werden kann. Es muß in einer anderen Sprache mit einem Ausdruck wiedergegeben werden, der den gleichen Sinn vermittelt.
Auch ist es für euch als Eltern wichtig, folgendes im Sinn zu behalten: In vielen Ländern wird insbesondere von jungen Leuten erwartet, Höflichkeitsformen von Substantiven, Pronomen und Verben zu gebrauchen, die anderen gemäß ihrem Alter oder ihrer Stellung zukommen. Falls es in eurer eigenen Sprache derartige Anredeformen nicht gibt, wäre dies eine Pflichtlektion, die ihr mit euren Kindern durchnehmen solltet. Ein Jugendlicher, der solche Höflichkeitsbezeigungen außer acht ließe, würde als respektlos gelten.
Sobald eure Studien feste Formen annehmen, werdet ihr euch zweifellos nach einem Sprachlehrbuch und vielleicht nach zugehörigen Schallplatten oder Lernkassetten umsehen. Viele eurer fremdsprachigen Nachbarn werden eure Anstrengungen beim Erlernen ihrer Sprache schätzen und werden euch ermutigen, indem sie mit euch sprechen. Vielleicht könntet ihr ihnen als Gegenleistung helfen, eure Sprache zu meistern. Fremdländische Gesprächspartner wirken beim Erlernen einer Fremdsprache wie ein Katalysator. Sie bieten Gelegenheit zur praktischen Übung. Der Sprachwissenschaftler Mario Pei schreibt, daß „du sprechen lernst, indem du deinen Mund öffnest und sprichst, und nicht, indem du dasitzt, brütest und überlegst. Du lernst die Sprache verstehen, indem du aufmerksam zuhörst, auf jeden möglichen Anhaltspunkt achtest und nach mißlungenen Versuchen immer wieder neu beginnst, bis du schließlich in der Lage bist, alles zu verstehen.“
Sprechen lernt man durch Sprechen. Obwohl Schallplatten sehr hilfreich sein mögen, haben sie den großen Nachteil, daß sie nichts erwidern können. Eine lebendige Unterhaltung zu führen, erlernt man nur im Gespräch mit lebenden Gesprächspartnern. Wer also Nachbarn hat, die eine andere Sprache sprechen, sollte sich nicht zurückhalten.
Gelegenheiten zum Üben
Mittlerweile spielen eure Kinder vielleicht schon mit Kindern aus anderen Sprachgruppen. Es hat den Anschein, daß Kinder von Einwanderern es lernen, die Landessprache fast akzentfrei zu sprechen, wohingegen die Sprache der Eltern langsam vernachlässigt wird. Häufig ziehen es auch Personen, die nur vorübergehend in einem Land wohnen, vor, in der Landessprache zu sprechen, um soviel Übung wie nur irgend möglich zu haben, bevor sie zurückkehren. Die Schnelligkeit, mit der sie fließend sprechen lernen (mit der Hilfe von Einheimischen), verleiht Eltern eine Vorstellung davon, wie schnell ihre Kinder dies mit ähnlicher Unterstützung lernen könnten.
Wenn Eltern ihre Kinder gelehrt haben, Menschen aller Nationen und Sprachen zu respektieren, werden die Kinder nicht das Gefühl haben, ihre Sprache sei besser, weil sie von der Mehrheit am Ort gesprochen wird. Gerade das mag ihre Schul- oder Spielkameraden dazu bewegen, ihnen beim Erlernen ihrer Sprache zu helfen. Einige Lernende haben vereinbart, in der Sprache des einen bei der einen Gelegenheit und in der Sprache des anderen bei einer anderen Gelegenheit zu sprechen. Auf diese Weise wird beiden Seiten geholfen.
In diesem Fall übernimmt die jeweilige Situation in gewissem Sinne die Rolle eines Lehrers. Eure Rolle als Eltern tritt in den Vordergrund, wenn ihr Gelegenheiten für eine auferbauende Gemeinschaft herbeiführt. Anlässe, bei denen die Familie zusammenkommt, werden zu Zeiten, wo man vergleicht, was jeder einzelne gelernt hat, um es zu wiederholen und zu üben.
Es gibt noch etwas, was das Interesse der Familie wachhalten wird.
Sprachorientierte Unternehmungen
Nachdem die Familie das Alphabet der Fremdsprache gelernt hat, kann sie sich mit Buchstabierspielen unterhalten. Wenn die Kinder die Zahlen beherrschen, können sie ihre Geschicklichkeit im Rechnen zeigen. Falls eine Familie gern musiziert, sind einfache Volkslieder mit leicht zu behaltenden Melodien ein weiterer Anreiz zum Erlernen einer Fremdsprache. Dem Vokabular weitere Sachgruppen hinzuzufügen dient sowohl als Gedächtnishilfe als auch als ein Anreiz zur Unterhaltung. Man könnte folgende Wortgruppen einschließen: Körperteile, Kleidungsstücke, Gefühle und abstrakte Eigenschaften, Größen, Formen, Strukturen, Farben, Richtungen, bekannte Tiere, Teile eines Hauses und seiner Einrichtung oder herkömmliche Beförderungsmittel. Es stimmt zwar, daß in guten Sprachlehrbüchern viele dieser Wörter zu finden sind, dennoch wird jede Familie zweifellos ihren eigenen Wortschatz sammeln wollen, einen Wortschatz, der ihren eigenen Interessen und Lebenserfahrungen entspringt.
Werden die Kinder im Sprechen der neuen Sprache gewandter, könnten die Eltern mit ihnen Gespräche über persönliche Erlebnisse oder Tagesereignisse führen. Familien, die gern die Bibel lesen, können viele freudige Stunden damit verbringen, über die Heilige Schrift zu sprechen oder sie zu lesen. In Restaurants, wo ihr mit dem Eigentümer oder dem Bedienungspersonal in eurer zweiten Sprache sprechen könnt, und beim Einkauf in Geschäften, wo man diese Sprache spricht, erhält die Familie einen Anreiz zu weiteren Fortschritten. Wenn ihr Freunde, die eure neue Sprache sprechen, zu einem Essen einladet, werdet ihr euch natürlich darüber freuen, daß ihr euch einst entschlossen habt, eure Sprachkenntnisse zu erweitern.
Es liegt auf der Hand, daß es in vielerlei Hinsicht von Nutzen ist, seine Kinder eine andere Sprache zu lehren. Die ganze Familie wird auf geistigem Gebiet aktiviert und in der Überzeugung bestärkt, daß alle Menschen wirklich nur einer Menschheitsfamilie angehören. Zugleich kommt man sich durch die Beteiligung an einem größeren Vorhaben näher. Es eröffnet sich ein ganz neuer Bekanntenkreis. Man lernt eine andere Kultur oder ein anderes Milieu schätzen. Man vergrößert seinen Sinn für Humor, weil man es lernt, über sich selbst zu lachen. Das sind nur einige der Freuden, die es mit sich bringt, seine Kinder eine Fremdsprache zu lehren.
[Bild auf Seite 15]
Kindern fällt das Erlernen einer anderen Sprache gewöhnlich leicht
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Tausend Wörter in weniger als einer MinuteErwachet! 1984 | 22. September
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Tausend Wörter in weniger als einer Minute
„André Maurois [französischer Romanschriftsteller] erzählte von einer Episode aus dem Ersten Weltkrieg, die sich unter Soldaten im Schützengraben zugetragen hat. Ein portugiesischer Soldat bot einem französischen Soldaten an, ihn für 100 Franc tausend portugiesische Wörter in weniger als einer Minute zu lehren. Der französische Soldat nahm das Angebot an. ‚Gib acht!‘ sagte der Portugiese. ‚Alle Wörter, die im Französischen auf -tion enden, haben im Portugiesischen die gleiche Bedeutung, nur daß sie auf -çao enden ... Es gibt davon über tausend, und alle sind wie im Französischen weiblichen Geschlechts. Das hat weniger als eine Minute gedauert, nicht wahr? 100 Franc bitte‘“ (Native Tongues von Charles Berlitz).
Beim Erlernen einer fremden Sprache wäre es sicher gut, nach solchen Gemeinsamkeiten Ausschau zu halten.
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