Quebec schreitet voran: Die lautlose Revolution
INNERHALB von sechs Monaten nach Duplessis’ Tod im Jahre 1959 wurde seine Regierung abgesetzt. Ramsay Cook schrieb in seinem Buch Canada and the French Canadian Question: „Durch Duplessis’ Tod wurde das letzte Hemmnis beseitigt, das die schwelende Unzufriedenheit im französischsprachigen Kanada länger als ein Jahrzehnt zurückgehalten hatte. Man kann sogar bezweifeln, ob selbst Duplessis diese Unzufriedenheit noch lange Zeit hätte niederhalten können, denn die sozialen und wirtschaftlichen Kräfte, die am Werk waren, waren viel zu stark.“
In einer Schilderung dieser Zustände schrieb Pierre Elliott Trudeau (selbst ein Katholik) über die Notwendigkeit der „Befreiung des Gewissens, das von einer bürokratisierten und bildungsfeindlichen Kirche drangsaliert wurde“, und davon, „Menschen zu befreien, die durch eine autoritäre und veraltete Tradition erdrückt wurden“. Er wies darauf hin, daß es in Quebec noch nie besonders viel Freiheit gegeben habe, und fügte hinzu: „Um das Jahr 1960 herum schien es, daß die Freiheit schließlich doch den Sieg erringen würde ..., und das in solchem Maße, daß die Generation, die 1960 volljährig wurde, die erste in unserer Geschichte war, die eine wenigstens einigermaßen vollständige Freiheit in Aussicht gestellt bekam. Der Dogmatismus der Kirche und des Staates, der Tradition, der Nation war überwunden.“
Die Wende
Die „Abkehr vom Alten“ brachte in vielfacher Hinsicht neue Entwicklungen. Das Jahr 1960 stellte die Wende dar; es war ein Sprung vorwärts, der so plötzlich kam, daß man ihn allgemein als die „lautlose Revolution“ bezeichnet.
Es begann ein neues Zeitalter der Informationsfreiheit und der geistigen Freiheit. Zeitungen und andere Nachrichtenmittel fingen an, die Wirklichkeit und ihre Probleme zu behandeln, anstatt alles so zurechtzustutzen, daß damit der Katholizismus und der Status quo geschützt wurden. Die Soziologen, die an der Studie Canada 70 beteiligt waren, sagten dazu: „Die Gründung eines Bildungsministeriums im Jahre 1964 bedeutete das Ende des Einflusses der Kirche auf Bildung und Erziehung, und der Beginn der ,lautlosen Revolution‘ im Jahre 1960 setzte dem unglaublichen politischen Einfluß der Geistlichkeit ein Ende.“
Es stimmt: Das Quebec der 60er Jahre begann, das alte Bild der Herrschaft durch die Geistlichkeit und des Isolationismus abzubauen. Es fing an, den Anschluß an die nordamerikanische Lebensweise zu suchen, wie sie im übrigen Kanada und in den USA vorherrscht.
Quebecs „gesellschaftlicher Umsturz“, seine „lautlose Revolution“, wurde von verschiedenen Faktoren aus der neuzeitlichen Geschichte herbeigeführt. Dazu gehört das Vatikanische Konzil, dessen Urheber Papst Johannes XXIII. war. Die Veränderungen, die dieses Konzil in der Kirche nach sich zog, beunruhigten viele Katholiken.
Die in Montreal erscheinende Zeitung Star schrieb, daß nicht mehr die Kirche alles in der Gewalt habe, sondern es sei jetzt „die allgemeine Ansicht der Intellektuellen in Quebec, daß die Kirche schon immer das gewesen ist, was an Quebec verkehrt war“.
Die Siege, die Jehovas Zeugen vor dem Obersten Gerichtshof Kanadas errangen, leiteten eine Epoche der Ausübung der bürgerlichen Grundrechte sowie der Pressefreiheit in Quebec ein. Die Zensur wurde als verfassungswidrig erklärt. Wer sich in Wort und Schrift an die Öffentlichkeit wandte, brauchte sich nicht mehr davor zu fürchten, daß der starke Einfluß des Staatsanwaltes dazu benutzt werden würde, dem freien Fluß an Informationen Einhalt zu gebieten.
Ein weiteres Merkmal des öffentlichen Lebens in Kanada, das eine weitreichende Auswirkung auf Quebec hatte, war die Einführung des Fernsehens. Solange die Dorfbewohner nur das wußten, was ihnen ihr Priester erzählt hatte, war es einfach, sie zu dem Glauben zu bringen, daß ihr geistlicher Hüter sie gut versorge. Aber mit dem Beginn des Fernsehens sahen sie, wie es in der übrigen Welt aussah und wie rückständig die von der Kirche beherrschten Gemeinden in Wirklichkeit waren.
Wenn auch während der „lautlosen Revolution“ keine Gewehre eingesetzt wurden, hat sie doch riesige Veränderungen in Quebec bewirkt. Was geschah aber mit der starken Stellung der römisch-katholischen Kirche?
Die Macht der Kirche schwindet
In der Studie Canada 70 heißt es: „Es war unvermeidlich, daß die katholische Kirche eines Tages ihre vollständige Gewalt über das Volk abtreten müßte, und in Quebec verlor die Kirche ihre Macht auf plötzliche und dramatische Weise.“
Der Journalist Ralph Surette schrieb in der Montrealer Zeitung Star folgendes: „Die Macht der römisch-katholischen Kirche in Quebec ist gebrochen; die Krise wird in der Besorgtheit und der Gleichgültigkeit sowohl der Laien als auch der Geistlichen deutlich ... Die Krise ist bekannt. Die Kommission setzt als gegeben voraus (und bestätigt), was jeder weiß: daß nämlich die Zahl der Besucher der Messe stark gesunken ist, daß Priester ihren Beruf aufgeben, daß viele Gemeinden kein Geld mehr haben.“ Derselbe Artikel beschreibt die Auswirkungen auf die Geistlichkeit. Es heißt: „Zu dieser Zeit [1949] begann der Zerfall der uneingeschränkten Macht des Klerikalismus, wodurch dem Staat der Weg geebnet wurde, in den 1960er Jahren die höchste Instanz im öffentlichen Leben Quebecs zu werden. ... Die Priester Quebecs haben innerhalb verhältnismäßig weniger Jahre ,sowohl ihre soziale Stellung wie auch ihre Zuhörerschaft‘ verloren.“
Die Probleme der katholischen Kirche waren so groß geworden, daß auf Ersuchen der Bischöfe eine Regierungskommission, die Dumont-Kommission, eingesetzt wurde, um „die Laienschaft und die Kirche“ zu untersuchen. Der 315seitige Bericht der Kommission wurde im Dezember 1971 veröffentlicht und bestätigte zum größten Teil, was gutinformierte Kreise bereits wußten: daß die Kirche das Vertrauen des Volkes verloren hatte, daß sowohl Geistliche wie auch Laien der Kirche den Rücken zuwenden.
Unter der Bevölkerung Quebecs hört man oft die allgemeine Ansicht: „Von der Kirche merkt man nichts mehr.“
„Sie verlassen die Kirche in Scharen“
Eine Kirche braucht letztlich die Unterstützung des Volkes. Der Dumont-Bericht gibt Auskunft darüber, was mit dem Kirchenleben von diesem Gesichtspunkt aus geschehen ist: „Die aktive Teilnahme am religiösen Leben ist während der letzten zehn Jahre rasch gesunken. Dies wird am deutlichsten unter den Jüngeren, doch die absinkende Tendenz erfaßt nach und nach, mit weniger Aufsehen, auch die Älteren.“
Wie schnell dieser Vorgang sich genau abspielt, kann man der in Montreal erscheinenden Zeitschrift Relations (Ausgabe März 1974) entnehmen: Innerhalb von zehn Jahren ist der sonntägliche Kirchenbesuch von 65 auf 30 Prozent gesunken; und unter den Jüngeren (15 bis 35 Jahre) ist er auf 12 Prozent abgesunken.
Bischof Léo Blais von Westmount erklärte öffentlich, daß „die Gläubigen die Kirche in Scharen verlassen“.
Ein großes Problem ist es auch, die Priester, die ihren Beruf aufgeben, durch andere zu ersetzen. In Nicolet, Joliette, Rimouski und Sherbrooke wurden die Priesterseminare geschlossen. Die Regierung hat in den Gebäuden Volkshochschulen und — in Nicolet — eine Polizeischule eingerichtet.
Die Statistiken über die Priesteramtskandidaten sind sehr aufschlußreich. Im Dumont-Bericht steht: „Die jährliche Zahl der Anwärter für die heiligen Weihen unserer Kirche (Priester und andere) lag im Jahr 1946 über 2 000, doch 1970 betrug sie nur etwas über 100.“
In Relations hieß es in der März-Ausgabe 1974: „Im Jahr 1968 begann der Priesternachwuchs stark zurückzugehen ... Viele verlassen die Reihen der Priester. Zur selben Zeit steht die Zahl der Priesteramtskandidaten auf einem Tiefpunkt: Dieses Jahr gab es 3 neue Studenten im Seminar.“ Diese Zahl bezieht sich auf Montreal, eine Diözese mit 1 700 000 Katholiken, die über ein Drittel der Kirchenmitglieder in der Provinz ausmachen.
Die Zahl der Mitglieder in den katholischen Organisationen ist ebenfalls rasch im Absinken begriffen. Die Herz-Jesu-Vereinigung, die vor zehn Jahren 28 000 Mitglieder hatte, hat jetzt nur noch 3 000.
Außer den geistigen und personellen Problemen hat man in Quebec auch Schwierigkeiten, die Kirchengebäude zu unterhalten. Viele Gemeinden stehen am Rande des Bankrotts.
In der Stadt Montreal ist eine Anzahl bekannter Kirchen abgerissen und der Grund und Boden für andere Zwecke verwendet worden. Eine davon ist die Kirche Notre-Dame-d’Alexandrie in der Amherst Street. Hier freute sich der Priester, Benjamin Tremblay, dem Abbruchkommando bei der Zerstörung seiner Kirche zuzusehen. Doch weshalb?
Er soll öffentlich gesagt haben, daß die Kirche sich in jener Gegend von nun an um das soziale und wirtschaftliche Leben kümmern müsse. Das neue Gemeindezentrum werde dem wirtschaftlich schwachen Wohnviertel, in dem es sich befinde, Beistand und Hilfe leisten. Zuvor hatte er gesagt, es wäre besser, solche Kirchen zu verkaufen, als „weiße Elefanten“ zu behalten. In Montreal wurden seit 1967 elf große katholische Kirchen geschlossen; weitere sollen entweder verkauft oder abgerissen werden.
Gründe für den Niedergang des Katholizismus
Was war geschehen? Woher kam der dramatische Niedergang der Macht des Katholizismus?
Mangelndes Vertrauen zur katholischen Führung hat dazu geführt, daß viele unsicher sind, und dies nicht nur in Quebec. Ein Jesuit, der die Hierarchie in den USA kritisierte, Andrew M. Greeley, sagte dazu: „Die Ehrlichkeit zwingt mich, folgendes zu sagen: Ich bin der Ansicht, daß die gegenwärtige Führung der Kirche moralisch, verstandesmäßig und religiös am Ende ist. Uns fehlen Führer, die uns wirklich eine Leitung geben können.“
Die an der Studie Canada 70 beteiligten Soziologen entdeckten innerhalb der Kirche Quebecs „einen beachtlichen Mangel an Vertrauen. Der Mangel an Vertrauen war so groß geworden, daß die Laien praktisch alle Vorgänge innerhalb der Kirchenhierarchie mit Argwohn betrachteten.“
Auch der bereits zitierte Bischof Léo Blais wies auf die Geistlichkeit als Ursache hin. Nach seiner Meinung tragen zur Zeit einige Priester zu der Verwirrung bei, die im kirchlichen Leben in Montreal herrscht. „[Es ist] ein Mangel an Disziplin unsererseits sowie unser Ungehorsam, die die Verwirrung in den Köpfen vieler Katholiken verursacht und sie in die Irre geführt haben“, meinte er.
„Ist die Kirche tot?“
„Ist die Kirche tot?“ Diese Frage wird in einer Schlagzeile der französischsprachigen Wochenschrift La Patrie in Montreal gestellt.
Hubert Falardeau, ein Priester, beantwortet sie und sagt, daß die Päpste und Bischöfe „vergessen haben, daß die Kirche eine geistige und keine weltliche Gemeinschaft ist. Sie wollten möglichst viele Mitglieder, doch keine starken Mitglieder. Um die Leute in der Kirche zu halten, brauchten sie Gebote. Da die Menschen keine besonders gute Bildung hatten, stopften sie sie voll mit Geboten. All die Festtage und die großartigen Zeremonien wurden benutzt, um möglichst viele Menschen anzulocken.“
Er fährt in seiner Erklärung fort: „Wir haben eine Entchristianisierung, weil es gar keine richtige Christianisierung gegeben hat. In der Anfangszeit der Kirche wurden die Menschen als Erwachsene getauft. Danach setzte man einfach voraus, daß jeder ein Christ war, und taufte gleich nach der Geburt.“
Dieser katholische Priester spricht sich jetzt dafür aus, daß man wirkliche Bekehrung zum Christentum, Erwachsenentaufe und Missionstätigkeit unter der Bevölkerung brauche. All dies ist fester Bestandteil der Tätigkeit der Zeugen Jehovas und hat bemerkenswert zu ihrem Erfolg beigetragen. Niemand braucht zu fragen, ob Jehovas Zeugen tot seien; ihre Arbeit und ihre hingebungsvolle Missionstätigkeit in allen Teilen der Welt geben die Antwort, nicht mit Worten, sondern mit Taten!
Jehovas Zeugen führten unter der Bevölkerung Quebecs eine volksverbundene Predigttätigkeit von Tür zu Tür durch. Auf die Frage, was für Beobachtungen er unter den Katholiken gemacht habe, durch die man ihre veränderte Einstellung gegenüber der Kirche erklären könne, antwortete Everett Carlson, ein Zeuge Jehovas aus Joliette (Quebec): „Seit 1970 hat sich die Einstellung der Leute deutlich geändert. Sie fürchten sich nicht mehr so sehr davor, mit Jehovas Zeugen zu sprechen, Fragen zu stellen und sich über die Veränderungen in der Kirche zu äußern. Sie geben freimütig zu, daß die Änderungen in der Lehre über die Hölle, das Essen von Fleisch am Freitag und viele andere Dinge ihren Glauben erschüttert haben.“
Wenn auch die katholische Kirche viel von ihrer ehemals fast souveränen Macht in Quebec verloren hat, darf man doch nicht meinen, sie sei vollständig von der Bildfläche verschwunden. Dies entspräche nicht den Tatsachen. Zwar haben sich die jüngeren Leute zum großen Teil von der Kirche zurückgezogen, doch die ältere Generation unter den Geistlichen und den Laien folgt ihr immer noch in nicht unbeträchtlichem Maße. Bräuche und Gewohnheiten sterben nur langsam aus.
Dennoch gab es in Quebec zwischen 1960 und 1974 rapide Änderungen. Die „lautlose Revolution“ hat großen Erfolg gehabt.