Ich war frustriert — Wohin sollte ich mich wenden?
Ein Bericht, wie er dem „Awake!“-Korrespondenten in Japan erzählt wurde
BIS ins Innerste aufgewühlt und mit einem Kloß im Hals klatschte ich aus Leibeskräften Beifall. Wofür? Ich hatte eben den Film Chonrima gesehen. Es war ein revolutionärer Streifen, der anschaulich schilderte, wie die koreanischen Arbeiter gegen die „imperialistischen Amerikaner“ und andere, die sie behandelten, als seien sie Kühe und Pferde, kämpften und schließlich siegten. Endlich hatte ich etwas gefunden, was ich zum Inhalt meines Lebens machen konnte: die Sache des Sozialismus und dessen Ziele — Freiheit, Gleichheit und Frieden. Half mir das, meine Frustrationen zu überwinden?
Schon als Kind frustriert
Warum war ich so frustriert? Das war ich schon als Kind. Ich wurde in der japanischen Präfektur Nagano geboren, die auch Fernöstliche Schweiz genannt wird, weil sie landschaftlich sehr schön ist. Aber obschon wir in einer so reizvollen Gegend wohnten, war mein Leben daheim ziemlich trist und freudenleer. Meine Eltern waren beide krank, und die Arztrechnungen zehrten fast den ganzen Verdienst auf. Kurz bevor ich in die Schule kam, starb meine Mutter.
Damals herrschte allgemein die Meinung, daß Kinder ohne Eltern kriminell würden. Wenn es daher irgendwelche Schwierigkeiten gab, wurde mir immer gesagt: „Kinder, die keine Eltern haben, taugen nichts.“ Die Gefühlskälte meiner Mitbürger machte mich wütend und bewirkte, daß ich mich frustriert fühlte.
Als ich mit der höheren Schule begonnen hatte, starb mein Vater. Damals bekam ich die Herzlosigkeit gegenüber Waisen so richtig zu spüren. Nur weil ich keine Eltern hatte, gab man mir die Stelle nicht, um die ich mich bei einer Firma beworben hatte. Wie sehnte ich mich danach, nicht mehr diskriminiert zu werden! Schließlich zog ich nach Tokio und begann dort, in einer Druckerei zu arbeiten.
Eines Tages lud mich ein Arbeitskollege zu einer Zusammenkunft ein, bei der nur junge Leute zugegen sein würden. Ich nahm die Einladung an und war nicht wenig überrascht, wie herzlich mich die jungen Männer und Frauen begrüßten und wie nett sie waren. Es handelte sich um eine Zusammenkunft der „Demokratischen Jugendliga“ — eine der Kommunistischen Partei Japans angegliederte Organisation —, und ihr Zweck war Mitgliederwerbung.
Wir sangen „Arbeitslieder“ und vergnügten uns mit Volkstänzen. Anschließend lösten wir uns in kleine Gruppen auf, in denen hitzige Debatten geführt wurden über Themen wie „Der künftige Platz des Arbeiters“ und „Ein gerechter und friedlicher Staat“.
Nach einer solchen Diskussion stellte mir ein junger Mann die Frage: „Müssen nicht erst einmal die Klassenunterschiede zwischen Kapitalisten und Arbeitern beseitigt werden, damit die Menschen in Frieden leben können?“ Das war mir aus dem Herzen gesprochen. Erwartungsvoll fragte ich: „Wie soll das vor sich gehen?“ Darauf er: „Dazu sind Revolutionen notwendig wie die in Rußland, China und Korea. Aber in Japan ist eine bewaffnete Revolution unmöglich, deshalb kann die Lösung nur eine ideologische Revolution sein.“ Kurz danach schaute ich mir den Film Chonrima an, und hinterher faßte ich einen Entschluß.
Ich trat in die Kommunistische Partei ein
Im Jahre 1960 trat ich der Kommunistischen Partei bei, denn ich war überzeugt, daß die Frustrationen im Leben erst aufhörten, wenn der Staat sozialistisch würde. Ich organisierte in verschiedenen Betrieben gewerkschaftliche Zusammenschlüsse für die Arbeiter, die unter schweren Bedingungen für einen Hungerlohn arbeiten mußten. Auch in politischen Bewegungen wurde ich aktiv und setzte mich für ihre Ziele ein. Zum Beispiel schloß ich mich Gruppen an, die auf US-Militärstützpunkten energisch gegen das Einlaufen eines Atom-U-Bootes in den japanischen Hafen Jokosuka protestierten. Ferner protestierten wir gegen den Sicherheitsvertrag, den Japan mit den USA abschloß.
Im Juli 1963 zog ich aus gesundheitlichen Gründen wieder in die Präfektur Nagano zurück, blieb jedoch aktives Mitglied der Kommunistischen Partei. Im April 1966 heiratete ich, aber meine Frau hatte für den Kommunismus absolut nichts übrig.
Während ich für die Kommunistische Partei tätig war, fielen mir Widersprüche auf zwischen dem, was sie sein sollte, und dem, was sie war. Die Anweisungen von der Parteiführung mußten strikte befolgt werden. Es wurde lebhaft diskutiert, aber die Organisation handelte nicht entsprechend den vorgebrachten Meinungen; und in den meisten Fällen ließ man konstruktive Vorschläge einfach unter den Tisch fallen. Unsere Gespräche über Freiheit und Frieden waren nur leere Worte. Diese erzwungene Unterordnung erinnerte mich wieder an den Zwang, den ich als Kind erdulden mußte.
Ich begann mich zu fragen: „Ist es möglich, einen solchen sozialistischen Staat zu schaffen, wie ich ihn mir vorstelle?“ Diese Frage blieb unbeantwortet; Zweifel erwachten in mir und rüttelten an meinem Vertrauen zur Partei. Es gab aber nichts anderes, worauf ich meine Hoffnung hätte setzen können. Wie früher, so erfaßte mich auch jetzt wieder eine Hoffnungslosigkeit, und ich hatte keine Lust mehr mitzumachen. Erneut fühlte ich mich frustriert.
Eine neue Hoffnung
An einem bitterkalten Januartag des Jahres 1969 klopfte jemand an unsere Tür. Wir, meine Frau und ich, waren gerade mit Maschinenstricken beschäftigt. Die Besucherin, kaum 20 Jahre alt, war eine Zeugin Jehovas. Meine Frau bat sie, hereinzukommen und sich zu wärmen. Ich ahnte nicht, daß sich diese Geste meiner Frau auf mein ganzes Leben auswirken würde. Die junge Zeugin Jehovas erklärte an Hand der Verse 10 und 11 aus Psalm 37 etwas über Gott und seine Herrschaft: „Nur noch eine kleine Weile, und der Böse wird nicht mehr sein ... Aber die Sanftmütigen selbst werden die Erde besitzen, und sie werden in der Tat ihre Wonne haben an der Fülle des Friedens.“
Diese Worte beeindruckten mich jedoch nicht im geringsten. Ich teilte die Meinung von Karl Marx, daß „Religion Opium für das Volk“ sei. Alles, was mit Gott zusammenhing, war mir gleichgültig. Meine Frau dagegen zeigte Interesse und wünschte, daß das Mädchen wiederkam. Im stillen dachte ich: „Schade, daß dieses junge Menschenkind sein Leben für den Glauben an einen nichtexistenten Gott vergeudet.“ Ich nahm mir vor, zu versuchen, sie von diesem törichten Gedanken abzubringen. Das war der Grund, warum ich mich ebenfalls damit einverstanden erklärte, daß das junge Mädchen wiederkam.
Beim nächsten Besuch brachte sie die Broschüre „Siehe! Ich mache alle Dinge neu“ mit, und dann folgte ein angeregtes Gespräch über Fragen wie „Was ist wahrer Friede?“ und „Warum ist es für den Menschen unmöglich, einen friedlichen Staat zu errichten?“ Das junge Mädchen kam regelmäßig. Einmal sagte sie: „Wegen seiner Unvollkommenheit ist der Mensch außerstande, in Gerechtigkeit und Frieden zu regieren.“ Sie führte Jeremia 10:23 an. Ich kann mich erinnern, wie zornig ich war, als ich ihr scharf entgegnete: „Jedes schwierige Problem schieben Sie also auf die Unvollkommenheit — das ist ja feige!“ Ich konnte jedoch auf niemand hinweisen, der vollkommen handelte.
Bei jedem Studium beantwortete die Zeugin Jehovas unsere Fragen stets an Hand der Bibel. Um uns die Dinge besser erklären zu können, benutzte sie auch Karten und Zeichnungen. Mit meinem Verstand begriff ich, was sie sagte und was in den Publikationen stand. In meinem Herzen aber lehnte ich es ab, weil ich immer noch über das Wort „Gott“ stolperte. Abgesehen von den Dingen, die mit Gott zusammenhingen, fand ich das, was in der Bibel stand, vernünftig, und ich war damit einverstanden; deshalb setzte ich die Gespräche fort.
Ich trat aus der Partei aus
In meinen Augen vertrat die Kommunistische Partei lediglich die idealistische Theorie: „Die Menschheit sollte so und so sein“ oder: „Der Frieden sollte so und so sein“, aber ich konnte keine Ansätze von Versuchen sehen, das zu verwirklichen.
Außerdem war ich von der Kommunistischen Partei enttäuscht, weil sie anscheinend den Marxismus-Leninismus gedankenlos übernahm und von einem sozialistischen Staat träumte, der nie Wirklichkeit werden konnte. Deshalb erklärte ich meinen Austritt aus der Partei.
Sofort wurde ich von drei Parteifunktionären besucht, die die ganze Nacht hindurch mit mir „ackerten“. Sie taten mir nichts, aber nach drei solchen Nächten warfen sie mir vor, ein Opportunist zu sein. Der Austritt aus der Partei fiel mir schwer, doch die Funktionäre erkannten, daß ich fest entschlossen war, mich davon zu trennen, und gaben es auf, mich zu überreden, darin zu bleiben. Obschon ich im Jahre 1969 aus der Kommunistischen Partei austrat, wurde mein Denken immer noch von der sozialistischen Ideologie beherrscht. Während der Bibelstudien quälten mich stets Fragen wie „Ist auch das etwa nur ein Traum? Gibt es nur für denjenigen einen Gott, der an ihn glaubt?“
Diese Fragen hinderten mich daran, zu begreifen, daß Gott wirklich existiert. Während ich die „Siehe!“-Broschüre und das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führta studierte, mußte ich mir immer wieder sagen, daß es unvernünftig sei, gegen diese Lehren Einwände zu erheben.
Einmal, als ich in der Bibel las, blieb ich an den folgenden Versen hängen: „Die Sonne ist strahlend aufgegangen, und die Sonne ist untergegangen, und sie kommt keuchend an ihren Ort, wo sie strahlend aufgehen wird. Der Wind ... kreist ... unaufhörlich, und geradewegs zu seinen Kreisungen kehrt der Wind zurück. Alle Winterwildbäche gehen aus zum Meer, doch das Meer selbst ist nicht voll“ (Prediger 1:5-7). Ich dachte über diese Worte nach und mußte demütig anerkennen, daß die Bibel nicht nur ein religiöses, sondern auch ein wissenschaftliches Buch ist. Das überzeugte mich davon, daß die Bibel wahr ist und nur auf die darin beschriebene Weise Frieden kommen kann.
Nach einiger Zeit las ich auch das Buch Hat sich der Mensch entwickelt, oder ist er erschaffen worden?b, und was darin stand, überraschte mich ebenfalls sehr. Zum Beispiel wird einem vor Augen geführt, wie wunderbar der menschliche Körper bis ins kleinste Detail konstruiert ist und welch wundersame Vorgänge mit der menschlichen Geburt verbunden sind. Demzufolge ist es reine Unwissenheit, zu behaupten, alles sei durch Zufall entstanden. Besonders das, was in dem Kapitel „Die Vererbung hält die Familienarten getrennt“ (Kapitel 7) über den Stoff, den man DNS (Desoxyribonukleinsäure) nennt, berichtet wurde, ließ mich erkennen, daß alles das eine schöpferische Kraft voraussetzt. Das konnte ich mit Gott in Zusammenhang bringen, und jetzt wurde das, was für mich bisher nur vage gewesen war, eine klare Realität; jetzt konnte ich an das Dasein Gottes glauben (Römer 1:20; Hebräer 3:4). Ich erkannte, daß man nicht mit Recht hoffen kann, der Kommunismus oder der Sozialismus werde Frieden bringen, sondern daß das nur Gott möglich ist, und zwar durch sein Königreich.
Nun entstand ein ganz anderes Problem. Ich erhielt eine Arbeit als Hausverwalter in einem Hotel in den Bergen, etwa anderthalb Stunden von meiner bisherigen Wohnung entfernt. Da ich es demjenigen, der das Bibelstudium bei uns durchführte, nicht zumuten wollte, einen so weiten Weg zu machen, schlug ich meiner Frau vor, das Studium einzustellen.
Ich wurde ein Christ
Ein reisender Aufseher, der die Versammlung besuchte, empfahl jedoch, daß die Versammlung einspringe. Ein Bruder, der ein Auto besaß, bot sich an, den Studienleiter jede Woche zu uns zu fahren, so daß das Studium durchgeführt werden konnte. Diese freundliche Geste ließ uns erkennen, wie wichtig die Dinge waren, die wir miteinander studierten. In den Zusammenkünften, die wir besuchten, wurden wir nicht nur freundlich aufgenommen, sondern wir konnten auch beobachten, wie friedfertig alle waren (Matthäus 5:9).
Nun empfanden wir den innigen Wunsch, Jehova unsere Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen für alles, was er für uns getan hatte, sowie für das, was er noch für uns tun wird. Wir wollten uns so schnell wie möglich taufen lassen, um unsere Hingabe an Jehova Gott zu symbolisieren. Am 27. Mai 1970 wurden wir getauft.
Meine früheren Parteifreunde waren entsetzt, als sie erfuhren, daß ich, ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei, ein christlicher Zeuge Jehovas geworden war. Auch für mich war dieser Wechsel fast wie ein Wunder. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, muß ich sagen, daß ich so etwas wie eine liebevolle Familie nicht kannte. Jetzt gehöre ich einer großen christlichen Familie an, die mich innig liebt (Matthäus 12:48-50). Früher war mein Leben leidvoll, freudenleer, und ich litt unter dem Vorurteil meiner Mitmenschen. Jetzt habe ich wahren Frieden gefunden und führe ein sinnvolles und mit Freude erfülltes Leben. Ich habe nach einer sicheren Hoffnung gesucht und durfte sie kennenlernen und die Überzeugung gewinnen, daß keine menschliche Macht eine solche Hoffnung zu verwirklichen vermag. Ich bin glücklich geworden und ströme über vor Freude. Ja dadurch, daß ich mich Jehova Gott zugewandt habe, konnte ich meine Frustrationen überwinden.
[Fußnoten]
a Veröffentlichung der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft.
b Veröffentlichung der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft.
[Herausgestellter Text auf Seite 10]
Ich begann mich zu fragen: „Ist es möglich, einen solchen sozialistischen Staat zu schaffen, wie ich ihn mir vorstelle?“
[Herausgestellter Text auf Seite 11]
Ich teilte die Meinung von Karl Marx, daß „Religion Opium für das Volk“ sei.
[Herausgestellter Text auf Seite 12]
Ich dachte über diese Worte nach und mußte demütig anerkennen, daß die Bibel nicht nur ein religiöses, sondern auch ein wissenschaftliches Buch ist.