Wem kannst du vertrauen?
JEDER normale Mensch wünscht sich Freunde und Nachbarn, denen er vertrauen kann. Man möchte auch, daß die Männer, die Autorität ausüben, vertrauenswürdig sind.
Doch ist im Laufe der Geschichte selten das Vertrauen so vieler Menschen so sehr erschüttert worden wie in der heutigen Zeit. Das trifft an vielen Orten zu, aber ein besonderes Beispiel ist ein Fall in den Vereinigten Staaten, in den viele Personen verwickelt sind.
Es handelt sich dabei um „Watergate“. Über diese Affäre sagte Senator Sam Ervin jr.: „Ich glaube, Watergate ist die größte Tragödie, die dieses Land je erlebt hat“ — größer noch als der Bürgerkrieg. Dieser Affäre ist weltweit Beachtung geschenkt worden.
Watergate ist der Name eines Gebäudekomplexes, zu dem ein Hotel, Wohnungen, Geschäfte und Büros gehören. Er liegt in Washington (D. C.) und beherbergte das Hauptquartier der Demokratischen Partei während des Präsidentschaftswahlkampfes im Jahre 1972.
Am 17. Juni 1972 wurden in den frühen Morgenstunden fünf Männer verhaftet, die in das Hauptquartier der Demokraten, das im Watergate-Gebäude untergebracht war, eingedrungen waren. Ein Regierungsbeamter tat diesen Vorfall als „drittklassigen“ Einbruchsversuch ab.
Aber es war viel mehr als das. Es war nur die Spitze eines gewaltigen Eisberges.
Einer der verhafteten und ins Gefängnis gesperrten Männer entschloß sich, das, was er wußte, einem Bundesrichter zu erzählen. Er enthüllte, daß die „Einbrecher“ im Auftrag des Komitees für die Wiederwahl des Präsidenten, das von der Republikanischen Partei eingesetzt worden war, gearbeitet hatten. Darauf entwickelte sich die Angelegenheit schnell zum größten Skandal in der Geschichte der Regierung der Vereinigten Staaten.
Die wirkliche Bedeutung dieser Sache geht weit über das hinaus, was du in einer Zeitung gelesen oder aus dem Radio oder dem Fernsehen erfahren haben magst. Die tiefere Bedeutung dessen betrifft deine Zukunft entscheidend.
Aber zunächst wollen wir sehen, was andere über die Angelegenheit zu sagen haben.
Angeblich begangene Straftaten
Untersuchungsbeamte erklärten, sie hätten eine stattliche Anzahl Straftaten aufgedeckt. Diese Straftaten wurden angeblich von vielen Beamten in hohen Regierungsstellen begangen.
Senator Lowell Weicker jr., Republikaner und Mitglied des besonderen Senatsausschusses, der für die Untersuchung dieser Angelegenheit eingesetzt worden ist, zählte die angeblich begangenen Straftaten in einer Fernsehsendung auf, die im ganzen Land übertragen wurde. Er behauptete, die Verletzung von siebzehn verschiedenen Gesetzen sei „nachgewiesen oder zugegeben“ worden. Außerdem erklärte er, einige Regierungsbeamte hätten sich vieler „anstößiger“ oder unmoralischer Handlungen schuldig gemacht.
„Watergate“ ist daher ein Schlagwort geworden, das eine ganze Reihe angeblich begangener ungesetzlicher, verfassungswidriger und anstößiger Handlungen umfaßt, wie Einbruch, Bespitzeln von Bürgern, Betrug, Meineid und Verschwörung zum Begehen und zur Vertuschung von Straftaten. Dazu kommt der versuchte Mißbrauch oder die Untergrabung verschiedener Regierungsstellen. Eine weitere Straftat war die ungesetzliche Verwendung von Wahlgeldern zur Bezahlung derer, die in Watergate eingebrochen hatten und die dadurch bestochen werden sollten, nicht die Wahrheit zu sagen.
Was macht den Fall zu etwas Besonderem?
Aufgrund dessen, was aufgedeckt wurde, nannte die New York Times den Watergate-Skandal „ein politisches Erdbeben von solch beispielloser Größe und Intensität, daß es alle institutionellen Einrichtungen verändern könnte“.
Aber warum wird dieser Skandal als so viel schlimmer betrachtet als frühere Skandale? Ein Leitartikel der in Easton (Pennsylvanien) erscheinenden Zeitung Express gibt folgende Antwort:
„Watergate unterscheidet sich völlig von jedem anderen Skandal des Weißen Hauses in der Geschichte der Nation. ... Was Watergate einzigartig macht, ist die Natur und der Zweck des Machtmißbrauches. Fast ausnahmslos handelte es sich bei Skandalen in der Vergangenheit um Verrat am Vertrauen der Öffentlichkeit um des Geldes oder irgendwelcher Güter willen.
Aber das eigentliche Ziel von Watergate scheint gewesen zu sein, den politischen Prozeß als solchen zu untergraben, eine Präsidentschaftswahl gewissermaßen zu ,arrangieren‘. Und damit Hand in Hand ging eine völlige Mißachtung der Gesetze des Bundes und der Staaten.“
Und der Nachrichtenkommentator Walter Cronkite schrieb in der Zeitschrift Vital Speeches of the Day:
„Es war ein Versuch auf nationaler Ebene, das Zweiparteiensystem, das unserem System zugrunde liegt, zu untergraben. Es war der unverhüllte Versuch, zur Erhaltung der Macht Macht anzuwenden, und auf diesem Wege gedeiht die Diktatur und kann die Demokratie nicht überleben.
Es war ein unverhüllter Versuch, das demokratische Rechtssystem zu umgehen, das hochzuhalten die versprochen hatten, die es nun untergraben haben.“
Viele Menschen erschüttert
Die Watergate-Enthüllungen führten dazu, daß das Vertrauen vieler Menschen zur Regierung noch mehr erschüttert wurde.
Selten in der Geschichte Amerikas haben so viele Menschen das Gefühl gehabt, verraten worden zu sein. Ein hoher Verwaltungsbeamter klagte: „Ich weiß nicht, weshalb irgendein Bürger je wieder etwas glauben sollte, was ein Regierungsbeamter sagt.“
Diese Ansicht war zwar zweifellos übertrieben, doch sie spiegelt die bittere Stimmung vieler Personen, auch die von Beamten, wider. Der National Observer berichtete in einem Artikel: „Gespräche mit Beamten auf allen Ebenen enthüllen eine allgemeine Demoralisation.“
Nichts wirklich Neues
Für die Vereinigten Staaten ist der Watergate-Skandal in seinem Ausmaß beispiellos. Doch Korruption in der Regierung ist sicherlich nichts Neues. Die in Los Angeles erscheinende Times berichtete, daß schon Anfang der fünfziger Jahre 42 Prozent der anläßlich einer Präsidentschaftswahl Befragten sagten, die Frage der Korruption habe sie bei ihrer Wahl am meisten beeinflußt.
Korruption ist auf fast jeder Verwaltungsebene weit verbreitet. In der Zeitung U.S. News & World Report hieß es:
„Es ist nicht nur Watergate. Im ganzen Land kommen Gaunereien der Behörden ans Tageslicht — auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene. Die Folge ist, wie eine ... Umfrage zeigt, ein wachsendes Mißtrauen gegenüber den Politikern im allgemeinen. ...
Viele Leute beschreiben die Politik als ein ,zwielichtiges Geschäft‘ und nehmen gegenüber den Politikern im allgemeinen eine geringschätzige Haltung ein. Einige scheinen Amtsvergehen eher als Regel denn als Ausnahme zu betrachten. ...
Die Auswirkung all dessen: wachsende Unzufriedenheit über die Politiker als Gruppe.“
Aber das wachsende Mißtrauen gegenüber der Regierung ist nicht nur in Amerika ein Problem. Es ist praktisch in jedem Land der Erde vorhanden. In England zum Beispiel traten im vergangenen Juli zwei Regierungsbeamte, darunter ein hoher Minister, zurück, weil sie mit Prostituierten Kontakt hatten. Einer war fotografiert worden, während er mit zwei Huren im Bett lag.
In der Sowjetunion gab die Regierung kürzlich zu, daß sie das Volk in bezug auf eine wirtschaftliche Angelegenheit belogen hatte. Sie gestand, daß ein riesiger in Sibirien gebauter Generator, der laut Berichten vor fünf Jahren „in Dienst gestellt“ worden war, überhaupt nicht aufgestellt worden war, sondern in der Fabrik ausgebrannt war. Und doch wurde damals die „Installierung“ mit einer öffentlichen Einweihungszeremonie, verbunden mit Musik und Reden, gefeiert.
Unbeständigkeit von Regierungen ist ebenfalls weit verbreitet. Mitte 1973 traten der italienische Ministerpräsident und sein Kabinett zurück. Damit war die vierunddreißigste Regierung Italiens nach der Niederlage des Faschismus gescheitert. Der Ministerpräsident von Japan hatte sich einmal der Gunst von 65 Prozent der Bevölkerung erfreut. Aber Mitte vergangenen Jahres ergaben Umfragen, daß seine Popularität um zwei Drittel gesunken war.
Die Unfähigkeit menschlicher Regierungen, Vertrauen zu gewinnen, ist jetzt überall zu beobachten, und dies trotz der Tatsache, daß in der heutigen Zeit fast alle menschlichen Regierungsformen ausprobiert worden sind. Aber keine hat die Bedürfnisse der Menschen wirklich befriedigt: Keine war in der Lage, wahren Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Korruption, Verbrechen, wirtschaftliche Unsicherheit, Verschmutzung, Übervölkerung in den Städten, Furcht und Haß breiten sich aus wie eine Flutwelle. In einem Bericht aus Washington (D. C.) sagte Leitartikelschreiber James Reston: „Niemand in dieser Stadt, ganz gleich, welcher Partei er angehören mag, hat eine klare Antwort auf all die komplizierten und verwirrenden Probleme, vor denen die Nation im Inland und im Ausland steht.“
In anderen Ländern ist es keineswegs anders. Im National Observer hieß es: „Jede größere Industrienation erlebt eine ,Vertrauenskrise‘, da die Bevölkerung darüber enttäuscht ist, daß ihre Regierung die bestehenden Probleme anscheinend nicht lösen kann.“ Kleinere Nationen konnten ihre Probleme ebensowenig lösen, wie dies der ständige Wechsel ihrer Regierungen zeigt.
Einrichtungen aller Art versagen
Nicht nur Regierungen erweisen sich als unfähig, die Probleme des Menschen zu lösen. Einrichtungen aller Art versagen ebenso. Und daher werden sie immer mehr angegriffen.
In der in Los Angeles erscheinenden Times konnte man lesen: „Die Familien erhalten heute nicht viel Hilfe von den bestehenden Einrichtungen — weder von der Regierung noch von den Schulen, noch von den Kirchen.“ In Anbetracht der ständig anwachsenden Preise und der Verknappung auf verschiedenen Gebieten sinkt auch das Vertrauen zur Geschäftswelt und zur Industrie.
Dr. Phillip Converse von der Universität Michigan erklärte: „Wir haben einen immer größer werdenden alarmierenden Vertrauensschwund gegenüber unseren Institutionen zu verzeichnen. Man kann wirklich fast verzweifeln, wenn man Watergate zu dem schon bestehenden gewaltigen Verfall hinzurechnet.“
Was die Situation für die Menschen so entmutigend macht, ist die Tatsache, daß sie sich in der Vergangenheit, wenn eine Institution versagte, an eine andere wenden konnten, um Trost und Anleitung zu erhalten. Doch heute stellt sich heraus, daß alle versagen. Kein Wunder, daß Dr. A. Spilhaus, ein früherer Vorsitzender der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft, zu dem Schluß kam: „Man hat heute den Glauben an seinen Mitmenschen und an die Fähigkeit der Gesellschaft, ihre Probleme zu lösen, verloren.“