Wunder der Mikrochirurgie
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Australien
EINE junge Mutter wurde bei ihrer Hausarbeit plötzlich durch einen Schmerzensschrei aufgeschreckt. Als sie nach draußen eilte, stellte sie mit Entsetzen fest, daß ihr dreijähriger Sohn zwei Finger seiner jüngeren Schwester mit einer Axt abgeschlagen hatte. Ein Installateur verlor beim Bedienen einer Kreissäge seinen Mittelfinger, und zwei andere Finger wurden teilweise durchtrennt. Ein zweijähriger Junge fiel bei der Heuernte von der Mähmaschine seines Vaters, so daß sein Fuß in ein Scherblatt geriet und am Knöchel durchtrennt wurde. Ein Kesselschmied durchschnitt sich seinen rechten Unterarm etwa in der Mitte zwischen Handgelenk und Ellbogen, als er durch eine Fensterscheibe fiel.
Wären diese Unfälle vor etwa 10 Jahren passiert, hätte man lediglich die Wunde medizinisch behandeln können. Den abgetrennten Körperteil hätte man nicht mehr retten können. Heute dagegen ist die Aussicht, einen abgetrennten Körperteil wieder einzupflanzen und völlig funktionsfähig zu machen, hervorragend — sofern dem Verletzten die Wunder der Mikrochirurgie zugute kommen.
Das bei solchen Operationen verwendete Mikroskop versetzt speziell geschulte Chirurgen in die Lage, Arterien, Venen und Nerven wieder zusammenzufügen, von denen einige im Durchmesser kleiner sind als 1 mm. Abgetrennte Glieder werden nicht einfach angenäht, sondern vollständig an den Blutkreislauf und das Nervensystem angeschlossen.
Interessanterweise ist das Verfahren nichts Neues. Es nahm seinen Anfang zuerst in Schweden im Jahre 1921 mit Ohren-, Nasen- und Kehlkopfoperationen und in den 40er Jahren mit Augenoperationen. 1965 wurde in Japan ein abgetrennter Daumen und im darauffolgenden Jahr in China erstmals ein Zeigefinger wieder eingeheilt. Die erste erfolgreiche Finger-Replantation bei einem Kind gelang 1968 in Australien. Heute werden solche Replantationen — Einpflanzungen abgetrennter Körperteile — immer häufiger durchgeführt und sind in vielen Teilen der Erde verbreitet.
Vielfältiger Anwendungsbereich
Die Replantation ist zwar die aufsehenerregendste und gewöhnlich meistveröffentlichte, aber bei weitem nicht die einzige Anwendung der Mikrochirurgie. Mikrochirurgische Techniken kommen auch bei anderen wichtigen Operationen zum Einsatz, um Ergebnisse zu erzielen, die vor etwas mehr als einem Jahrzehnt als unmöglich gegolten hätten.
Zum Beispiel begann man vor einigen Jahren, Hautlappen zusammen mit den dazugehörigen Arterien, Venen, Nerven und sogar Knochen von der Brust- oder Leistengegend oder der Fußoberseite an eine verletzte Körperstelle zu verpflanzen. Sehr bereichert wurden dadurch auch andere Gebiete der Chirurgie, die die Entfernung großer Gewebeteile erfordern, wie im Falle von Rachenkrebsoperationen, bei denen ein neuer Schlund eingepflanzt werden muß. Die Gefäße und Nerven des verpflanzten Teils werden mikrochirurgisch mit der neuen Umgebung richtig verbunden, und die Stelle, der es entnommen wurde, wird auf ähnliche Weise geschlossen, eventuell noch durch Hautverpflanzung. Da es sich um körpereigenes Gewebe des Patienten handelt, besteht kaum die Gefahr, daß es abgestoßen wird.
Ein anderes Anwendungsgebiet der Mikrochirurgie, das zusehends bedeutungsvoller wird, ist das Rückgängigmachen von Sterilisationen bei Personen, deren Lebensumstände sich geändert haben. Obwohl im Fall durchtrennter Samenleiter Gefäße miteinander verbunden werden müssen, die nicht dicker als ein drittel Millimeter sind, zeigt eine Studie, daß es bei 90 Prozent der Patienten gelingt und daß bei der Hälfte der bekannten Fälle die Partnerin bald schwanger wird. Weibliche Eileiter sind mit derart gutem Erfolg wieder zusammengefügt worden, daß vor kurzem in einer Zeitung die Schlagzeile zu lesen war: „Achtzig Prozent der sterilisierten Mütter können Aussicht auf Schwangerschaft haben“.
Man erforscht noch andere Anwendungsmöglichkeiten für das neue Verfahren. Eine davon ist die Operation am Fetus im Mutterleib, und eine andere ist die Verwendung von Mikrolaserstrahlen in der Chirurgie.
Ausrüstung und Technik
Der Operationssaal einer mikrochirurgischen Abteilung bietet keinen ungewohnten Anblick — das Operationsteam mit Kittel und Gesichtstuch, der Operationstisch und der Narkosewagen —, aber es fällt sofort ein Unterschied auf: Über dem Operationstisch ist ein großes Instrument angebracht, das man für eine doppelseitige Kombination aus einem Fernglas und einer Fernsehkamera halten könnte. Da der Chirurg (und gewöhnlich auch sein Assistent) den Patienten nicht direkt, sondern durch dieses Gerät betrachtet, erhält er ein vergrößertes räumliches Bild von den winzigen Gefäßen und den anderen Körperteilen.
Die verwendeten Nadeln ähneln den Augenwimpern eines Babys und sind mit bloßem Auge kaum zu sehen. Der Nylonfaden, der einen Durchmesser von 0,018 mm hat — ein Viertel der Dicke eines menschlichen Haares —, ist an der Nadel befestigt, muß also nicht eingefädelt werden. Die Chirurgen verwenden auch feinste Pinzetten, kleine Klammern für die Gefäße, feine Scheren und einen Nadelhalter.
Es müssen mehrere Knoten gemacht werden, da ein durchgehender Faden die unerläßliche pulsierende Bewegung von Blutgefäßen behindern würde. An einem Gefäß von etwa 1 mm Durchmesser können bis zu 14 Knoten untergebracht werden. Falls du dich auf das Nähen von Stoff oder Leder verstehst, kannst du dir ausmalen, wie mühselig und zeitraubend es ist, solch feine, mikroskopische Knoten zu machen. Diese Technik bezeichnete vor kurzem jemand als „wahrscheinlich eine der schwierigsten Aufgaben der Welt. Das geringste Zittern der Hand macht alles zunichte.“
Die Mikrochirurgie und der Chirurg
Es ist beeindruckend zu beobachten, welche Konzentration und Feinfühligkeit erforderlich sind, damit der Chirurg das gewünschte Ergebnis erzielt. Die Handbewegungen müssen ruhig und präzise sein, weshalb die meisten Chirurgen vor einer mikrochirurgischen Operation den Kaffee- oder Alkoholgenuß meiden, da sonst in der Handbewegung Unregelmäßigkeiten hervorgerufen werden können, die zwar für das bloße Auge nicht wahrnehmbar sind, aber unter dem Mikroskop als Zittern erscheinen.
Wegen der Techniken und der besonderen Fertigkeiten sind Erfahrung, Experimente und eine Fachausbildung mit jahrelanger Praxis unerläßlich. Gegenwärtig gilt Australien in der Mikrochirurgie weltweit als führend — ein glücklicher Umstand, da in Australien, gemessen an der Bevölkerungszahl, mehr Gliedmaßen durch Unfälle abgetrennt werden als in irgendeinem Industrieland des Westens.
Wir wollen uns nun in eine Operation „einblenden“, bei der ein vollständig abgetrennter Handteller eingepflanzt wird. Bei einer solchen mikrochirurgischen Operation müssen Haut, Muskeln, Sehnen, Nerven, Venen und Arterien durch eine Unzahl mikroskopischer Knoten zusammengenäht werden.
Vier Arterien und vier Venen werden wieder zusammengefügt, um eine ausreichende Durchblutung zu gewährleisten. Da die Venen wegen ihrer Dünnwandigkeit leicht zusammenfallen und schrumpfen, lassen sie sich manchmal nur sehr schwer wiederfinden. Hat man sie einmal ausfindig gemacht, müssen sie gereinigt, beschnitten und zusammengefügt werden. Wurde bei dem Unfall ein Blutgefäß verkürzt, muß wahrscheinlich ein Zwischenstock eingesetzt werden, das einem anderen Teil des Körpers entnommen werden kann. Dadurch, daß zuerst die Venen und dann die Arterien miteinander verbunden werden, geht weniger Blut verloren.
Etwa 10 Fingernerven, die aus je fünf oder sechs Faserbündeln bestehen, werden wiederhergestellt. Neun Sehnen und acht kleine Muskeln werden miteinander verbunden. Schließlich werden die Hautteile genäht. Insgesamt waren ungefähr 180 mikroskopische und 100 herkömmliche Nadelstiche erforderlich.
Diese Operation dauerte etwa sechs Stunden. Je nach Objekt können solche Operationen zwei bis zwanzig Stunden beanspruchen. Die Einpflanzung eines einzigen Fingers dauert vier bis sechs Stunden.
Was tut man im Ernstfall?
Es kann so schnell passieren: Du, ein Angehöriger oder ein Arbeitskollege verliert durch einen Unfall einen Finger, eine Hand oder ein Bein. Laß keine Panik aufkommen! Lege den abgetrennten Körperteil in eine saubere Plastiktüte (oder einen Gummihandschuh), und verschließe sie gut, damit kein Wasser eindringen kann. Das Ganze solltest du dann kühl halten — bei etwa 4—6 °C. Lege also die Tüte in kaltes Wasser, das Eisstücke enthält, und bringe sie so schnell wie möglich in das nächstgelegene Krankenhaus oder in eine Klinik mit mikrochirurgischer Abteilung. Sofern das nicht möglich ist, lege man den Teil am besten in einen Kühlschrank, aber nicht in eine Gefriertruhe. Stecke den Körperteil nicht in Eis, und tauche ihn auch nicht in antiseptische Lösungen oder in Desinfektionsmittel, da sonst das Gewebe zerstört wird und eine Einpflanzung unmöglich werden könnte. Du solltest ihn nicht einmal waschen, denn es ist wichtig, den abgetrennten Körperteil trocken zu halten.
Es ist auf jeden Fall nützlich zu wissen, wo sich die nächste Klinik mit mikrochirurgischer Abteilung befindet. In der Zeitschrift The Lancet vom 2. Oktober 1976 heißt es: „Unglücklicherweise gibt es heute noch Sanitäter, die sich nicht um abgetrennte Finger kümmern, obwohl sie sie kühlen und zusammen mit dem Patienten zur nächsten Klinik mit mikrochirurgischer Abteilung bringen sollten.“
Die längste Aufbewahrungsdauer für erfolgreiche Wiedereinpflanzungen ist je nach Körperteil verschieden. Abgetrennte Finger haben ohne wirksame Kühlung 10 Stunden und bei kühler Lagerung mehr als 30 Stunden überdauert. Bei einem Experiment wurde einem Hund ein Bein wieder eingepflanzt, das nach dem Abtrennen 48 Stunden kühl aufbewahrt worden war.
Grenzen und Nutzen
Der Erfolg von Wiedereinpflanzungen hängt von vielen Faktoren ab. Wurde ein Finger ganz scharf und glatt durchtrennt, beträgt die Erfolgschance einer Wiedereinpflanzung nahezu 100 Prozent. Die Aussichten sind schlechter, sobald das Gewebe oder ein Knochen gequetscht oder anderweitig schwer verletzt wurde. Es kann sogar sein, daß der Chirurg unter solchen Umständen von einer Wiedereinpflanzung Abstand nimmt. Ein anderer wichtiger Faktor ist der Zustand des Patienten, der so gut sein muß, daß eine längere Operation möglich ist.
Eine Studie in Australien zeigte, daß bei der Einheilung von Fingern die Erfolgsrate 70 Prozent und von Armen 80 Prozent beträgt. Wie ein anderer Bericht zeigt, erlangen im allgemeinen eingepflanzte Finger zu 80 Prozent ihre normale Bewegungsfähigkeit zurück, abgesehen davon, daß einige Gelenke nicht mehr völlig gestreckt werden können. Nach der Operation sind Gymnastik und Physiotherapie unerläßlich, um die Funktionen des betreffenden Körperteils wiederherzustellen. Doch alle Versuche, einen Unterarm wieder einzuheilen, der oberhalb der Mitte abgetrennt wurde, sind bisher erfolglos verlaufen.
Abgetrennte Daumen versucht man auf jeden Fall wieder anzusetzen, da der Daumen 40 Prozent der Bewegungsfunktionen der Hand bestreitet. Sollte der Versuch mißlingen, wird die große Zehe des Patienten eingepflanzt. Sobald die Sehnen, Nerven, Blutgefäße und Knochen der Zehe eingeheilt sind, hat der Patient ein ebenso gutes Tastempfinden wie mit seinem ursprünglichen Daumen.
„Es ist eigenartig, wie sehr eine Zehe einem Daumen ähnlich sehen kann, wenn sie einmal verpflanzt worden ist“, meinte ein Chirurg. „Der Daumen ist dicker als vorher, aber das läßt sich durch chirurgische Korrekturen ändern.“ Der Gedanke, eine große Zehe zu verlieren, würde vielen nicht behagen, aber eine große Zehe braucht man nicht zum Essen oder zum Schreiben und auch nicht für die unzähligen anderen Aufgaben, die ein Daumen tagtäglich erfüllt.
Nach einer kurzen Zeit der Gewöhnung und Gymnastik kann der Betreffende wieder gehen, laufen und Sport treiben. Unter der wachsenden Zahl von Australiern, die anstelle eines Daumens eine große Zehe haben, befindet sich auch ein Footballprofi.
Happy-End
Personen aller Lebensbereiche haben schon aus den Wundern der Mikrochirurgie Nutzen gezogen. Die eingangs erwähnten Personen mögen als Beispiel dienen. Sie sind charakteristisch für Hunderte von anderen Fällen.
Das kleine Mädchen, das jetzt etwa ein Jahr älter ist, hat wieder beide Finger, und ihre operierte Hand ist von der anderen Hand schwer zu unterscheiden. Auch die Finger des Installateurs sind gerettet, nur bei kaltem Wetter bereiten sie einige Schwierigkeiten. Der zweijährige Junge — heute acht Jahre alt — rennt, springt und spielt Football wie jedes andere Kind. Der Unterarm des Kesselschmiedes ist so gut eingeheilt, daß er Karate lernt und mit seinem ehemals durchtrennten Arm Dachziegel durchschlagen kann.
Ja, die Mikrochirurgie ist eine wunderbare Technik, hat sie doch für einige Unfallopfer viel Gutes bewirkt. Weitaus erstaunlicher dagegen ist die Heilkraft des Körpers. Chirurgen können einen Körperteil wieder annähen, doch die „eingebaute“ Regenerationsfähigkeit ist ein beredtes Zeugnis für die überlegene Weisheit des Konstrukteurs unseres Körpers. Wenn wir Wertschätzung dafür haben, werden wir dem Psalmisten zustimmen, der über unseren großen Schöpfer die bewundernden Worte äußerte: „Ich werde dich lobpreisen, weil ich auf furchteinflößende Weise wunderbar gemacht bin“ (Ps. 139:14).