Wir wollen unsere fremdsprachigen Nachbarn besser kennenlernen
Ein Bericht, wie er dem „Awake!“-Korrespondenten in der Bundesrepublik Deutschland erzählt wurde
„KOMM doch einmal mit!“ „Es würde mich schon reizen.“ „Also gut. Du kannst morgen mitfahren, wenn ich Mrs. Jones besuche. Sie wird dir bestimmt gefallen; sie ist sehr nett.“
Angelika, eine langjährige Freundin von mir, war für einige Tage bei mir zu Besuch — übrigens, ich heiße Rita —, und ich war eben dabei, ihr von meinen Erlebnissen zu erzählen, die ich während der letzten paar Jahre in der englischsprachigen Versammlung der Zeugen Jehovas, zu der ich gehöre, gehabt hatte. In dieser Zeit habe ich eine Menge über Amerika gelernt und viele Freunde gewonnen. Dies hat mich veranlaßt, einige meiner alten Vorstellungen zu berichtigen und auch meine eigenen Gewohnheiten aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, denn vieles sieht anders aus, wenn man lernt, es mit den Augen anderer zu betrachten. Man stellt fest, daß man oft mit Vorurteilen belastet ist. Inzwischen weiß ich, daß man mit solchen Vorurteilen sehr vorsichtig umgehen muß. Was für einen Teil der Bevölkerung eines Landes als „typisch“ angesehen wird, mag bei weitem nicht auf die Gesamtheit zutreffen.
Es ist besonders schwierig, von einem „typischen Amerikaner“ zu sprechen, denn die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) bildet nahezu einen Querschnitt aller Rassen und Nationen der Welt. Die etwa 500 000 Ureinwohner Amerikas, die Indianer, stellen heute nur eine Minderheit unter der Bevölkerung von mehr als 217 Millionen Menschen dar. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kam die Mehrheit der Einwanderer aus dem nördlichen und westlichen Europa: aus Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Skandinavien. Danach kam der größere Teil der Einwanderer aus Süd- und Osteuropa: Griechenland, Italien, Österreich, Ungarn, Polen und Rußland.
So wird häufig von den USA als einem Schmelztiegel der Nationen gesprochen. Passender erscheint mir aber der Vergleich mit einer Salatschüssel, den ich irgendwo gelesen habe. Eine große Anzahl von Zutaten sind in ihrer ursprünglichen Form immer noch zu erkennen, obwohl sie zu etwas Neuem vermischt wurden. So haben viele Nationalitäten ihre Eigenheiten bewahrt, die sich in ihrer Lebensweise, ihrer Einstellung und in ihrer vielfältigen Küche widerspiegeln.
Auffallend ist die Größe des Landes. Zu den USA gehören 50 Einzelstaaten, von denen allein Texas größer ist als jedes europäische Land, die Sowjetunion ausgenommen. Es würde viel Zeit erfordern, alle 50 Staaten zu bereisen, denn sie sind fast 38mal so groß wie die Bundesrepublik. Somit beträgt die Durchschnittseinwohnerzahl pro qkm in den USA nur 22 Einwohner, wogegen sie in Österreich bei 91, in Luxemburg bei 135, in der Schweiz bei 153 und in der Bundesrepublik sogar bei 247 liegt. Um das etwas besser zu veranschaulichen: Der Staat Oregon an der Westküste entspricht mit seiner Fläche ungefähr der Bundesrepublik. Dort leben allerdings etwas weniger als 2,5 Millionen Menschen im Vergleich zu den 62 Millionen in der Bundesrepublik. So kann man auch verstehen, warum viele Amerikaner, die hier in Europa wohnen, ein Gefühl der Enge haben.
Einwanderer aller Rassen und Hautfarben, die aus allen Teilen der Welt stammen, haben das Bild der amerikanischen Bevölkerung geprägt. Angehörige einer bestimmten Nationalität haben sich oft vorwiegend in einem Staat konzentriert, so zum Beispiel Skandinavier in Minnesota, Juden und Italiener in New York und Deutsche in Pennsylvanien. Auch die wirtschaftliche Situation ist in jedem Staat, je nach seiner geographischen Lage, seiner Bodenbeschaffenheit und seinen Bodenschätzen, verschieden. Georgia ist berühmt für seine Baumwolle — neuerdings auch für seine Erdnüsse —, Idaho für seine Hölzer und Kartoffeln und Texas für seine Rinderzucht und seine riesigen Ranches. Nicht zu vergessen sind die vielen Staaten des Mittelwestens, die das größte Getreideanbaugebiet der Welt bilden.
In den USA sind fast alle Klimazonen vertreten. Weite Teile von Arizona, New Mexico, Texas und Nevada sowie der südliche Teil von Kalifornien sind mit Wüsten bedeckt, und es herrscht teilweise subtropisches Klima. Im Nordosten, in den Neuenglandstaaten Vermont, Maine, Rhode Island und Connecticut, ja noch in Virginia und Pennsylvanien, beeindrucken riesige Mischwälder mit ihrem buntgefärbten Laub im Herbst den Menschen immer wieder aufs neue. Und wer hätte nicht schon von Florida, einem Land des immerwährenden Sonnenscheins, gehört? Viele erinnern sich auch noch sicher an Lektüre ihrer Jugendzeit über abenteuerliche Erlebnisse im Wilden Westen, in den weiten Prärien und dem wildzerklüfteten amerikanischen Felsengebirge (Rocky Mountains). So unterschiedlich wie das Land, so vielfältig sind auch die Menschen.
Ihre Einstellung zur Religion
Sicherlich nicht ohne Bedeutung ist, daß viele der ersten Einwanderer Amerikas auf der Suche nach Religions- und Glaubensfreiheit waren. So begegnet man vielen Menschen, die auch heute noch einen gewissen Respekt vor der Bibel haben und bereit sind, ein Gespräch über Gott zu führen. Man trifft selten eine Familie an, die keine Bibel besitzt. Teilweise wird sie sogar recht fleißig gelesen. Das bedeutet, daß man bei biblischen Gesprächen sofort die Bibel als Grundlage der Beweisführung benutzen kann. Man unterhält sich verhältnismäßig selten über die Frage der Existenz eines Schöpfers oder über die Glaubwürdigkeit der Bibel. Oft ist es sogar möglich, tiefer gehende biblische Fragen und Lehren zu besprechen. Bei Bibelstudien erleichtert das mühevolle Vorarbeit. Dafür kann es dann aber schwieriger sein, alte Vorstellungen und Ansichten zu berichtigen.
Der südliche Teil der USA, der sogenannte „Bible Belt“, also Bibelgürtel, war lange Zeit eine Bastion protestantischen Denkens. Über 300 religiöse Gruppen versuchen mit verschiedenen Methoden, den Menschen den rechten Weg zum Heil zu zeigen; Teufelsaustreibung, Zungenreden, Gesundbeten und besonders die Klänge rhythmischer Musik beherrschen die Szenerie in vielen Kirchen des Südens. Viele Anhänger dieser Gruppen lehnen auch heute noch das Rauchen, das Trinken jeglicher alkoholischen Getränke, das Tragen von Schmuck und Make-up und das Kartenspielen strikt ab. Das heißt allerdings nicht, daß alle sich wirklich danach richten. Im Gegenteil, diese sehr extreme Einstellung trägt dazu bei, daß einige, wenn sie weit weg von zu Hause und in einer ungewohnten Umgebung leben, die neugewonnene „Freiheit“ nicht nur genießen, sondern sogar mißbrauchen. Natürlich bleiben negative Auswirkungen auf die Familie nicht aus.
Religiöse Elemente greifen selbst auf das öffentliche Leben über. Der frühere Präsident Nixon betete öffentlich und ließ sich von dem Evangelisten Billy Graham beraten; Jimmy Carter zitierte bei seiner Antrittsrede mehr die Bibel als so mancher Geistliche in Europa. In den Übertragungen der deutschen Fernsehstationen wurden solche Bemerkungen allerdings weitgehend herausgeschnitten.
Ein Besuch bei Mrs. Jones
Mrs. Jones ist Soldatenfrau. Viele der amerikanischen Soldaten stammen aus einfachen Verhältnissen. Um ihren Lebensstandard zu verbessern, sind sie freiwillig in die Armee eingetreten. Dort ist ihnen vielfach eine Berufsausbildung sicher, außerdem ein geregeltes Einkommen, die Möglichkeit, in fremden Ländern zu dienen, eine niedrige Miete für große Wohnungen, freie medizinische Versorgung und die Möglichkeit, die wichtigsten Lebensmittel und Gebrauchsgüter ungewöhnlich billig einzukaufen. Nach 20 Jahren Dienst wird eine Rente auf Lebenszeit gezahlt und eine Berufsausbildung oder Fortbildung einige Zeit auf Kosten des Staates mit Unterhaltszahlung gewährt.
Einige dieser Soldaten haben bei ihrem Aufenthalt in fremden Ländern, wie in Japan und Korea, auf Okinawa und auf den Philippinen, ihre Frauen kennengelernt und bei ihrer Versetzung nach Deutschland mitgebracht. Deshalb bieten die amerikanischen Wohngebiete ein buntes Bild. Das fiel mir am nächsten Tag wieder auf, als ich mit Angelika unterwegs war, um Mrs. Jones zu besuchen. Sie nahm uns freundlich auf, und nachdem wir das Bibelstudium durchgeführt hatten, das wir jede Woche abhalten, bat sie uns, etwas dazubleiben. Angelika konnte es kaum erwarten, einige Fragen zu stellen.
„Wie gefällt es Ihnen hier in Deutschland?“ fragte sie etwas zögernd, als Mrs. Jones ihr eine Tasse Kaffee vorsetzte.
„Einiges gefällt mir ganz gut, wissen Sie, einiges aber auch nicht. Auffallend ist die Sauberkeit, auch die vielen Blumen. Die Häuser auf dem Land sind mit Gärten voller Blumen umgeben. Es gefällt mir auch, daß man Leute zu Fuß gehen oder radfahren sieht. Bei uns ist das ganz anders. Da, wo ich herkomme, wird sogar der Gang zum Kaufmann an der Ecke mit dem Auto erledigt.“
„Man lebt dann hier doch etwas ruhiger als drüben, oder?“
„Nein, das wollte ich damit eigentlich nicht sagen. Im Gegenteil! Das Leben in den Staaten scheint mir lange nicht so hektisch zu sein wie hier in Deutschland. Die Deutschen haben es immer so eilig! Besonders wenn sie im Auto sitzen. Ihnen ist sicherlich schon aufgefallen, daß amerikanische Autofahrer verhältnismäßig langsam fahren. Damit lösen sie zuweilen recht ungehaltene Reaktionen bei deutschen Autofahrern aus, aber“ — sie schüttelte den Kopf — „diese Raserei auf den Autobahnen! So schnelles Fahren sind wir in Amerika nicht gewohnt. Es hat schon immer eine Geschwindigkeitsbegrenzung gegeben, aber jetzt, seit der Energiekrise, beträgt sie selbst auf Fernstraßen etwa 90 km/h, und die Kontrollen sind wesentlich strenger als hier.“
Die Sache wurde mir langsam peinlich, denn ich war mit meiner Freundin in ihrem Wagen auch schon einige Male über die Autobahn „gerast“. Ich glaube, sie fühlte sich auch angesprochen, denn sie stellte — meine ich jedenfalls — schnell eine Verlegenheitsfrage.
„Was sind sonst die Unterschiede zwischen unseren Ländern?“
„Vor allen Dingen die Sprache. In Nordamerika spricht und versteht jeder Englisch; hier in Europa hat fast jedes Land seine eigene Sprache. Hier sind die Entfernungen sehr kurz, und man ist schnell in einem anderen Land. Als Amerikaner kann man auf dem eigenen Kontinent tagelang reisen, ohne eine Sprachgrenze zu erreichen. Man hat also niemals Verständigungsschwierigkeiten. Außerdem bekommt man überall die gleichen Hamburger, heißen Würstchen oder gebratenen Hähnchenteile und kann in Hotels der gleichen Hotelkette übernachten. Hier ist es jedoch anders. Ich habe mich auch bemüht, etwas Deutsch zu lernen, aber wissen Sie, es ist ziemlich entmutigend, wenn ich versuche, mein Deutsch anzuwenden, und alle, die ich anspreche, mir stets in Englisch antworten. Oder wenn jemand mit mir in gebrochenem Deutsch spricht, wie etwa zu einem Kleinkind — also ,Du sprechen gut Deutsch‘ —, ist das mir natürlich auch keine große Hilfe.“
Ja, die Sprachschwierigkeiten, dachte ich. Sie können auch manchmal zu drolligen Mißverständnissen führen. Ein Amerikaner wunderte sich zum Beispiel auf einer Reise durch das bayrische Alpenland über die außergewöhnliche Gastfreundschaft der Bevölkerung, denn er sah an vielen Häusern das Schild „Zimmer frei“, was auf englisch, buchstäblich übersetzt (und so verstand er es auch), bedeutet: „Zimmer umsonst“!
Inzwischen wollte Angelika wissen, was Mrs. Jones in Deutschland am meisten vermisse.
„Das ist schwer zu sagen, aber vielleicht, daß man drüben mehr Zeit füreinander hat. Es geht eben nicht so hektisch zu. Und natürlich das warme Wetter! Hier in Deutschland hat man kaum einen richtigen Sommer. Es fehlt mir einfach der Drang ins Freie. Es wird aber langweilig, wenn man immer im Zimmer sitzt. Zu Hause sind wir oft fischen gegangen, haben Golf gespielt, sind mit dem Boot gefahren oder haben auf Picknicks gegrillt. Und natürlich fehlen mir meine Eltern und meine Geschwister.“
„Sicherlich werden Sie gerne in die Staaten zurückkehren.“
„Schon, aber meinen Aufenthalt in Deutschland möchte ich auf keinen Fall missen, denn er hat mein Leben für immer verändert.“ Ich spürte ein unbeschreibliches Gefühl der Freude, als sie weitererzählte: „Durch das Bibelstudium mit Jehovas Zeugen habe ich gelernt, biblische Grundsätze im täglichen Leben anzuwenden. Vieles hat sich bei mir grundlegend verändert. Wenn ich an meine Zornesausbrüche denke! Und das schmutzige, unordentliche Haus war eine Dauereinrichtung. Mir fehlte einfach das Interesse an einem ordentlichen Leben. Ich sagte mir: Wozu soviel Arbeit? Das Leben ist so kurz! Ich war innerlich leer und haltlos. Jetzt verstehe ich aber den Sinn des Lebens. Ich habe inzwischen aufgehört, nachts zu arbeiten, um mich meinen Kindern und dem Haushalt besser widmen zu können. Auf das zusätzliche Geld kann ich gern verzichten. Dafür ist jetzt mein Geist befriedigt. Ich kann mich an guten Dingen erfreuen.“
Bald war es aber an der Zeit, Mrs. Jones zu verlassen und wieder nach Hause zu fahren — übrigens etwas langsamer als sonst. Unterwegs hatten wir viel Gesprächsstoff. Unser kurzer Aufenthalt in „Klein-Amerika“, wie manche die Soldatensiedlung nennen, hat meiner Freundin sehr gut gefallen. Hoffentlich auch dir!
[Karte auf Seite 25]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
London
Moskau
Paris
Bonn
Warschau
Madrid
Wien
Rom
Bukarest