Die Waldenser in Deutschland — damals und heute
ABER dazu haben wir doch unseren Pfarrer“, meinte der hagere alte Mann an der Haustür, als wir ihn zu einem Gespräch über die Bibel ermuntern wollten. Ergänzend sagte er, er wolle an der Tradition seiner Vorfahren festhalten, die um ihres Glaubens willen aus ihrer Heimat in Frankreich vertrieben worden seien und sich schließlich an verschiedenen Orten Württembergs angesiedelt hätten. Seine Augen bezeugten, daß er stolz war, ein Waldenser zu sein oder — nach dem Sprachgebrauch der umliegenden Orte — ein „Welscher“. Das Dorf am östlichen Rande des Schwarzwaldes, wo wir bei den Menschen vorsprachen, wurde ursprünglich Bourset genannt, heißt aber jetzt im Volksmund einfach „Welschdorf“.
Meinen jungen Begleiter interessierte die Geschichte dieser Leute. So gingen wir ein Stück abseits und nahmen auf einer Bank am Rand einer gepflegten Wiese Platz, wo wir einen stummen Zeugen vor uns fanden: den Waldenserstein, auf dem die Gründung des Dorfes im Jahre 1700 u. Z. erwähnt wird.
Der Anfang
Nein, mit dem Schwarzwald, der das Dorf umschließt, hat der Name Waldenser gar nichts zu tun. Vielmehr ist dieser Name auf Petrus Waldes (Valdus, Valdes) zurückzuführen, den Anführer der ersten Waldensera. Er war ein angesehener Kaufmann aus Lyon (Südfrankreich) und wurde in den 1170er Jahren durch den plötzlichen Tod eines Freundes zum Nachdenken veranlaßt. Daraufhin gehorchte er dem Rat, den Jesus dem reichen Jüngling gegeben hatte (Matth. 19:21), indem er seinen ganzen Besitz veräußerte und den Erlös an die Armen verteilte. Er ließ verschiedene Bibelteile in seine Muttersprache übersetzen und zog mit diesen handgeschriebenen Texten aus, um das Evangelium zu verkündigen. Obwohl er zuerst noch auf der Linie der Kirche predigte, ging er bald dazu über, gegen den Abfall der katholischen Kirche von den Grundsätzen der Heiligen Schrift zu protestieren. Viele ehrliche, wahrheitssuchende Menschen schlossen sich ihm an, selbst nachdem er 1184 von Papst Lucius III. exkommuniziert worden war.
Die Kirche war damals auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Bischöfe und Priester waren die Herren, und der Papst schien fast allmächtig zu sein. Das Volk allerdings war unwissend, abergläubisch und versklavt. Die Bibel war den Menschen nahezu unbekannt. Und jetzt traten diese frei predigenden Laien auf. Natürlich machten sie sich von Anfang an der Ketzerei verdächtig und waren schon nach kurzer Zeit wütenden Verfolgungen ausgesetzt. Sie taten aber das, was Jesus gemäß Matthäus 10:23 gesagt hatte: „Wenn man euch in einer Stadt verfolgt, so flieht in eine andere.“
Mit der Zeit kamen sie nach Oberitalien, Österreich und Böhmen, sogar bis nach Norddeutschland. Manchmal gingen sie als Händler getarnt von Dorf zu Dorf, von Burg zu Burg. Sie verstanden sich kraft der Heiligen Schrift als die wahre Kirche Gottes und fühlten sich deshalb zum öffentlichen Lehrdienst bevollmächtigt. Nur schwerlich vermag sich wohl der heutige, teilnahmslos gewordene Bürger die knisternde Spannung vorzustellen, wenn damals diese fremden Händler plötzlich eine handgeschriebene Kopie der Bergpredigt emporhoben und dann mit Begeisterung begannen, diese Worte Jesu den Herandrängenden vorzulesen und zu erklären. Sie sprachen mit Autorität und Freimut. Ihre Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit überzeugten. Es war anders als der lateinische Gesang der Priester. Kein Wunder, daß sie überall hörende Ohren fanden!
Stellungnahme zur Kirche
Viele Menschen seufzten über die Greuel, die in der Kirche im Namen Christi geschahen. Das Mißtrauen gegen die Kirche wuchs immer mehr. Was viele Menschen schon lange angezweifelt hatten, lehnten die Waldenser konsequent ab, zum Beispiel daß die Priester beim Abendmahl das Brot in den wirklichen Leib des Herrn verwandeln können; daß es ein Fegefeuer gibt; daß Gebete zugunsten Verstorbener etwas nützen; daß die Heiligen im Himmel für die Menschen auf der Erde Fürbitte leisten können.
Ferner erklärten sie freimütig: „Die Ablässe der Kirche sind lose Künste und um des Geldes willen erfunden. ... Hohe und große Kirchen bauen ist wider Gott. ... Bilder sind gegen die Gebote Gottes ... Das Holz des Kreuzes besitzt keine größere Kraft als ein anderes Holz.“
In Österreich wurden 1398 von der Kirche 89 Anklagepunkte gegen die Waldenser vorgebracht, in denen es unter anderem hieß: „Sie glauben, daß jene die Vollmacht, das Wort Gottes zu predigen, allein von Gott, nicht von dem Herrn Papst oder einem katholischen Bischof besitzen. ... Sie sagen und glauben, in einem Stall und in einer Scheune dürfe man geradeso beten wie in einer Kirche ... Sie verdammen und verwerfen das Küssen der Reliquien. ... Sie sagen und glauben, der allerheiligste Vater und Herr, unser Herr Papst, ... sei das Haupt und der Ursprung aller Häretiker. ... Sie glauben, das Taufwasser sei nicht heiliger als beliebiges Wasser, da man mit einem jeden anderen getauft werden könne. Dieselbe Meinung haben sie vom Weihwasser.“
Schwere Verfolgung
Diese einfachen Wanderprediger, die Hab und Gut verkauft und sich ganz bewußt der Armut verschrieben hatten, waren ausgezogen, um andere geistig reich zu machen. Noch lange nachdem Waldes 1217 in Böhmen gestorben war, breiteten sie ihre Botschaft kraftvoll aus, nicht mit dem Schwert — denn sie weigerten sich, Menschen zu töten —, sondern mit dem Wort Gottes. Sie überließen es der Kirche, zum Schwert zu greifen.
Es wurde bald klar, daß der Bannfluch der Kirche die Waldenser nicht aufzuhalten vermochte. Außerdem breiteten sich in Südfrankreich die Albigenser sehr stark aus. Sie hatten zwar nichts mit den Waldensern gemein, wurden aber ebenfalls der Ketzerei bezichtigt. So wurde auf Befehl Papst Innozenz’ III. ein neunjähriger Feldzug gegen die Ketzerei in Südfrankreich durchgeführt, in dessen Verlauf 60 000 Menschen von den Soldaten der Kirche hingeschlachtet und 20 Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden.
Unter den Opfern waren Tausende von Waldensern. Die Übriggebliebenen flohen in das Grenzgebiet der italienisch-französischen Alpen, wo sie sich mit ihren Familien in den ertraglosen, unbewohnten Gebirgstälern niederließen und sich als Viehzüchter und Landwirte betätigten. Dort gründeten sie dann gleich — gewissermaßen im Untergrund — eine Bibelschule, die jahrhundertelang ihr geistiges Zentrum blieb.
Auf Befehl der Kirche wurden sie aber auch in den Piemonttälern von den Söldnern der Inquisition immer wieder und immer härter angegriffen. Oft mußten sie mit ihren Kindern auf die kahlen Berge flüchten, wo manche im Schnee erfroren.
Das Wirken der Waldenser im Herzen Europas zur damaligen Zeit kann in der Tat als ein Zeugniswerk für Gott und Jesus Christus bezeichnet werden. Das war alles schon vor der Reformation, also vor der Zeit Martin Luthers.
Folgenschwere Veränderungen
Meinem jungen Begleiter war offensichtlich etwas nicht klar. „Auf dem Gedenkstein steht aber das Jahr 1700. Wie kommt es, daß so viele Jahre vergingen, bevor die Waldenser ihre Heimat verließen und hierherkamen?“
Die Antwort auf seine Frage hängt mit der sogenannten Gegenreformation zusammen. Bis zum Durchbruch des Protestantismus in Deutschland und in der Schweiz ließen die Waldenser sich lediglich von der Bibel leiten; sie hatten kein eigentliches Glaubensbekenntnis. Trotz der ernsten Bedenken einiger schlossen sie sich im Jahre 1532 der calvinischen (reformierten) Kirche an — ein Schritt, der natürlich manche Veränderungen mit sich brachte, auch in der Lehre. Bis sie schließlich ihre eigene Fakultät bekamen, wurden Pfarrer in Genf und Lausanne für sie ausgebildet.
Der Anschluß brachte den Waldensern aber nicht den ersehnten Frieden. Ihr Zentrum, eingekeilt zwischen zwei katholischen Staaten, Frankreich und Italien, war der Kirche ein Dorn im Auge. Bald wurden sie aufs neue angegriffen. Obwohl sie ursprünglich Kriegsdienstverweigerer waren, griffen sie jetzt auch zum Schwert und mußten unbarmherzige Leiden ertragen. In ihrer Anfangszeit hatten sie sich — wie die Urchristen — bei Verfolgung einfach zerstreut und so das Evangelium ausgebreitet. Jetzt wurden sie infolge ihrer neuen Taktik immer wieder fast aufgerieben.
Allein im Frühjahr 1655 brachte eine Abteilung Soldaten 8 000 Menschen bestialisch um. Als im Jahre 1681 ein neuer Angriff erwartet wurde, beschlossen die Waldenser unter ihrem Heldenpfarrer Henri Arnaud, mit der Waffe Widerstand zu leisten. Nach großen Verlusten konnte nur noch ein Überrest in die Schweiz flüchten.
Acht Jahre später kehrten sie zurück, wurden aber im Jahre 1698 endgültig aus ihren Gebirgstälern ausgewiesen. 3 000 Flüchtlinge, unter ihnen auch ihr Anführer Arnaud, kamen im Sommer 1699 nach Deutschland, wo sie vornehmlich in Hessen und im schwäbischen Raum angesiedelt wurden.
Das Licht nimmt ab
Auf dem Waldenserstein sind die Familiennamen der ursprünglich Angesiedelten festgehalten, auch der Name des Mannes, mit dem wir vorhin im Dorf gesprochen hatten. Was verstand er wohl unter dem Hochhalten der Tradition seiner Vorfahren? Wußte er, was den ersten Waldensern die Bibel bedeutete und daß sie sich, obwohl Laien, für die Botschaft des Wortes Gottes bis zum Äußersten einsetzten? Daß sie dies nicht den Pfarrern überließen?
Welche Veränderung ist doch seither vor sich gegangen! Die „Welschen“ haben sich längst den Schwaben angepaßt, deren Dialekt sie mit einer besonderen Note sprechen. Im allgemeinen erschöpft sich das heutige Waldensertum in der Pflege rein äußerlicher Traditionen. Es gibt einen Waldenserverein und auch das Waldensermuseum. Es gibt die Waldenserfeste, bei denen durch Ansprachen und Darstellungen an die frühere Zeit erinnert wird. Doch daheim, im Alltag, trifft man kaum noch eine Familie beim Bibellesen an, und der Geist der ersten Waldenser, ihre Tatkraft und Gottergebenheit, Opferbereitschaft und Bescheidenheit, ist dem „aufgeklärten“ Geist unserer Zeit gewichen. Geld, Sport, Politik und Modernismus prägen den Alltag. In Sachen Religion ist man skeptisch, und manche bekennen ehrlich, daß sie sich auf den Lorbeeren ihrer Väter ausruhen.
Das Wappen auf dem Waldenserstein zeigt eine leuchtende Kerze und sieben Sterne mit folgendem lateinischen Text aus dem Johannesevangelium: „LUX LUCET IN TENEBRIS“, was bedeutet „Licht leuchtet in Finsternis“. In der Bibel heißt es in diesem Vers weiter: „Die Finsternis hat es nicht auslöschen können“ (Joh. 1:5, Die Gute Nachricht). Und obwohl viele Nachkommen der Waldenser gleichgültig geworden sind, trifft dies nicht auf alle zu. Die Finsternis hat das Licht tatsächlich nicht auslöschen können!
Man findet immer noch einige Nachkommen der Waldenser, die regelmäßig in der Bibel lesen und sogar von Tür zu Tür gehen, um die biblische Wahrheit auszubreiten, wie ihre gläubigen Vorfahren dies auch getan haben. Man denkt dabei an eine ältere Frau, Mutter von sechs Kindern, die auf der Straße von einem jungen Zeugen Jehovas angesprochen wurde. Während sie gemeinsam einen Weg von etwa vier Kilometern gingen, „öffnete [Gott] ihr das Herz“b, so daß sie erkannte, daß das ihr Erzählte wirklich die Wahrheit sein mußte. Später wurde diese alte Waldenserin zusammen mit zwei Töchtern und zwei Schwiegersöhnen getauft, und heute bezeugen sie die biblische Wahrheit bei jeder Gelegenheit und von Haus zu Haus.
Was ihre Geschichte lehrt
Mein junger Freund war tief beeindruckt, und wir sprachen weiter darüber, wie die Geschichte der Waldenser auch für uns heute als warnende Lehre verstanden werden kann. Das Licht der Wahrheit kann nicht automatisch von Generation zu Generation vererbt werden. Sprüche 27:24 drückt diese Wahrheit so aus: „Ein Schatz wird nicht bis auf unabsehbare Zeit währen noch ein Diadem für alle Generationen.“ Diese Tatsache lehrt ja auch schon die Geschichte Israels.
Er wurde sehr nachdenklich, als ich ihm sagte: „Das gleiche trifft natürlich auch heute zu. Junge Menschen, die in ihrer Kindheit von ihren Eltern in der biblischen Wahrheit unterwiesen wurden, müssen selbst die Bibel intensiv studieren, um für sich das Licht zu erbitten und zu erarbeiten, das ihre Väter vielleicht sogar unter Einsatz ihres Lebens hochhielten. Sonst würde es in ihrer Hand erlöschen. Vereine, Festversammlungen, Gebäude und auch Menschen sind ohne den Geist Gottes tot. Aber so, wie die ersten Waldenser vom Geist Gottes getrieben wurden und tatsächlich die reichsten unter ihren Zeitgenossen waren — trotz ihrer Armut —, so wird es auch jetzt sein, wenn wir unsere Wertschätzung für das Licht der Bibel immer wieder erneuern.“
Er legte seine Hand auf meine Schulter, bedankte sich, daß ich mir die Zeit genommen hatte, ihm dies alles zu erzählen, und fragte: „Wollen wir jetzt in unserem Predigtdienst weitermachen?“ (Eingesandt.)
[Fußnoten]
a Dies wird allerdings von einigen Historikern abgestritten, die behaupten, daß der Ursprung der Waldenser auf einen früheren Zeitpunkt anzusetzen und ihr Name von einem Wort, das „Tal“ bedeute, abzuleiten sei. Fest steht auf jeden Fall, daß Petrus Waldes mit dieser Bewegung sehr viel zu tun hatte.
b Vergleiche Apostelgeschichte 16:13-15.
[Bild auf Seite 26]
Auf dieser Tafel am Waldenserstein stehen die Familiennamen der Angesiedelten, die man heute in der ganzen Umgebung wiederfindet. Oberhalb des Wappens sieht man den Bibeltext: „Licht leuchtet in Finsternis.“