Erdbeben verwüstet Guatemala — Ein Augenzeugenbericht
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Guatemala
IN Guatemala sowie in vielen anderen Teilen Mittelamerikas erbebt die Erde oft. Daran hat man sich hier so gewöhnt, daß viele, wenn sie durch eine Bodenerschütterung aus tiefstem Schlaf gerissen werden, sofort aus dem Bett springen und, noch bevor das Beben vorüber ist, auf der Straße sind. Aber nicht immer bleibt es bei leichten Erschütterungen.
Im Jahre 1917 wurde z. B. Guatemala City, die Hauptstadt des Landes, durch ein schweres Erdbeben zerstört. Aber sie wurde wieder aufgebaut und entwickelte sich zu der größten Stadt Mittelamerikas. Die Zahl ihrer Einwohner beträgt ungefähr eine Million.
Da wir, meine Frau und ich, in Guatemala wohnen, sind wir an Bodenerschütterungen gewöhnt. Aber am Mittwochmorgen (4. Februar), als es noch dunkel war, wurde die Erde wie von einer Riesenfaust geschüttelt. Nur wenige Guatemalteken hatten je so etwas erlebt. Dieses Erdbeben forderte leider auch viele Opfer.
Manche schätzten die Zahl der Todesopfer auf 50 000, doch von amtlicher Seite wird ihre Zahl jetzt mit rund 23 000 angegeben. Die Zahl der Verletzten betrug mindestens 74 000 und die der Obdachlosen über eine Million. Da Guatemala 5 850 000 Einwohner hat, war demnach fast jeder fünfte obdachlos.
Dieses Erdbeben wird als die größte Katastrophe in der Geschichte Mittelamerikas bezeichnet, schlimmer als das Erdbeben, das im Jahre 1972 Managua, die Hauptstadt von Nicaragua, zerstörte. Dr. Leandro Salato, Leiter der argentinischen Hilfsmission, behauptete sogar, es sei noch schlimmer gewesen als die Erdbebenkatastrophe, von der Peru 1970 heimgesucht worden war, obschon diese Katastrophe 70 000 Opfer gefordert hatte, also beträchtlich mehr als das Erdbeben in Guatemala.
Eine schreckliche Nacht
Am Dienstagabend gingen wir, meine Frau und ich, nachdem wir vom Bibelstudium nach Hause gekommen waren, zu Bett und schliefen bald tief. Daher wachte ich erst auf, als das heftige Schütteln und Beben begann. Andere berichteten, sie seien schon aufgewacht, bevor der erste Erdstoß erfolgt sei.
Eine amerikanische Touristin erzählte, daß sie ein Geräusch hörte, das sie als fernes Donnerrollen deutete. Als es näher kam, wurde es immer lauter und hörte sich schließlich an wie ein Brüllen aus der Tiefe der Erde. Das ohrenbetäubende Geräusch stammte von dem Zerbrechen und Bersten der Gesteinsschichten. Das Dröhnen wurde lauter und lauter, bis man schließlich das Gefühl hatte, zwischen zwei Düsenmaschinen zu stehen. Jemand anders sagte, es habe sich so angehört, „als würden im Erdinnern tausend Steine durcheinandergeschüttelt“.
Wie gesagt, ich erwachte erst, als das Schütteln und Beben einsetzte. Was tut man in einer solchen Situation? Stürzt man aus dem Bett, während ringsum alles herunterfällt und Glassplitter durch die Luft fliegen? Soll man auf die Straße rennen? Mit jeder Sekunde wurden die Druckwellen stärker, und ich begriff, daß es sich um ein ungewöhnliches Beben handelte. Der Gedanke schoß mir durch den Sinn, daß das Dach auf uns herabstürzen könnte. Ich warf mich daher auf meine Frau und versuchte, ihren und meinen Kopf so zu bedecken, daß sie geschützt waren.
Schließlich hörte das Beben auf. Die Häuser schwankten nicht mehr hin und her. Das Erdbeben, das uns wie eine Ewigkeit erschien, hatte nur neununddreißig Sekunden gedauert. Es trat Ruhe ein. Für kurze Zeit war alles still. Nun konnte ich aufstehen. Mir wurde klar, daß wir ein schreckliches Erdbeben erlebt hatten.
Der Strom war weg; überall war es finster. Ich tastete im Dunkeln nach einer Taschenlampe. Mir schwante nichts Gutes. Als ich die Taschenlampe fand und anknipste, bot sich mir genau das Bild, das ich erwartet hatte. Es wunderte mich, daß ich mich nicht an den Scherben des Spiegels, der von der Wand gefallen war, verletzt hatte. Vasen und Lampen lagen auf dem Boden — einige zerbrochen. Die Teller waren aus dem Geschirrschrank gerutscht. Das Büchergestell war umgestürzt. Während ich von Zimmer zu Zimmer ging, um zu sehen, wie sich das Erdbeben ausgewirkt hatte, empfand ich eine tiefe Dankbarkeit dafür, daß wir in einem erdbebensicher gebauten Haus (Stahlbetonkonstruktion) wohnten. Der Erdstoß muß um 3.03 Uhr erfolgt sein, denn zu dieser Zeit war unsere elektrische Uhr stehengeblieben.
Sozusagen alle, die diese Nacht überlebt haben, berichten, wie schrecklich sie war. Ein amerikanischer Tourist, der mit seiner Tochter im Hotel Ritz Continental einquartiert war, wurde ebenfalls aus tiefstem Schlaf gerissen. Er erzählt:
„Zuerst war ich ärgerlich, denn ich glaubte, daß jemand mein Bett umstürzen wollte. Mein nächster Gedanke war: Das ist Harmagedon. Das Hotel ist erdbebensicher gebaut, und darüber bin ich sehr froh, denn es schwankte nicht wenig. Man hatte das Gefühl, buchstäblich über der Straße zu hängen. Der Putz an den Wänden fiel herab, und die Fensterscheiben zerbrachen. Wie ein sich aufbäumendes Pferd, so hob die Erde das Gebäude in die Höhe.
Als die Erderschütterungen aufhörten, herrschte eine unheimliche Stille. Die Menschen waren wie betäubt. Das einzige Wort, das auf die Situation paßte, war Schrecken, nichts als Schrecken. Der Mann im Nachbarzimmer hatte eine Kerze. Wir liefen die Treppe hinunter. Ich warf einen Blick auf die Uhr: Wir waren schon vor 3.15 auf der Straße.
Es war kalt, denn Guatemala City liegt rund 1 500 m über dem Meer. Wir konnten den Hauch vor dem Mund sehen. Nach einer Stunde beschlossen wir, ins Hotel zurückzukehren, um unsere Kleider zu holen. Mit der Kerze in der Hand betraten wir das finstere Hotel und stiegen in das achte Stockwerk hoch. Dabei befürchteten wir ständig einen weiteren Erdstoß. Im halbdunklen Zimmer packten wir unsere Sachen zusammen und verließen das Hotel so schnell wie möglich wieder.
Allmählich erholten wir uns von dem Schreck. Auch in unsere Nachbarn kam wieder Leben. Sie holten ihre Wagen aus dem Autoschuppen und brachten ihre verstörten Kinder und älteren Angehörigen darin unter, so daß sie etwas vor der Kälte geschützt waren.
Als wir anfingen, die Trümmer von unserem Eingang wegzuräumen, erhielten wir Besuch. Eine Familie von Zeugen Jehovas wollte sehen, wie es uns ging. Wir machten für alle eine Tasse heiße Schokolade. Wir beteten gemeinsam zu Jehova Gott und dankten ihm dafür, daß wir noch am Leben waren. Aber wir hätten gern gewußt, wie es unseren Glaubensbrüdern ergangen war. In Guatemala City gibt es rund 2 500 Zeugen und in ganz Guatemala rund 5 000.
Das Ausmaß der Zerstörungen
Als erstes wollten wir das Zweigbüro der Zeugen Jehovas aufsuchen. Gewöhnlich braucht man bis dahin mit dem Auto nur zehn Minuten. Aber da die Umgehungsstraße auf einer Strecke von etwa anderthalb Kilometern durch Erdrutsche teilweise unpassierbar war, mußten wir durch die Altstadt fahren. Während wir in den Neubauvierteln nur wenig Schaden entdeckt hatten, waren hier viele Häuser eingestürzt.
Der Verkehr war so dicht wie am Tag. Die Leute suchten ihre Verwandten und Freunde. Auf der Straße sah man Männer, Frauen und Kinder, nur spärlich bekleidet — im Morgenrock und in eine Wolldecke eingewickelt. Sie fürchteten sich, in ihr Haus — oder was noch davon übriggeblieben war — zurückzukehren. Durch den Staub der herabgestürzten Mauersteine und Lehmziegel entstand in dem Dunkel der Nacht, das nur von den Autoscheinwerfern erhellt wurde, eine unheimliche Atmosphäre.
Wir atmeten auf, als wir im Zweigbüro eintrafen und feststellten, daß keinem etwas passiert war. Auch das Gebäude war unbeschädigt. Der Koordinator des Zweigbüros hatte sich bereits auf den Weg gemacht, um nach Zeugen Jehovas zu sehen, die in einem anderen Gebiet wohnten. Wir begannen daher, alle aufzusuchen, die zu unseren hiesigen Versammlungen zählten. In den frühen Morgenstunden machten die Aufseher und Dienstamtgehilfen der Zeugen Jehovas bei ihren Glaubensbrüdern und -schwestern die Runde. Einige von ihnen waren obdachlos geworden, andere hatten Verletzungen erlitten, aber alle waren mit dem Leben davongekommen.
Je heller es wurde, desto deutlicher erkannte man die Schwere des Erdbebens. Wir erfuhren, daß es Stärke 7,5 der Richter-Skala gehabt hatte. Bald lagen links und rechts der Straßen Hunderte von Leichen, die mit Tüchern oder Plastik zugedeckt waren. In einer Rundfunksendung wurde die Bevölkerung aufgefordert, keine Toten mehr in die bereits überfüllten Leichenhallen zu bringen. Später erfuhren wir, daß in der Stadt rund 800 Menschen umgekommen waren.
In den ärmeren Vierteln waren Tausende von Häusern eingestürzt. Das bedeutete, daß Zehntausende von Menschen ohne Obdach waren. In gewissen Gegenden sah man nichts als Trümmerhaufen. Aber in den Vierteln, in denen die Angehörigen des Mittelstandes und die Reichen wohnen, war der Schaden nur gering, weil die Häuser besser gebaut sind. Viele Kirchen dagegen waren sehr stark beschädigt. Die moderne katholische Kirche, die in der Nähe unseres Hauses stand, war nur noch ein Schutthaufen.
Nach amtlichen Schätzungen sind 20 Prozent der Häuser der Hauptstadt vollständig zerstört; 40 Prozent sind so stark beschädigt, daß sie unbewohnbar sind. Der Sachschaden, der im ganzen Land entstanden ist, wurde auf über fünf Milliarden Dollar veranschlagt. Guatemala City verwandelte sich in eine Zeltstadt. Sogar die gutsituierten Leute schliefen aus Furcht vor weiteren Erdstößen im Auto, auf dem Rasen vor dem Haus oder in einem behelfsmäßig errichteten Schuppen.
Trotz der Beschwernisse waren die Leute im allgemeinen guten Mutes. Jehovas Zeugen hielten zusammen und halfen einander. In einem auf der Straße provisorisch errichteten Schuppen schliefen 35 von ihnen. Davor hatten sie eine Feuerstelle aus Lehmziegeln errichtet. Alle waren ruhig und gelassen, ja sie hießen sogar Besucher willkommen.
Trotzdem herrschte eine gewisse Furcht, denn noch einige Tage nach dem Erdbeben verspürte man jeden Tag Dutzende von Stößen. Am Freitag, dem 6. Februar, erfolgte zum Beispiel ein Stoß, dessen Stärke nach der Richter-Skala 5,5 betrug. Bereits beschädigte Mauern stürzten ein, auch kam es erneut zu Erdrutschen. Der bereits erwähnte amerikanische Tourist schilderte anschaulich, was sich hier nach dem Hauptbeben abgespielt hatte.
„Wir hatten in unserer Gruppe einen Arzt, der als Leichenbeschauer amten und sich um die Verletzten kümmern mußte“, erzählte er. „Dieser Arzt berichtete, er könne ein Bild nicht mehr vergessen. Es war eine junge Frau, die keine sichtbaren Verletzungen aufwies; doch sie war tot, wahrscheinlich vor Schreck gestorben.
Um 8 Uhr schlug der Fremdenführer vor, nach Antigua Guatemala zu reisen, einer Stadt, die etwa 50 Kilometer südwestlich lag. Wir brauchten mit dem Bus bis dahin fünf Stunden, weil die Straßen durch Erdrutsche blockiert und voll von verstörten und verängstigten Menschen waren. Scharen von Dorfbewohnern waren auf dem Weg in die Stadt, und viele Stadtbewohner strömten aufs Land, um nach ihren Verwandten zu sehen.
Das Tal hallte von den ständigen Erschütterungen und Beben wider. Man hatte ein unheimliches Gefühl, wenn man ging. Der Boden war nicht fest, sondern man glaubte, in Schlamm zu waten, doch die Füße sanken nicht ein. Mit anderen Worten: Die terra firma war nicht fest.
Im Hotel in Antigua hausten wir im Garten rings um das Schwimmbassin. Dort kochten die Hotelangestellten uns das Essen, dort aßen wir, und dort schliefen wir, oder wir versuchten es wenigstens. Aus Furcht vor weiteren Erdstößen wollte keiner ein Gebäude betreten.
Wir lebten dauernd in Angst, und die Angst wirkte ansteckend. Als wir am Sonntag, den 8. Februar zum Flughafen fuhren, sahen wir Soldaten, die Berge von Leichen verbrannten. In einigen Dörfern standen nur noch ein paar Mauern.“
Viele von uns in Guatemala City hatten anfangs keine Ahnung von dem Ausmaß der Zerstörungen. Am Mittwochmorgen gab der amerikanische Armeesender bekannt, daß das Epizentrum des Erdbebens in der Nähe von Gualán, etwa 170 km nordöstlich von Guatemala City, gewesen sei. Bald wurde unsere Vermutung, daß der Schaden in anderen Gebieten noch größer war, durch Berichte bestätigt, die nach und nach aus diesen Gebieten durchsickerten.
Schlimmer, als wir es uns vorgestellt hatten
Zuerst erfuhren wir, daß El Progreso, ein Ort nordwestlich unserer Stadt, bis auf den Grund zerstört sei und daß die Zahl der Toten über 2 000 betrage. Dann hieß es, daß die Dörfer San Juan Sacatepéquez und San Pedro Sacatepéquez, nördlich unserer Stadt, dem Erdboden gleichgemacht worden seien und daß Tausende dabei das Leben verloren hätten. Zuletzt erfuhren wir die Schreckensnachricht von den furchtbaren Verheerungen, die das Erdbeben im Departamento Chimaltenango mit seinen vielen Indianerdörfern angerichtet hat. Über 13 000 Menschen sollen dort ums Leben gekommen sein.
Am stärksten betroffen war also ein Gebiet, etwa 20 Kilometer nördlich von Guatemala City, das sich in Ostwestrichtung rund 240 Kilometer weit erstreckte. Doch wir fragten uns, ob diese Schreckensnachrichten nicht übertrieben seien.
Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, brauchte man indessen nur eine Ortschaft aufzusuchen, deren Häuser fast alle aus Lehmziegeln erbaut waren. Ich ging am Freitag, den 6. Februar nach San Pedro Sacatepéquez, knapp 20 Kilometer nördlich von Guatemala City. Meinen Augen bot sich ein Bild des Jammers. Fast kein Haus war stehengeblieben. Die Straßen waren unpassierbar wegen des Schutts von den eingestürzten Lehmhäusern. Auch die katholische Kirche war zerstört; und die Menschen waren immer noch wie betäubt. Die Toten hatten sie zum größten Teil bereits beerdigt, aber immer noch wurden Leichen unter den Trümmern hervorgeholt.
Ein Mann grub mit einer kleinen Schaufel in einem Trümmerberg, der früher sein Haus gewesen war, nach seinen Habseligkeiten. Ich konnte nur die Platte eines billigen Tannenholztisches sehen. Ein anderer zog ein Stück Blech von den herabgestürzten Dachbalken herunter, um es wieder verwerten zu können.
Am Samstag konnte ich einigen Versammlungen der Zeugen Jehovas in einem Gebiet des Hochlandes, das zu den am stärksten betroffenen zählte, Lebensmittel bringen. Obschon die Straßen stellenweise wegen Erdrutschen unpassierbar waren, gelang es mir, Patzicía, Zaragoza, Tecpán und Comalapa zu erreichen. In Comalapa waren der Bürgermeister und der Friedensrichter ums Leben gekommen. Wegen der großen Zahl der Toten und der Seuchengefahr hatte man viele in Massengräbern beigesetzt.
Im Hochland sind die Dörfer alle dem Erdboden gleichgemacht worden. Der Unterschied zwischen den Häusern und den Kirchen besteht nur darin, daß der Trümmerhaufen der Kirchen größer ist als der der Häuser. Es sind oder, besser gesagt, waren Dörfer der Indios. Die Indios machen rund 43 Prozent der guatemaltekischen Bevölkerung aus, und ihre Dörfer wurden am schlimmsten betroffen.
In den Ortschaften, die wir besuchten, hatten die Überlebenden kein Wasser und nur ganz wenig zu essen. Die Mehrzahl war obdachlos und Wind und Kälte — nachts sinkt die Temperatur in den Bergen mehrere Grade unter Null ab — preisgegeben. Der Staub von den herabgestürzten Lehmziegeln wurde vom Wind hochgeweht, so daß man kaum atmen konnte. Stellenweise war die Staubschicht 15 Zentimeter hoch.
Tausende der Indios, die sich am Dienstagabend schlafen gelegt hatten, waren nicht mehr aufgewacht. Die Lehmwände waren zusammengebrochen, und das schwere Ziegeldach war eingestürzt und hatte sie unter sich begraben. Ein Indio sagte über die Lehmziegelhäuser: „Sie sind aus Erde, und sie sind unser Sarg.“
Viele Verletzte mußten furchtbar leiden. Da die Straßen an manchen Stellen durch Erdrutsche blockiert waren, gelang es oft erst nach Tagen, zu diesen Opfern vorzudringen. Ein Arzt berichtete: „Die Verletzten haben tagelang in ihren Schmerzen ausharren müssen. Viele hatten als Folge von Quetschungen oder Brüchen starke Schwellungen. Manchmal stießen die Knochen, besonders bei Beinbrüchen, sogar durch die Haut. Viele hatten offene Wunden, die schnell infiziert wurden.“
Das Töchterchen eines Zeugen in Tecpán hatte das Bein gebrochen. Auch einige andere Zeugen waren verletzt. Aber erstaunlicherweise hatte keiner das Leben verloren. Im ganzen Land war bei dem Erdbeben kein einziger Zeuge umgekommen. Allerdings hatten einige der Zeugen Angehörige verloren.
Ein Zeuge berichtete, daß 25 seiner Angehörigen, die bei Tecpán gewohnt hatten, ums Leben gekommen waren. Als er am Donnerstag in ihrem Dorf eintraf, waren bereits fünfzehn von ihnen begraben. Es gab nicht genug Särge, aber auch kein Holz mehr, um Särge zu zimmern, in denen die übrigen hätten beerdigt werden können. Er erklärte denen, die die Leichen zu bestatten hatten, daß die Toten sowieso zu Staub würden, und empfahl ihnen dringend, die Leichen so schnell wie möglich zu beerdigen, um einer Epidemie vorzubeugen.
Dieser Zeuge begegnete auf der Straße einem Mann, der einen großen Sack auf der Schulter trug. Der Mann blieb stehen, um mit ihm ein paar Worte zu wechseln, und fragte dann: „Weißt du, was ich hier im Sack habe?“
„Nein“, entgegnete der Zeuge.
„Meine Frau und meine zwei Kinder. Ich gehe jetzt zum Friedhof.“
Ein reisender Beauftragter der Zeugen Jehovas, der eine Versammlung in Gualán, in der Nähe des Erdbebenherdes, besuchte, berichtete: „Ich kann es kaum beschreiben, wie entsetzlich es ist, zwischen Leichen zu gehen und die Schreie der unter den Trümmern liegenden Verletzten zu hören.
Viele Zeugen kamen unter den Trümmern ihrer eingestürzten Häuser hervorgekrochen. Einige, die verletzt waren, wurden bei Kerzenlicht behandelt. Der Königreichssaal ist beschädigt, doch er kann repariert werden. Weil ich zu Besuch war, blieben manche Zeugen hier und schliefen in der Erdbebennacht im Königreichssaal. Das hat wahrscheinlich vielen das Leben gerettet.“
Das Ausmaß des Unglücks ist selbst für uns hier kaum zu fassen. Etwas mehr als eine Woche nach dem Erdbeben berichtete Präsident Laugerud García, daß 300 Ortschaften zu mehr als 40 Prozent zerstört wurden. In einigen Dörfern ging noch Tage nach dem Erdbeben ein penetranter Leichengeruch von den Trümmern aus. Lastwagen und Hubschrauber brachten Kalk, mit dem die in aller Eile gegrabenen untiefen Gräber bestreut wurden.
Durch das Erdbeben entstand zwischen Guatemala City und dem Golf von Honduras ein großer Erdriß. An manchen Stellen ist die Spalte 2,5 Meter breit und 3 Meter tief. Der Pan American Highway war an manchen Stellen wegen Erdrutschen nur schwer passierbar.
Trotz des Ausmaßes der Katastrophe erholt sich jetzt die Bevölkerung allmählich. Eine große Hilfe ist ihr die Unterstützung gewesen, die von allen Seiten geleistet worden ist.
Hilfe von allen Seiten
Über hundert Länder sandten Hilfe. Wochenlang flogen Flugzeuge Tag und Nacht Ärzte, Helfer, Medikamente, Lazarette, Zelte, Lebensmittel, Kleidung und Decken in das Katastrophengebiet. Allerdings war es schwierig, den Erdbebenopfern in den abgelegenen Ortschaften Hilfe zu bringen. Vielerorts mußten Hubschrauber eingesetzt werden, aber selbst damit dauerte es manchmal Tage, bis die Hilfsgüter dahin befördert worden waren, wo sie am dringendsten benötigt wurden.
Wenn Hilfe eintraf, zeigten sich die Indios absolut diszipliniert, indem sie sich, wenn die Lebensmittel verteilt und die Verletzten versorgt wurden, geduldig anstellten. Ein Helfer aus den Vereinigten Staaten bemerkte: „In den Staaten wäre es unter solchen Umständen schon längst zu Gewalttätigkeiten gekommen. Aber hier stellen sich die Leute an und warten. Dabei ist kein einziger Soldat eingesetzt worden, um Ordnung zu halten.“
Jehovas Zeugen in Mittelamerika und in anderen Ländern sandten unverzüglich Hilfe. Schon am Tag des Erdbebens brachten Zeugen aus El Salvador Lebensmittel und Kleidung. Am nächsten Tag trafen aus Nicaragua Hilfsgüter ein. Aus Honduras erhielten wir Zelte und Wellblech für Dächer. Die Zweigorganisationen der Zeugen Jehovas in Mittelamerika und das Hauptbüro der Watch Tower Society in New York sowie viele Einzelpersonen spendeten Tausende von Dollar. Selbst Versammlungen in Guatemala, die nicht so schwer betroffen worden waren, spendeten in großzügiger Weise Lebensmittel und Geld.
Das ermöglichte es uns, den Notleidenden tonnenweise Lebensmittel und Kleidung zukommen zu lassen. Es war ein großes Vorrecht, solche Güter in die entlegenen Ortschaften bringen zu dürfen. In manchen Dörfern waren wir die ersten, die mit Hilfsgütern eintrafen. Der erste Lastwagen mit Hilfsgütern, der zum Beispiel in dem schwer beschädigten Rabinal eintraf — einer Ortschaft, rund 50 Kilometer nördlich von Guatemala City —, war ein Lastwagen unseres Zweigbüros.
Da wir eine Knappheit an Bauholz und Wellblech befürchteten, kauften wir davon zuerst ein. Dann luden Zeugen, die Bauhandwerker waren, einen Generator und elektrische Sägen auf einen Lastwagen und fuhren in die zerstörten Ortschaften von Chimaltenango. Dort begannen sie für die obdachlosen Zeugen Hütten zu erstellen, die eine Grundfläche von 2,75 × 2,75 Metern hatten. Eine solche Hütte war in einer Stunde fertig. So hatten Jehovas Zeugen schon ein Dach über dem Kopf, bevor es anderen Organisationen gelang, auch nur Zelte in diese Gebiete zu befördern.
In Guatemala City wurden zwei Königreichssäle so stark beschädigt, daß sie von Grund auf neu gebaut werden müssen. Auch in anderen Ortschaften waren die Königreichssäle zerstört. Doch Jehovas Zeugen sind deshalb nicht entmutigt. Schon sind sie dabei, sie wieder aufzubauen, denn sie blicken vertrauensvoll in die Zukunft.
Warum dieses Vertrauen?
Der Hauptgrund dafür ist ihre geistige Einstellung. Jehovas Zeugen verstehen die Bedeutung der heutigen großen Erdbeben und sehen in ihnen trotz der Zerstörungen, die sie anrichten, und der Not, die sie verursachen, einen Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Aber die Bevölkerung im allgemeinen, die vorwiegend römisch-katholisch ist, denkt ganz anders. Sie sieht alles negativ.
Folgendes möge als Beispiel dienen: Als ich am Freitag nach dem Erdbeben in San Pedro Sacatepéquez war, sagte ein Mann, der in den Trümmern seines Hauses herumsuchte, ganz betrübt: „Gott hat uns gestraft, weil wir schlecht sind.“
Wieso kam dieser Mann (und viele weitere dieser bescheidenen, fleißigen Menschen) auf eine solche Idee? Am nächsten Tag erhielten wir eine Antwort auf diese Frage. Der Kardinal von Guatemala, Mario Casariego, sagte gemäß der führenden Zeitung des Landes:
„In dieser Zeit, in der das Volk von einem solch großen Unglück heimgesucht worden ist, muß man an die Lehre der Heiligen Schrift denken: Gott liebt, und weil er liebt, züchtigt er, er weist zurecht und rüttelt wach. ... Haben wir Gott nicht so sehr widerstanden, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als uns auf diese Weise zu schlagen?“ Er fügte noch hinzu, wer mithelfe, die Kathedrale und andere zerstörte Kirchen wieder aufzubauen, beweise, daß „er sich aufrichtig wieder Gott zugewandt“ habe (El Imparcial, 7. Februar 1976, Seite 6).
Jehovas Zeugen wissen, daß die Bibel nichts Derartiges lehrt, daß es darin nicht heißt, Gott strafe die Menschen, indem er ein Erdbeben über sie bringe. Es verhält sich ganz anders. In der Bibel wird vorausgesagt, daß zu dem „Zeichen“, das erkennen läßt, daß das Ende des gegenwärtigen bösen Systems der Dinge nahe bevorsteht und daß Christus in Königreichsmacht gegenwärtig ist, auch die Prophezeiung gehört: „Es wird große Erdbeben geben und an einem Ort nach dem anderen Seuchen und Lebensmittelknappheit.“ Und der große Prophet Jesus Christus sagte, nachdem er „das Zeichen“ gegeben hatte, ermunternd: „Wenn aber diese Dinge zu geschehen anfangen, dann richtet euch auf und hebt eure Häupter empor, denn eure Befreiung naht“ (Luk. 21:7-28; Matth. 24:3-14).
Wenn Jehovas Zeugen überzeugende Beweise dafür, daß sich die Prophezeiungen der Bibel erfüllen — wie dieses Erdbeben —, sehen, heben sie ihre Häupter empor im Vertrauen darauf, daß in allernächster Zukunft Gottes neues System der Dinge Wirklichkeit werden wird. Wir machen die Erfahrung, daß die durch das Unglück schwer erschütterte Bevölkerung Guatemalas jetzt für diese tröstende Botschaft aus dem Worte Gottes besonders empfänglich ist (2. Petr. 3:13; Offb. 21:3, 4). Als N. H. Knorr, ein Mitglied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas, im Dezember 1975 (also noch vor dem Erdbeben) Guatemala City besuchte, versammelten sich über 5 000 Personen im Sportstadion, um seinen Vortrag zu hören. Das war mehr als die doppelte Zahl der Zeugen, die es in Guatemala City gibt.
Das Jahr 1976 sollte für diese Stadt ein bedeutendes Jahr werden. Am Rathaus von Guatemala City hing ein großes Schild, auf dem zu lesen war: „1776 ZWEIHUNDERT JAHRE 1976“. Am 6. Januar hatte die Stadt angefangen, ihr zweihundertjähriges Bestehen zu feiern. Die frühere Hauptstadt war durch ein Erdbeben zerstört worden, und am 6. Januar 1776 hatte man die neue Hauptstadt eingeweiht.
Im Januar 1976 hatte man in Guatemala City, der neuen, blühenden Hauptstadt, optimistisch in die Zukunft geblickt. Die Menschen, die gemeinsam ihre Häuser wieder aufbauen und ihr Vertrauen auf die untrüglichen Prophezeiungen des Wortes Gottes setzen, haben noch mehr Grund, vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken.
[Herausgestellter Text auf Seite 4]
„Wie ein sich aufbäumendes Pferd, so hob die Erde das Gebäude in die Höhe.“
[Herausgestellter Text auf Seite 6]
„Der Erdboden war nicht fest, sondern man glaubte, in Schlamm zu waten, doch die Füße sanken nicht ein.“
[Herausgestellter Text auf Seite 7]
„Es gab nicht genug Särge, aber auch kein Holz mehr, um weitere Särge zu zimmern.“
[Karte auf Seite 5]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
GUATEMALA
DEPARTAMENTO CHIMALTENANGO
Tecpán
Comalapa
Patzicía
Stiller Ozean
Rabinal
San Juan
San Pedro
GUATEMALA CITY
Antigua Guatemala
Gualán
El Progreso
HONDURAS
EL SALVADOR