-
Kann der Kapitalismus, der Kommunismus oder der Sozialismus die Menschen glücklich machen?Erwachet! 1982 | 8. März
-
-
oder „Genosse“ bedeutet. Der Ausdruck kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England auf, und etwas später wurde er auch in Frankreich verwendet. Man bezeichnete damit die sozialen Theorien des Engländers Robert Owen (1771 bis 1858) und der beiden Franzosen Saint-Simon (1760 bis 1825) und Charles Fourier (1772 bis 1837).
Owen kritisierte die kapitalistische Organisation der Industrie, die auf Wettbewerb und der Ausbeutung der Arbeiter beruhte. Er empfahl ein genossenschaftliches System, bei dem Männer und Frauen in Gemeinschaftssiedlungen leben würden und die Früchte ihrer Arbeit in der Landwirtschaft oder in der Industrie genießen könnten. In Schottland, Irland und sogar in den Vereinigten Staaten wurden solche Siedlungen errichtet. Aber schließlich scheiterten diese Projekte.
In Frankreich forderte Fourier die Schaffung von Lebensgemeinschaften und die Aufteilung des Staatsgebietes in autonome, agrarisch orientierte Genossenschaftsgebiete („phalanstères“), in denen die Menschen nach eigener Wahl arbeiten könnten. Im Gegensatz zu Owen, der akzeptierte, daß die genossenschaftlichen Gemeinwesen durch Vermittlung des Staates geschaffen würden, glaubte Fourier, sein System würde auf völlig freiwilliger Basis funktionieren. Die Angehörigen dieser Gemeinwesen würden nach ihren Anstrengungen bezahlt und dürften selbst Eigentum besitzen. Fourier dachte, er habe eine Gesellschaftsordnung entdeckt, die dem natürlichen Wunsch des Menschen nach Glück am besten entgegenkomme. Fouristische Gemeinwesen wurden in Europa und in den Vereinigten Staaten geschaffen. Aber auch sie waren ein Fehlschlag.
Dem heutigen Sozialismus ähnlicher waren die Ideen des Franzosen Saint-Simon. Er trat für den gemeinschaftlichen Besitz der Produktionsmittel ein und für ihre Verwaltung durch Experten auf dem Gebiet der Wissenschaft, Technik, Industrie und des Geldwesens. Saint-Simon glaubte, daß durch die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie eine neue Gesellschaft ins Dasein käme, in der jeder, entsprechend seinen Fähigkeiten, seinem Fleiß und seinen Leistungen, die gleiche Gelegenheit haben würde, Wohlstand zu erlangen.
Keine dieser frühen sozialistischen Ideologien konnte sich durchsetzen, aber sie bahnten für spätere Bewegungen den Weg. Sie waren die ersten Stimmen des heutigen Sozialismus, der als ein Gesellschaftssystem definiert wird, das durch die vollständige oder teilweise Überführung der Produktionsmittel und Produktionsgrundlagen in Gemein- oder Staatseigentum gekennzeichnet ist. Die grundlegenden Ziele sind ähnlich wie die des Kommunismus, doch die gegenwärtige Sozialdemokratie unterscheidet sich vom Marxismus dadurch, daß sie ihre Ziele durch progressive Reformen und nicht durch eine Revolution und ein Einparteiensystem zu erreichen sucht.
Der Sozialismus nimmt mehr Rücksicht auf die individuelle Freiheit als der Kommunismus, dennoch ist es ihm nicht gelungen, Weltfrieden zu schaffen und die Menschen glücklich zu machen. Warum nicht?
Warum die Fehlschläge?
Der Sozialismus hat sich nicht als stärker erwiesen denn der Nationalismus. Über die Zweite Internationale, eine internationale Vereinigung von Parteien und Gewerkschaften (gegründet 1889), heißt es, sie habe viele eindringliche und aufrüttelnde Manifeste gegen den Krieg herausgegeben, aber der Erste Weltkrieg habe sie dann vollkommen gelähmt. „Die Mehrzahl der Landesparteien stellte sich auf die Seite ihrer Regierung und gab die Idee von der Vereinigung der Arbeiter aller Länder auf“ (Encyclopædia Britannica).
Von da an hat sich die sozialistische Bewegung immer mehr aufgespalten, und die Bezeichnung „Sozialismus“ hat nicht für alle Leute die gleiche Bedeutung. Der Ausdruck „sozialistisch“ wird für verschiedene Regierungen verwendet. Davon unterscheiden sich einige kaum von progressiven konservativen Regierungen, während andere autoritär, ja sogar totalitär sind. Deshalb hat das Wort „sozialistisch“ für viele aufrichtige Personen, die glaubten, der Sozialismus führe zu einer weltweiten Brüderschaft im Rahmen einer klassenlosen Gesellschaft, die in materiellem Wohlstand und glücklich leben könnte, viel von seiner Bedeutung verloren.
Daher ist es nicht verwunderlich, daß der französische Gewerkschaftsführer Edmond Maire in der Zeitung Le Monde schrieb: „Der geschichtliche Fehlschlag der Arbeiterbewegung, die das Ziel hatte, den Sozialismus zu schaffen, ... hat eine beträchtliche Anzahl militanter Personen — sowohl von der Arbeiterklasse als auch von den Intellektuellen — veranlaßt, nicht einmal mehr an eine langfristige Erfüllung ihrer Hoffnung zu glauben. ... Die junge Generation scheint besonders von der Schwächung sozialistischer Hoffnung betroffen zu sein.“
Somit hat weder der Kapitalismus noch der Kommunismus, noch der Sozialismus vermocht, das Verlangen der Menschen nach einer Ordnung, die ihnen materiellen Wohlstand und echtes Glück beschert, zu erfüllen. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell gab folgendes zu: „In den Augen der radikalen Intelligenzija haben die alten Ideologien ihren ,Wahrheitsgehalt‘ und ihre Überzeugungskraft verloren. Nur wenige Denker glauben noch, daß es eine ,Patentlösung‘ gibt oder daß man durch die ,Sozialökonomie‘ ein neues Utopia des sozialen Friedens schaffen könne“ (The End of Ideology).
Der Wunsch nach materiellem Wohlstand und nach Glück ist jedoch ganz natürlich. Warum vermochten denn die von Menschen geschaffenen Wirtschafts- und politischen Systeme ihn bis heute nicht zu erfüllen? In dem folgenden Artikel wird diese Frage untersucht.
-
-
Genügt materieller Wohlstand?Erwachet! 1982 | 8. März
-
-
Genügt materieller Wohlstand?
DER Wunsch nach materiellem Wohlstand ist an und für sich nicht verkehrt. Macht materieller Wohlstand allein jedoch glücklich? Haben der Kapitalismus, der Kommunismus und der Sozialismus die wichtigste Voraussetzung für echtes Glück unberücksichtigt gelassen? Könnte das — wenigstens zum Teil — erklären, warum es diesen Systemen nicht gelungen ist, die Menschen wirklich glücklich zu machen?
Die Aufrichtigkeit der Menschen, die alles daransetzen, um dem Kapitalismus, dem Kommunismus oder dem Sozialismus zum Erfolg zu verhelfen, steht außer Zweifel. Auch ist es jedem dieser Systeme gelungen, den Lebensstandard in einigen Ländern für bestimmte Personenkreise anzuheben. Haben sie es jedoch vermocht, die Mehrheit der Bevölkerung dieser Länder glücklich zu machen? Konnten sie dem Verbrechen, der Gewalttat und dem Krieg ein Ende bereiten? Ist es einem dieser Systeme gelungen, das Problem des Selbstmords, der Drogenabhängigkeit oder des Alkoholismus zu überwinden? Begehen glückliche Menschen Selbstmord, suchen glückliche Menschen durch Drogen der Wirklichkeit zu entfliehen, oder nehmen sie zu Alkohol Zuflucht wie viele, die „ihren Kummer darin ertränken“?
Das erklärte Ziel dieser verschiedenen von Menschen geschaffenen Systeme besteht darin, einen Lebensstil zu entwickeln, der für alle oder wenigstens für die Mehrheit als am geeignetsten angesehen wird. Sie legen einen unterschiedlich großen Wert auf die Freiheit bzw. auf die Gleichheit als wichtige Voraussetzung für das menschliche Glück. Der Kapitalismus ist willens, die Gleichheit zugunsten der Freiheit zu opfern. Für den Kommunismus ist die Gleichheit wichtiger als die Freiheit. Die Sozialdemokratie ist bemüht, die positiven Elemente beider Weltanschauungen miteinander zu kombinieren. Aber keinem dieser Systeme ist es gelungen, die menschliche Natur zu ändern. Menschliche Selbstsucht macht aus Kapitalisten ungerechte Ausbeuter; Selbstsucht war auch dafür verantwortlich, daß kommunistische Experimente in einen Staatskapitalismus umschlugen, in dem nicht einzelne Kapitalisten oder große Kapitalgesellschaften das Volk ausbeuten, sondern der Staat; diese Selbstsucht hat auch die sozialistischen „Utopia“-Träume zerstört.
Die Technik genügt nicht
Bis vor kurzem setzten politische und wirtschaftliche Ideologen aller Richtungen ihre Hoffnungen auf den Fortschritt der Technik und Wissenschaft. Wir lesen: „Die neue Technik schien wie ein Handschuh auf den Kapitalismus mit seiner freien Wirtschaft zu passen und garantierte eine schnelle Verwirklichung des Ideals der utilitaristischena Philosophen: ,größter Nutzen für die meisten Menschen‘. Selbst Marx und Engels, die politisch ganz anders ausgerichtet waren, sahen in der Technik nur Gutes“ (Encyclopædia Britannica).
Ja, die Menschen, angefangen vom hartnäckigsten Kapitalisten bis zum revolutionärsten Kommunisten, begrüßten die Technik als Schlüssel zum künftigen Glück der Menschen. Neue und bessere Maschinen würden zur Folge haben, daß der Mensch sich nicht mehr so zu schinden brauche. Die Arbeitszeit würde verkürzt, so daß die Menschen mehr Freizeit hätten, mehr Zeit, um Reisen zu unternehmen, sich geistig zu bilden, und mehr Zeit für das Vergnügen. Das konnte doch nur zu ihrem Glück beitragen.
Heute ist dieser Optimismus abgeebbt. Die Technik hat so viele Probleme geschaffen, wie sie gelöst hat, ja es wird behauptet, sie habe noch mehr geschaffen. In dem erwähnten Nachschlagewerk ist die Rede von den „Nachteilen, die der Gesellschaft durch den technischen Fortschritt erwachsen, wie den Verkehrsunfällen, der Luft- und Wasserverschmutzung, der Übervölkerung der Städte und der Lärmverschmutzung“. Ferner wird erwähnt, daß „sich die Technik zum Tyrannen über die Individualität des Menschen und seine traditionelle Lebensform gemacht hat“ — ein sehr ernstes Problem.
Wer kann heute mit Recht behaupten, die Technik habe das Familienleben verbessert, dem Menschen befriedigende Arbeit verschafft oder durch sie sei die Welt als Wohnort sicherer geworden? Zweifellos ist mehr erforderlich als die Technik, um die Menschen glücklich zu machen.
-