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Gandhi — Warum viele auf ihn hofftenErwachet! 1984 | 22. Oktober
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Gandhi — Warum viele auf ihn hofften
In den Entwicklungsländern verschärfen sich die Krisen, während in den wohlhabenden Industrieländern die Entsittlichung fortschreitet; gleichzeitig fürchtet man sich in der ganzen Welt vor einem atomaren Holocaust. Lassen sich die Probleme unserer zerrütteten Welt durch Gandhis Philosophie der Gewaltlosigkeit überwinden? Dieser von einem indischen Journalisten stammende Bericht befaßt sich mit Gandhi und seinen Idealen der Gewaltlosigkeit.
GANDHI. Was bedeutet dieser Name für dich? Wenn du den Frieden liebst und dich nach einer gewaltlosen Welt sehnst, weißt du vielleicht, daß Gandhi auch „Vater der Gewaltlosigkeit“ genannt wird.
Die über 730 Millionen Inder haben den mageren, zarten Mann mit dem Spinnrad als Bapu (Vater) in Erinnerung und als den Mann, der Indien unabhängig gemacht hat; die Hindus sehen in ihm einen geistlichen Führer und nennen ihn Mahatma, „große Seele“. Und für viele Leute außerhalb Indiens ist er, ganz gleich, welcher Nation sie angehören oder was sie glauben, ein Volksführer mit ungewöhnlichem Charisma gewesen.
Er war ein kleiner Mann mit hagerem Gesicht und großen Augen. Auf der Nase — für sein Gesicht etwas zu dick — trug er eine Brille mit großen runden Gläsern. Wenn er lächelte, sah man einen zahnlosen Mund. Die meisten Bilder zeigen ihn mit gekreuzten Beinen auf dem Boden neben seinem Spinnrad sitzend oder wie er, mit einem Lendentuch und einem weißen Baumwollumhang bekleidet, Besucher begrüßt.
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg sagte Gandhi: „Ich bin gegen Gewalt, weil das Gute, das sie anscheinend bewirkt, nur zeitweilig ist, das Unheil dagegen, das sie anrichtet, ist von Dauer.“
Heute befindet sich die Welt in einer noch größeren Misere als zu Gandhis Zeiten. Was geschieht nicht alles in Süd- und Mittelamerika, in Afrika, im Nahen Osten, aber auch in den Städten und Dörfern Indiens! Man hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Probleme durch Anwendung von Gewalt zu lösen. Einen Stoß erwidern die meisten Leute mit einem Gegenstoß. Wenn sie erneut gestoßen werden, schlagen sie zurück. Dagegen sind auch die wohlhabenderen Nationen nicht immun. Bei ihnen sind Haß, genährt durch nationalistische Gefühle, Rassentumulte, Verbrechen, die Gefahr eines Atomkrieges und die Umweltzerstörung allgegenwärtig. „Wenn sich die Welt nicht an das Prinzip der Gewaltlosigkeit hält“, sagte Gandhi, „wird die Menschheit mit Sicherheit zugrunde gehen.“ Nach seiner Meinung kann Haß nur mit Liebe überwunden werden, und die Gewaltlosigkeit sollte außer von Nationen und Gruppen auch von jedem einzelnen praktiziert werden.
Was veranlaßt beispielsweise jemand, einen anderen zu hassen und ihm Gewalt anzutun, nur weil dieser eine andere Hautfarbe hat? Gandhi erklärte: „Kein Mensch Gottes darf einen anderen als geringer betrachten. Er muß jeden Menschen wie seinen leiblichen Bruder ansehen.“ Seit Gandhi diese Worte sprach, sind 63 Jahre vergangen, doch immer noch wird in der Welt um diese Gleichheit gerungen.
In der heutigen Zeit, in der große Führer und Denker rar sind, greifen einige auf Gandhis Philosophie zurück und sehen darin die Lösung. Wer war Gandhi? Welches waren seine Ideale? Wovon wurden sie geprägt? Sind Gandhis Ideale in der heutigen gefährlichen Zeit der rettende Ausweg?
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Gandhi — Was hat den Mann geprägt?Erwachet! 1984 | 22. Oktober
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Gandhi — Was hat den Mann geprägt?
UM Gandhi verstehen zu können, müssen wir zwei Ereignisse kennenlernen, die sein Denken in jungen Jahren geprägt haben. Deshalb drehen wir das Rad der Zeit bis ins Jahr 1869 zurück. Das Gebiet des heutigen Staates Gujarat in Nordwestindien wird von heißen, trockenen Winden ausgedörrt, denen dann verheerende Regengüsse folgen. In diesem Gebiet ist Gandhi geboren. Seine Eltern lebten in angenehmen Verhältnissen und waren, wie die Mehrzahl der Gujarati, stolz darauf, daß in ihrem Staat viele Brahmanen (Angehörige der Priesterkaste) lebten. Die Hindugesellschaft ist traditionsgemäß in vier Hauptkasten oder streng abgeschlossen lebende Gesellschaftsschichten aufgeteilt. (Siehe den Kasten auf Seite 10.)
Im Alter von 18 Jahren reist Gandhi nach Bombay, wo er sich nach England einschiffen will, um dort Jura zu studieren. Er läßt seine Frau Kasturbai, mit der er schon als Kind verheiratet worden war, und seinen Sohn zurück. Bevor er an Bord der SS Clyde geht, muß er vor Ältesten seiner Kaste erscheinen, und man droht ihm, ihn aus der Kaste auszustoßen, wenn er seine Reise nach England fortsetze. Warum? „Man ist gezwungen, mit Europäern zu essen und zu trinken“, erklären sie ihm. „Ich glaube nicht, daß es überhaupt gegen unsere Religion ist, nach England zu gehen“, erwidert er. In den Augen der Kastenältesten ist es tabu, mit Weißen in Berührung zu kommen, die verunreinigt sind, weil sie Fleisch essen und Alkohol trinken. Gandhi sieht darin einen Fall von Kastendiskriminierung in umgekehrtem Sinne. Er verteidigt sich, doch sie bleiben ungerührt, und schließlich verläßt er Indien, ein Ausgestoßener aus der Kaste der Waischjas (Bauern und Kaufleute).
Für Gandhi ist das Leben in England schwierig. Er ist nicht nur ein Ausländer, sondern stammt aus der „Kolonie“ Indien, und er kann sich nur am Rande der englischen Gesellschaft bewegen. Gandhi ist verwirrt, denn diejenigen, die ihn diskriminieren, sind Christen. Über das Christentum hat er sich bereits eine Meinung gebildet: „Ich faßte eine Art Abneigung dagegen“, schrieb er, „und das hatte seinen Grund. In jenen Tagen pflegten christliche Missionare [in Indien] an einer Straßenecke nahe der Oberschule zu stehen und Reden zu halten, wobei sie die Hindus und ihre Götter beschimpften. Das konnte ich nicht ertragen.“ In England findet Gandhi es fast unerträglich, von „Christen“ diskriminiert zu werden. Sein Urteil? „Ich liebe Christus, verachte aber die Christen, weil sie nicht wie Christus leben.“
Gandhi besteht die Prüfungen und wird als Barrister zugelassen. Später läßt er sich in Südafrika nieder. Von Anfang an lernt er kennen, was es heißt, wegen seiner Rasse diskriminiert zu werden. Obwohl er eine Fahrkarte erster Klasse besitzt, wird er aus dem Erste-Klasse-Abteil hinausgeworfen, und man erklärt ihm, er müsse in den Gepäckwagen steigen, den Wagen für die Farbigen. Gandhis Proteste finden kein Gehör. Er muß den Zug verlassen und verbringt die ganze Nacht im Wartesaal.
Ein wichtiger Entschluß
In jener Nacht faßt er den Entschluß, niemals der Gewalt zu weichen und niemals Gewalt anzuwenden, um ein Ziel zu erreichen. Später schrieb er über diese Erfahrung: „Die Peinlichkeit, der man mich ausgesetzt hatte, war oberflächlich nur ein Symptom für das tiefsitzende Übel des Vorurteils gegen die ‚Farbigen‘. Ich sollte womöglich versuchen, dies Übel auszurotten und Unannehmlichkeiten im Prozeß zu ertragen.“
Mit diesen beiden Erlebnissen, die Gandhi geprägt haben, wollen wir uns noch einmal kurz befassen. Als Gandhi im Begriff war, nach England abzureisen, wurde er von seinen eigenen Landsleuten verstoßen, weil er den Wunsch hatte, mit Weißen Gesellschaft zu pflegen. Im zweiten Fall war es ein Weißer, der ihn wegen seiner Hautfarbe aus dem Zug warf. Die Ursache von Gandhis Zorn war nicht nur verletzter Stolz oder die Demütigung, sondern es war das tiefsitzende Krebsgeschwür der Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen, der eine andere Hautfarbe hat als er.
Später schrieb er: „Solange die Weißen die Farbigen verachten, so lange wird es Schwierigkeiten geben.“ Was Gandhi sagte, trifft aber auch genauso auf die Inder zu, bei denen es seit Jahrtausenden ein auf unterschiedlicher Hautfarbe beruhendes Kastenwesen gibt. Die Kasten trennen Inder vom Inder, Brahmane vom Unberührbaren.
Selbstachtung für die Unberührbaren
Als Gandhi nach Indien zurückkehrte, sah er das Unheil, das das Kastenwesen anrichtete. Er wies darauf hin, daß die Inder die Engländer nicht verurteilen dürften, denn sie selbst seien an ihren eigenen Brüdern, den Unberührbaren, schuldig geworden. „Ich betrachte die Unberührbarkeit als den größten Schandfleck des Hinduismus“, erklärte er. Nach Gandhis Auffassung hatte der Hinduismus gesündigt, weil er die Unberührbarkeit sanktioniert hatte.
Gandhi machte sich zum Anwalt der Unberührbaren. Er lebte mit ihnen, aß mit ihnen und reinigte ihre Latrinen. Er war bemüht, ihre Selbstachtung wiederherzustellen. Er gab ihnen einen würdevollen Namen — anstatt Unberührbare waren sie jetzt „Haridschans“, d. h. Kinder des Gottes Wischnu. „Wir Hindus müssen das begangene Unrecht bereuen, ... wir müssen ihnen das Erbe zurückgeben, das wir ihnen weggenommen haben“, schrieb er.
Was meinte Gandhi mit dem „Erbe“ der Haridschans? Die Menschenwürde, die jeder Mensch ererbt. Gandhi machte geltend, daß der Haridschan als Mensch behandelt werden möchte und nicht als Tier. Wer hat ihn der Menschenwürde beraubt? Gemäß Gandhi seine Glaubensbrüder. „Die brutalsten Verbrechen, über die die Geschichte berichtet, sind unter dem Deckmantel der Religion verübt worden“, versicherte er. Er beschämte ganz Indien durch seine Weigerung, die großen Tempel aufzusuchen, weil deren Pforten jahrhundertelang für die Hindus niedriger Kasten geschlossen gewesen waren. „Dort kann Gott nicht zu finden sein“, erklärte er der Menschenmenge, die sich um ihn sammelte. „Wenn Gott dort wäre, hätte jedermann Zugang.“ Einmal trat ein offensichtlich wohlhabender Missionar an Gandhi heran und bat ihn, ihm zu sagen, wie er den Unberührbaren in den indischen Dörfern helfen könne. Gandhis Antwort war eine Herausforderung an das Christentum: „Wir müssen von unserem Sockel herabsteigen und mit ihnen leben — nicht als Außenstehende, sondern in jeder Hinsicht als einer der Ihren, indem wir ihnen helfen, ihre Lasten zu tragen, und indem wir mit ihnen leiden.“
„Im Wörterbuch des gewaltlosen Handelns wird man vergeblich nach einem ‚äußeren Feind‘ suchen“, sagte Gandhi. Da die Zukunft der Welt selbst auf dem Spiel steht, sind, wie ein zeitgenössischer Autor schreibt, alle Meinungsverschiedenheiten zwangsläufig „intern“, und wenn wir vorhaben, die Menschheit zu retten, müssen wir die Menschenwürde eines jeden respektieren. Durch die Aufteilung der Menschen in Kasten wird ihnen dieser Respekt versagt, deshalb leiden die Menschen. Sie leiden aber nicht mehr stumm. Das spiegeln die Kriminalstatistiken wider. Deshalb fragt man sich: Haben sich Gandhis Ideale bewährt? Wie steht es mit der Gewaltlosigkeit in Indien? Sind Gandhis Ideen für die Welt im allgemeinen praktisch anwendbar?
[Kasten auf Seite 10]
Kaste und Hautfarbe
In dem Hindu-Lehrbuch Mahabharata heißt es:
1. „Die Hautfarbe der Brahmanen [höchste Kaste, zu der nur Priester und Gelehrte gehörten] war weiß,
2. die der Kschatrijas [zweite Kaste, der nur Krieger und Fürsten angehörten] war rot,
3. die der Waischjas [dritte Kaste, Bauern und Kaufleute] gelb
4. und die der Schudras [vierte Kaste, Knechte] schwarz.“
Außerhalb des Kastensystems standen die Unreinen, die Unberührbaren.
Über dieses Kastensystem berichtete die Zeitung The Hindu:
„Die Mandal-Kommission hat vor der Annahme gewarnt, daß das Kastensystem überlebt sei ... Wenn die Religion je in einem Land als Opium für die Massen gebraucht wurde, dann ganz bestimmt in Indien. Eine kleine Priesterklasse beeinflußte die große Masse der Bevölkerung auf so raffinierte Weise, daß sie Jahrtausende wie hypnotisiert ihre Rolle als demütige Knechte akzeptierte. ... Wie die Kommission feststellte, führte der Umstand, daß die Kaste jeden Aspekt des Lebens des einzelnen beeinflußte und kontrollierte, dazu, daß die unteren Kasten nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht zurückblieben, sondern auch in bezug auf Bildung sowie in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Die Angehörigen der höheren Kasten dagegen machten Fortschritte auf allen Gebieten“ (4. Mai 1982).
[Kasten auf Seite 11]
Ein Unberührbarer
... kehrt entweder die Straßen oder reinigt Latrinen oder beseitigt Kadaver;
... darf das Haus eines Höherkastigen nicht betreten; die Brahmanen gestatten ihm nicht, einen Hindutempel zu besuchen;
... darf keinen Angehörigen einer anderen Kaste heiraten;
... ist, wenn er in einer Stadt wohnt, völlig besitzlos — er wohnt in einem Elendsviertel und kämpft um ein wenig Nahrung, ein Obdach und etwas Wasser.
Im Jahre 1950 wurde in Indien die Unberührbarkeit abgeschafft. Dennoch ergab eine vor kurzem in etwa tausend indischen Dörfern durchgeführte Umfrage, daß 61 Prozent der Bevölkerung keinen Unberührbaren an ihrem Brunnen dulden würden; daß 82 Prozent Unberührbaren nicht erlauben würden, den Tempel zu betreten; daß 56 Prozent sie nicht beherbergen würden; daß 52 Prozent der Wäscher ihre Wäsche nicht waschen und 45 Prozent der Barbiere sie nicht rasieren würden.
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Gewaltlosigkeit in einer Welt der GewaltErwachet! 1984 | 22. Oktober
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Gewaltlosigkeit in einer Welt der Gewalt
WER in Bombay wohnt, befindet sich ständig in einem Gedränge. Am Tag sind die Straßen schwarz von Menschen. Nachts schlafen über hunderttausend auf den Bürgersteigen.
So ist es in den meisten indischen Städten. Sie sind übervölkert und verelendet. Obdach und sauberes Wasser sind rar. Nahrung ist kostbar.
Versuche dir vorzustellen, du müßtest ein 3 m × 4 m großes Zimmer mit fünf bis acht anderen Mietern teilen. Die einzelnen Zimmerecken würden vermietet, oder die Leute würden in Schichten schlafen, d. h. sich abwechseln. Die meiste Zeit deines Lebens würdest du auf den Straßen oder den Bürgersteigen zubringen. Jeden Morgen würdest du den langen Weg zur Wasserstelle gehen und dann mit einem Eimer voll Wasser zurückkehren. Das Wasser wäre verunreinigt. Du würdest lange und hart arbeiten, würdest aber nur so viel verdienen, daß deine Familie gerade einen Tag davon leben könnte. Du könntest nichts ändern, auch wenn du dich noch so bemühen würdest. Tagtäglich würden Menschen vor deinen Augen verhungern oder an einer Krankheit sterben. Du wärest verzweifelt, weil du fühltest, daß du ohnmächtig bist.
Aber du hättest wenigstens eine Wohnung. Es gibt aber noch ein anderes Indien: Menschen, die ohne Obdach sind, halten jeden Winkel und jede Ecke an den Rinnsteinen und Straßenrändern besetzt. Sie bilden die Kolonien der Besitzlosen. Es sind Alte und Junge, Frauen und Säuglinge, Halbnackte und Sterbende. Es sind Menschen, die sich nie satt essen können. Sie kämpfen darum, einen weiteren Tag zu überleben.
Das ist kein angenehmes Bild. Natürlich gibt es wie in anderen Ländern auch in Indien Reiche und Gebildete. Aber sie sind nur eine Minderheit. Die Zahl der Armen übertrifft die der Reichen zufolge des ständigen Bevölkerungszuwachses bei weitem. Der krasse Gegensatz zwischen dem Leben der Reichen und dem verzweifelten Überlebenskampf der Armen schafft die Voraussetzung für Gewalttätigkeit.
Trend zur Gewalt
„Gefangen im Drahtgewirr der Stagnation und eines radikalen Wechsels, ist Indien jetzt eine gewalttätige, brutale, häßliche Gesellschaft“, schrieb Bhabani Sen Gupta in seinem Artikel „Ist Indien zivilisiert?“ In Indien werden immer noch jedes Jahr Tausende junger Ehefrauen bei lebendigem Leibe verbrannt, weil sie die immer neuen Mitgiftforderungen ihrer Schwiegereltern und ihres Ehemannes nicht erfüllen können. Etwa zwei Millionen Frauen werden vergewaltigt. Hunderttausende andere Verbrechen werden begangen. Fünfzigtausend enttäuschte und verzweifelte Personen, meist junge Männer und junge Frauen, begehen Selbstmord. Im Jahre 1978 kam es zu 96 488 Krawallen. Seit dem Jahre 1978 gibt es kaum noch vollständige Kriminalstatistiken für das ganze Land. Aber schon die unvollständigen Statistiken zeigen, daß die Zahl der Verbrechen unvermindert steigt.
Der indische Soziologe S. C. Dube ist der Überzeugung, daß der Trend zur Kriminalität und Gewalttat seinen Ursprung in dem krassen Mißverhältnis hat, das zwischen dem, was die Menschen möchten, und dem, was sie tatsächlich erhalten, besteht sowie in der Entschlossenheit der Privilegierten, ihre Errungenschaften und ihren Besitz vor den lauter werdenden Forderungen der Verelendeten zu schützen.
Gewalt und Brutalität ist aber nicht nur in den Städten zu finden, sondern auch in den ländlichen Gebieten Indiens. Die große Zahl blutiger Unruhen ist eine Folge der immer „größer werdenden Kluft zwischen den Großgrundbesitzern und dem Landproletariat“, schrieb der indische Nationalökonom B. M. Bhatia. Die Folge ist ein hoher Tribut an Menschenleben sowie an Sach- und anderen Werten. „Die Schwachen und Armen sind nicht mehr bereit, Gewalt und Gier der Mächtigen und Reichen wortlos hinzunehmen. Sie haben begonnen, zurückzuschlagen und ihre Rechte geltend zu machen. Zu den traditionsgemäß von den Reichen verübten Gewalttaten treten neuerdings die von den Armen begangenen Gewalttaten hinzu“, schreibt Gupta.
Ein unerfüllter Traum
„Bis zu meinem letzten Atemzug muß ich ... hoffen, daß Indien sich zur Gewaltlosigkeit bekennen und die Menschenwürde wahren wird“, schrieb Gandhi im Jahre 1938. Sechsundvierzig Jahre danach kommt es unter der indischen Bevölkerung aus den verschiedensten Gründen zu blutigen Unruhen und zu Gewaltakten; und wie Gupta schreibt, ist es auch nicht gelungen, „die Menschenwürde zu wahren“.
Trotz der Popularität von Gandhis Botschaft wird gemäß der Zeitung The Times of India das Land „von einer beispiellosen Welle der Gewalttaten überrollt, und Verbrechen, begangen von Räuberbanden, sowie Raubüberfälle und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung“.
Diese Bewertung Indiens gilt auch für andere Länder. Allerdings wird in vielen anderen Ländern die Bildung, die zahllosen Indern verweigert wird, der Bevölkerung vermittelt. Dennoch machen sich solche Länder ebenfalls der von Gandhi erwähnten sieben sozialen Sünden schuldig — „Politik ohne Grundsätze, Reichtum ohne Arbeit, Genuß ohne Gewissen, Bildung ohne Charakter, Handel ohne Moral, Religion ohne Opfer und Wissenschaft ohne Menschlichkeit“. Gandhis Ideal von einer gewaltlosen Welt hat sich als ein Traum erwiesen, der sich nicht erfüllt hat.
Es wurde errechnet, daß die indische Bevölkerung in 15 Jahren auf eine Milliarde angewachsen sein wird. Davon werden 600 Millionen in Armut leben müssen. Es wird 30 bis 50 Millionen arbeitslose Jugendliche geben. Solche Statistiken lassen eine furchtbare Zukunft ahnen.
Gandhis Ideal der Gewaltlosigkeit hat in Indien, wo es geboren wurde, keine Wurzeln geschlagen. Warum nicht? An dem Fehlschlag ist nicht das Ideal schuld. Auch liegt die Schuld nicht bei Gandhi. Er hatte es ohne Zweifel gut gemeint. Aber Gandhi war nur ein Mensch. Er konnte nicht alle Menschen alles lehren. Auch vergessen die Menschen leicht, was sie gelernt haben. Die Geschichte bezeugt diese Tatsache.
Bedeutet das, daß es den Menschen unmöglich ist, stets nach dem Grundsatz der Gewaltlosigkeit zu handeln? Wer vermag nicht nur die Inder, sondern alle Völker der Erde zu lehren, miteinander in Frieden zu leben? Was für eine Erziehung würde das erfordern? Wird die Welt je gewaltlos sein?
[Bild auf Seite 13]
Typische Straßenszene in einer indischen Stadt
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Wird die Gewaltlosigkeit je auf der ganzen Erde eine Realität sein?Erwachet! 1984 | 22. Oktober
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Wird die Gewaltlosigkeit je auf der ganzen Erde eine Realität sein?
„HEUTE geht es nur noch ums Überleben“, sagte die Frau in dem überfüllten Zug, der nach Bombay fuhr. Sie blickte aus dem Fenster auf die sich kilometerweit erstreckenden häßlichen Barackenkolonien, die unbarmherzig mit Regengüssen überschüttet wurden. „Heutzutage fehlt den Leuten jede Wertvorstellung“, fuhr sie fort. „Jeder kümmert sich nur um sich selbst. Sogar traditionelle Werte haben an Bedeutung verloren.“
Ihre Worte treffen auf das Leben von Millionen zu, die ohne festgefügtes Wertsystem leben. Sowohl die Reichen als auch die Armen setzen sich sogar über die ererbten Sittenmaßstäbe hinweg, weil sie sie entweder für wirkungslos ansehen oder in unserer modernen Zeit als zu restriktiv. Sie halten sich dafür an das Gesetz des Ichs: „Ich muß überleben.“ Oder: „Ich muß mir gönnen, was möglich ist.“
Das Fehlen jedes stabilisierenden Maßstabs hat bei vielen Verzweiflung oder Zorn ausgelöst. In unserer gewalttätigen Welt ist die Selbstverteidigung eine allgemein verbreitete Strategie geworden. Da aber viele meinen, der Angriff sei die beste Verteidigung, kommt es zu Roheiten — zu rohen Handlungen und rohen Äußerungen —, die wieder Roheiten erzeugen.
„Schlimme Zeiten“
Der Schöpfer des Menschen hat diese Zeit vorausgesehen — eine Zeit, in der die Menschen die von Gott stammenden Wertmaßstäbe ablehnen und daher völlig haltlos werden. Die Folgen beschrieb vor fast 2 000 Jahren ein weiser Mann: „Das sollst du wissen: In den letzten Tagen werden schlimme Zeiten kommen. Denn da werden die Menschen selbstsüchtig sein und geldgierig, prahlerisch, übermütig, schmähsüchtig, den Eltern ungehorsam, undankbar, gottlos, lieblos ...; sie halten wohl noch fest an den äußern Bräuchen der Frömmigkeit, aber sie geben ihr keinen Einfluß auf ihr Leben“ (2. Timotheus 3:1-5, Albrecht).
Sehen wir nicht tagtäglich, daß sich das bewahrheitet? Ist nicht die Welt für viele ein
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