Strom des Lebens, Strom des Todes
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Indien
„ALS wir uns umwandten, sahen wir ein Rinnsal auf uns zufließen. Wir begannen zu laufen, doch das Wasser folgte uns, holte uns ein und umspülte unsere Füße. Wir zogen die Sandalen aus, um schneller laufen zu können, aber das Wasser stieg unaufhaltsam und reichte uns bald bis zu den Knöcheln. Glücklich zu Hause angelangt, rannten wir die Treppe zum ersten Stock hoch, weil wir glaubten, dort in Sicherheit zu sein.
Wir begaben uns aufs Dach und schauten zu, wie das Wasser stieg. Die Straßen verwandelten sich in Ströme, und es war merkwürdig, zu sehen, wie sie an den Straßenkreuzungen zusammenflossen. Das Wasser stieg blitzschnell. In unserer Umgebung erreichte es eine Höhe von 1,5 m.“
So schilderte ein Einwohner von Patna (Indien), was er erlebte, als der mächtige Ganges über die Ufer trat.
Stell dir einen 2 500 km langen Fluß vor, der 300 Millionen Menschen ernährt! Ja, für ein Vierzehntel der ganzen Menschheit bedeutet der Ganges Leben. Aber für viele Inder hat der Ganges nicht nur wirtschaftliche Bedeutung. In den Augen der Hindus ist er Ganga, die Tochter Himavats (eine Personifizierung des Himalajas), eine verehrungswürdige Gottheit. Sie glauben, wer sich im Ganges bade, werde von seinen Sünden rein, und wenn man die Asche eines Toten in den Fluß streue, komme er sofort in den Himmel.
In Uttar Pradesh
Er entspringt im indischen Staat Uttar Pradesh unweit der tibetischen Grenze, und zwar in einer Eishöhle des Himalajagebirges, die über 3 000 m hoch liegt. Von Schmelzwasser ernährt, durchfließt der junge Ganges Bergtäler und empfängt dann bald einen weiteren Quellfluß, den Alaknanda. Von da an verdient er wirklich seinen Namen. Ganga, wie der Ganges in den indischen Sprachen bezeichnet wird, bedeutet „Schnelläufer“.
Schließlich verläßt der Ganges die Berge und berührt den Pilgerort Hardwar. Die Altstadt ist größtenteils von Hindus, die als „heilige Männer“ betrachtet werden, bewohnt. Sie sind nur mit einem Lendenschurz bekleidet, haben ungekämmtes, verfilztes Haar, und ihr Körper ist mit „heiliger“ Asche beschmiert.
Der Ganges fließt nun mit geringem Gefälle in südöstlicher Richtung. Weiter im Süden kommt ihm die Jumna immer näher. Auch dieser Fluß entspringt hoch oben im Himalajagebirge, und in Allahabad, nach rund 1400 km, mündet er in den Ganges. Bevor sich die beiden Flüsse vereinigen, bilden sie das Doab oder „Zweistromland“.
Zu bestimmten Jahreszeiten sind im Doab üppige Weizen-, Gersten-, Hirse- und Baumwollfelder zu sehen. Selbst auf den sandigen Uferdämmen des Ganges kann Weizen und Zuckerrohr angebaut werden. Auf den Sandbänken und den seichten Stellen gedeihen auch Wassermelonen, Gurken und Netzmelonen.
Bevor der Ganges die Jumna aufnimmt, fließt er durch die Industriestadt Kanpur, das „Manchester Indiens“. Selbst hier ist der Ganges freigebig. Wilfred John, ein Bewohner von Kanpur, sagte: „In der langen Trockenzeit, in der der Wasserstand niedrig ist, errichten die Einheimischen auf den Sandbänken des Ganges provisorische Dörfer. Sie bauen auf dem fruchtbaren Boden Gemüse an, das sie dann mit Booten wegschaffen und an den Straßen verkaufen.“ Was geschieht, wenn der Fluß anschwillt? „Jedes Jahr ziehen diese Bauern mit ihren kleinen Herden und ihrem bescheidenen Hausrat weg und lassen sich bis zur nächsten Trockenzeit anderswo nieder.“
Bei Allahabad vereinigen sich schließlich die Jumna und der Ganges. Da die Jumna ebenfalls als heiliger Fluß gilt, ist der Ganges von nun an doppelt verehrungswürdig, und viele Pilger strömen zu dieser Mündungsstelle, um anzubeten und im Fluß zu baden. Nach Allahabad erreicht der Strom bei Hochwasser manchmal eine Breite von 15 km. In der heißen Trockenzeit wirkt er ganz zahm, aber in der Regenzeit verwandelt er sich in ein brodelndes, reißendes Gewässer — in einen Strom, der dem Unachtsamen den Tod bringen kann.
Von Allahabad fließt der Ganges nach Varanasi, auch Benares genannt, ebenfalls ein Wallfahrtsort der Hindus. Am Ufer sind kilometerweit sogenannte Ghats, Steintreppen, angelegt, die zum Fluß hinabführen und von den Badenden benutzt werden. Ein Besucher beschreibt das Leben am Fluß wie folgt: „Auf den Stufen am Ufer drängen sich die frommen Hindus, die ihren religiösen Riten nachgehen. Hier werden Tote den Flammen übergeben, und anschließend sammeln die trauernden Hinterbliebenen die Asche auf, während andere Hindus rituelle Waschungen vornehmen. Wieder andere, im Lotossitz, beten anscheinend nicht nur den Fluß, sondern auch die Sonne an. Manche gießen Opferwasser in den Fluß und sprechen, der Sonne zugewandt, mantrams.“
Durch Bihar und West Bengal
Der Fluß schlängelt sich nun ostwärts und gelangt in den Staat Bihar. Die Vegetation verändert sich allmählich, und schließlich sieht man nur noch Reisfelder. Der Ganges nimmt weitere Wasserläufe auf, zum Beispiel den Kosi, der in der Nähe des Mount Everest entspringt. So wird der Fluß breiter und breiter. Östlich von Patna, wo der berühmte Patnareis wächst, erreicht der mäandernde Strom eine Breite von über 30 km.
Von Bihar fließt der Ganges majestätisch weiter und gelangt nach West Bengal, verläßt dann Indien und erreicht Bangladesch. Kurz bevor er zur Grenze kommt, beginnt das riesige Delta, das fast 57 000 km2 umfaßt. Auch hier ist der Ganges ein Strom des Lebens, denn dieses Tiefland ist ungemein fruchtbar. Die bengalischen Farmer bauen 295 verschiedene Reissorten an.
Im Dschungel entlang der Küste des Deltas sind der Königstiger und das Gangeskrokodil beheimatet. Die Mündungsarme sind so fischreich, daß die dortige Bevölkerung vom Fischfang leben kann.
Der Hauptmündungsarm des Ganges ist der Padma (Bangladesch). Dieser Strom fächert sich in viele Kanäle auf. Schließlich ergießt sich der mächtige Ganges durch etwa 40 Mündungsarme in den Golf von Bengalen.
Der südlichste Mündungsarm, der Hugli, bleibt auf indischem Boden und fließt durch die Riesenstadt Kalkutta. Obwohl Kalkutta fast 130 km landeinwärts liegt, hat es einen betriebsamen Überseehafen. „Auf dem Hugli in Kalkutta wird ungemein viel Handel getrieben“, sagte Tapash Chakravarty, der bei Kalkutta geboren wurde. „Kalkutta ist der größte Exporteur von Jute, und in dieser Stadt wird auch der traditionelle Teemarkt Indiens abgehalten. In Wirklichkeit ist es der Ganges, der Kalkutta zu dem macht, was es ist.“
Strom des Lebens, Strom des Todes
Für die 300 Millionen Menschen, die die Gangesebene bevölkern, kann der Fluß Leben oder Tod bedeuten. Zur Zeit des Monsunregens kann er zu einem reißenden Gewässer werden und die Ufer sowie das angrenzende Land überschwemmen.
Im Staat Bihar leben viele gefährlich. In Dürrezeiten droht ihnen der Hunger, und in der Regenzeit, wenn der Fluß Hochwasser führt, besteht für sie die Gefahr des Ertrinkens. Wie die Presse meldete, berichtete ein Überlebender der Überschwemmung, die vor kurzem Patna (Bihar) heimsuchte, daß allein in dieser Stadt und im angrenzenden Distrikt 140 000 Häuser beschädigt und mehr als 300 000 Menschen obdachlos wurden. Ja, der Ganges kann auch ein Strom des Todes sein.
Aber nur wenn die Leute unachtsam sind und keine Vorsichtsmaßnahmen treffen, wird er für sie gefährlich. Er ist weit mehr ein Strom des Lebens. Er führt täglich 900 000 Tonnen Sinkstoffe mit, darunter auch größere Mengen Mineralsalze aus den Bergen. Wenn der Ganges über die Ufer tritt, werden diese in den Boden geschwemmt. So wird das Land eines Gebietes, das zu den am intensivsten bewirtschafteten der Welt gehört, von neuem fruchtbar gemacht.
Millionen Hindus verehren den unberechenbaren, lebengebenden Strom. Viele Inder dagegen erkennen, daß der Strom kein Gott, sondern etwas Gemachtes ist. Sie wissen, daß er von einem liebevollen Schöpfer stammt, dessen Name Jehova ist. Sie beten nicht die Schöpfung an, sondern danken dem Schöpfer für das Leben, das der mächtige Ganges so vielen ermöglicht.
[Herausgestellter Text auf Seite 26]
Im Dschungel entlang der Küste des Deltas sind der Königstiger und das Gangeskrokodil beheimatet.
[Herausgestellter Text auf Seite 27]
Der mächtige Ganges fächert sich in viele Kanäle auf und ergießt sich schließlich durch etwa 40 Mündungsarme in den Golf von Bengalen.
[Karte auf Seite 25]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
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BHUTAN
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GANGES
Jamuna
Noakhali
Gangesmündungen
GOLF VON BENGALEN
INDIEN
Gangotri
Hardwar
Alaknanda
Ramganga
GANGES
DELHI
Agra
Jumna
Betwa
Lucknow
Kanpur
Allahabad
Benares
Gumti
Son
GANGES
Gogra
Gandok
Patna
Kosi
Monghyr
KALKUTTA
Hugli