Ich habe erlebt, wie Personen ihr Leben änderten
Von Percy Iszlaub erzählt
IM Jahre 1949 ermordete Kimihiro Nakata zwei Männer. Man hatte ihn dafür bezahlt. Das waren turbulente Zeiten. Millionen hatten auf dem Schlachtfeld ihr Leben verloren, und die Gewalttätigkeiten, die dort verübt worden waren, hörten mit dem Ende des Krieges nicht auf.
Meine Frau Ilma und ich waren gerade als Missionare nach Japan gekommen. Es war während der Nachkriegswehen des Zweiten Weltkriegs. Kimihiro war damals erst 18 Jahre alt. Man hatte ihn zum Tode durch den Strang verurteilt. Wäre er nur einige Monate jünger gewesen, so hätte man nicht das Todesurteil über ihn fällen können. Er wurde in das Gefängnis von Fukuoka gebracht und kam in die Todeszelle.
In Japan läßt man einen zum Tode Verurteilten nicht wissen, wann er hingerichtet wird. Jemand mag sich eine Woche, einen Monat, ein Jahr oder viele Jahre in der Todeszelle befinden; einmal ließ man einen Mann dreißig Jahre lang warten. Kimihiro wurde im Gefängnis ein gewalttätiger Unruhestifter. Oft geschah es, daß er an den Gitterstäben seiner Zelle rüttelte und schrie: „Warum tötet ihr mich nicht! Macht endlich Schluß!“ Doch die Jahre vergingen, und er wurde nicht hingerichtet.
Mit der Zeit interessierte sich Kimihiro für Religion. Er besorgte sich eine Bibel und las darin. Das, was er las, interessierte ihn sehr. Er hatte jedoch viele Fragen, auf die er keine Antwort bekommen konnte. Eines Tages — es war in den 1950er Jahren — erhielt er eine Ausgabe des Wachtturms. Ein Bekannter, der an der Zeitschrift nicht interessiert war, hatte sie ihm geschickt. Das war genau das, wonach Kimihiro gesucht hatte. Er bat die Watch Tower Society um mehr Information, worauf ein Zeuge Jehovas zu ihm geschickt wurde. Dieser besuchte Kimihiro im Gefängnis, und in der Todeszelle studierten sie gemeinsam die Bibel.
In der Zwischenzeit — es war im September 1957 — erhielten wir eine neue Missionarzuteilung: Fukuoka City. Zu jener Zeit zog der Zeuge, der mit Kimihiro studiert hatte, in eine andere Stadt. Deshalb übernahm ich das Studium in der Todeszelle. Kurz bevor wir in Fukuoka ankamen, war Kimihiro im Gefängnisbad getauft worden.
Ich traf also im Gefängnis einen christlichen Bruder an, der sich vollständig geändert hatte. Die Monate vergingen, und ich besuchte Kimihiro Woche für Woche. Während dieser Zeit kamen wir uns immer näher, und ich gewann ihn sehr lieb. Als wir uns besser kennenlernten, stellte ich fest, daß einiges in unserem Leben ähnlich war. Ja, ich dachte oft darüber nach, daß ich wahrscheinlich auch im Gefängnis gelandet wäre, wenn ich mein früheres Leben fortgesetzt hätte.
DAS LEBEN EINES ROWDIES
Ich wuchs im Südosten von Queensland (Australien) auf, und als ich noch zur Schule ging, fing ich an, zu rauchen und zu trinken. Dadurch kam ich mit der Polizei in Konflikt. Es verging keine Woche, in der ich nicht betrunken und in irgendeiner Kneipe in eine Rauferei verwickelt war. Einmal schüttete ich sogar einem Mann, der mich beleidigt hatte, ein Glas Bier ins Gesicht. Da ich mich betrunken ans Steuer setzte, hatte ich zweimal einen Autounfall, und bei einem Motorradrennen kam ich einmal nur sehr knapp mit heiler Haut davon.
Durch das Rauchen und Trinken wurde ich auch zum Spielen verleitet. Wenn die Polizei eine Razzia machte und herausfand, wo wir spielten, gingen wir an einen anderen Ort. Um eine Wette zu gewinnen, erschien ich einmal um Mitternacht in einer überfüllten Halle, wo eine Tanzveranstaltung stattfand. Ich hatte nur einen Schlafanzug an und hielt in einer Hand eine Portion Eis, und eine Wurstkette hing mir um den Hals. Die Wette gewann ich zwar, doch ich verlor das Wettrennen mit der Polizei, die mich des unordentlichen Benehmens bezichtigte.
Auch vor Diebstahl schreckte ich nicht zurück. Zuerst brach ich in eine Wohnung ein. Dann drang ich gewaltsam in ein Kino ein, wo ich Geld und Zigaretten stahl. Doch ich blieb nicht bei solchen „Kleinigkeiten“. Einer meiner „Kumpels“ und ich stahlen aus einem Auto sogar den Motor und bauten ihn in eine andere Karosserie ein. Das Ganze verkauften wir dann zu einem schönen Preis.
Mein Lieblingssport war Rugby. Ich war ein Läufer. Wir spielten, um zu gewinnen; unser Ziel war es, den Gegner zu packen und zu Boden zu werfen. Einmal aber rannte ich mit dem Ball, und der Gegner „packte“ mich. Das Ergebnis war, daß ich mit zwei gebrochenen Rippen und einem verletzten Zwerchfell das Spielfeld verließ.
ETWAS VERANTWORTUNGSBEWUSSTSEIN
Während jener Zeit sorgte ich auch für meine Angehörigen. Als mein Vater und meine Mutter krank wurden und nicht mehr arbeiten konnten, ging ich von der Schule und nahm eine Arbeit als Automechaniker an, um meine Angehörigen zu unterstützen. Damals war ich erst 14 Jahre alt. Zehn Jahre später — im Jahre 1940 — führte ich in einer Reparaturwerkstatt die Aufsicht über 17 Mechaniker.
Damals ging man samstags abends gern tanzen. Ich spielte in einer Band das Kornett. Oft kam ich samstags mittags von der Arbeit, fuhr in eine entfernte Stadt und spielte bis spät in die Nacht hinein. Bei Sonnenaufgang kam ich dann nach Hause. Der ganze Inhalt meines Lebens bestand darin, samstags abends tanzen zu gehen und mit Mädchen auszugehen.
EIN GUTER EINFLUSS AUF MEIN LEBEN
Ungefähr mit 23 lernte ich beim Tanzen Ilma kennen. Danach sahen wir uns regelmäßig, doch zuerst nur bei Tanzveranstaltungen. Aber dann besuchte sie mich zu Hause, und meine Mutter und sie freundeten sich an. Bald darauf machte ich ihr einen Heiratsantrag. Mein Verhältnis zu Ilma sollte mein Leben sehr verändern.
Ich möchte noch erwähnen, daß meine Mutter einige Jahre zuvor Zeugin Jehovas geworden war. Ich war damit ganz und gar nicht einverstanden. Wenn sie auf der Straße stand und Passanten biblische Literatur anbot, schämte ich mich. Ich wollte sie dazu bewegen, diese Tätigkeit aufzugeben, doch ich hatte keinen Erfolg. „Ich wünsche nicht, daß du mit Ilma über deine ‚verrückte Religion‘ sprichst“, sagte ich ihr.
Eines Nachts nach dem Tanzen sprachen Ilma und ich über den Krieg, den Zweiten Weltkrieg, der gerade — im September 1939 — ausgebrochen war. Wir kamen in unserer Unterhaltung auch auf die Weltverhältnisse zu sprechen, und Ilma sagte: „Würdest du dich nicht auch freuen, wenn eine gerechte Regierung aufgerichtet würde, die der ganzen Menschheit Frieden bringt?“
„Natürlich“, antwortete ich. „Doch wer kann so etwas schon herbeiführen? Die Menschen haben sich seit Jahren bemüht, und wo stehen wir heute? Wir fangen gerade einen Weltkrieg an.“
Ilma entgegnete: „Der allmächtige Gott kann das tun, und er wird es tun.“
„Wie kommt es dann, daß der allmächtige Gott nicht schon vorher etwas getan hat? Sieh dir nur überall das Leid an. Kannst du mir darauf eine Antwort geben, Liebling?“
Ja, Ilma konnte mir darauf antworten. Doch nicht auf eine Weise, wie ich es erwartet hatte. Sie brachte eine kleine Broschüre, Herrschaft und Friede, und las mir daraus etwas vor: „Es kann keinen dauernden Frieden geben ohne eine gute, gerechte Regierung, und eine gerechte, rechtschaffene Regierung kann nicht ohne Frieden sein.“
Das leuchtete mir ein. „Wie kann so etwas jedoch bewerkstelligt werden?“ wollte ich wissen. „Zeig mir mal die Broschüre.“
Sie gab sie mir. Ich öffnete die erste Seite, und was fiel mir ins Auge? „WATCH TOWER BIBLE AND TRACT SOCIETY ... ERSTAUFLAGE (Englisch) 10 000 000 Exemplare“. Jetzt „platzte mir doch der Kragen“! „Woher hast du das?“ fragte ich.
„Von deiner Mutter“, sagte sie, „ich habe es gelesen und glaube auch daran.“
Ich wurde wütender denn je, als ich erfuhr, daß meine Mutter mit Ilma über ihre Religion gesprochen hatte. Übrigens war das folgendermaßen geschehen: Einige Wochen zuvor hatte Ilma Mutter etwas gefragt, worüber sie bestürzt war. „Meine Kirche lehrt, daß die Bösen in die Hölle kommen und die Guten in den Himmel. Wie steht es aber mit mir? Ich glaube, ich bin nicht gut genug, um in den Himmel zu kommen, aber ich bin auch nicht so schlecht, daß ich in die Hölle kommen müßte.“
Meine Mutter hatte natürlich gleich die Gelegenheit ergriffen, um ihr von Gottes ursprünglichem Vorsatz, die Erde in ein Paradies umzuwandeln, zu erzählen und darüber, wie Gott diesen Vorsatz bald unter der Herrschaft seines Königreiches verwirklichen wird. Sie hatte auf Bibelstellen wie Psalm 37:11 und 29 hingewiesen, wo es heißt: „Die Elenden werden das Land erben und ihre Freude haben an großem Frieden. Die Gerechten werden das Land ererben und darin wohnen allezeit“ (Luther). Daraufhin hatte sie ihr erklärt, daß Jesus sogar dem Übeltäter, der an seiner Seite starb, versprochen hatte, ihn in einem irdischen Paradies wieder zum Leben zurückzubringen (Luk. 23:43).
Wenn also Ilma an den Wochenenden zu uns gekommen war, dann hatte mich Mutter jedesmal freundlich gefragt, ob ich auf dem Markt einiges fürs Mittagessen einkaufen würde. Während meiner Abwesenheit hatte sie eifrig mit Ilma biblische Lehren besprochen. Wie lange das so gegangen war, wußte ich nicht, jedenfalls kam in jener Nacht alles ans Tageslicht.
Ich erklärte Ilma, daß meine Mutter mit ihr nicht über Religion hätte sprechen dürfen, denn ich sei damit nicht einverstanden gewesen. Doch dann fragte Ilma: „Bist du nicht auch für die Freiheit?“
„Natürlich!“
„Bist du dann nicht ein Heuchler?“ gab sie zurück.
Man hatte mir schon schlimmere Namen an den Kopf geworfen; in diesem Fall war es jedoch schwerer für mich zu ertragen, denn es kam von Ilma. „Du sagtest einmal, daß es etwas Wunderbares sei, wenn es eine friedliche Regierung gäbe“, sagte sie weiter. „Nur weil du jetzt weißt, daß diejenigen, die sagen, Gott führe so etwas herbei, Jehovas Zeugen sind, interessiert es dich plötzlich nicht mehr.“
Das gab mir zu denken, und brummend und gekränkt ging ich nach Hause. Es verstrich eine Woche. Dann rief ich Ilma an und fragte sie, ob ich sie besuchen dürfe. „Ja, aber nur, wenn du vernünftig bist und wir über das reden können, was wir vor einer Woche besprochen haben“, sagte sie.
Ich besuchte sie also und fragte sie, wieso sie eigentlich an die „Religion Rutherfords“ — so nannte ich die Religion meiner Mutter — glauben könne. (J. F. Rutherford war damals Präsident der Watch Tower Society.) „Zum ersten Mal hörte ich so etwas Wunderbares“, sagte sie. „Es ist so logisch. Als deine Mutter mir meine Fragen beantwortete, hätte ich vor Freude springen können. Ich wußte, daß es die Wahrheit ist.“
Ich muß zugeben, daß mir nicht zum Springen zumute war. Doch ich hörte zu, als sie mir einige Bibeltexte vorlas, und war bereit, die Sache weiter zu untersuchen. Am 8. Dezember 1939 heirateten wir dann.
WIE SICH MEIN LEBEN DRASTISCH ÄNDERTE
„Gut, wir lassen jemanden kommen, der mit uns die Bibel studiert“, sagte ich zu Ilma. „Aber ich möchte nicht, daß meine Mutter oder ihre 70jährige Freundin kommt.“ Ich war davon überzeugt, daß es eine Religion für alte Frauen war. Uns besuchte also ein Ehepaar, das im Vollzeitpredigtdienst stand.
Anfangs diskutierte ich viel mit dem Mann und der Frau. Ich konnte zum Beispiel nicht verstehen, wieso der erste Mensch, Adam, sündigen konnte, wenn er doch vollkommen war. Mir schien es, als ob Gott bei der Erschaffung Adams keine gute Arbeit geleistet habe, denn Adam wandte sich dem Schlechten zu. Doch mit der Zeit verstand ich, daß Gott ihn mit einem freien Willen erschaffen hatte und nicht als Roboter. Adam hatte also die Fähigkeit, zwischen dem Rechten und dem Unrechten zu wählen.
Es wurde Februar, es wurde März, und mein Interesse am Studium wuchs. Eines Tages sagte ich zu Ilma: „Laß uns zum Kongreß in Brisbane fahren.“ Das war im April, gerade vier Monate nach unserer Hochzeit. Wir fuhren also zum Kongreß. Wie beeindruckt ich doch davon war! Ich konnte kaum glauben, daß es dort so viele junge Leute in unserem Alter gab. Nein, das war keine Religion für alte Leute.
Nachdem wir nach Hause zurückgekehrt waren, nahm ich das Studium noch ernster und sprach eifrig mit anderen über die Wahrheit. Norman Bellotti, ein junger Mann aus einem nahe gelegenen Städtchen, der früher zu einer rivalisierenden Bande gehört hatte, wurde auch ein Zeuge Jehovas. Wir waren nun keine Rivalen mehr, sondern beteiligten uns als Partner gemeinsam am Zeugniswerk. In den Städtchen, wo wir wohnten, kannten uns viele, und sie trauten ihren Augen kaum, als sie sahen, wie wir uns geändert hatten. Das Rauchen, das Spiel mit der Unsittlichkeit, das Anzetteln von Krawallen in betrunkenem Zustand sowie das Stehlen, das leichtsinnige Fahren und das Spielen — all das hatten wir hinter uns gelassen. Warum?
Mir war das Auge des Verständnisses geöffnet worden. Ich glaubte von ganzem Herzen, daß Jehova eine gerechte Regierung aufrichten würde, nämlich sein Königreich, um das wir beten (Matth. 6:9, 10; Dan. 2:44). Diese Erkenntnis und meine Wertschätzung dafür halfen mir, mein Leben drastisch zu ändern. Wahrscheinlich wurde ich deshalb davor bewahrt, in dieselben Schwierigkeiten zu geraten wie Kimihiro Nakata.
DER ANFANG EINES NEUEN LEBENS
Im Juli 1940 entschlossen sich Ilma und ich, den Kongreß in Sydney zu besuchen und danach den Vollzeitpredigtdienst oder Pionierdienst — wie er auch genannt wird — aufzunehmen. Ich gab meine Arbeit als Aufseher in der Reparaturwerkstatt auf, und wir verkauften alle unsere neu erworbenen Möbel. Dann rief ich Norman an, um ihm unsere Pläne mitzuteilen. Er sagte: „Wartet auf mich! Wartet auf mich! Ich möchte mitkommen.“ Norman und seine Schwester Beatrice begleiteten uns also.
Auf dem glaubensstärkenden Kongreß symbolisierten wir vier am 24. Juli 1940 unsere Hingabe an Gott durch die Wassertaufe. Danach gingen wir in das Zweigbüro der Watch Tower Society in Sydney und baten um eine Pionierzuteilung. Wir wurden nach Nordqueensland, nach Townsville, geschickt.
Unser neues Leben war nicht leicht. Wir wurden indessen für unsere Anstrengungen entschädigt, und wir waren glücklich, denn wir waren überzeugt, daß wir etwas taten, was Jehova wohlgefiel.
In Nordqueensland ist von November bis Januar Regenzeit. Manchmal regnete es an einem Tag 40 Zentimeter und mehr, und alles war überschwemmt. Einmal waren wir einige Tage zwischen zwei über die Ufer getretenen Flüssen eingeschlossen. Als unsere Nahrungsmittelvorräte zu Ende gingen, aßen wir wilde Tomaten.
Der Weltkrieg dauerte an, und man wurde Jehovas Zeugen gegenüber immer voreingenommener. Im Januar 1941 verbot die Regierung unsere Tätigkeit in Australien. Doch wir setzten das Predigtwerk fort. Montags morgens machten wir, Norman und ich, uns zum Aufbruch bereit, um entlegene Landgebiete zu bearbeiten. Auf das eine Fahrrad luden wir zwei Kartons mit Büchern und auf das andere Decken, eine Bratpfanne und einen Behälter mit Wasser für Tee. Bis wir freitags abends zurückkamen, predigten Ilma und Beatrice in der Stadt.
Manchmal gingen uns die Nahrungsmittelvorräte aus, und Norman und ich hatten ein oder zwei Tage lang nichts zu essen. Dann konnten wir aber einige Bücher gegen Nahrungsmittel eintauschen. Oder manchmal hackten wir Holz und bekamen dafür ein Mittagessen. Nachts schliefen wir unter einer alten Brücke oder unter einem Baum. Um uns die vielen Mücken vom Leibe zu halten, verbrannten wir Mist. Ein Feuer zündeten wir jeweils am Fußende an und ein anderes am Kopfende.
GRÖSSERE DIENSTVORRECHTE
Einige Monate hatten wir nun schon im Pionierdienst verbracht, und eines Tages wartete auf uns ein Brief von der Watch Tower Society, als wir nach Hause kamen. Es war eine Einladung, im Bethel, dem Zweigbüro der Zeugen Jehovas in Sydney, zu dienen. Wir nahmen diese Einladung freudig an. Doch schon bald nachdem wir mit dem Betheldienst begonnen hatten, ordnete die Regierung an, daß alle Glieder der Bethelfamilie das Haus zu verlassen hatten, und beschlagnahmte das Eigentum der Gesellschaft.
Ilma und ich erhielten eine Zuteilung in Melbourne. Während des Verbots predigten wir nur mit der Bibel. Wir arbeiteten allein und so unauffällig wie möglich. Manchmal kam man sich etwas verlassen vor, doch wir erlebten auch viele Segnungen. Ilma erzählte: „Eines Tages sprach ich im Dienst mit einer Frau in mittleren Jahren über die paradiesische Erde. Sie erkannte sofort, daß dies die biblische Wahrheit war. Sie studierte und begleitete mich auch gleich im Dienst, obwohl wir zu jener Zeit verboten waren.“ Das Verbot wurde im Juni 1943 aufgehoben.
Im Jahre 1947 wurde ich in Neusüdwales als Kreisdiener eingesetzt. Dort diente ich dann als reisender Vertreter der Zeugen Jehovas. Danach erhielten wir ein neues Vorrecht: Wir wurden eingeladen, die Wachtturm-Bibelschule Gilead, eine Missionarschule im Staate New York, zu besuchen. Sollten wir die Einladung annehmen?
Da ich schon mit 14 die Schule verlassen hatte, befürchtete ich, nicht befähigt zu sein, eine Missionarschule zu besuchen. Doch dann sahen wir die Einladung als von Gott kommend an. Deshalb antworteten wir wie der Prophet Jesaja: ‘Hier sind wir! Sende uns’ (Jes. 6:8). So kam es, daß wir im Januar 1948 in die Vereinigten Staaten reisten. Mit uns kamen 17 andere aus Australien und Neuseeland, auch mein ehemaliger Pionierpartner Norman Bellotti.
Nach fünfmonatiger intensiver biblischer Unterweisung erhielten wir unsere Missionarzuteilung. Unsere lautete: Japan.
MISSIONARDIENST IN JAPAN
Zuerst wurden wir der Stadt Kobe zugeteilt. Unser Missionarheim lag auf einem hohen Hügel, von wo aus wir einen herrlichen Ausblick auf die wunderschöne Inlandsee hatten, auf der malerische Boote in allen Formen und Größen am Ufer entlangfuhren. Ein Leuchtturm blinkte Tag und Nacht und führte die Seeleute an den im Wasser versteckten Felsen vorbei.
Ein freundlicher Nachbar, ein Arzt, sagte: „Dieses Missionarheim wird für die Leute in dieser Umgebung ein Quell geistigen Lichts werden.“ Seine Worte bewahrheiteten sich. Damals gab es in Kobe keine Zeugen Jehovas, doch heute sind dort 20 Versammlungen mit fast 1 400 Königreichsverkündigern. Mehr als 20 Jahre später ließen sich die zwei Töchter des Arztes in der Nähe von Tokio taufen.
In unserem Haus standen keine Möbel. Außerdem war ein gründlicher Hausputz nötig. Der Garten war mit hohem Gras überwuchert. Wir schnitten es und breiteten es auf dem Fußboden aus. Darauf schliefen wir, bis 3 Wochen später unser Missionargepäck eintraf. Unsere Kleidung behielten wir beim Schlafen an. Belustigt nannten wir unsere Schlafstätte „Zigeunerlager“.
Es war anfangs nicht so einfach, die Sprache zu lernen, besonders für mich. Ich forderte zum Beispiel die Brüder auf, die Schafe zu „essen“ (taberu), statt sie zu „weiden“ (tabesaseru), oder die Wachtturm-„Nudeln“ (udon) zu unterstützen statt den Wachtturm-„Feldzug“ (undo). Die Brüder halfen mir jedoch stets über diese Schwierigkeiten hinweg, und wir drängten voran.
EIN VERÄNDERTES LEBEN — ETWAS WUNDERBARES
Ilma und ich sind nun über 31 Jahre in Japan. Es ist unsere Heimat geworden. Als wir dort ankamen, gab es im ganzen Land nur drei einheimische Zeugen. Jetzt verkündigen in Japan über 58 400 Brüder und Schwestern die gute Botschaft vom Königreich. Während dieser Jahre habe ich erlebt, wie viele, viele Personen ihr Leben geändert haben. Einige von ihnen hatten fragwürdige Geschäftsmethoden angewandt oder einen sehr unsittlichen Lebenswandel geführt. Sie nahmen sich aber die Wahrheit des Wortes Gottes zu Herzen, und es war etwas Wunderbares, zu beobachten, wie sie sich änderten.
Doch der beeindruckendste Wandel, den ich im Leben einer Person beobachtet habe, war der von Kimihiro Nakata, dem aufrührerischen, gewalttätigen Gefangenen in der Todeszelle, der zwei Männer umgebracht hatte. Was für ein sanftmütiger, freundlicher junger Mann er doch geworden war! Er war einer der eifrigsten Königreichsverkündiger, die ich gekannt habe. Zu Besuchern sagte er: „Wenn ich durch das Fenster meiner Zelle den blauen Himmel sehe, dann wünsche ich mir von ganzem Herzen, draußen zu sein und beim Predigen mithelfen zu können.“
Kimihiro half jedoch vielen sogar von seiner Todeszelle aus. Er schrieb den Angehörigen der Männer, die er getötet hatte, über die Wahrheit, so daß ihr Interesse geweckt wurde. Auch seinen eigenen Angehörigen gab er ein gutes Zeugnis. Er lernte Blindenschrift und übersetzte das Buch „Gott bleibt wahrhaftig“, die Broschüre „Diese gute Botschaft vom Königreich“ und Artikel aus den Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! in die Blindenschrift. Diese Publikationen wurden in verschiedenen Teilen Japans verbreitet, auch in Schulen für Blinde.
MIT DER HOFFNUNG FÜR DIE ZUKUNFT IM SINN
Am 10. Juni 1959 fuhr ein Polizeiauto vor unserem Missionarheim vor. Kimihiro hatte gebeten, ich solle bei seiner Hinrichtung an jenem Morgen dabeisein. Ich werde die letzten Worte, die er zu mir sagte, niemals vergessen: „Heute habe ich ein starkes Vertrauen auf Jehova, auf das Loskaufsopfer und die Auferstehungshoffnung. Für eine kleine Weile werde ich schlafen, und wenn es Jehovas Wille ist, werde ich euch alle im Paradies wiedersehen.“ Kimihiro starb um der Gerechtigkeit willen, denn es mußte ‘Leben für Leben’ gegeben werden. Doch er starb nicht als hoffnungsloser verhärteter Verbrecher, sondern als getaufter, treuer Diener Jehovas.
Ja, ich habe erlebt, wie Personen ihr Leben änderten, zum Beispiel Kimihiro und ich selbst. Ilma ist trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes noch immer meine treue Gefährtin im Vollzeitdienst — ein Vorrecht, das wir nun schon über 40 Jahre genießen. Gemeinsam danken wir Jehova, dem Gott, der Personen zu ändern vermag.