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Die Sprache des Menschen — eine einzigartige GabeErwachet! 1977 | 8. Juni
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Die Sprache des Menschen — eine einzigartige Gabe
Vom „Awake!“-Korrespondenten in der Elfenbeinküste
EINE Übersetzungsmaschine übersetzte einmal den englischen Ausdruck „out of sight, out of mind“ (aus den Augen, aus dem Sinn) in eine andere Sprache. Die Übersetzung hatte den Sinn von „unsichtbarer Idiot“. Bedeutet das, daß bei dieser Maschine „eine Schraube locker war“? Nein. Der Fehler ist ihr durchaus zu verzeihen. Obendrein wurde dadurch einer der vielen Faktoren offensichtlich, durch den sich die Sprache des Menschen unter den bekannten Arten der Verständigung auszeichnet, nämlich ihre Vielgestaltigkeit.
Für die Maschine hatte „aus den Augen“ gewissermaßen den Sinn von unsichtbar. „Aus dem Sinn“ wurde mit „nicht bei Sinnen“, Verrücktheit oder Idiot in Verbindung gebracht, und dennoch bedeutet „aus den Augen, aus dem Sinn“ nicht „unsichtbarer Idiot“. Gerade diese Art von Problemen bereitet den Erfindern von Übersetzungsmaschinen Kopfzerbrechen.
Natürlich macht nicht nur die Vielgestaltigkeit die menschliche Sprache zu so etwas Einzigartigem. Dabei spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle — so viele, daß einige Wissenschaftler behaupten, anstelle der Bezeichnung homo sapiens („vernunftbegabter Mensch“) wäre die Bezeichnung homo loquens („sprachbegabter Mensch“) passender.
Aber vielleicht wird jemand einwenden: „Ist denn all das, was man in jüngster Zeit über die Kommunikationssysteme der Tiere erforscht hat, in Vergessenheit geraten? Freilich, der Mensch kann sprechen. Allerdings tun das die Tiere auch, nur auf ihre Weise. Die Delphine pfeifen, Bienen tanzen, Vögel haben bestimmte Ruftöne, und einige können sogar die menschliche Sprache nachahmen. Und wie steht es mit den Affen, denen man kürzlich eine Art ‚Zeichen‘sprache beigebracht hat? Obwohl sie sich nicht genauso verständigen wie der Mensch, erreichen sie denn nicht denselben Zweck und dieselben Ergebnisse?“
Eigentlich ja und nein. Ja, weil sie sich miteinander verständigen; und nein deshalb, weil der Zweck und die Ergebnisse in der Regel andere sind. Man hat die verschiedenen Ruflaute von so unterschiedlichen Tieren wie Gibbons, Gänsen und Delphinen katalogisiert — in einigen Fällen wurden sie sogar in einer Art Wörterbuch aufgenommen. Die Gibbons haben ungefähr neun Rufe und die Delphine noch mehr. Die Delphine scheinen sogar verschiedene „Dialekte zu sprechen“, je nachdem, wo sie leben.
Trotzdem bestehen mehrere wesentliche Unterschiede zwischen der Sprache des Menschen und der der Tiere — selbst wenn man die offenkundige Tatsache unberücksichtigt läßt, daß die menschliche Sprache unermeßlich vielgestaltiger ist. Einer der Unterschiede besteht in dem ...
Zweck der Verständigung
Haben die Tiere, wenn sie sich der ihnen eigenen Rufzeichen bedienen, die bewußte Absicht, sich so wie die Menschen miteinander zu verständigen? Oder sind ihre Laute lediglich eine instinktive Reaktion in ihrer augenblicklichen Situation? Konrad Z. Lorenz, eine weltberühmte Autorität auf dem Gebiet der Tierverhaltensforschung, behauptet, sie würden sich nicht absichtlich verständigen, obwohl dies oft den Anschein habe.
Wenn zum Beispiel eine Dohle beim Fressen aufgeschreckt wird, wird sie auffliegen und ihr warnendes „Kja, Kja“ rufen, und alle anderen Dohlen werden ebenfalls auffliegen, weil sie den Ruf hören. Das vollkommene Zusammenspiel zwischen dem Warnruf und der Reaktion der anderen Vögel erweckt den Eindruck, daß sie eine eigene Sprache sprechen und verstehen. Konrad Lorenz dagegen verneint das in seinem Buch Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen:
„Das Tier [hat] in allen Lautäußerungen und Ausdrucksbewegungen keineswegs die bewußte Absicht ..., einen Artgenossen durch sie zu beeinflussen. Auch allein aufgezogene und gehaltene Graugänse, Stockenten oder Dohlen geben alle diese Signale von sich, sobald sie die betreffende Stimmung anwandelt“ (S. 119).
Wenn der Mensch erlernte Stimmsignale verwendet, beabsichtigt er, seinen Zuhörern etwas mitzuteilen (es sei denn, er singt, während er in der Badewanne sitzt), und sobald er merkt, daß ihm niemand zuhört, wird er aufhören zu sprechen. Die Dohle kümmert sich aber nicht darum, ob ihr jemand zuhört. Sie gibt den Laut nur als instinktiven Reflex von sich, genauso wie der Mensch gähnt, wenn er müde ist. Dadurch wird noch ein anderer Unterschied zur menschlichen Sprache hervorgehoben ...
Veränderlichkeit des Signals
Die Linguisten (Sprachforscher) bezeichnen die meisten Signallaute der Tiere als unveränderlich, das heißt, man kann sie nicht von der Situation trennen, durch die sie ausgelöst werden. Der Gibbon zum Beispiel läßt seinen Warnruf lediglich dann ertönen, wenn tatsächlich Gefahr droht.
Die Signale der Tiere sind auch in dem Sinne festgelegt, daß das Tier im allgemeinen nicht dem Laut zuhört, den es selbst erzeugt, und dann versucht, ihn zu einem anderen Laut abzuwandeln. Zugegeben, bestimmte Vögel können Laute nachahmen, die nicht zu ihrem angeborenen Wortschatz gehören. Sie sind nach einiger Zeit in der Lage, die Laute anderer Vögel nachzuahmen oder sogar die Laute des Menschen — wie zum Beispiel der Papagei, der immerzu „Schöner Papagei, schöner Papagei“ sagt.
Allerdings ist Konrad Lorenz der Ansicht, daß es Vögeln meist nicht einmal gelingt, eine Lautäußerung, die sie erlernt haben, bewußt mit einen bestimmten Vorgang in Verbindung zu bringen, und daß sie sie niemals mit einem praktischen Zweck verknüpfen. Ein alter grauer Papagei mit dem Namen „Geier“, der einen ziemlich großen „menschlichen“ Wortschatz hatte (zum Beispiel sagte er immer, wenn ein Besucher aufstand, um sich zu verabschieden, mit einer wohlwollend tiefen Stimme: „Na, auf Wiedersehen!“), konnte es nicht begreifen, „Futter“ zu sagen, wenn er Hunger hatte, und „Wasser“, wenn er Durst hatte.
Dieser Mangel an „Veränderlichkeit“ fällt noch stärker beim Tanz der Bienen auf. Die Kundschafterbiene deutet die Entfernung zu den Blumen durch die Geschwindigkeit des Tanzes an (sie zeigt die dazu erforderliche Anstrengung) und die Richtung durch die Lage der Achse im Verhältnis zur Sonne.
Das ist aber alles, was übermittelt werden kann. Kein Zeichen kann von seiner festgelegten „Bedeutung“ getrennt und auf andere Weise für kleine Unterhaltungen verwendet werden, beispielsweise für Fragen wie: „Wie ist das Wetter dort?“ „Hast du in letzter Zeit irgendwelche schönen Blumen gesehen?“ Das läßt uns einen anderen Unterschied zur menschlichen Sprache erkennen ...
Aufbau der Sprache
Vor allen Dingen fehlt den Zeichen der Tiersprache das Schöpferische, das den Menschen in die Lage versetzt, Sätze zu bilden und zu verstehen, die er noch niemals vernommen hat und die vielleicht noch niemals ausgesprochen worden sind. Das ist auf den besonderen Aufbau der Sprache des Menschen zurückzuführen.
Die gesprochene Sprache hat einen sogenannten doppelten Aufbau. Darunter versteht man die Tatsache, daß die Äußerungen des Menschen in kleinere Einheiten unterteilt werden können: 1. Bedeutungseinheiten oder einzelne Worte und 2. Lauteinheiten oder Phoneme. Aus den Phonemen kann man andere Wörter zusammensetzen, die nichts mit dem ursprünglichen Wort zu tun haben.
Nehmen wir beispielsweise an, ein Tier hat ein Rufzeichen für Schale. Es würde, ganz gleich, wie es lautet, Schale bedeuten und nichts anderes. Im Deutschen kann das Wort Schale indes nicht nur verwendet werden, um die Schale einer Nuß oder eines Eies zu bezeichnen, sondern man kann es auch in vier Lauteinheiten oder Phoneme unterteilen: Sch, a, l und e. Mit diesen vier Phonemen kann man dann verschiedene andere Wörter bilden: Lasche, Schal sowie Asche, lasch usw.
Auf diese Weise sind in der deutschen Sprache sehr wenige Lauteinheiten zu Hunderttausenden von Worteinheiten miteinander kombiniert worden, und es entstehen ständig neue Wörter. Die Wörter wiederum kann man miteinander kombinieren, um eine unbegrenzte Anzahl von Sätzen zu bilden. Hierbei wird noch ein anderer Gesichtspunkt in der Beschaffenheit der Sprache offenkundig — die Grammatik.
Die Grammatik ist ein anderer Teil des Aufbaues der Sprache: das Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Wörtern und die Vorschriften, die diese Beziehungen regeln. Dadurch, daß wir die Regeln kennen oder im Gefühl haben, können wir die verschiedensten Kombinationen knüpfen und verständliche Sätze bilden, obwohl wir vielleicht bis dahin niemals etwas gehört haben, was dem völlig gleicht. Es ist nicht auszudenken, wie viele Kombinationen möglich sind.
Sogar ein einfacher Satz stellt mindestens eine Satzgegenstand-Satzaussage-Beziehung dar. In einer Kindergeschichte kommt der Satz vor: „Dieses kleine Schwein ging zum Markt.“ „Dieses kleine Schwein“ ist der Satzgegenstand oder der Träger der Handlung. Die Handlung oder die Satzaussage besteht darin, daß es „zum Markt ging“. In der Sprache der Tiere werden niemals Gedanken auf eine solche Weise miteinander verbunden.
Im Gegensatz zu den Tieren kann der Mensch das und all die anderen grammatischen Beziehungen zwischen Wortgruppen nicht nur begreifen, sondern kann sie auch abwandeln, um andere Gesichtspunkte auszudrücken. Wir können zwar sagen, daß das kleine Schwein zum Markt ging, aber wir können auch das Gegenteil behaupten, nämlich durch eine Verneinung: „Dieses kleine Schwein ging nicht zum Markt.“ Wir können anstelle der Vergangenheit die Gegenwart einsetzen: „dieses kleine Schwein geht zum Markt.“ Oder wir können es in eine Frage umwandeln: „Ging dieses kleine Schwein zum Markt?“ Ein einfacher Satz wie dieser ist also die Grundlage für eine große Vielzahl anderer Sätze, die wir nicht lernen oder uns einzeln einprägen müssen. Freilich setzen solche Abwandlungen auch eine andere Fähigkeit voraus ...
Objektivität
Um die im täglichen Leben erforderlichen Umformungen durchführen zu können, muß der Sprechende in der Lage sein, von der Aussage sozusagen Distanz zu halten, indem er nicht jede Einzelheit nur auf sich selbst bezieht. Das nennt man „Objektivität“. Ein objektiver Gesprächspartner ist beispielsweise nicht nur in der Lage zu sagen: „Ich habe die blaue Schachtel auf die rote Schachtel gestellt“, sondern auch: „Die blaue Schachtel befindet sich auf der roten Schachtel.“
Folglich läßt bei vielen Menschen die Fähigkeit nach, objektive Umformungen vorzunehmen, wenn bei ihnen eine Geistesstörung eintritt. Beispielsweise haben einige schizophrene Personen Schwierigkeiten, Verneinungen zu bilden. Gibt man ihnen den Satz „Er will Äpfel essen“ an und bittet sie, ihn zu verneinen, indem sie das Wort nicht einfügen, dann werden sie vielfach sagen: „Er will Birnen essen“ oder Orangen oder irgendeine andere Frucht, anstatt daß sie den Satz bilden „Er will nicht Äpfel essen“.
Obwohl man einigen Schimpansen vereinfachte Zeichensysteme beigebracht hat (keine Lautsysteme), die der Mensch nach Hunderten von Übungsstunden für sie entwickelt hat, ist ihre Fähigkeit, objektive Umformungen vorzunehmen, immer noch sehr begrenzt. Die Objektivität, die sie erreichen, ist nicht größer als die eines zweijährigen Kindes. Man darf indes nicht vergessen, daß die Sprachbeherrschung der Kleinkinder in diesem Alter, wenn sie auch sehr gering ist, sich ohne jedes Spezialtraining entwickelt! Ihre Fähigkeit, sich nur in einigen weiteren Jahren die zunehmend schwierigeren sprachlichen Erscheinungen zu eigen zu machen, übertrifft die der Schimpansen bei weitem.
Herkunft der Sprache
Noam Chomsky, ein bekannter Linguist, äußerte sich dahingehend, daß diese einzigartige Sprachbeherrschung bis zu einem gewissen Grad angeboren oder von Geburt an „eingebaut“ sein muß. Wie können wir uns sonst, so fragte er, „die Schnelligkeit erklären“, mit der sich die komplizierte Entwicklung der Sprache in kleinen Kindern vollzieht, die noch nicht im vollen Besitz ihrer Körperkräfte sind? Erwachsene, die versuchen, eine neue Sprache zu erlernen, können sich vorstellen, wie enorm ihre Leistung ist.
In der Encyclopædia Britannica heißt es:
„Es ist daher klar, daß alle normal veranlagten Menschen die angeborene Fähigkeit mitbringen, eine Sprache zu erlernen, sie zu gebrauchen und eine Grammatik zu schaffen. ... Das Kind ist schon sehr früh in der Lage, aus bereits Gehörtem neue, grammatisch akzeptable Sätze zu bilden; im Gegensatz zu einem Papagei, der als Haustier gehalten wird, sind seine Fähigkeiten nicht darauf beschränkt, lediglich vollständige Äußerungen zu wiederholen“ (Ausg. 1976, Macropædia, Bd. 10, S. 650).
Die Tiere haben nicht diesen „eingebauten“ Sinn für das Erlernen einer Sprache. Sogar gut abgerichtete Schimpansen, die vor einiger Zeit berühmt wurden, haben sich nur einfacher Zeichensysteme bedient, die von Menschen erdacht worden waren, wogegen ihre eigene natürliche Verständigung sich im allgemeinen in Reflexsignalen erschöpft, die meist aus einfachen Rufen und Gebärden bestehen. Obwohl diese Primaten von Evolutionisten als die „Vertreter des Tierreiches“ bezeichnet werden, die „dem Menschen genetisch gesehen am nächsten stehen“, haben sie in Wirklichkeit „dem Erlernen einer [gesprochenen] Sprache beträchtlich widerstanden“ (ebd., S. 649).
Wenn die gesprochene Sprache des Menschen nicht im Tierreich ihren Ursprung hat, wie kam sie dann zustande? Etwa durch das Grunzen, Knurren und Seufzen einiger primitiver Menschen, die sich mit anderen ihrer Art verständigen wollten? „Dann würden wir erwarten, daß wir immer noch eine solche Sprache unter primitiven und zurückgebliebenen Gruppen mit einem geringen Zivilisationsgrad vorfinden würden“, schrieb Mario Pei, ein Professor für Sprachen an der Universität von Columbia. Aber „das ist bestimmt nicht der Fall. Eher das Gegenteil trifft zu. In der Regel sind die Sprachen der primitiveren Gruppen im Aufbau kompliziert, wogegen die Sprachen der zivilisierteren Gruppen um so schwieriger und komplizierter zu werden scheinen, je weiter wir ihre Geschichte zurückverfolgen“ (Voices of Man, S. 21).
Die Sprache wird komplizierter, je mehr wir in der Geschichte zurückgehen? Klingt das etwa nach Evolution? Aufrichtige Linguisten haben diesem Punkt Beachtung geschenkt. Beispielsweise schreibt John Lyons als Einleitung zu J. C. Marshalls Artikel „Biologische Aspekte der menschlichen und tierischen Kommunikation“ in dem Buch Neue Perspektiven in der Linguistik:
„In diesem Kapitel gibt Marshall eine Zusammenfassung des vorliegenden Beweismaterials und zieht daraus die Folgerung, daß es den Thesen über die Entwicklung, die sich auf die Sprache beziehen und die weit davon entfernt sind, von der modernen Forschung bestätigt zu werden, an empirischer Begründung mangelt“ (1975, S. 205).
Lyons schreibt weiter: „Die Sprache unterscheidet sich grundsätzlich von allen bekannten Formen tierischer Kommunikation, und ,trotz dieser umfassenden Kenntnisse sind die Wissenschaftler noch nicht in der Lage, eine biologische Theorie der Sprache vorzuschlagen‘ (S. 216)“ (S. 205). In Übereinstimmung damit schreibt Professor Pei, daß „es kein Wunder ist, daß die Linguisten, unabhängig von den Philosophen, das Thema von der Herkunft der Sprache fallengelassen haben und daß sogar die Pariser Société de Linguistique dieses Problem als Diskussionsthema für Zeitungen ausgeklammert hat“ (Voices of Man, S. 22).
Warum ist die Herkunft der Sprache für die Linguisten ein so aussichtsloses Diskussionsthema? Ist das nicht deshalb der Fall, weil alle zuverlässigen Beweise in eine Richtung weisen, mit der sie nicht einverstanden sind — weg von der Evolutionstheorie? Daher sagt Mario Pei: „Dieser Teil des Problems ist, wie es scheint, unlösbar. ... Wenn [die Sprache] von der ,Natur‘ kam, was meinen wir dann mit ,Natur‘? Den blinden Zufall? Ein intelligentes höheres Wesen?“ (ebd.).
Bist du in dieser Frage auch in dem Urteil der Evolutionisten befangen? Oder wirst du die Sprache als das anerkennen, was sie ist — eine wunderbare und einzigartige Gabe, die von einem höheren Wesen stammt, dessen Name Jehova ist?
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„Ost ist Ost, und West ist West“Erwachet! 1977 | 8. Juni
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„Ost ist Ost, und West ist West“
Vom „Awake!“-Korrespondenten auf Taiwan
WAS bedeutet, es, wenn dir jemand die Hand mit der Innenseite nach unten entgegenstreckt und die Finger oder die ganze Hand auf und ab bewegt? Das hängt ganz davon ab, ob der Betreffende ein Morgenländer oder ein Abendländer ist. In den Augen des Morgenländers bedeutet diese Bewegung unmißverständlich „Komm her!“, aber für den Abendländer bedeutet sie wahrscheinlich „Bleib hier!“ oder auch „Setz dich!“ Es gibt viele Alltäglichkeiten, durch die sich der Osten vom Westen unterscheidet.
Im Westen verlangt die Höflichkeit, daß man möglichst lautlos und mit geschlossenem Mund ißt. Eine Missionarin machte einmal in der ersten Zeit, in der sie in Japan tätig war, die Erfahrung, daß ihr Gastgeber, ein Arzt, mit dem sie die Bibel studierte, darüber nicht erfreut war. Sie wurde von ihm nach dem Studium zum Essen eingeladen. Es gab Nudeln, und sie bemühte sich, lautlos zu essen und so geschickt wie möglich mit den Eßstäbchen umzugehen. Schließlich sagte der Arzt ärgerlich: „Man hört ja gar nichts, wenn Sie Nudeln essen.“ Die Missionarin war überrascht und entgegnete, die Nudeln würden ihr gut schmecken, sie finde es allerdings schwierig, lautlos zu essen, bemühe sich aber. Er wies sie dann darauf hin, daß sie gar nicht versuchen sollte, lautlos zu essen, je geräuschvoller sie esse, desto besser, das würde zeigen, daß ihr die Nudeln schmeckten. Es fiel dieser Missionarin gar nicht leicht, sich an diese Sitte zu gewöhnen, aber schließlich lernte sie es ganz gut, beim Essen von Suppe und Nudeln zu schlürfen. Fünf Jahre danach stieß sie auf ein weiteres Problem. Als sie in ihr Land zurückfuhr, aus dem sie stammte, und ihre Angehörigen besuchte, schockierte sie diese mit ihrem geräuschvollen Essen. Erneut erkannte sie deutlich, daß zwischen Ost und West ein Unterschied besteht.
Im Westen gilt es auch als unanständig, nach einer Mahlzeit zu rülpsen oder aufzustoßen, um anzuzeigen, daß man satt ist und daß es einem geschmeckt hat. Aber auf Taiwan und in anderen östlichen Ländern ist das ein ausgezeichnetes Kompliment dafür, daß man gut und genug gegessen hat.
Zwischen Ost und West besteht sogar ein grundlegender Unterschied in der Art und Weise, wie Werkzeuge gebraucht werden. In einem asiatischen Land zieht der Tischler den Hobel, während ihn der Tischler in einem westlichen Land schiebt. Der Abendländer führt die Säge so, daß sie beim Schieben sägt, während der Orientale sie so bewegt, daß sie beim Ziehen sägt. Entsprechend sind auch die Sägen verschieden. Im Westen sind sie schwerer und länger als im Osten und beim Griff breiter. Die Säge des Morgenländers ist am entgegengesetzten Ende breiter, und gewöhnlich hat sie zweierlei Zähne, an dem einen Ende feine und am anderen Ende gröbere. Wenn man das Endprodukt in Betracht zieht so haben beide Werkzeuge ihre Vorzüge, mit beiden kann man sein Ziel erreichen.
Im Westen heißt es immer „Damen zuerst“. Wenn in einem östlichen Land eine Serviererin es nicht gewohnt ist, Ausländern zu servieren, mag sie beim Bedienen des Mannes plötzlich innehalten und sich verlegen entschuldigen, während sie der Dame das Essen hinschiebt. Ja, in asiatischen Ländern kommt der Mann in allem zuerst. Er betritt vor der Frau ein Lokal oder besteigt vor ihr ein Transportmittel. Früher ging die Frau nicht neben dem Mann her, sondern stets ein bis zwei Schritte hinter ihm. Diese Sitte besteht jetzt allerdings fast nirgendwo mehr, aber immer noch ist es üblich, daß der Mann den Vorrang vor der Frau hat.
Diese Beispiele veranschaulichen, warum gesagt worden ist: „Ost ist Ost, und West ist West, und niemals werden die beiden zusammenkommen.“ Aber man kann sich auf die fremden Sitten einstellen, so daß sich Leute, die verschiedene Sitten gewohnt sind, trotzdem beieinander wohl fühlen. Diese Erfahrung haben Jehovas Zeugen gemacht, die als Missionare in fremden Ländern tätig sind. Sie wissen, wie wichtig es ist, nicht stur an den Sitten des Geburtslandes festzuhalten, sondern sich zu bemühen, die Sitten anderer Völker zu verstehen. Sie strengen sich an, das Beispiel des Apostels Paulus nachzuahmen, der von sich sagte: „Denn obwohl ich von allen frei bin, habe ich mich zum Sklaven aller gemacht, damit ich die meisten gewinne. Und so bin ich den Juden wie ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen ... Ich bin den Menschen von allen Arten alles geworden, damit ich auf jeden Fall einige rette. Alles aber tue ich um der guten Botschaft willen, damit ich mit anderen Teilhaber an ihr werde“ (1. Kor. 9:19-23). Die Missionare, die so handeln, haben festgestellt, daß das Leben interessanter und abwechslungsreicher wird, wenn man sich anpaßt, und daß dadurch ein gesunder freundschaftlicher Geist sowie das Verständnis für andere gefördert wird.
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