-
Mein Lebensziel verfolgendDer Wachtturm 1955 | 1. Dezember
-
-
Mein Lebensziel verfolgend
von Robert W. Kirk erzählt
ALS ich im Herbst des Jahres 1938 in einer Fabrik arbeitete, sagte ich zu einem Freund: „Gehst du nie in die Kirche?“ Da er in der Wahrheit war, gab er mir ein kurzes Zeugnis und lud mich in seine Wohnung ein. Dort hörte ich das erste Mal von der Wahrheit. Auch meine Mutter nahm die Wahrheit an, und ungefähr drei Jahre später gaben wir unsere hübsche Wohnung auf und verkauften unsere Möbel, damit ich Pionier werden konnte. Nachdem wir einen Wohnwagen gekauft hatten, trat ich in die Reihen der Pioniere ein. Wie glücklich war ich, Pionier zu sein! Meinen Freunden erklärte ich oft mit Stolz: „Ich bin jetzt Pionier!“ Bald entschloß ich mich, jede Anstrengung zu machen, um Pionier bleiben zu können, denn obwohl ich eine gute Stellung und ein ständiges Einkommen aufgegeben hatte, lohnte es sich! Jetzt hatte ich wirklich begonnen, mein Lebensziel zu verfolgen. Meine Freude, Jehova während meiner ganzen Zeit zu dienen, war außerordentlich!
Im Jahre 1944, anläßlich eines Kongresses in Pittsburgh, hörte ich die Bekanntmachung, wonach jeder, der gewisse Fähigkeiten aufweist und den Wunsch hat, die Gileadschule zu besuchen, sich bei Bruder Knorr melden sollte. Damals füllte ich die vorläufige Bewerbung aus. Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich ein vollständiges Bewerbungsformular und später noch die Einladung für die nächste Gileadklasse erhielt! Die Einladung besagte, daß ich möglicherweise nicht wieder nach Hause zurückkehren werde. Daher verkaufte ich meinen Wagen und andere Dinge, die ich für ungeeignet hielt, in ein anderes Land mitgenommen zu werden. Zugegeben, es war nicht leicht, sich von vielen Dingen zu trennen, die ich sehr geschätzt hatte; auch wurde mir klar, daß ich zudem bald Angehörige und Freunde zurücklassen mußte. Doch Matthäus 19:29 kam mir in den Sinn. Dies half mir, die rechte Entscheidung zu treffen: „Und ein jeder, der irgend verlassen hat Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, wird hundertfältig empfangen und ewiges Leben erben.“
Vieles kann über das Leben in Gilead gesagt werden: Die wunderbare Kameradschaft, nicht nur unter den Mitstudenten, sondern auch mit den Unterweisern und den anderen Brüdern auf der Königreichsfarm; doch über allem stand das Vorrecht, mehrere Monate lang die „fette Speise“ des Wortes Gottes täglich in sich aufzunehmen und darin unterwiesen zu werden. Man „änderte“ mich dort ziemlich, hieb einige rauhe Ecken ab, polierte mich auf und machte mich tauglich für den Missionardienst.
Nach meiner Graduation im Juli 1945 wurde ich als „Diener für die Brüder“ nach dem südlichen Teil des Staates Illinois gesandt, um sowohl weißen als auch farbigen Versammlungen zu dienen. Auch dieser Zweig des Dienstes brachte viel Freude und Ansporn. Jedoch ging nicht alles so leicht. Wegen Verfolgung und Pöbelaktionen, die einige Jahre zuvor begonnen hatten, war das Zeugnisgeben dort schwierig. Als ich einmal in einer kleinen Stadt allein Straßendienst machte, sagte ein älterer Mann zu mir: „In zehn Minuten kehre ich zurück, und wenn Sie noch da sind, wünschten Sie, Sie wären nicht mehr hier.“ Ich blieb auf meinem Platz. Wie angekündet, kam er zurück, in Begleitung eines Athleten, der aussah, als sei er zum Boxer geboren. Sie ergriffen mich und führten mich auf die Polizeiwache. In kurzer Zeit hatte sich ein Pöbelhaufe gebildet, und es sah aus, als schreie ein jeder nach Blut. Die Polizei sah, daß Unheil in der Luft lag, und deshalb nahm sie mich auf die Wache und ließ mich durch eine Hintertür wieder hinaus. Als ich davonfuhr, folgte mir der Pöbel bis ich aus der Stadt hinaus war. Ich ging in die nächste Stadt, arbeitete dort eine Stunde von Haus zu Haus und setzte dabei zwölf gebundene Bücher ab. Nie zuvor hatte ich in einer so kurzen Zeit so viel abgeben können. Ein anderes Mal trieben ein Geistlicher und der Polizeichef in der Nähe von Lawrenceville, Illinois, Kinder zu einer Pöbelrotte zusammen, um unsere Gruppe während der Arbeit von Haus zu Haus mit Steinen zu bewerfen. Nach solchen Erfahrungen fühlt man sich innerlich viel stärker, und man ist noch viel mehr davon überzeugt, daß dies die Wahrheit ist.
Im Jahre 1946, während ich gerade in East St. Louis, Illinois, der farbigen Versammlung diente, erhielt ich einen Brief aus Brooklyn mit der Anfrage, ob ich eine Dienstzuteilung in Burma annehmen würde. Burma? Mehrere Fragen gingen mir durch den Sinn: Wo liegt denn eigentlich Burma? Wie sind die Leute dort? Gibt es dort überhaupt Verkündiger? usw. Natürlich wollte ich diese Zuteilung annehmen, ungeachtet, wie die Antworten auf diese Fragen lauten mochten. Ich wurde ins Bethel Brooklyn gesandt, um zwei Monate lang weitere Schulung zu genießen. Dann konnte ich nochmals zehn Tage nach Hause gehen. Im Dezember 1946 bestieg ich in Cleveland den Zug, und nach einigen Tagen ging es von San Franzisko weiter nach Westen. Als die Küste Amerikas meinen Augen mehr und mehr entschwand, stiegen gemischte Gefühle in mir auf. Natürlich empfand ich eine gewisse Traurigkeit, doch gleichzeitig war ich glücklich, endlich auf dem Weg nach dem Fernen Osten zu sein, wo Missionare so dringend benötigt werden, denn bis dahin war noch kein einziger Gileaditer in diesem Teil der Welt tätig gewesen.
Auf dem Schiff gab es nicht viele hörende Ohren, denn es war zufällig mit etwa 800 falschen Hirten beladen, die vielen verschiedenen Religionsorganisationen angehörten und nach verschiedenen Gebieten des Orients reisten. So hatte ich denn viel Zeit zum Nachdenken. Ich rief mir einige Dinge, die ich über Burma gehört hatte, ins Gedächtnis zurück und versuchte mich auf dem weiten Pazifik mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß ich in einer Hütte leben, auf einer Matte sitzen und die Zeichensprache gebrauchen müßte, bis ich etwas birmanisch sprechen könnte, doch sollte ich sehr überrascht werden. Mir wurde bald klar, daß in Burma das Moderne Seite an Seite mit dem Primitiven geht. Auch erkannte ich bald, daß in Burma nicht nur Birmanen leben, sondern vielerlei Menschen von allen Farben und Sprachen, mit verschiedenen Lebensnormen, Kulturen, Religionen und Gewohnheiten, besonders in den größeren Städten. Verkündiger, die fließend Englisch sprachen und westliche Kleider trugen, empfingen mich. Man fuhr mich in einem Jeep über gepflasterte Straßen, nicht wie ich erwartet hatte zu einer Hütte, sondern zu einem großen Holzhaus, das mein zukünftiges Heim sein sollte. Die Brüder (zu jener Zeit waren es im ganzen Lande nur achtzehn) begrüßten mich herzlich, und ich war glücklich, bei ihnen zu sein.
Obwohl die Zivilisation hier weiter fortgeschritten war, als ich es erwartet hatte, war sie doch immer noch weit hinter dem zurück, was ich in den Vereinigten Staaten von Amerika verlassen hatte. Burma wurde durch den zweiten Weltkrieg hart mitgenommen. Die Versorgung mit Elektrizität war sehr mangelhaft, und die Regierungsgebäude wurden zuerst bedient. Nur wenige Häuser hatten elektrisches Licht. Nachts waren die meisten Straßen dunkel. Diebe gab es viele, und es war nicht ratsam, nach Anbruch der Dunkelheit noch draußen zu sein. Die Transportmittel waren auf einige alte Militärlastwagen, die man zu Autobussen umgebaut hatte, beschränkt. Wir benutzten einen reparaturbedürftigen, alten Bus, um zum Königreichssaal zu fahren. Wir nahmen die Öllampen aus dem Bus und füllten sie neu auf, um sie für die Versammlung zu benutzen. Natürlich stehen die Dinge heute, im Jahre 1955, weit besser als in den ersten Jahren, nachdem die Japaner Burma verlassen hatten.
Als einziger Pionier im Lande ging ich jeden Morgen allein in den Dienst außer an Wochenenden. Dann begleiteten mich die Versammlungsverkündiger. Manchmal dachte ich für einen Moment, wie schön es doch sein müßte, wieder heimzugehen, doch sofort wurden solche Gedanken durch die Menge Arbeit, die getan werden mußte, und durch die Freuden des Dienstes vertrieben, und ich blickte von neuem vorwärts, um weiterhin mein Lebensziel zu verfolgen. Drei Kartons Literatur hatte ich aus den Vereinigten Staaten mitgebracht, da die Brüder in Burma die neusten Publikationen noch nicht erhalten hatten. In drei Wochen hatte ich keine Schriften mehr. Die Menschen waren sehr freundlich, und fast überall wurde ich ins Haus eingeladen, und man bot mir Tee und andere Erfrischungen an. In ziemlich vielen Häusern konnte ich englisch sprechen, doch war ich erstaunt, wie viele verschiedene Leute man von Haus zu Haus antrifft. Neben den Birmanen und anderen eingeborenen Völkern Burmas, wie die Karen, waren dort sehr viele Fremde, wie Chinesen, Tamulen, Telegus, Bengalen und viele, viele andere indische Rassen. Ich lernte ein paar birmanische Sätze für den Gebrauch in Häusern, in denen man nicht englisch spricht. Die meisten, die ich besuchte, waren Buddhisten, Hindus usw., die überhaupt nicht an die Bibel glaubten, und in vielen Häusern mußte ich als erstes beweisen, daß die Bibel wahr ist.
Es erforderte eine gewisse Zeit, bis ich mich richtig eingelebt hatte. Ich mußte mich an viele fremdartige Anblicke und Sitten gewöhnen, darin inbegriffen jene (für Burma) normalen menschlichen Bräuche, wie z. B. daß jemand am Straßenbord bei einem Hydranten badet; andere wechseln öffentlich, am hellen Tage, ihren Sarong oder hocken an der Bushaltestelle, um auf den Bus zu warten. Auch sieht man, wie große Wasserbüffel und Ochsen mächtige Holzklötze schleppen. Erst wunderte ich mich auch, was die roten Flecken zu bedeuten haben, die man überall der Straße und den Bürgersteigen entlang sehen kann. Sie sahen aus wie Blutflecken, und ich konnte einfach nicht herausfinden, was sie waren. Später erfuhr ich es. Es war roter Speichel, den die Leute ausspucken, wenn sie Betel und Nüsse kauen. Noch jetzt, nach acht Jahren, macht es mir immer Spaß, wenn ich Leute sehe, die Lasten auf dem Kopfe tragen, zum Beispiel ein Bündel Bananen oder einen Regenschirm.
Indem ich unentwegt mein Lebensziel verfolgte, war die Befriedigung, die ich dadurch empfand, daß ich Neulingen im Dienst beistand und sehen konnte, wie eine Versammlung wuchs, mehr als genug Entschädigung für all das Neue und die Unbequemlichkeiten, mit denen ein „Neuling“ in Burma fertig werden muß. Die Liebe, die man zu den „anderen Schafen“ empfindet, und die Erkenntnis, daß sie unserer Hilfe bedürfen, um zur Reife heranzuwachsen, helfen einem entschieden besser als irgend etwas anderes, sich schneller einzuleben. Im Jahre 1948 zum Beispiel erhielten wir einen Brief von einigen Leuten aus einem Dorfe, das 200 km entfernt liegt. Acht Jahre lang hatten sie versucht, mit Jehovas Volk in Berührung zu kommen. Einer von ihnen hatte ein gebundenes Buch erhalten und war überzeugt, daß er die Wahrheit gefunden hatte. Er gab anderen im Dorf Zeugnis. Einige verließen die Katholische Kirche, gründeten selbst eine kleine Versammlung und trafen sich regelmäßig zum Bibelstudium. Ein Bruder und ich besuchten diesen entfernten Ort und fanden dort zwölf Verkündiger vor, die darauf warteten, getauft und theokratisch organisiert zu werden. Sie waren überrascht und erfreut, von der großen Ausdehnung der Organisation Jehovas und vom Bethel und von Gilead zu hören. Es war ein wunderbares Erlebnis, sie zu treffen und ihnen im Felddienst zu helfen.
Ein Tamule, mit dem ich vor einigen Jahren ein Studium begonnen hatte, war früher katholisch. Er hatte die Kirche schon bevor er mit Jehovas Volk in Berührung kam, verlassen, und zwar nur zufolge des Lesens einer Ausgabe der Griechischen Schriften in der eigenen Sprache. Nach der Wahrheit hungernd, nahm er alles mit Eifer in sich auf, was man ihm beim Studium erklärte. Obwohl er für eine große Familie sorgen muß, ist er doch einer unserer eifrigsten Verkündiger geworden, der im Monat vierzig bis sechzig Stunden arbeitet und etwa sieben Bibelstudien leitet. Welche Freude war es doch, zu sehen, wie er in der Wahrheit Fortschritte machte!
Ich hatte das Vorrecht, den Neue-Welt-Gesellschaft-Kongreß im Jahre 1953 im Yankee-Stadion zu besuchen und anschließend zu Hause einen Besuch zu machen. Obwohl es ein wunderbarer Kongreß war und es mich sehr freute, meine Angehörigen daheim wiederzusehen, kann ich euch doch versichern, daß meine Gedanken hier in Burma bei dieser kleinen Gruppe von Verkündigern weilten, die ich so sehr lieben gelernt hatte. Nach einigen Tagen des Besuches in Amerika war ich bereit, ja, ich sehnte mich sogar danach, in mein Gebiet zurückzukehren. Ich habe das Empfinden, daß es hier so viel Arbeit und so wenig Arbeiter gibt, sie zu tun.
Wiewohl allen Missionaren hier viel Verantwortlichkeiten obliegen, nehmen wir uns doch manchmal die Zeit, uns hinzusetzen und auf unsere vergangenen Erfahrungen zurückzublicken. Dies hilft uns wunderbar, das Leben vor dem Dienst als Missionar mit dem Leben zu vergleichen, nachdem wir Missionare wurden. Wir sind hier nur unser vier, doch alle stimmen darin überein, daß wir nicht wünschen, für immer heimzukehren. Von mir selbst sprechend, kann ich folgendes sagen: Dadurch, daß ich mein sogenanntes Daheim mit einem fremden Land vertauschte, über das ich recht wenig wußte, habe ich weit größere Kraft in Jehova gewonnen. Die Arbeit hat mir mehr Befriedigung gebracht. Ich konnte viel mehr „geben“ als in meinem Heimatgebiet. Wenn ich jetzt sehe, wie ein birmanischer Verkündiger, jemand, der vor kurzem noch ein Kirchgänger war, an einer Türe steht und — mit der Bibel in der Hand — eine 3- bis 8-Minuten-Predigt hält, so läßt mich dies die unverdiente Güte Jehovas und das Vorrecht wertschätzen, hier in Burma an seinem Werke teilzunehmen. Ich betrachte es als eine Gunstbezeugung Jehovas, hier zu sein. Ich bin glücklich, hier zu sein, glücklich, jetzt als Zweigdiener im aktiven Dienst hier tätig zu sein. Ja, während ich mein Lebensziel verfolgte, wurden die Beschwerden größer, und es gab viel mehr Hindernisse zu überwinden, doch wenn diese überwunden werden, tragen sie entschieden zur geistigen Stärke bei, um von Jehova zu seiner Ehre gebraucht zu werden.
-
-
19. Teil: Als Christen neutral während des zweiten Weltkrieges in AmerikaDer Wachtturm 1955 | 1. Dezember
-
-
Neuzeitliche Geschichte der Zeugen Jehovas
19. Teil: Als Christen neutral während des zweiten Weltkrieges in Amerika
WAS taten die Zeugen Jehovas in den Vereinigten Staaten während des zweiten Weltkrieges, als sich die schon berichteten interessanten Dinge an ihren Brüdern in anderen Teilen der Erde ereigneten? Auch sie verhielten sich neutral mitten im Meere der Menschheit, die während der Kriegstage hysterisch geworden war. Dies bedeutete, daß die amerikanischen Zeugen laut den Annalen der neuzeitlichen Geschichte in einer der heißesten Perioden der Christenverfolgung standhielten. Vom Jahre 1933 an, als die Watch Tower Society Buch zu führen begann über die Verhaftungsfälle, bis zum Jahre 1951, als die Nachwehen der Verfolgung wegen der Wehrdienst-Forderungen immer noch weitergingen, sind 18 886 einzelne Verhaftungsfälle registriert wordena. Dies ist eine fast unglaubliche Zahl für eine Nation, die eine Demokratie und Verfechterin der Freiheit zu sein behauptet.
Außerdem erfolgten mindestens 1500 Pöbelangriffe, was die Zeugen von einem Ende der Vereinigten Staaten bis zum anderen in Mitleidenschaft zog. Wie zuvor dargelegt, fällte am 3. Juni 1940 das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten im Fahnengrußfall Gobitis seinen für die Gesellschaft ungünstigen Entscheid. Dies löste eine furchtbare Reaktion gegen die Zeugen in der Öffentlichkeit aus. Es erforderte große christliche Stärke und viel Glauben auf seiten aller
-