-
Liebe zur WahrheitDer Wachtturm 1962 | 1. Mai
-
-
Liebe zur Wahrheit
Von David Wiedenmann erzählt
IST es nicht so, daß Menschen, die eine natürliche Neigung zur Wahrheit besitzen, eher bereit sind, sich für die biblische Wahrheit zu interessieren? Je mehr sie sich in dieser Richtung bemühen, desto mehr Liebe entwickeln sie für die biblische Wahrheit, und eines Tages erleben sie es mit Jehovas Beistand, daß diese sie von den Bindungen der vergehenden bösen Welt völlig frei macht. (Joh. 8:32) Natürlich müssen sie sehr darüber wachen und darum kämpfen, daß sie in diesem glücklichen Zustand bleiben, und müssen ihre Wertschätzung vertiefen. Sie müssen deshalb die Liebe zur Wahrheit unbedingt nähren und pflegen. Mir erging es jedenfalls so, und wenn ich auf die verflossenen 25 Jahre zurückblicke, ist es mir, als würde ein Filmstreifen vor meinem geistigen Auge abgerollt.
In der Nähe eines alten historischen Städtchens mit seinem stolzen Schloß und den 400 Einwohnern hatte sich mein Vater, der sich vom Geschäftsleben zurückgezogen hatte, niedergelassen, um in einem schönen Häuschen seinen Lebensabend zu verbringen. Als jüngster Sohn teilte ich — erst kurz verheiratet — mit meiner Frau die Wohnung des Vaters und die Kosten des Haushalts. Unser trautes Heim war umsäumt von einem Blumen- und Gemüsegarten, einer kleiner Wiese mit Obstbäumen und im Osten durch ein klares, sich dahinschlängelndes Bächlein abgegrenzt.
DIE WAHRHEIT KLOPFT AN MEINE TÜR
Eines Samstagnachmittags war ich in meine Lieblingsbeschäftigung — die Pflege meines Blumengärtchens — vertieft. Da trat ein Mann von der Straße auf den Gartenzaun zu und wechselte einige freundliche Worte mit mir. „Wie schön und friedlich es doch hier ist“, sagte er, „und wie herrlich muß es dereinst sein, wenn die ganze Erde wie dieser Garten sein wird und die Menschen in Frieden, Einheit und endlosem Glück die Schönheiten der Schöpfung Jehovas genießen werden.“ „Ihre phantastische Schilderung ist nicht schlecht“, erwiderte ich, „aber so schön das klingt, ziehe ich eine realistische Weltanschauung doch vor. Ich liebe die Wahrheit, wie sie sich uns zeigt.“ Dieses Stichwort „Wahrheit“ griff der Mann rasch auf. Er öffnete seine Aktenmappe und entnahm ihr ein Buch — die Bibel — und las mir Johannes 17:17 vor. Ich nahm die Erklärung des Mannes ohne weiteres an, denn ich war ein eifriger protestantischer Kirchgänger.
Im Verlauf des Gesprächs berührte er einen wunden Punkt. „Sie geben doch sicher zu“, sagte er, „daß es so ist, wie man selbst aus protestantischen Kreisen hören kann: Die Protestanten haben fast vollständig aufgehört, gegen schriftwidrige Lehren des Katholizismus zu protestieren.“ In meinen Gefühlen etwas verletzt, versuchte ich „meine Kirche“ zu verteidigen und wurde unwillkürlich etwas lauter. Die Nachbarn streckten ihre Köpfe aus den Fenstern und tuschelten miteinander. Schließlich öffnete meine Frau die Tür und rief uns zu: „Kommt doch bitte herein, wenn ihr schon diskutieren wollt. Es ist nicht nötig, daß die ganze Nachbarschaft erfährt, worum es geht.“
Zu meiner Überraschung war der Mann, der sich nun als „Bibelforscher“ (heute als Zeugen Jehovas bekannt) entpuppte, bereit einzutreten. Er holte nun gründlich aus, zeigte mir viele Bibelstellen und erklärte sie mir. Die meisten waren mir unbekannt und fesselten einerseits mein Interesse, versteiften aber andererseits meinen Widerstand, weil wir als Protestanten die Bibel hatten und nach bestem Vermögen danach zu leben suchten. Zum Schluß drückte er mir die Zeitschrift Das Goldene Zeitalter in die Hand und bat mich, einen bestimmten Artikel darin aufmerksam durchzulesen, um ihm bei seinem nächsten Besuch zu sagen, was ich darüber denke. Ich war einverstanden, denn ich hatte schon gleich beschlossen, die Sache gründlich zu untersuchen, um ihm dann auch die Wahrheit darüber zu sagen.
Acht Tage später klopfte es an die Tür. „Der Bibelforscher ist wieder da“, meldete meine Frau. Ich war zuversichtlich, denn einige Bibelstellen als Gegenargumente hatte ich mit viel Mühe zusammengetragen. Mit einer gewissen Sicherheit, wenn nicht gerade triumphierend, begann ich mit meiner biblischen Beweisführung. Ruhig hörte mir der Bibelforscher zu und ging dann auf die einzelnen Bibeltexte näher ein. Sollte es tatsächlich möglich sein, daß ich sie in ihrem Zusammenhang nicht richtig verstanden hatte? Ich wurde immer unruhiger und mußte sogar verstohlen den Schweiß von der Stirne wischen. Offenbar bemerkte er meine peinliche Situation, denn er ging ganz unauffällig zu einem auferbauenden Gespräch über. Er lobte mich, weil ich mir die Zeit genommen hätte, die biblische Wahrheit zu ergründen, und zeigte, wie wertvoll es sei, sie zu erfassen und dafür einzustehen. Diesmal ließ er mir einen Wachtturm und ein Goldenes Zeitalter zurück.
Die Besuche wurden fortgesetzt, aber nicht mehr so rasch aufeinanderfolgend, da ich damit beschäftigt war, ein neues, modernes Haus zu kaufen, das näher bei meiner Arbeitsstätte war als das, in dem wir damals wohnten. Andererseits besuchte ich nun die Kirche fleißiger, allerdings nicht mehr in dem gleichen Geist wie früher. Ich war bereit, besser zu prüfen, besser zu beobachten und Vergleiche mit der Bibel anzustellen, denn schließlich wollte ich wissen, was wirklich die Wahrheit war. Ich stellte selber gewisse Unstimmigkeiten fest. Wenn wir doch einen „guten Pfarrer“ hatten, wie ich in den Diskussionen oft betont hatte, warum sagte er uns nicht klar und deutlich, was die Dreieinigkeit ist, was die unsterbliche Seele, warum Gott das Böse zuläßt usw. Übrigens wohnte der Bibelforscher ganz in der Nähe des Pfarrers und hatte früher häufig mit ihm über diese Themen gesprochen.
Obwohl mir der Umzug in das neue, größere Haus viel Zeit raubte, begann die Liebe zur Wahrheit in mir zu keimen. Auch der Zuzug meiner Schwiegereltern änderte daran nichts. Ich versprach sogar meinem Freund, dem Bibelforscher, ihn einmal zu einer Versammlung zu begleiten. Bescheiden erklärte er mir, daß nur wenige in einem „netten Kellergeschoß“ im Städtchen zusammenkämen. So gingen wir eines Tages zusammen hin. Es war ein wirklich nett hergerichteter Raum. Ich dachte unwillkürlich an die Katakomben in Rom, die die ersten Christen benutzten, obwohl man diesen Raum natürlich keineswegs damit vergleichen konnte. Ich fühlte mich jedenfalls unter den acht Anwesenden gleich wie zu Hause. Ich spürte, daß hier der Geist Jehovas herrschte, sonst wäre ich wahrscheinlich gleich wieder umgekehrt.
DIE LIEBE ZUR WAHRHEIT ÜBERWINDET HINDERNISSE
Einige Monate später, an einem schönen Sonntagnachmittag, hatte ich es mir im Liegestuhl unter einem großen Sonnenschirm auf der Terrasse bequem gemacht. Ich las in dem Buch Versöhnung. Ist das möglich? fragte ich mich. Hat Gott wirklich so viel in so uneigennütziger Weise für die sündigen Nachkommen Adams getan? Ist er tatsächlich so weit gegangen, daß er seinen innig geliebten Sohn auf die Erde sandte und dem Tod preisgab, um reumütigen Menschen den Weg zur Versöhnung mit ihm zu erschließen? Jawohl, hier habe ich es vor mir, von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet und schriftgemäß dargelegt. Es besteht kein Zweifel mehr. Jehova hatte seine unaussprechliche Liebe zu uns geoffenbart und bestätigt, schon lange bevor wir uns darüber Gedanken machten oder etwas in dieser Richtung taten. Es ist also höchste Zeit, daß ich beginne zu „lieben, weil er uns zuerst geliebt hat“. (1. Joh. 4:19) Entweder ich gebe mich Jehova Gott ganzherzig hin oder breche jäh ab und lebe weiterhin recht und schlecht nach den Gepflogenheiten der alten Welt.
Der Entschluß war in meinem Herzen gefaßt. Die früheren bangen Fragen: Was wird aus meiner guten Stellung, meinem neuen Heim, meiner großen Verwandtschaft, meinen Vereinen usw. werden? waren durch die vermehrte Erkenntnis der Bibel und durch die vertiefte Liebe zur Wahrheit beantwortet worden. Mit der Bibel und dem Buch Versöhnung in der Hand eilte ich zu meiner Frau ins Wohnzimmer, erklärte ihr freudestrahlend einige Hauptgedanken und sagte zum Schluß: „Noch heute erkläre ich meinen Austritt aus der protestantischen Kirche.“ Begreiflicherweise war diese Eröffnung für sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn sie hatte sich bis dahin nie besonders für religiöse Dinge interessiert. Doch nun tauchten bei ihr auf einmal all die Fragen auf, die mich vorher schon beschäftigt hatten.
Es gelang mir, sie zu trösten und davon zu überzeugen, daß ich mich bemühen würde, ihr nach wie vor ein guter Ehemann zu sein, da dies nach der Bibel meine Pflicht sei. Zu meiner großen Freude stellte sie in den darauffolgenden Wochen verschiedene biblische Fragen, die mich erkennen ließen, daß sie in den Schriften der Gesellschaft gelesen hatte, und eines Tages fragte sie sogar: „Darf ich mit dir in die Versammlung kommen?“ „Nichts lieber als das!“ war meine Antwort.
DIE REAKTION AUF UNSERE ENTSCHEIDUNG
Dem Austritt aus der protestantischen Kirche folgte der Austritt aus dem Sängerbund, dem Männerchor und dem Radfahrerklub, und meine Frau trat aus dem Frauenchor aus. Jetzt brach ein Sturm los! Der Vizepräsident des Sängerbundes besuchte uns. Freundlich, aber doch mit dem festen Vorsatz, „mich zur Vernunft zu bringen“, hielt er mir eine kameradschaftliche Rede. Es war sicher gut gemeint. Ich erklärte ihm, weshalb ich diesen Schritt getan und warum ich ihn nicht nur halb, sondern ganz getan hätte. Er war überrascht. Das hatte er nicht erwartet. Er versuchte die Situation dadurch zu retten, daß er sagte: „Gerade mit diesem Gedankengut könnten Sie auf die Kameraden einen auferbauenden Einfluß ausüben.“ Aber wie hätte ich weiter menschlichen Einrichtungen „Heil“ zuschreiben können, wie das in den Liedern vielfach geschieht, die man in solchen Kreisen singt?
Dann kam mein alter Vater zu mir, der als Veteran in beiden Gesangvereinen war. Die Probleme wurden erneut aufgeworfen und von allen Seiten beleuchtet. „Weißt du, was der Dirigent zu mir gesagt hat? ‚Seit wann ist dein David denn verrückt geworden?‘“ Ich machte ihm begreiflich, daß solche und ähnliche Anfeindungen nicht zu vermeiden seien. Jesus habe noch weit mehr erdulden müssen. Obwohl mein Vater den Sinn der Wahrheit nicht völlig erfaßt hatte, sagte er zum Schluß: „Es wird schon recht sein, was du machst.“
STURMWETTER IM GESCHÄFT
Der nächste war mein Chef. Er rief mich zu sich ins Büro. Noch nie hatte ich ihn mir gegenüber so aufgeregt gesehen. „Wenn der Herr Generaldirektor erfährt, daß Sie zu den Bibelforschern übergetreten sind, dann fliegen Sie!“ „Mag sein“, entgegnete ich, „auch darauf habe ich mich gefaßt gemacht, aber ich bin überzeugt, daß Jehova mir das tägliche Brot weiterhin zukommen lassen wird.“ „Wer gibt Ihnen das Brot? Die Firma gibt Ihnen den Lohn und das Brot!“ warf der Chef ein. Seine Einschüchterungsversuche zeitigten jedoch nicht den geringsten Erfolg.
Nur wenige Wochen später hatte ich fast täglich mit dem Generaldirektor geschäftlich zu tun. Was war geschehen? Dieser Herr, gewohnt, von oben herab seine herrische Stimme vernehmen zu lassen, legte eine Freundlichkeit an den Tag, die mich überraschte. Eines Tages ließ mich mein Chef wieder in sein Büro kommen und begrüßte mich mit den Worten: „Der Generaldirektor weiß alles, und er achtet Ihre Einstellung.“ Ich hatte allen Grund zur Dankbarkeit.
INTERNATIONALER KONGRESS 1936
Mit der zunehmenden Erkenntnis der Wahrheit wuchs auch die Freude an den Zusammenkünften und am Felddienst. Die periodischen Besuche von Brüdern aus dem Büro der Wachtturm-Gesellschaft in Bern, die öffentliche Vorträge hielten, trugen viel dazu bei, unsere Freude zu mehren. Vor dem internationalen Kongreß, der 1936 in Luzern stattfand, hatten wir das Vorrecht, durchreisende Pioniere aus den Oststaaten zu beherbergen. Das junge, stets fröhliche Pionierehepaar Platajs aus Jugoslawien wohnte eine Zeitlang bei uns. Ihre herzerfreuenden Erfahrungen im Königreichsdienst und ihre treue, selbstlose Hingabe, mit der sie Jehova dienten, beeindruckten uns sehr. (Bruder Platajs ist inzwischen von Nazi-Terroristen wegen der Wahrheit umgebracht worden.) Einige Tage später fuhren auch wir zu dem denkwürdigen Kongreß und symbolisierten bei dieser Gelegenheit unsere Hingabe, die wir in unserem Herzen bereits früher vollzogen hatten. Die zahlreichen Verhaftungen, veranlaßt durch die intolerante katholische Geistlichkeit, der hin- und herwogende Kampf mit den Stadtbehörden gipfelten schließlich in dem Verbot des weit und breit bekanntgemachten öffentlichen Vortrages Bruder Rutherfords. Der Vortrag mußte im geschlossenen Kreis der Zeugen Jehovas gehalten werden.
Die Polizei sorgte dafür, daß die Öffentlichkeit keinen Zutritt erhielt. Der Platz vor dem Kongreßhaus war von einer großen Menge Menschen guten Willens besetzt. Lautsprecher durften nicht angebracht werden. Dennoch warteten die meisten Menschen — über die polizeilichen Maßnahmen empört — eineinhalb Stunden ruhig, bis wir das Gebäude verlassen und mit ihnen über die Ausführungen des Redners sprechen sowie Schriften an sie verteilen konnten. Das alles vermochte unsere Liebe zur Wahrheit nicht zu dämpfen. Im Gegenteil, angespornt durch die Anregungen, die wir auf dem Kongreß und durch die Pioniere empfangen hatten, fragte ich meine Frau: „Angenommen, wir wären eines Tages frei von unseren Verpflichtungen gegen die Schwiegereltern, denkst du, daß wir uns dann dazu entschließen könnten, die gute Stellung aufzugeben, unser Heim zu verlassen und uns mit allem, was wir sind und haben, dem Dienst zu widmen?“ „Warum nicht?“ erwiderte sie. „Das Haus und der Garten nehmen viel Zeit in Anspruch, die ich bestimmt besser im Predigtdienst verwenden könnte.“ Diese Feststellung allein machte mich glücklich.
DIE LIEBE ZUR WAHRHEIT — DAS TOR ZUM PIONIERDIENST
Eineinhalb Jahre vergingen. Meine Frau und ich blieben allein in unserem großen Heim zurück. Mein Schwiegervater, der schon längere Zeit kränklich gewesen war, starb, und die Schwiegermutter wünschte die verbleibenden Lebensjahre bei ihrem verwitweten Bruder zu verbringen. Kinder hatten wir noch nicht, was uns schon etwas weh tat, denn wir lieben Kinder. Was hinderte uns also noch daran, mit Jehovas Hilfe die Tätigkeit auszuüben, die uns am wertvollsten erschien — den Pionierdienst? Unverzüglich, jedoch sorgfältig und gebetsvoll erwogen wir das Für und Wider unseres theokratischen Vorhabens. Und hätte es anders sein können? Wir faßten den Entschluß!
Auf einer Geschäftsreise orientierte ich meinen Chef über meine Pläne. Er hörte ruhig zu, warf dann aber einige Argumente in die Waagschale, die, menschlich betrachtet, schon berechtigt erschienen. Unser Entschluß beruhte jedoch auf Gottes Wort, und mit der Hilfe seines Geistes und der Liebe zur Wahrheit blieben wir fest. Ich fand einen Käufer für mein Haus, und in den Vormittagsstunden des Tages unserer Abreise über Bern nach Paris wurde der Kaufvertrag unterzeichnet.
PIONIERDIENST IN FRANKREICH
Die Brüder in Paris bereiteten uns einen warmen Empfang. Die Gesellschaft teilte uns das Département Haut-Pyrénées zu, und einige Tage später fuhren wir mit Bruder Hausner, einem tschechischen Pionier, der sich uns angeschlossen hatte, unserem Ziel entgegen. In Tarbes, der Hauptstadt des Départements, sollten wir Bruder Riet, einen anderen Pionier, treffen. Wir fanden dort gleich ein bescheidenes möbliertes Zimmer. Welch ein Unterschied zu unserem sauberen, gepflegten Heim! Aber wir hatten damit und auch mit einer Umstellung in der Kost gerechnet. Ohne Zeit zu verlieren, begannen wir die gute Botschaft zu verkündigen und erlebten nun, da wir einen größeren Anteil am Dienst haben konnten, weit mehr Freude als früher.
„Was hast du denn, meine Liebe? Du bist ja so unruhig“, fragte ich meine Frau eines Nachts. „Ach, nichts Besonderes, es juckt mich nur etwas“, entgegnete sie. Ich machte Licht, und siehe da: lauter so kleine rote Tierchen, die wir noch nie gesehen hatten, krabbelten davon. Nein, mit diesen hatten wir in unserer Unkenntnis nicht gerechnet! Wir säuberten die Bettücher und stellten die vier Füße unseres Doppelbettes in vier mit Petroleum gefüllte Gefäße. Auf diese Weise dachten wir uns die Tierchen vom Leibe zu halten. Wir täuschten uns aber! Sie kletterten die Wand hoch bis an die Decke und ließen sich — offenbar von unserem warmen Atem angezogen — sicher auf unser Bett herunterfallen. Bruder Riet, der diese kleinen Besucher schon etwas besser kannte, wußte jedoch Rat: Farnkraut unter die Matratze legen, das vertragen sie nicht! Tatsächlich, damit vertrieben wir diese unliebsamen Gäste!
Wir hatten dieses kleine Übel kaum beseitigt, als ich eine Vorladung von der Präfektur erhielt. Der Beamte empfing mich ziemlich barsch mit den Worten: „Sie haben sich doch als Tourist gemeldet und haben als Referenz eine weltbekannte Firma angegeben, und jetzt stellt es sich heraus, daß sie religiöse Bücher verbreiten.“ „Ich übe diese Tätigkeit nicht zu Erwerbszwecken aus“, erwiderte ich, „sondern verwende meine freie Zeit nutzbringend, um aufrichtigen Menschen zu einer Erkenntnis der tröstenden biblischen Wahrheit zu verhelfen.“ Ich mußte ihm zwei Bücher zurücklassen und wurde dann unter der strengen Bedingung, diese Tätigkeit einzustellen, vorläufig entlassen. Ich würde wieder vorgeladen, sagte man mir noch. Auch damit hatte ich nicht gerechnet — jedenfalls nicht so bald. Sollten wir wirklich nach so kurzer Zeit unseren Dienst schon wieder aufgeben und sogar jeden Augenblick damit rechnen müssen, des Landes verwiesen zu werden? Große Traurigkeit kam über uns vier, während wir diesen unliebsamen Bericht an das Büro in Paris abfaßten. Inbrünstig beteten wir zu Jehova, daß er die Behörden so lenken möchte, daß sie zu unseren Gunsten entschieden. Nichts geschah. Die Tage vergingen, und unsere Spannung wuchs. Endlich kam ein Polizist und übergab mir wieder eine Vorladung. Mit gemischten Gefühlen ging ich zur Präfektur, nachdem ich vorher Jehova um seine Führung gebeten hatte. Der gleiche Beamte empfing mich. Sein veränderter Gesichtsausdruck flößte mir Mut ein. Er streckte mir die beiden Bücher lächelnd entgegen mit der Bemerkung: „Sie dürfen vorläufig in Ihrer ‚Freizeit‘ weiter wirken, unter der einen Bedingung, daß sie jeden Abend nach Tarbes zurückkehren.“ Mein Herz frohlockte, und meine Füße waren auf dem Heimweg so leicht, daß ich mehr zu fliegen als zu gehen glaubte. Wir waren alle überglücklich und unserem himmlischen Vater sehr dankbar für seine offenkundige Führung.
Wir ernteten danach beim Ausstreuen der göttlichen Wahrheit und bei der Nacharbeit viel Freude und wurden reich gesegnet. Meine Frau und ich sind uns darin einig, daß dies die bisher schönste Zeit unseres Lebens war. Unsere Liebe zu unserem himmlischen Vater und seinem geliebten Sohn wurde durch diese Erfahrungen sehr gefestigt.
GRÖSSERE SCHWIERIGKEITEN ÜBERWINDEN
Eines Tages trafen wir uns nach der Bearbeitung eines benachbarten Dorfes auf dem offenen Feld, um unser Mittagsbrot einzunehmen. Es war ein milder Herbsttag. Hier und da sah man einen Bauern mit seinem Gespann über das Feld fahren. Die meisten hatten ein Gewehr umgehängt, um — falls sich die Gelegenheit bieten sollte — Wildenten und andere Tiere zu erlegen. Wir sehen einen dieser jungen Bauern auf uns zufahren. Er zieht die Zügel an — der Wagen hält. Er nimmt sein Gewehr von der Schulter und springt vom Wagen. Ein Schuß — und der Mann sinkt zu Boden. Der hysterische Schrei einer Frau gellt durch die Luft, und erschreckt eilen wir mit den anderen Bauern zur Unglücksstätte.
„Kann ich irgendwie helfen?“ frage ich. „Ja, Sie haben einen Wagen. Hier haben Sie die Adresse des Arztes in der nächsten Stadt. Holen Sie ihn so schnell wie möglich her.“ Meine drei Gefährten bleiben zurück, und ich rase in die Stadt. Der Arzt holt eilends seine Tasche und fährt mit seinem Wagen hinter mir her. Leider kommen wir zu spät.
Am übernächsten Morgen, um 5 Uhr, klopfte jemand ungestüm an unsere Tür. „Machen Sie auf, die Polizei ist da. Sie müssen unverzüglich mitkommen.“ Ich stürzte mich in die Kleider und öffnete die Tür. Tatsächlich, da standen zwei Polizisten und nahmen mich auf die Gendarmerie Nationale mit. Man ließ mich eine halbe Stunde warten und führte mich dann dem Polizeioffizier vor. „Wo hielten Sie sich vorgestern um die und die Zeit auf?“ lautete die erste Frage. „Was machten Sie zu der Zeit?“, und so ging es weiter, eine Frage nach der anderen, aber je länger unser Gespräch dauerte, desto freundlicher wurde der Beamte. Nach 20 Minuten führte man mich in ein anderes Zimmer, wo ich zu meiner Überraschung Bruder Riet traf. Es dauerte keine 5 Minuten, da erschien auch Bruder Hausner, der ebenfalls kurz verhört worden war. Man entließ uns, ohne uns zu sagen, ob dieses Vorgehen mit dem unglücklichen Tod des Bauern in Verbindung stand. Vermutlich hatte uns jemand denunziert, aber unsere übereinstimmenden Aussagen vereitelten den Anschlag. Noch ahnten wir nicht, welchen Vorteil uns diese engere Fühlungnahme mit der Polizei bringen sollte.
Von da an sprachen wir in unserem ausgedehnten Gebiet stets zuerst bei der Polizeiwache vor und boten den Beamten die bibelerläuternden Schriften an. Damit wollten wir sagen: „Nun wißt ihr, daß wir hier sind!“ Ja, sie kannten uns und reagierten daher nicht mehr auf die verschiedenen Telefonanrufe fanatischer Katholiken und ihrer Priester, die sich über unsere Tätigkeit beklagten.
Eine erwähnenswerte Ausnahme war nur noch jener Fall, in dem Polizisten im Auftrag ihres Wachtmeisters meinen Wagen gründlich untersuchten und dabei einen kleinen Koffer und eine schwere Aktentasche zutage förderten. „Öffnen Sie diesen Koffer!“ befahl der Wachtmeister. „Ach so — ein Grammophon!“ Zu meiner großen Freude mußte ich ihnen einige Platten abspielen. Wir konnten ihnen ein gutes Zeugnis geben, und der Fall war erledigt.
Nachdem uns die Brüder Riet und Hausner verlassen hatten, um ein neues Gebiet in Algerien zu übernehmen, blieben meine Frau und ich allein in Toulouse zurück. Die Freude im Werke Jehovas nahm jedoch nicht ab, sondern wuchs von Tag zu Tag, da wir viele Menschen guten Willens fanden. Mit einigen begannen wir sogar den Wachtturm zu studieren. Ein älteres Ehepaar sprach mit seinen Bekannten bei jeder Gelegenheit über die Wahrheit, und zwei junge Menschen kamen mit uns in den Dienst. Wir hatten gute Aussichten, eine Versammlung aufzubauen.
Anfang August 1939 fuhren wir in die Schweiz, um einer Hauptversammlung in Zürich beizuwohnen. Wir ließen fast alle unsere Sachen bei unseren Freunden in Toulouse zurück und sagten diesen fröhlich „au revoir“ („auf Wiedersehen“). Wir haben uns seither nie mehr gesehen. Wir waren kaum über der Grenze, als sie mit Drahtverhauen abgeriegelt wurde — der zweite Weltkrieg mit all seinen schlimmen Folgen war ausgebrochen. Wir haben vernommen, daß inzwischen in Tarbes und besonders in Toulouse gutorganisierte Versammlungen entstanden sind.
WEITERE DIENSTVORRECHTE IN DER SCHWEIZ
Trotz allem setzten wir unsere missionarische Tätigkeit in unserem eigenen Land fort, und nach einem Jahr wurden wir nach Bern zur Mitarbeit ins Bethel gerufen. Wir betrachteten dies als ein wunderbares Vorrecht, und in den verflossenen 21 Jahren konnten wir hier im Bethel in günstiger Zeit und in unruhvoller Zeit unsere Liebe zur göttlichen Wahrheit beweisen.
Das kam mir bei einer größeren Zusammenkunft zugute, die ausgerechnet wieder im Kongreßgebäude in Luzern stattfand, wo Bruder Rutherford damals gesprochen hatte, denn ich hatte nicht nur das Vorrecht, im Bethel zu arbeiten, sondern war auch noch Bezirksdiener. Mein Vortrag wurde ausgiebig bekanntgemacht, aber die Katholische Aktion blieb nicht untätig. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt. In der ersten Viertelstunde des Vortrages geschah nichts. Als ich aber mit der Bibel begründete, warum die Religionssysteme der Christenheit sich nicht gegen die beiden Weltkriege gewandt und auch nichts ernstlich dagegen unternommen hätten, schrie jemand aus den hintersten Reihen der Galerie: „Das ist nicht wahr!“ Sofort reagierten einige junge Männer in der Mitte und auf der linken und rechten Seite des Saales und begannen zu pfeifen. Jehova schenkte mir die Kraft, die Ruhestörer gelassen zur Vernunft zu mahnen und aufzufordern, sich ruhig zu verhalten. Und sie reagierten, bis auf zwei oder drei, die den Saal verließen. Aber nach etwa zwanzig Minuten wurde die Sache kritischer, denn nun begann ein richtiges Pfeifkonzert, und einige junge Männer erhoben sich von ihren Plätzen. Die Saalordner hielten sie eine Zeitlang in Schach, doch dann unterbrach ich den Vortrag und fragte die Anwesenden: „Billigen Sie das Vorgehen dieser Männer?“ Ein brausendes Nein! war die Antwort. „Dann möchte ich jenen Personen die meinen Ausführungen nicht beipflichten, empfehlen, den Vortrag bis zum Schluß ruhig anzuhören, sich Notizen zu machen und dann offen ihre Einwände und Fragen vorzubringen.“ Das hatte die gewünschte Wirkung, und der Vortrag konnte zu Ende gehalten werden. Es war herzerfreuend, zu sehen, wie sich nach dem Vortrag im Saal und in den Gängen einige Gruppen von jungen Männern bildeten, die mit reifen Brüdern eifrig die Wahrheit diskutierten, Schriften entgegennahmen und schließlich das Kongreßgebäude ruhig, ja zum Teil sogar etwas beschämt verließen. Einige von ihnen waren auch bei allen Nachvorträgen zugegen.
Das Bethelleben bringt uns weiter viel Abwechslung, viele Dienstvorrechte und unbeschreibliche Freude, aber es hat uns auch verschiedene Prüfungen gebracht. Von Zeit zu Zeit machten mir meine früheren Arbeitgeber oder meine Familienangehörigen verlockende Stellenangebote. Wir stellten uns jedesmal die Frage: „Wäre es nicht unvernünftig, ja ausgesprochen töricht, den Weg der Wahrheit und damit den Weg des Lebens wegen solch vergänglicher Dinge zu verlassen?“ Jedesmal wiesen wir diese verlockenden Angebote mit einem entschiedenen Nein ab. Wer gibt uns stets die nötige Kraft? Jehova, unser gütiger himmlischer Vater, der uns in seiner Liebe geführt und geleitet hat. Wir lieben seine Wahrheit, und es ist unser Herzenswunsch, daß wir mit seiner Hilfe stets daran festhalten möchten.
-
-
„Der Vatikan von Babylon“Der Wachtturm 1962 | 1. Mai
-
-
„Der Vatikan von Babylon“
IN SEINEM Buch Lost Cities (Verlorene Städte) berichtet Leonard Cottrell über die Ausgrabung der Ruinen von Babylon, mit denen die Deutsche Orient-Gesellschaft unter Robert Koldewey begann, folgendes: „Durch die sorgfältigen Methoden, die die Deutschen anwandten, kamen nach und nach die wichtigsten Bauten zum Vorschein: der Ninmach-Tempel, die Grabenmauer Imgur-Bels und der heilige Bezirk, der die Zikkurat (den Turm) Etemenanki umgab, den ‚Grundstein Himmels und der Erde‘ — den Turm von Babylon. Der Hof bildete ein großes Quadrat und war von verschiedenen Gebäuden umgeben, von denen einige wahrscheinlich zur Aufnahme der Pilger dienten, die das Heiligtum aufsuchten, während in anderen, die sehr geräumig und reich ausgestattet waren, die Hohenpriester wohnten. Das war, wie Koldewey sagt ‚der Vatikan von Babylon‘, die Stätte, die Herodot als ‚das eherntorige Heiligtum des Zeus Belos‘ bezeichnete.
◆ An dem einen Ende des Hofes erhob sich der Turm selbst, acht Stockwerke hoch, doch wie hoch er ursprünglich war, wissen wir nicht. Inschriften Nebukadnezars und seines Vaters, Nabupolassars, heben seine Höhe hervor. Nabupolassar sagt: ‚Zu jener Zeit gebot mir Marduk, … den Turm Babils, der in der Zeit vor mir geschwächt worden, zum Einsturz gebracht war, sein Fundament an die Brust der Unterwelt fest zu gründen, während seine Spitze himmelan strebe.‘ Und sein Sohn rühmt sich: ‚Etemenankis Spitze aufzusetzen, daß mit dem Himmel sie wetteifere, legte ich Hand an.‘ … Nach einer kurzen Auferstehung kehrte Babylon wieder zu einem formlosen Trümmerhaufen zurück, den Rich und Layard sahen. Denn Lehmziegelmauern, wenn einmal freigelegt, zerfallen bald, und nachdem die Deutschen weg waren, trugen Araber, die in Hilleh bauten, fast jeden Ziegel der Zikkurat von Etemenanki fort. Sie existiert sozusagen nur noch in Koldeweys Buch.“
◆ Peter Bamm, der die Ruinen von Babylon in jüngster Vergangenheit besuchte, sagt in seinem Buch Frühe Stätten der Christenheit: „Die Ausgrabungen sind ein wüstes und schwer zu durchdringendes Trümmerfeld … Beim Betreten der Ausgrabungsstätte stößt man zunächst auf das berühmte Ishtartor. Ishtar war die Göttin der Fruchtbarkeit. Sie verschmolz später mit der griechischen Demeter. Das Ishtartor ist eine ausgedehnte Anlage, tief in der Erde liegend. Ich schreite zwischen fünfzehn
-