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Nigeria wirft seine „Last“ abErwachet! 1984 | 22. Januar
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Nigeria wirft seine „Last“ ab
Von den „Awake!“-Korrespondenten in Nigeria und Ghana
„EXODUS der Unerwünschten“. „Nigerias Ausgestoßene: der brutale Exodus“. Mit solchen Schlagzeilen brandmarkte die internationale Presse eine der größten Völkerwanderungen der Geschichte Afrikas. Es handelte sich nicht um den triumphalen Auszug eines befreiten Volkes noch um eine Flucht aus Angst vor Bedrückung oder Krieg. Vielmehr war es ein Exodus von nahezu zwei Millionen Menschen, die vom Ausweisungsbeschluß der nigerianischen Regierung betroffen worden waren.
Öl und die westafrikanische Gemeinschaft
Um das Jahr 1975 hatte sich Nigeria von seinem schrecklichen Bürgerkrieg einigermaßen erholt und war zur Ölgroßmacht aufgestiegen. Sein Reichtum als Folge des Ölbooms verschaffte ihm wachsende internationale wirtschaftliche Macht und politisches Ansehen. Deshalb ergriff Nigeria die Initiative, was die Schaffung der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten (ECOWAS) betrifft, die im Mai 1975 gegründet wurde. Ihr Zweck? Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten zu erleichtern. Die Bürger der dieser Wirtschaftsgemeinschaft angehörenden Staaten durften sich aber auch von da an drei Monate ohne Visum in den Mitgliedsstaaten aufhalten.
Das öffnete der Einwanderung Tür und Tor. „Alle Wege führten nach Nigeria“, dem volkreichsten und wohlhabendsten Staat der Gemeinschaft. Es kam vor, daß täglich 3 000 Einwanderer aus Tschad und aus Ghana die Grenzübergänge passierten. Doch die Zahl derer, die die Grenze unbemerkt, heimlich — also illegal — an einem unkontrollierten Abschnitt überschritten, war weit größer. Die meisten Nigerianer jedoch waren froh über die Einwanderer. Es waren billige — geschulte und ungeschulte — Arbeitskräfte, und sie übernahmen oft Arbeiten, für die sich die Nigerianer zu schade waren. Aber wie bei jeder großen Einwanderungswelle, so fluteten auch bei dieser viele unerwünschte Personen mit in das Land hinein. Deshalb entwickelten sich bald Probleme.
Einwanderer werden eine „Last“
Bereits im Jahre 1978 zeigten sich manche über den Zustrom der Einwanderer besorgt. Viele glaubten, die billigen ausländischen Arbeitskräfte seien mitschuldig an der wachsenden Arbeitslosigkeit in Nigeria. Wie die nigerianische Presse schrieb, sollen illegale Einwanderer die Urheber der 1980 und 1982 ausgebrochenen religiösen Unruhen, die Tausende von Menschenleben forderten, gewesen sein. Arbeitslose Einwanderer bildeten bewaffnete Banden, überfielen harmlose Bürger und vergewaltigten oder töteten sie. Tausende von eingewanderten Frauen betrieben Prostitution. Die zudringliche Bettelei von Einwanderern — Männer, Frauen und kleine Kinder — wurde lästig.
Man fürchtete deshalb für die soziale und die politische Sicherheit des Landes. Im Jahre 1980 wurden Stimmen gegen die „illegalen Einwanderer“ und die „unerwünschten Ausländer“ laut. Die nigerianische Regierung reagierte, indem sie 1981 alle Afrikaner, die keine nigerianischen Staatsbürger waren, aber im Land wohnten, aufforderte, sich bei der Einwanderungsbehörde zu melden. Es wurden jedoch keine Anstrengungen gemacht, diesem Gesetz Geltung zu verschaffen.
Dann kam das Jahr 1982. Nigeria begann unter der Schwemme auf dem internationalen Ölmarkt zu leiden. Das sowie die Inflation führten zu einer wirtschaftlichen Rezession. Die in Lagos erscheinende Zeitung Daily Times schrieb: „Die schwierige wirtschaftliche Situation signalisierte der Bundesregierung, daß Nigeria nicht mehr den ‚Weihnachtsmann‘ spielen kann.“ Die Leute, die zur Zeit des Ölbooms und der wirtschaftlichen Prosperität ins Land gekommen waren, sollten jetzt, da die Wirtschaft nicht mehr florierte, wieder verschwinden.
Der Exodus
Niemand war daher überrascht, als die Regierung am 17. Januar 1983 allen illegalen Einwanderern befahl, binnen zwei Wochen ihre Papiere in Ordnung zu bringen oder das Land zu verlassen. Die nigerianischen Hauswirte kündigten ihren ausländischen Mietern. Arbeitgeber entließen ihr ausländisches Personal. Das führte dazu, daß die meisten illegal eingewanderten Ausländer schleunigst ihre Sachen packten. Kurz zuvor hatte ein Ghanaer noch zu seinen Freunden gesagt, sie würden Nigeria nur verlassen, wenn man ihnen die Pistole auf die Brust setze. „Und selbst dann“, hatte er erklärt, „werden wir uns ganz langsam in Richtung Heimat in Marsch setzen.“ Aber aus dem Exodus wurde nicht der vorhergesagte langsame Marsch, sondern ein Galopp.
Zu Hunderttausenden verließen sie das Land, zusammengepfercht in Kleinbussen oder auf Lastwagen, wo sich auch ihre Habseligkeiten türmten. Sie verstopften die Straßen und überfluteten den Seehafen und den Flughafen von Lagos. Doch wohin konnten sie gehen? Ghana hatte seine Grenzen dichtgemacht. Auch Benin und Togo schlossen ihre Grenzen aus Angst, daß Hunderttausende von Ghanaern notgedrungen bei ihnen hängenbleiben würden. Bis dieses Problem endlich gelöst war, litten die wartenden Flüchtlinge — auch Kinder und Schwangere — unter Hunger und unhygienischen Verhältnissen. Die Behörden von Benin und Togo taten ihr möglichstes, um zu helfen. Am 29. Januar 1983 öffnete Ghana seine Grenzen. Darauf wurde die Welt Zeuge eines ungewöhnlichen Schauspiels: Der Flüchtlingsstrom ergoß sich nach Benin und wälzte sich durch Togo nach Ghana und noch weiter.
In Ghana hatte man bereits ein Komitee für die Aufnahme der Flüchtlinge geschaffen. Für die mit Autos und Schiffen ankommenden Rückwanderer wurde das Messegelände in Labadi (Accra) als Auffanglager eingerichtet. Aber schon am Sonntagmorgen war das Messegelände total überfüllt, so daß für weitere Lager gesorgt werden mußte. Autobesitzer wurden dringend aufgefordert, der Evakuierungsbehörde ihre Autos zur Verfügung zu stellen. Erstaunlicherweise wurden die Rückwanderer so schnell in ganz Ghana verteilt, daß man keine Flüchtlingslager benötigte.
Jeder Rückkehrer hatte eine Geschichte zu erzählen. Einem Ghanaer gelang es, den Grenzort Aflao zu erreichen; er wußte aber nicht, wie er nach Accra kommen sollte. Plötzlich hörte er Lärm und sah, wie Brote aus einem langsam fahrenden Lieferwagen geworfen wurden. Die Leute rannten hin und fingen sie auf. Danach machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Accra, mußte aber wieder nach Aflao zurückkehren. Dort stürmten die Leute die wartenden Busse. Dann sah er plötzlich einen beladenen Lastwagen, der im Verkehr steckengeblieben war. „Ich nahm alle meine Kräfte, die mir noch verblieben waren, zusammen“, berichtete er, „warf meine Reisetasche auf den Wagen und kletterte nach. Wie dankbar war ich, als ich merkte, daß mich jemand von hinten langsam hochschob, bis ich die Pritsche des Lastwagens erreicht hatte. Dort standen etwa hundert Leute eng zusammengepfercht. Nach einer mühsamen dreistündigen Fahrt langten wir in Accra an.“
In der Not zeigten sich manche Menschen echt kameradschaftlich. Einige Rückkehrer teilten ihr Essen mit Personen, die sie überhaupt nicht kannten. Die Kräftigeren halfen den Schwächeren, damit auch sie etwas zu essen bekamen. Auf dem Flughafen wurde beobachtet, daß Rückwanderer Leidensgenossen sogar Geld schenkten. Aber die Not trieb etliche auch zu rohen Taten. Ein Flüchtling, der gerade seine Mahlzeit einnehmen wollte, wurde mit dem Messer bedroht, und dann entriß man ihm das Essen. Eine Frau, die einen Korb mit Nahrungsmitteln trug, strebte einem Auffanglager zu, doch bevor sie den Korb dort abliefern konnte, fielen hungrige Flüchtlinge darüber her und machten ihn leer.
Auf Flughäfen und in Seehäfen drängten sich unübersehbare Menschenmassen in der Hoffnung auf einen Heimtransport. Als die Wartenden die Schiffe stürmten, fielen einige dabei ins Wasser, und ein Flüchtling ertrank. Die Heimkehrer organisierten jedoch blitzschnell Rettungstrupps. Und jedesmal, wenn ein ins Wasser Gefallener herausgezogen wurde, gab es donnernden Applaus — nicht nur unter den Ghanaern, sondern auch unter den Nigerianern. Schließlich fuhren die Schiffe los, vollgepackt mit Flüchtlingen wie Sardinen in der Dose.
Die Folgen
Diese „Völkerwanderung“ wurde als brutaler Exodus bezeichnet — in gewisser Hinsicht mit Recht. Viele sagten, der Ausweisungsbefehl sei zu plötzlich gekommen, außerdem sei die gesetzte Frist von zwei Wochen zu kurz gewesen. Nigerianische Kommentatoren weisen jedoch darauf hin, daß den illegalen Ausländern schon lange vorher gesagt worden war, sie sollten ihre Papiere in Ordnung bringen, und daß nur die, die das nicht getan hatten, vom Ausweisungsbefehl betroffen wurden. Die nigerianischen Behörden waren zudem bemüht, den Ausländern die Ausreise zu erleichtern. Sie durften ihr Hab und Gut mitnehmen, auch ihr Erspartes. Außerdem wurde für eine gewisse ärztliche Betreuung gesorgt. Die nigerianische Vereinigung der Transportunternehmer stellte im ganzen Land 200 Anhänger unentgeltlich für die Beförderung der Rückkehrer zur Verfügung. Viele Personen unterstützten ausgewiesene Ausländer mit Geld. Die Nigerianer behaupten nun, die Lage auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt habe sich bereits entspannt und es würden wieder mehr Arbeitsplätze und Wohnungen zur Verfügung stehen.
Dennoch hat die nigerianische Regierung durch ihr Vorgehen ihren guten Beziehungen zum Ausland geschadet. Außerdem hat Nigeria, indem es sich seiner Last entledigte, diese auf weit ärmere Länder abgewälzt. Ghana allein muß jetzt über eine Million mehr Menschen ernähren. Es hat deshalb das Ausland um Hilfe gebeten. Daraufhin haben mehrere Länder und Organisationen Geld und Hilfsgüter nach Ghana, Togo und Benin gesandt. Auch Nigeria hat finanzielle Unterstützung im Wert von einer Million US-Dollar bewilligt.
Was für eine Zukunft haben die Rückkehrer? Man mag sie als Flüchtlinge, Ausgewiesene oder des Landes verwiesene illegale Einwanderer bezeichnen, doch ihre Not läßt deutlich erkennen, mit welch schwierigen, unlösbaren Problemen sich die Weltführer herumschlagen müssen — eine schwere Anklage gegen eine Welt, die nicht mehr für ihre Bevölkerung sorgen kann.
[Bild auf Seite 9]
Was für eine Zukunft haben diese Menschen?
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Wer wird sich um die Flüchtlinge kümmern?Erwachet! 1984 | 22. Januar
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Wer wird sich um die Flüchtlinge kümmern?
„GEBT den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose in euer Haus.“ Diese Aufforderung ließ Gott durch seinen Propheten Jesaja an Personen ergehen, die viel Wert auf religiöse Zeremonien legten, jedoch herzlos gegenüber ihren Mitmenschen waren (Jesaja 58:7, Die Bibel in heutigem Deutsch). Aber heute können oder möchten nur wenige Länder so handeln. Aus Selbstsucht oder zufolge von kulturellen, rassischen und religiösen Vorurteilen schließt man nicht nur „die Tür seiner Gefühle innigen Erbarmens“, sondern auch die
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