Mein Lebensziel verfolgend
Von Victoria Dougaluk erzählt
Während der letzten paar Jahre hörte ich von Menschen guten Willens, bei denen ich Heimbibelstudien durchführte, oder von Gliedern des Volkes Jehovas oft den Ausspruch: „Du solltest ein Buch schreiben über all die Erfahrungen, die du in deinem Leben als Missionarin gemacht hast.“ Wenn man aber täglich im Dienste steht und sein vollbesetztes Programm zu bewältigen hat, ist das natürlich nicht so leicht durchzuführen. Dagegen wurde ich vor kurzem angeregt, nicht ein Buch zu verfassen, sondern einige besonders hervorragende Höhepunkte aus der Zeit, da ich mein Lebensziel als Missionarin verfolgt habe, schriftlich niederzulegen. Im Vertrauen gesagt: Ich glaube, es ist leichter, ein Buch zu schreiben, weil es so viel zu sagen gibt!
Blicken wir also zurück auf das Jahr 1939. Meine Mutter, die damals in Chippawa (Ontario, Kanada) wohnte, fand in diesem Jahre, nachdem sie in sämtlichen Kirchen des Distrikts die Wahrheit gesucht hatte, anhand der Wachtturm-Schriften das, was sie damals befriedigte und heute noch befriedigt, schließlich in der Bibel. Aber trotz ihres geduldigen Bemühens, uns den Unterschied zwischen der wahren und der falschen Religion zu zeigen, besuchte ich weiterhin die katholische Kirche, wo ich Mitglied des Kirchenchors, der Jugendorganisation und der Klasse war, die Unterricht im Katechismus erhielt. Ich weiß noch, wie die Mutter mich unter dem taktvollen Vorwand, mich ihre ukrainische Muttersprache lesen zu lehren, veranlaßte, Schrifttexte zu lesen, in denen von den Königreichssegnungen die Rede ist. Ihre Geduld wurde belohnt; denn eines Sonntags verließ ich aus eigenem Antrieb die Kirche und wartete draußen, bis die Messe zu Ende war, um mit meinen Schwestern zusammen heimzugehen. In diesem Augenblick gingen der Versammlungsdiener und andere Brüder, die meine Mutter in den Dienst von Haus zu Haus mitnahmen, vorbei. Als sie mich so früh schon auf der Kirchentreppe stehen sahen, hielten sie an und fragten mich, ob ich mitgehen wolle. Dies tat ich mit Freuden. Damals befand sich auch ein Mädchen meines Alters im Wagen, das mich sehr ermunterte und mir sagte, ich hätte recht getan, daß ich hinausgegangen sei, denn ich könne nicht an zwei Tischen teilhaben.
Ich war damals zwölf Jahre alt, und ich bin heute noch dankbar für die Mühe, Geduld und Zeit, die die Brüder jener Gegend aufwandten, um mich zu schulen. Sie dachten nie, ich sei zu jung, um sich um mich zu kümmern. Im September 1940 taten wir den Schritt der Hingabe an Jehova, und zwar meine Mutter, eine jüngere Schwester und ich selbst.
Kurz danach erhielt unser Versammlungsdiener den Besuch eines Pioniers aus Neufundland. Er wurde zu uns gebracht, damit wir einige seiner Erfahrungen hören könnten. Ich weiß noch gut, wie ich dasaß, hingerissen lauschte und sagte, ich möchte auch einmal ebenso Missionarin werden. Die ermutigenden Worte dieses Bruders blieben für mich unvergeßlich, und ihr Eindruck vertiefte sich noch, als ich im Jahre 1942 in Cleveland (Ohio) das erstemal einen Kongreß besuchte. Ich kam dort mit vielen Vollzeitdienern zusammen, und alle machten einen so glücklichen Eindruck. Daher erkundigte ich mich über ihre Tätigkeit und beschloß, so bald als möglich meine Bewerbung für den Vollzeit-Pionierdienst einzureichen.
Im Oktober 1943 begann ich mein Lebensziel, d. h. meine neue Laufbahn, zu verfolgen. Ich war damals 16 Jahre alt. Nachdem ich unter Benutzung meines Fahrrades kurze Zeit allein in einem Landgebiet gearbeitet hatte, wurde mir zusammen mit einer anderen Schwester, die mir ganz fremd war, ein Gebiet in der Stadt Toronto (Kanada) zugeteilt. Doch sollte dies nicht lange so bleiben.
Ich denke immer noch gern an die Freundlichkeit zurück, mit der mir das Zweigbüro Toronto half, mich einzuleben, und welche Liebe die Brüder bekundeten, indem sie mich mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft versorgten. Da ich von zu Hause weg und noch so jung war, mußte ich viel lernen, und ich war dankbar für die Ratschläge von denen, die schon lange in der Wahrheit waren.
Sehen zu dürfen, wie die Leute, mit denen ich die Bibel studierte, in die Zusammenkünfte mitkamen und allmählich zu Verkündigern heranwuchsen, bedeutete die Erfüllung meines Traumes. Welch ein Vorrecht, von Jehova auf diese Weise gebraucht zu werden! Ich war sehr glücklich, dadurch einen Anteil an der Rechtfertigung des Namens Jehovas zu haben.
Ermutigt durch die Erfahrungen, die ich in meinen Briefen erzählt hatte, schloß sich mir nach einem Jahre meine Schwester im Vollzeitdienste an. Dies brachte es mit sich, daß ich ein Gebiet in einer anderen Versammlung zugeteilt erhielt. Meine Schwester war damals 15 Jahre alt; und ich erwähne es nochmals, welche Hilfe die älteren Brüder uns waren, indem sie uns beistanden, zur Reife heranzuwachsen. Wir konnten in diesem Gebiet viele interessante Bibelstudien durchführen. Als Studienhilfsmittel benutzten wir damals das Buch Kinder. Eines dieser Studien fand bei einer Taubstummenfamilie statt. Anfänglich schien es wirklich ein Hindernis zu sein, daß wir nicht miteinander sprechen konnten; doch bald stellte ich fest, daß es ganz einfach ist, mit den Händen zu reden und sich so zu verständigen. Die Leute nahmen die Wahrheit an und begannen auch bald, mit in den Dienst von Tür zu Tür zu gehen. Sie benutzten dazu kleine Karten, auf denen der Zweck ihres Besuches erklärt wurde. Doch kurz darauf zogen sie weg, und wie freudig überrascht waren wir zu hören, daß sie im Jahre 1953 den Kongreß im Yankee-Stadion in New York besuchten, was für sie eine Reise von über 3000 km bedeutete! Da ich diese neue Methode der Gedankenvermittlung nun kannte, war ich später in der Lage, noch bei vier weiteren Taubstummenfamilien Studien durchzuführen.
Sechs Monate später erhielt ich eine Einladung zum Sonderpionierdienst. Die Gesellschaft teilte uns ein abgelegenes Vorortsgebiet von Toronto (Ontario) zu. Da uns gesagt wurde, wir sollten uns so bald als möglich dort hinbegeben, machten wir uns unverzüglich auf die Suche nach einer Unterkunft. Noch am selben Nachmittag zogen wir um; denn wir hatten eine Familie gefunden, die bereit war, uns eine Woche lang aufzunehmen, doch wohnten wir dann eineinhalb Jahre in ihrem Hause.
Um die Sonderpionier-Erfordernisse zu erfüllen, mußten wir mehr Stunden im Dienste verbringen und mehr Nachbesuche machen, und dies hatte zur Folge, daß wir noch mehr Erfahrungen machten und mehr Segen empfingen. Wir gingen morgens frühzeitig weg, unser Mittagsbrot in der Tasche, das wir auf dem nahegelegenen großen Friedhof zu essen pflegten, und kehrten erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause zurück. Oft konnten wir den Friedhofsgärtnern Zeugnis geben, und ich erinnere mich noch, wie erstaunt sie waren, daß wir vor diesem Ort gar keine Angst hatten. Ein Arbeiter abonnierte den Wachtturm und nahm Notiz von der Adresse des Königreichssaales, der seiner Wohnung am nächsten gelegen war.
Die Schwester, bei der wir wohnten, begleitete uns oft und verbrachte den ganzen Tag mit uns. Das führte zu einer lieblichen Kameradschaft und gestaltete unseren Dienst abwechslungsreicher. Überhaupt trug die Gemeinschaft mit der ganzen Versammlung, die wir damals besuchten, viel dazu bei, uns geistig aufzuerbauen und uns für künftige Erfahrungen zu stärken.
Wir waren mit unserem Gebiet sehr zufrieden, und es fehlte uns nichts. Dennoch muß ich gestehen, daß wir insgeheim den Gedanken hegten, eines Tages nach der Provinz Quebeck gesandt zu werden. Wir hatten gehört, wie man die Brüder dort um des Predigtwerkes willen verfolgte, wie viele von ihnen von Pöbelrotten angegriffen, geschlagen und eingesperrt wurden. So begannen wir etwa wie folgt zu denken: Wir sind jung, stark und gesund; nun, ein solches Gebiet wäre für uns geradezu ideal, denn wir wünschten doch zusammen mit den Brüdern, die schon dort waren, an dem Kampfe um die Freiheit einen richtigen Anteil zu haben.
Man stelle sich deshalb unsere Erregung vor, als eines Tages meine Schwester nicht nur die Einladung zum Sonderpionierdienst erhielt, sondern daß wir beide eingeladen wurden, uns nach Montreal (Quebeck) zu begeben, um unseren Predigtdienst dort fortzusetzen. Auch vernahmen wir, daß unsere jüngere Schwester, die schon in den letzten zwei Jahren Sommerpionierdienst geleistet hatte, ihn auch dieses Jahr zum drittenmal aufnahm und beabsichtigte, sich uns zur bestimmten Zeit anzuschließen.
Vor unserer Abreise nach Montreal wurden wir zusammen mit anderen Pionieren, die ebenfalls nach Quebeck eingeladen worden waren, ins Zweigbüro nach Toronto gerufen. Man machte uns darauf aufmerksam, wie wichtig es sei, Französisch zu lernen, unterrichtete uns über Sitten und Bräuche des Volkes und ermunterte uns ganz allgemein. Dies verhalf uns zu einem vorzüglichen Anfang.
Am 1. Mai 1946 zogen zwei Schwestern, die fieberten vor Erregung und Nervosität, in die große Stadt der Provinz Quebeck ein. Wir waren dankbar, daß uns ein Bruder abholte, der damals in Montreal die Rechtsangelegenheiten regelte. Wir wurden zu einer Mahlzeit und nachher in die wöchentliche Dienstversammlung der Versammlung mitgenommen, der wir zugeteilt waren. Es gab damals nur eine Versammlung, die Zusammenkünfte abhielt, und ich werde nie vergessen, wie mir zumute war, als ich den Saal verließ. Mir schien, als sei mein Kopf so groß wie ein Kürbis geworden, so hatte ich mich angestrengt, um alles, was auf französisch gesagt wurde, zu verstehen. Ich weiß noch, wie ich einem Pionier englischer Zunge zuhörte, als er Fragen auf französisch beantwortete, und wie sehr ich ihn bewunderte, daß er es so weit gebracht hatte. Ich war entschlossen, es ihm gleich zu tun.
Es dauerte nicht lange, bis uns das widerfuhr, wovon wir früher gelesen hatten. Meine Schwester wurde verhaftet und mußte regelmäßig vor dem Jugendgericht erscheinen, und ich mußte beständig vor dem Stadtrichter erscheinen, bis es diesem zuviel wurde und er mir eines Tages erklärte, ich sei die lästigste Person, die je an diesem Ort erschienen sei. Wir hatten oft Gelegenheit, nicht nur dem Gerichtspersonal, sondern auch anderen Gefangenen Zeugnis zu geben. Das wunderbare Band der Liebe verband die Brüder, die die gleichen Erfahrungen im Gefängnis machten, immer fester. An eine Begebenheit erinnere ich mich noch besonders: Einige von uns wurden gleichzeitig festgenommen; auf Grund einer Kaution wurden dann zuerst die Älteren und jene, die Familien hatten, entlassen. So blieben zwei von uns noch übrig. Sechs Tage vergingen, und wir wußten immer noch nicht, wann wir an die Reihe kämen. Schließlich wurde eine weitere Kaution geleistet, doch nur für eine Person. Die französische Schwester, die bei mir war, sagte: ‚Beide oder keine‘, und verzichtete auf die sofortige Freilassung, um bei mir zu bleiben. Ich war ihr dafür so dankbar, daß ich es in Worten gar nicht ausdrücken könnte. Mit der Zeit wurden Jehovas Zeugen wegen ihres Kampfes um die Freiheit sehr geachtet, denn alle Versuche, uns zu entmutigen, schlugen fehl. Die Bemühungen, unseren Eifer zu dämpfen, spornten uns nur noch zu größerer Entschlossenheit an, unser Werk fortzusetzen und in diesem Gebiet nach den „Schafen“ zu suchen.
Das war jedoch nicht unser größtes Problem, vielmehr war es die französische Sprache. Wir sahen ein, daß wir den französisch sprechenden Leuten erst dann eine Hilfe wären, wenn wir uns mit ihnen in ihrer Sprache unterhalten könnten, und da wir jetzt zu einer Familie gezogen waren, die keine Kenntnisse des Englischen hatte, machten wir uns an diese Aufgabe heran. Wir bedienten uns so fleißig der Wörterbücher, daß sie fast zerfielen. Wir wandten jedes neue Wort, das wir lernten, an, bis wir allmählich den Sinn der Wörter, darauf den Sinn gewisser Ausdrücke und schließlich den Sinn ganzer Sätze erfaßten. Wir mußten oft herzhaft lachen über unsere Versuche, aber die französisch sprechenden Leute waren sehr hilfreich und erklärten uns alles, was wir wissen wollten.
Bruder Knorrs Besuch in Montreal Ende 1946 bedeutete für die Pioniere in Quebeck sehr viel. Sechsundsechzig von uns wurden eingeladen, die neunte Klasse (1947) der Gileadschule zu besuchen, um für das Sonder-Missionarwerk in der Provinz Quebeck geschult zu werden.
In Gilead wurden wir in der französischen Grammatik und in all den anderen erforderlichen Fächern unterwiesen. Dies gab uns gerade den nötigen Antrieb, um mit neuer Kraft den Felddienst wieder aufzunehmen, gewappnet mit weiteren Argumenten zur Widerlegung irriger Ansichten und ausgerüstet mit vermehrten Kenntnissen. Was wir dort an Einheit und Liebe erfuhren, schulte uns auch für unser Alltagsleben. Das junge Mädchen, das mich damals, als ich aus der Kirche kam, um nie mehr dorthin zurückzukehren, so ermuntert hatte, absolvierte mit mir dieselbe Gileadklasse. Diese Schule besucht zu haben bedeutete, daß von uns nun noch mehr verlangt wurde. Aber da uns Jehovas Geist, sein Wort und seine Organisation beistanden (wofür wir fortwährend Dank sagen), konnten wir alle Hindernisse überwinden und uns weiterhin der Segnungen des Vollzeitpionierdienstes erfreuen.
Im Oktober 1949 wurden meine Schwester und ich nach St. Hyacinthe (Quebeck), einem entlegenen Gebiet etwa fünfunddreißig Meilen außerhalb Montreals, gesandt. Eine Freundin fuhr uns mit dem Wagen hin, damit wir eine Unterkunft suchen konnten. Überall, wo wir uns erkundigten, sagte man uns: „Ich muß zuerst meinen Pfarrer anrufen und fragen, ob ich Nichtkatholiken ein Zimmer vermieten darf.“ Nachdem wir es an verschiedenen Orten versucht hatten, kamen wir schließlich zu einer Frau, die bereit war, uns ihr Vorderzimmer zu vermieten, wobei sie — wie sie uns später bekannte — die Absicht hegte, uns zum katholischen Glauben zu bekehren.
Wir sammelten damals bei der Bevölkerung Unterschriften für eine Petition, in der eine schriftliche kanadische „Bill of Rights“ (Urkunde über Freiheitsrechte) gefordert wurde. In der ersten Woche gaben die meisten Leute ihre Unterschrift, da sie zustimmten, daß jedermann das Recht auf Religionsfreiheit besitze. Doch nach der Sonntagspredigt änderte sich das Bild. Der Ortsgeistliche gab bekannt, daß niemand unterschreiben dürfe; er bezeichnete uns als „Kommunisten“, als die im Gleichnis erwähnten ‚törichten Jungfrauen‘ usw. Unsere Zimmervermieterin wurde, nachdem wir zwei Wochen bei ihr gewohnt hatten, aufgefordert, uns zu kündigen. Eines Morgens sagte sie uns, wir müßten das Haus innerhalb zweier Stunden verlassen, sonst stelle sie unsere Sachen auf die Straße. Sie weinte, als sie uns dies mitteilte, und fügte hinzu, sie tue es nicht von sich aus. Wir stellten unsere Sachen in den Gepäckschließfächern im Bahnhof ein und machten uns wieder auf die Suche nach einer Unterkunft, doch umsonst. Wir mußten nach Montreal zurückkehren. Drei Tage lang wanderten wir auf der Suche nach einem anderen Zimmer zwischen den beiden Städten hin und her. Und wir fanden schließlich eines in einem Vorort der Stadt bei sehr aufgeschlossenen Leuten, die sich, selbst nachdem sie in den lokalen Zeitungen beschimpft worden waren, weigerten, uns auf die Straße zu setzen.
Nach einiger Zeit wurden wir verhaftet und des Verkaufs von Bibeln angeklagt. Wir kamen vor Gericht und gewannen den Fall. Dadurch hörten die Pöbelangriffe, die eine tägliche Erscheinung geworden waren, auf, und wir genossen von da an auch den Schutz der Polizei. Später schlossen sich uns zwei weitere Missionarinnen an, und nach einer gewissen Zeit hatten wir die Freude, eine neue Versammlung zu gründen. Mehrere Personen traten standhaft für die Wahrheit ein und mußten die Stadt verlassen und anderswo Arbeit suchen. Für uns wurde sie jedoch zur wirklichen Heimat, und da die Bevölkerung fast ausschließlich Französisch sprach, machten wir Fortschritte im Erlernen der Sprache. Oft kam es vor, daß die Leute uns ins Pfarrhaus führten, damit wir mit ihren Ortsgeistlichen sprechen könnten, denn sie wollten nicht glauben, daß wir die ‚richtige Bibel‘ besäßen. Diese Diskussionen dienten uns zur Stärkung, da wir sehen konnten, wie wenig diese in Seminaren und theologischen Fakultäten geschulten Männer von der Heiligen Schrift wußten. Einer entgegnete sogar einmal: „Wie können Sie von mir erwarten, daß ich über die Bibel spreche? Ich bin doch Priester, nicht Bibelforscher.“ Ein anderer, ein Dominikaner-Pater, schleuderte uns Flüche entgegen, als wir ihm während einer Diskussion, die in einer Einsiedelei stattfand, in seiner eigenen Bibel zeigten, daß sein Beweis für die „Dreieinigkeit“ aus 1. Johannes 5:7 ein Einschiebsel sei. Dem jungen Mann, der uns dort hingeführt hatte, fiel es wie Schuppen von den Augen; er hatte uns nämlich erklärt, daß, wenn auch er nicht imstande sei, auf unsere Fragen zu antworten, es doch bestimmt die „Pater“ tun könnten.
Im September (1951) begann eine weitere Mutprobe in unserem Missionarleben. Wir wurden zusammen mit einer Klassenkameradin und fünf weiteren Missionarinnen, die eben die 17. Gileadklasse absolviert hatten, der dreiundachtzig Meilen nördlich von Montreal gelegenen Stadt Trois-Rivières (Quebeck) zugeteilt. Wir waren uns zu Anfang völlig fremd, doch, da wir nur zwei Zimmer fanden und dort zu acht wohnen mußten, dauerte es nicht lange, bis wir uns kannten. Am ersten Tage unseres Dienstes statteten wir zunächst dem Chef der Ortspolizei einen Besuch ab. Wir wollten ihn von unserer Ankunft und unseren Absichten in Kenntnis setzen, damit seine Leute für die Untersuchung der falschen Anschuldigung, wir seien „Kommunisten“, nicht unnütz Zeit verlören. Es war zu erwarten, daß man diese Anklage telephonisch erheben würde. Nachdem wir ihm unsere Arbeitsmethode erklärt hatten, wünschte er uns viel Erfolg. Das tägliche Wirken der acht Missionarinnen veranlaßte bald zu der Bemerkung, es sei eine ganze Armee in die Stadt eingedrungen. Zuerst suchten die Priester verschiedene Mittel anzuwenden, um unserer Tätigkeit ein Ende zu bereiten; sie folgten uns sogar von Tür zu Tür, um die Leute zu warnen. Eines Tages wurde die Polizei telephonisch herbeigerufen, um uns zu verhaften, doch mißlang dieser Anschlag, denn als die Polizisten feststellten, um wen es sich handelte, fuhren sie an uns vorbei. Als wir eine größere Wohnung fanden, wurde unser Heim zu einem Königreichssaal.
Viele Leute, die wir besuchten, äußerten sich anerkennend darüber, daß acht Mädchen in Frieden beisammenwohnten. Das allein war für sie ein Beweis, daß wir einer friedlichen Organisation angehörten, in der Gottes Geist herrscht. Da wir so eng beisammenwohnten, lernten wir manches und stellten dabei fest, daß die persönliche Art, wie jemand gewisse Dinge tut, nicht immer das Richtige ist; so paßten wir uns gegenseitig an, um besser miteinander auszukommen. Wir fanden, daß gute Organisation Frieden zeitigte. Da wir über zwei Jahre zusammenlebten, wurden wir wie eine richtige Familie miteinander verbunden, und als die Zeit kam, da wir uns trennen sollten, erkannten wir, welch enge Bande uns verknüpften.
Nun erwartete uns etwas Neues: eine neugegründete Versammlung. Treue Pioniere hatten sehr hart gearbeitet, um diese unter prüfungsreichen Verhältnissen aufzubauen. Wie Mose fühlten wir uns unfähig, die Aufgabe zu übernehmen, doch wissend, daß Jehova unsere Stärke ist, übernahmen wir die Verantwortlichkeiten gebetsvoll. Wir stellten bald fest, daß die Verkündiger willig waren und mithalfen, die Königreichsinteressen zu fördern, und so schrumpfte unser „Berg“ zu einem „Maulwurfshügel“ zusammen. Nach einem Jahr hatten wir eine weitere Zunahme zu verzeichnen, und wir freuten uns sehr, Gemeinschaft mit diesen „anderen Schafen“ zu haben, denen noch so manches mangelte, obwohl sie allmählich zur Reife heranwuchsen.
Meine Schwester, die über zehn Jahre mit mir zusammen war, befindet sich nun mit einem anderen Angehörigen unserer Familie, nämlich mit meinem Schwager, in einem anderen Gebiet; doch an ihrer Stelle kamen meine jüngere Schwester (die drei Jahre im Pionierdienst war) und ihr Mann (der seit fünf Jahren im Vollzeitdienst stand) nach der Provinz Quebeck. Das Vorrecht gehabt zu haben, auf diese Weise von Jehova gebraucht zu werden, hat mich sehr glücklich gemacht. Indem ich mein Lebensziel als Missionarin verfolgte, habe ich dies erfahren dürfen.
Nun verfolge ich mein Lebensziel in einer anderen Eigenschaft. Nachdem ich einige Zeit im Bethelheim in Toronto tätig war, heiratete ich und wurde ein Glied der Bethelfamilie in Brooklyn. Da bin ich nun und tue meinen Dienst als Frau C. A. Steele.