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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 1)Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1975
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Zeichnung, in der eine einstürzende Wand dargestellt wurde. Auf einige ihrer Steine waren Wörter geschrieben wie „Protestantismus“, „Höllenqualtheorie“, „Dreieinigkeitslehre“, „Apostolische Nachfolge“ und „Fegefeuer“. Das Traktat zeigte mit Belegen aus der Bibel, daß die große Mehrzahl der Geistlichen „untreue, illoyale, ungerechte Männer gewesen sind“, die mehr Verantwortung für den Krieg, der damals gerade im Gange war, und die großen Schwierigkeiten, die ihm folgen würden, trugen als irgendeine andere Gruppe von Menschen auf der Erde. In Verbindung mit dieser Traktat-Verteilungsaktion wurden am gleichen Tag weit und breit angekündigte öffentliche Vorträge über dasselbe Thema gehalten.
Was würdest du davon halten, ein Traktat wie dieses zu verbreiten? C. B. Tvedt räumt ein, daß er diesen Tag nie vergessen wird, und sagt dann: „Es war ein äußerst rauher, kalter Tag. Doch die Botschaft, die ich verbreitete, war ohne Zweifel glühend heiß. ... Ich mußte 1 000 von diesen Traktaten unter die Wohnungstüren schieben und gelegentlich auch direkt an Einzelpersonen, die ich traf, verteilen. Ich kann nicht leugnen, daß es mir lieber war, die Traktate unter die Tür zu schieben, denn ich erkannte, daß dies eine feurige Botschaft war und wie eine Bombe einschlagen würde.“
Ende des Jahres 1917 und Anfang des Jahres 1918 stieg die Verbreitung des Vollendeten Geheimnisses ständig an. Die verärgerte Geistlichkeit stellte die falsche Behauptung auf, daß einige Aussagen des Buches aufrührerisch seien. Sie war darauf aus, die Watch Tower Society zu „fassen“, und wie die jüdischen religiösen Führer zur Zeit Jesu wollte sie, daß der Staat das Werk für sie tue. (Vergleiche Matthäus 27:1, 2, 20.) Sowohl katholische wie auch protestantische Geistliche stellten die Bibelforscher so hin, als ständen sie im Dienste der deutschen Regierung. So sagte zum Beispiel ein Dr. Case von der Theologischen Fakultät der Universität Chicago über das Werk der International Bible Students Association, einer gesetzlichen Körperschaft des Volkes Gottes, in einer Veröffentlichung folgendes: „Um ihre Lehre zu verbreiten, werden wöchentlich zweitausend Dollar ausgegeben. Es ist nicht bekannt, woher das Geld kommt; doch es bestehen starke Verdachtsmomente, daß es aus deutschen Quellen stammt. Meines Erachtens würde es sich für die Regierung lohnen, der Herkunft dieses Geldbetrages nachzugehen.“
„Diese und ähnliche Beschuldigungen von anderen Geistlichen trugen offensichtlich ihren Teil dazu bei, daß Vertreter des Geheimdienstes der Armee die Bücher des Kassierers der Gesellschaft beschlagnahmten“ stand im Wacht-Turm (engl.) vom 15. April 1918. Weiter hieß es: „Die Behörden nahmen zweifellos an, sie würden Beweise finden, die die Anklage untermauern würden, daß unsere Gesellschaft für die deutsche Regierung arbeite. Natürlich enthielten die Bücher nichts Derartiges. Das gesamte Geld der Gesellschaft stammt von Personen, die daran interessiert sind, das Evangelium über Jesus Christus und sein Königreich zu verkündigen, und an nichts sonst.“ Zeitungsberichte, die im ganzen Land über die Beschlagnahme der Bücher der Gesellschaft erschienen, trugen dazu bei, Argwohn zu erregen.
Der 12. Februar 1918 war ein besonderes Datum für Gottes Volk in Kanada. An jenem Tage wurde die Watch Tower Society im ganzen Land verboten. In einer Pressemeldung hieß es: „Das Innenministerium hat gemäß der Pressezensur verordnet, Verfügungen zu erlassen, die in Kanada den Besitz einer Anzahl Publikationen verbieten, darunter das von der International Bible Students Association herausgegebene Buch, betitelt ,SCHRIFTSTUDIEN — Das vollendete Geheimnis‘, das allgemein als eine posthume Publikation Pastor Russells bekannt ist. Auch die Verbreitung des Schriftforschers, ebenfalls von dieser Vereinigung herausgegeben, und zwar von ihrem Büro in Brooklyn (New York), ist in Kanada verboten. Wer im Besitz irgendwelcher verbotener Bücher angetroffen wird, hat eine Höchststrafe von 5 000 Dollar und fünf Jahren Gefängnis zu gewärtigen.“
Warum das Verbot? Die in Winnipeg (Manitoba) erscheinende Tribune hellte die Angelegenheit durch folgenden Kommentar auf: „Von den verbotenen Publikationen wird gesagt, sie enthielten aufrührerische Äußerungen gegen den Krieg. Ehrwürden Charles G. Paterson, Pastor der St.-Stephen’s-Kirche, griff vor wenigen Wochen von der Kanzel herab gewisse Ausführungen aus einer der neuesten Ausgaben des Schriftforschers heftig an. Darauf ersuchte Staatsanwalt Johnson Pastor Paterson um ein Exemplar der Publikation. Man glaubt, die Verfügung der Zensur sei die direkte Folge davon.“
Der internationale Charakter der Verschwörung wurde kurz nach dem von der Geistlichkeit in Kanada angestifteten Verbot offenbar. Im Februar 1918 begann der Geheimdienst der Armee in New York eine Durchsuchung des Hauptbüros der Gesellschaft. Man hatte ihm nicht nur fälschlich mitgeteilt, daß die Gesellschaft mit dem Feind in Deutschland in Verbindung stand, sondern man hatte der Regierung der Vereinigten Staaten auch lügnerisch berichtet, daß das Hauptbüro der Gesellschaft in Brooklyn eine Zentrale zur Nachrichtenübermittlung an das Regime in Deutschland sei. Schließlich erschienen in der Presse Berichte, daß Regierungsbeauftragte einen Funkapparat beschlagnahmt hätten, der im Bethel aufgebaut und betriebsbereit gewesen sei. Was waren jedoch die Tatsachen?
Im Jahre 1915 hatte C. T. Russell ein kleines Empfangsgerät geschenkt bekommen. Er selbst war daran nicht allzu interessiert, doch man brachte eine kleine Antenne auf dem Dach des Bethels an und gab jüngeren Brüdern die Gelegenheit, den Gebrauch der Anlage zu erlernen. Sie waren jedoch nicht sehr erfolgreich im Auffangen von Botschaften. Kurz bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, wurde verfügt, daß alle Funkgeräte abgebaut werden sollten. So montierte man die Antenne ab, zersägte die Masten und verwendete sie für andere Zwecke, während der Apparat selbst sorgfältig verpackt im Atelier der Gesellschaft abgestellt wurde. Zu der Zeit, als ein Glied der Bethelfamilie zwei Angehörigen des Armee-Nachrichtendienstes in einem Gespräch von dem Gerät erzählte, war der Apparat schon über zwei Jahre lang überhaupt nicht mehr benutzt worden. Man führte die Männer auf das Dach und zeigte ihnen, wo er vorher aufgebaut worden war. Dann zeigte man ihnen das Gerät selbst, das verpackt weggestellt worden war. Da man es im Bethel nicht gebrauchen konnte, war man damit einverstanden, daß die Männer es mitnahmen. Bei dem Apparat handelte es sich lediglich um einen Empfänger, nicht um ein Sendegerät. Es gab niemals ein Sendegerät. Daher war es unmöglich, irgendwohin eine Nachricht zu senden.
Der Widerstand und Druck gegen Gottes Volk wuchsen weiterhin. J. F. Rutherford hielt am 24. Februar 1918 einen öffentlichen Vortrag in Los Angeles (Kalifornien) vor einer Zuhörerschaft von 3 500 Personen. Am Tag danach brachte die in Los Angeles erscheinende Tribune einen Bericht von einer vollen Seite über den Vortrag. Dies verärgerte die dortigen Geistlichen. Am Montagmorgen hielt ihre Predigervereinigung eine Zusammenkunft ab und sandte daraufhin ihren Präsidenten zur Geschäftsleitung der Zeitung, wo er eine Erklärung dafür forderte, daß so viel über den Vortrag veröffentlicht worden sei. Am folgenden Donnerstag ließ der Geheimdienst der Armee die Zweigstelle der Bibelforscher in Los Angeles besetzen, wobei auch viele der Publikationen der Gesellschaft beschlagnahmt wurden.
Am Montag, dem 4. März 1918, wurden Clayton J. Woodworth (der beim Zusammenstellen des Buches Das vollendete Geheimnis mitgewirkt hatte) und einige andere Brüder in Scranton (Pennsylvanien) verhaftet. Sie wurden fälschlich der Verschwörung angeklagt und mußten sich gegen Bürgschaft verpflichten, im Mai vor Gericht zu erscheinen. Während der Druck auf die Gesellschaft von außen stetig zunahm, wurden darüber hinaus mehr als zwanzig Bibelforscher in Armeelagern und Militärgefängnissen festgehalten, weil man ihnen die Freistellung vom Militär versagte. Einige von ihnen wurden vor Kriegsgerichte gestellt und zu vielen Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Am 14. März 1918 erklärte das Justizministerium der Vereinigten Staaten, daß die Verbreitung des Buches Das vollendete Geheimnis eine Verletzung des Spionagegesetzes darstelle.
Eine Gegenoffensive durch Gottes Volk war eine Notwendigkeit. Der von der Geistlichkeit hervorgerufene Widerstand gegen das christliche Werk der Bibelforscher mußte bloßgestellt werden. Daher veröffentlichte die Watch Tower Society am 15. März 1918 ein zweiseitiges Traktat in der Größe einer Zeitung, betitelt Königreichs-Nachrichten Nr. 1. Es trug die auffällige Überschrift „Religiöse Unduldsamkeit — Pastor Russells Anhänger verfolgt, weil sie den Menschen die Wahrheit sagen — Die Behandlung der Bibelforscher riecht nach dem ,finsteren Mittelalter’“. In diesem Traktat wurde die von der Geistlichkeit veranlaßte Verfolgung der christlichen Zeugen Jehovas in Deutschland, Kanada und den Vereinigten Staaten gründlich bloßgestellt. Millionen von Exemplaren wurden davon verbreitet.
Interessanterweise hieß es in diesem Traktat: „Wir anerkennen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten als politische und wirtschaftliche Institution gemäß der Verfassung die Macht und Autorität besitzt, einen Krieg zu erklären und ihre Bürger zum Militärdienst einzuberufen. Wir haben nicht die Absicht, der Aushebung oder dem Krieg in irgendeiner Weise entgegenzuarbeiten. Die Tatsache, daß einige unserer Mitglieder den Schutz des Gesetzes in Anspruch zu nehmen suchten, ist als ein weiterer Anlaß zur Verfolgung benutzt worden.“
Am 15. April 1918 erschienen die Königreichs-Nachrichten Nr. 2, deren eindrucksvolle Schlagzeile „Das vollendete Geheimnis, weshalb unterdrückt“ lautete. Unter der Unterüberschrift „Geistliche haben dazu beigetragen“ zeigte dieses Traktat, daß die Regierungsstellen von der Geistlichkeit angetrieben wurden, gegen die Gesellschaft vorzugehen, Verhaftungen vorzunehmen, gegen Das vollendete Geheimnis Einwände zu erheben und auf die Bibelforscher Druck auszuüben, bestimmte Seiten (247—253) aus dem Buch zu entfernen. Dieses Traktat erklärte auch, warum die Geistlichkeit gegen Jehovas Diener kämpfte, und es zeigte deutlich, wie seine Diener gegenüber dem Krieg eingestellt waren und was sie bezüglich der wahren Kirche glaubten.
In Verbindung mit der Verbreitung dieser Ausgabe der Königreichs-Nachrichten wurde eine Petition in Umlauf gesetzt. Sie war an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Wilson, gerichtet und lautete: „Wir, die unterzeichneten Amerikaner, vertreten die Auffassung, daß irgendein Eingreifen der Geistlichkeit in das unabhängige Bibelstudium ein unamerikanischer, unchristlicher Akt der Unduldsamkeit ist und daß jeder Versuch, die Kirche mit dem Staat zu verbinden, von Grund auf verkehrt ist. Im Interesse der Freiheit der Bürger und der Religion protestieren wir feierlich gegen die Unterdrückung des Buches Das vollendete Geheimnis und ersuchen die Regierung, alle Einschränkungen in bezug auf seine Verwendung zu beseitigen, damit es den Menschen gestattet sei, dieses Hilfsmittel zum Bibelstudium ohne Einmischung oder Belästigung zu kaufen, zu verkaufen, zu besitzen und zu lesen.“
Gerade sechs Wochen nach den ersten Königreichs-Nachrichten wurden am 1. Mai 1918 die Königreichs-Nachrichten Nr. 3 veröffentlicht. Sie trugen die Überschrift: „Zwei große Schlachten toben — Sturz der Autokratie gewiß“ und die Unterüberschrift: „Satans Strategie zum Scheitern verurteilt“. Diese Ausgabe handelte von dem Samen der Verheißung, der sich gegen den Samen Satans stellt (1. Mose 3:15). Sie verfolgte die Entwicklung des Antichristen von seiner Geburt bis zu den damals verübten Taten der katholischen und protestantischen Geistlichkeit. Unerschrocken zeigte dieses Traktat, wie der Teufel diese Personengruppen jetzt gebrauchte, den Überrest der gesalbten Nachfolger Jesu Christi auf der Erde zu vernichten.
Um die Ausgaben der Königreichs-Nachrichten, die damals veröffentlicht wurden, zu verbreiten, war Mut nötig. Manche Bibelforscher wurden eingesperrt. Es kam vor, daß größere Mengen der Königreichs-Nachrichten für kurze Zeit beschlagnahmt wurden. Obwohl Jehovas Diener sich durch die Opposition und die Verfolgung auf eine Feuerprobe gestellt sahen, erhielten sie doch ihre Treue gegenüber Gott aufrecht und fuhren in ihrem christlichen Werk fort.
GREUELTATEN, DIE BEGANGEN WURDEN
Mit wachsendem Widerstand der Geistlichen und der Laien gegen Jehovas Diener wurden auch Greueltaten an ihnen verübt. Eine spätere Veröffentlichung der Watch Tower Society gibt einen teilweisen Bericht der unglaublichen Verfolgungen, die die Bibelforscher erdulden mußten:
„Am 12. April 1918 wurde E. P. Taliaferro in Medford (Oregon) von einer Pöbelrotte überfallen und aus der Stadt gejagt, weil er das Evangelium gepredigt hatte, und George R. Maynard wurde ausgezogen, mit Farbe angemalt und aus der Stadt getrieben, weil er zugelassen hatte, daß in seinem Haus die Bibel studiert wurde. ...
Am 17. April 1918 wurden in Shawnee (Oklahoma) G. N. Fenn, George M. Brown, L. S. Rogers, W. F. Glass, E. T. Grier und J. T. Tull eingesperrt. Während der Verhandlung sagte der Staatsanwalt: ,In die Hölle mit eurer Bibel! Man sollte euch das Rückgrat brechen und euch in die Hölle schicken. Erhängen sollte man euch!’ Als G. F. Wilson von Oklahoma City als Rechtsverteidiger zu amtieren suchte, wurde auch er verhaftet. Jeder wurde zu 55 Dollar und den Gerichtskosten verurteilt. Vergehen: Verbreitung protestantischer Schriften. Der Richter ermunterte nach der Verhandlung zu einer Pöbelaktion, aber diese wurde vereitelt.
Am 22. April 1918 wurden in Kingsville (Texas) L. L. Davis und Daniel Toole von einer Pöbelrotte gejagt, die vom Bürgermeister und vom Kreisrichter angeführt wurde, und darauf gefaßt und ohne Berechtigung ins Gefängnis geworfen. Davis wurde von seiner Arbeitsstelle vertrieben. Im Mai 1918 wurde in Tecumseh (Oklahoma) J. J. May auf Befehl eines Richters ergriffen und für dreizehn Monate in einer Nervenheilanstalt eingesperrt, nachdem man ihn bedroht und beschimpft hatte. Seine Familie erhielt keinerlei Nachricht darüber, was man mit ihm getan hatte. ...
Am 17. März 1918 löste eine Pöbelrotte in Grand Junction (Colorado) eine Zusammenkunft zum Bibelstudium auf. Die Pöbelrotte bestand aus dem Bürgermeister, führenden Zeitungsleuten und anderen bekannten Geschäftsleuten. ...
Am 22. April 1918 wurde in Wynnewood (Oklahoma) Claud Watson zuerst eingesperrt und darauf vorsätzlich einer Pöbelrotte ausgeliefert, die aus Predigern, Geschäftsleuten und einigen weiteren Personen bestand. Man schlug ihn nieder, veranlaßte einen Neger, ihn auszupeitschen und, als er sich etwas erholt hatte, ihn von neuem zu schlagen. Dann überschüttete man ihn mit Teer und Federn, wobei man den Teer in seine Haare und in seine Kopfhaut einrieb. Am 29. April 1918 wurden in Walnut Ridge (Arkansas) W. B. Duncan, 61jährig, Edward French, Charles Franke, ein Herr Griffin und eine Frau D. Van Hoesen eingesperrt. In das Gefängnis brach eine Pöbelrotte ein, die sich der gemeinsten obszönen Sprache bediente und die Insassen mit Peitschen schlug, teerte, federte und dann aus der Stadt hinaustrieb. Duncan war gezwungen, über vierzig Kilometer weit bis zu seiner Wohnung zu Fuß zu gehen, und erholte sich kaum wieder. Griffin wurde buchstäblich blind und starb zufolge der Mißhandlungen einige Monate später.“
Sogar heute erinnert sich T. H. Siebenlist noch gut daran, was seinem Vater in Shattuck (Oklahoma) zugestoßen war. Er schreibt:
„Im September 1917 kam ich in die Schule. Alles ging gut, bis um den März herum von allen Schulkindern verlangt wurde, eine Rote-Kreuz-Anstecknadel zu kaufen. Mittags nahm ich den Zettel mit nach Hause. Vater war zur Arbeit, und Mutter konnte zu jener Zeit nur Deutsch lesen. Bruder Howlett jedoch, ein Pilgerbruder, besuchte gerade die ,Klasse‘ und nahm sich der Sache an. Es wurde keine Anstecknadel gekauft!
Nicht viel später holten Beamte meinen Vater an seinem Arbeitsplatz ab und versuchten, ihn zu zwingen, auf dem Buch Das vollendete Geheimnis stehend, die Fahne zu grüßen, und das mitten auf der Hauptstraße von Shattuck. Er wurde ins Gefängnis gebracht ...
Kurz darauf wurde Vater wieder abgeholt und für weitere drei Tage festgehalten. Man gab ihm sehr wenig zu essen. Seine Freilassung verlief diesmal jedoch anders. Etwa um Mitternacht täuschten drei Männer einen Gefängnis,einbruch‘ vor. Sie zogen einen Sack über den Kopf meines Vaters und ließen ihn barfuß zum westlichen Ende der Stadt marschieren. Der Boden war dort rauh und voller klettenartiger Pflanzen. Hier entblößten sie ihm den Oberkörper und schlugen ihn mit einer Reitpeitsche, die in einen Draht auslief. Danach übergossen sie ihn mit heißem Teer und federten ihn, worauf sie ihn als tot zurückließen. Er brachte es fertig, aufzustehen und sich teils laufend, teils kriechend um die Stadt herum nach Südosten zu schleppen. Er hatte vor, sich nach Norden zu wenden und nach Hause zu gehen. Einer seiner Freunde fand ihn aber und brachte ihn nach Hause. Ich habe ihn an jenem Abend nicht zu Gesicht bekommen, doch für meine Mutter war sein Anblick ein schrecklicher Schock, besonders da sie gerade ein Neugeborenes im Hause hatte; und Oma Siebenlist wurde ohnmächtig, als sie ihn sah. Mein Bruder John war nur wenige Tage vor diesen Ereignissen geboren worden. Meine Mutter jedoch hielt unter all der Belastung sehr gut durch, da sie sich stets die schützende Macht Jehovas vor Augen hielt. ...
Oma und Tante Katie, die Halbschwester meines Vaters, brachten durch ihre Pflege wieder Leben in ihn. Der Teer und die Federn hatten sich in sein Fleisch eingegraben. Sie benutzten daher Gänsefett, um die Wunden zum Heilen zu bringen, und nach und nach löste sich der Teer ab. ... Vater hatte ihre Gesichter nicht sehen können, doch er hatte ihre Stimmen erkannt und wußte, wer seine Angreifer gewesen waren. Er sagte es ihnen nie. Es war sogar schwierig, ihn dazu zu bewegen, überhaupt darüber zu reden. Er hatte diese Narben bis zu seinem Tode.“
„VORSICHTIG WIE SCHLANGEN“
Durch das Verbot des Buches Das vollendete Geheimnis und einiger anderer christlicher Veröffentlichungen sahen sich Jehovas Diener in einer schwierigen Situation. Doch Gott hatte ihnen ein Werk aufgetragen, und sie führten es weiterhin aus, wobei sie sich als „vorsichtig wie Schlangen und doch unschuldig wie Tauben“ erwiesen (Matth. 10:16) Darum wurden Bibelstudienhilfsmittel manchmal an verschiedenen Plätzen versteckt: vielleicht auf einem Dachboden oder in der Kohlenkiste, unter den Bodenbrettern oder in Möbelstücken.
Bruder C. W. Miller erzählt uns folgendes: „Da unser Haus zu jener Zeit das Zentrum der Bibelforscher am Ort war, kamen die Brüder um Mitternacht mit einem Lastwagen angefahren, um die Literatur zu bringen, und wir versteckten die Bücherkartons in einem Hühnergehege, getarnt mit Rhodeländer Hühnern und Laub.“
Bruder D. D. Reusch erinnert sich an ein Vorkommnis aus jenen Tagen und schreibt: „Bei der Familie Reed waren die Bücher hinter dem Haus gestapelt, wo sie außer Sicht waren. Als die Polizei kam, stockte den Brüdern der Atem, als sie sich dem Versteck näherten. Doch gerade dann fiel eine große Schneewehe vom Dach und bedeckte diesen Bereich vollständig.“
‘DURCH VERORDNUNG UNHEIL GESCHMIEDET’
Vor Jahrhunderten stellte der Psalmist die Frage: „Wird der Thron, der Widerwärtigkeiten verursacht, mit dir verbündet sein, während er durch Verordnung Unheil schmiedet?“ (Ps. 94:20). Jehovas Diener gehorchen stets allen Gesetzen der Nationen, die mit den Gesetzen Gottes nicht im Widerspruch stehen. Wenn allerdings ein Konflikt zwischen den Forderungen sterblicher Menschen und den Gesetzen Gottes besteht, ist nichts anderes zu erwarten, als daß Christen den Standpunkt der Apostel einnehmen und „Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg. 5:29). Um ihre Tätigkeit zu unterbinden, werden bisweilen gute Gesetze mißbraucht. In anderen Fällen können die Feinde Verordnungen durchbringen, die sich zum Schaden für Gottes Volk auswirken.
Am 15. Juni 1917 verabschiedete der Kongreß der Vereinigten Staaten das Wehrpflichtgesetz. Darin wurde die Aushebung von Kriegspersonal geregelt, doch auch die Freistellung von Männern, die aus Glaubensgründen nicht am Krieg teilnehmen konnten. Viele junge Männer aus dem ganzen Land schrieben an die Watch Tower Society und fragten Richter Rutherford, was sie tun sollten. Später sagte er darüber: „Viele junge Männer im Lande fragten mich, was sie nun tun sollten. Mein Rat, den ich denen gab, die mich darum baten, lief in jedem Fall auf folgendes hinaus: ,Wenn du dich aus Gewissensgründen nicht am Krieg beteiligen kannst, dann gibt dir der Paragraph 3 des Wehrpflichtgesetzes die Möglichkeit, einen Antrag auf Freistellung zu stellen. Du solltest dich erfassen lassen und deinen Antrag auf Freistellung mit Angabe der Gründe einreichen, und dann wird der Musterungsausschuß den Antrag weiterleiten.‘ Ich habe ihnen stets nur geraten, sich das Gesetz des Kongresses zunutze zu machen. Ich habe immer darauf gedrungen, daß jeder Bürger dem Gesetz des Landes gehorchen sollte, solange dieses Gesetz nicht im Widerspruch zu Gottes Gesetz stand.“
Damals, zur Zeit des Ersten Weltkrieges, wurde eine ganz klare Verschwörung gegen Jehovas Diener deutlich sichtbar. In Philadelphia (Pennsylvanien) hielten viele Geistliche 1917 eine Konferenz ab, um diese Verschwörung voranzutreiben. Sie ernannten dort ein Komitee, das in der Landeshauptstadt Washington (D. C.) vorstellig werden und auf eine Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Spionagegesetzes dringen sollte. Das Komitee sprach beim Justizministerium vor. Auf Ersuchen der Geistlichen wurde John Lord O’Brian, ein Beamter des Ministeriums, ausgewählt, einen Zusatz zum Spionagegesetz auszuarbeiten und ihn im Senat der Vereinigten Staaten einzubringen. Dieser Zusatz sah vor, daß alle Vergehen gegen das Spionagegesetz vor Militärgerichten behandelt werden sollten und daß diejenigen, die schuldig gesprochen wurden, mit dem Tode bestraft werden sollten. Dieser Gesetzesantrag wurde jedoch nicht verabschiedet.
Während der Kongreß den Zusatz zum Spionagegesetz behandelte, wurde eine Bestimmung eingebracht, die als „France Amendment“ bekannt wurde. Dieser Gesetzeszusatz sah vor, daß jeder, der „wahrheitsgemäß mit aufrichtigen Beweggründen und mit Absichten, die zu rechtfertigen sind“, Äußerungen macht, nicht unter die Bestimmungen des Gesetzes falle.
Am 4. Mai 1918 jedoch ließ Senator Overman eine Denkschrift des Justizministers in die Kongreßprotokolle (Congressional Record, 4. Mai 1918, Seite 6052, 6053) aufnehmen. Darin wurde auszugsweise festgestellt:
„Die Ansicht des militärischen Geheimdienstes steht völlig im Gegensatz zu dem Zusatz zum Spionagegesetz, der besagt, daß Paragraph 3 Absatz I nicht auf diejenigen angewendet werden soll, die Äußerungen ,wahrheitsgemäß mit aufrichtigen Beweggründen und mit Absichten, die zu rechtfertigen sind‘, machen.
Die Erfahrung lehrt, daß ein solcher Zusatz den Wert des Gesetzes zu einem großen Teil zunichte machen und jeden Prozeß zu einer akademischen Debatte über unlösbare Fragen darüber, was nun eigentlich wahrheitsgemäß sei, machen würde. Die Beweggründe eines Menschen sind zu kompliziert, als daß man sie erörtern könnte, und der Ausdruck ,Absichten, die zu rechtfertigen sind‘ erweist sich im praktischen Gebrauch als zu dehnbar. ...
Eines der gefährlichsten Beispiele dieser Art von Propaganda ist das Buch Das vollendete Geheimnis, welches in einer extrem religiösen Sprache verfaßt wurde und in riesigen Mengen verbreitet wird. Das einzige, was dieses Buch bewirkt, ist, daß es die Soldaten dazu führt, nicht mehr an unsere Sache zu glauben, und daß es in der Heimat eine feindselige Einstellung gegenüber der Einziehung zum Wehrdienst weckt.
Die Herausgeber der Königreichs-Nachrichten in Brooklyn drucken eine Petition, die fordert, daß alle Einschränkungen, die dem Buch Das vollendete Geheimnis und ähnlichen Werken auferlegt wurden, beseitigt werden sollten, ,damit es den Menschen gestattet sei, dieses Hilfsmittel zum Bibelstudium ohne Einmischung oder Belästigung zu kaufen, zu verkaufen, zu besitzen und zu lesen‘. Der Absatz in diesem Gesetzeszusatz würde unsere Kasernen diesem zersetzenden Einfluß wieder zugänglich machen.
Die International Bible Students’ Association gibt vor, rein religiöse Motive zu haben, doch wir haben herausgefunden, daß ihrem Hauptbüro schon seit langem nachgesagt wird, daß dort deutsche Agenten ein- und ausgehen. ...
Dieser Absatz des Änderungsantrages würde die Leistungsfähigkeit Amerikas bedeutend schwächen und niemand als nur dem Feind nützen. Im Krieg zählen Ergebnisse und keine Beweggründe, weshalb das Gesetz und diejenigen, die es ausführen, darum besorgt sein sollten, wünschenswerte Ergebnisse zu erzielen und gefährliche zu vermeiden. Die Beweggründe sollten sie der Barmherzigkeit der Richter oder der Beurteilung durch die Geschichtsforscher überlassen.“
Das Ergebnis dieser Bemühungen des Justizministeriums war, daß das geänderte Spionagegesetz am 16. Mai 1918 ohne den fraglichen Zusatz verabschiedet wurde.
„WIR WISSEN, WIE WIR EUCH FASSEN KÖNNEN UND WIR WERDEN EUCH FASSEN!“
Um diese Zeit herum waren einige junge Männer, die mit den Bibelforschern verbunden waren, zum Militärdienst einberufen worden und als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen nach Camp Upton auf Long Island (New York) gebracht worden. Das Lager stand unter der Aufsicht von General James Franklin Bell. Er besuchte J. F. Rutherford in seinem Büro und versuchte, ihn zu veranlassen, daß er diesen Männern Anweisung gebe, jeglichen Dienst zu leisten, den Bell ihnen zuteilen würde, sei es in Übersee oder sonstwo. Rutherford weigerte sich, dies zu tun. Der General war beharrlich, und schließlich schrieb Rutherford einen Brief, in dem es im wesentlichen hieß: „Jeder von Euch muß selbst entscheiden, ob er sich am aktiven Militärdienst beteiligt oder nicht. Tut das, was Ihr als Eure Pflicht anseht und was in den Augen des allmächtigen Gottes recht ist.“ Bell war mit diesem Brief ganz und gar nicht zufriedengestellt.
Wenige Tage darauf besuchten J. F. Rutherford und W. E. Van Amburgh General Bell im Camp Upton. Bell erzählte Rutherford in Gegenwart seines Adjutanten und Van Amburghs von der Konferenz der Geistlichen in Philadelphia. Er erwähnte, daß sie John Lord O’Brian ausgewählt hatten, um die Angelegenheit dem Senat vorzulegen, worauf dieser einen Gesetzesantrag eingebracht hatte, nach dem alle Fälle in Verbindung mit dem Spionagegesetz vor Kriegsgerichten verhandelt werden und die Todesstrafe nach sich ziehen sollten. General Bell „zeigte sich ziemlich wütend“, sagte Rutherford, der weiter berichtete: „Vor ihm auf seinem Tisch lag ein Stapel Papiere, auf die er mit seinem Zeigefinger pochte, und in großer Erregung richtete er die Worte an mich: ,Der Gesetzentwurf ist nicht verabschiedet worden, weil Wilson es verhindert hat; aber wir wissen, wie wir euch fassen können, und wir werden euch fassen!‘ Darauf antwortete ich: ,Herr General, Sie wissen, wo Sie mich finden.‘ “
TODESSTOSS FÜR DIE „ZWEI ZEUGEN“
Von Anfang Oktober 1914 an verkündeten die gesalbten Nachfolger Christi, daß die Heidenzeiten geendet hatten und daß die Nationen sich ihrer Vernichtung in Harmagedon näherten (Luk. 21:24; Offb. 16:14-16). Die sinnbildlichen „zwei Zeugen“ verkündeten diese Trauerbotschaft den Nationen 1 260 Tage lang, während dreieinhalb Jahren (4./5. Oktober 1914 bis 26./27. März 1918). Danach führte das einem wilden Tier gleiche politische System des Teufels Krieg gegen Gottes „zwei Zeugen“ und ‘tötete’ sie schließlich, was ihr Werk des Prophezeiens — „mit Sacktuch bekleidet“ — betraf, sehr zur Erleichterung ihrer Feinde unter den Geistlichen, den Politikern, den Militärs und den Richtern (Offb. 11:3-7; 13:1). So lautete die Prophezeiung, und sie erfüllte sich. Doch wie?
Am 7. Mai 1918 gab das US-Bezirksgericht für den östlichen Bezirk der Stadt New York einen Haftbefehl zur Verhaftung einer Anzahl Diener heraus, die in verantwortlichen Stellungen der Watch Tower Society dienten. Dazu gehörten der Präsident J. F. Rutherford, der Sekretär-Kassierer W. E. Van Amburgh, Clayton J. Woodworth und George H. Fisher (die Das vollendete Geheimnis zusammengestellt hatten), F. H. Robison (Mitherausgeber des Wachtturms), A. H. Macmillan, R. J. Martin und Giovanni DeCecca.
Gleich am Tag darauf, am 8. Mai 1918, wurden diejenigen von dieser Gruppe, die im Bethel Brooklyn waren, verhaftet. Innerhalb kurzer Zeit befanden sich alle in Haft. Kurz darauf wurden sie dem Bundesgericht vorgeführt. Richter Garvin hatte den Vorsitz. Sie alle sahen sich einer Anklage gegenüber, die kurz vorher von der Anklagejury fertiggestellt worden war und in der ihnen vorgeworfen wurde:
„(1, 3) Das Vergehen der ungesetzlichen, böswilligen und willentlichen Anstiftung zur Insubordination, Untreue und Verweigerung der Dienstpflicht in den Militär- und Flottenstreitkräften der Vereinigten Staaten von Amerika, und zwar durch persönliche Aufforderungen, Briefe, öffentliche Reden und die öffentliche Verbreitung eines gewissen Buches, betitelt ,Band 7 — Schriftstudien — Das vollendete Geheimnis‘, überall in den Vereinigten Staaten von Amerika und durch die öffentliche Verbreitung gewisser Artikel, die in Druckschriften, betitelt Schriftforscher, Der Wacht-Turm, Königreichs-Nachrichten, und in anderen, nicht genannten Flugschriften erschienen sind, überall in den Vereinigten Staaten.
(2, 4) Das Vergehen der ungesetzlichen, böswilligen und willentlichen Behinderung der Aushebung und Anwerbung von Soldaten durch die Vereinigten Staaten, zu einer Zeit, als die Vereinigten Staaten sich im Kriegszustand befanden.“
Die Anklage stützte sich vor allem auf einen Absatz in dem Buch Das vollendete Geheimnis. Dieser lautete: „Nirgendwo im Neuen Testament wird der Patriotismus (ein engstirniger Haß gegen andere Völker) unterstützt. Stets und überall wird Mord in jeder Form verboten; und dennoch verlangen die Regierungen der Erde unter dem Deckmantel des Patriotismus von friedliebenden Menschen, daß sie sich selbst und ihre Lieben opfern und ihre Mitmenschen hinschlachten, wobei sie dies noch als eine Pflicht preisen, die das Gesetz des Himmels fordert.“
Die Brüder Rutherford, Van Amburgh, Macmillan und Martin sahen sich einer zweiten Anklage gegenüber. Gestützt auf die Behauptung, daß die Beamten der Gesellschaft 500 Dollar an den Leiter des Schweizer Zweiges der Gesellschaft in Zürich gesandt hatten, warf man ihnen vor, sie hätten mit dem Feind Handel getrieben. Die Gerichtsverfahren aller Brüder, die dem Richter vorgeführt worden waren, wurden unter der Bedingung aufgeschoben, daß sie für jede Anklage eine Kaution von 2 500 Dollar leisteten. Sie wurden gegen Kaution freigelassen und erschienen am 15. Mai 1918 vor Gericht. Die Verhandlung wurde auf den 3. Juni 1918 vor dem US-Bezirksgericht für den östlichen Bezirk der Stadt New York festgesetzt. Die Brüder bekannten sich in bezug auf beide Anklageschriften als „nicht schuldig“ und betrachteten sich als völlig unschuldig in bezug auf alle Anklagepunkte.
Weil Richter Garvin bei den ersten Verhören eine sehr gefühlsbetonte Haltung in dem Fall gezeigt hatte, gaben die Verteidiger eidesstattliche Erklärungen ab, in denen sie zeigten, warum sie der Ansicht waren, daß der Richter gegen sie voreingenommen war. Nach einer Weile ließ man den US-Bezirksrichter Harland B. Howe kommen, der bei dem Prozeß den Vorsitz einnehmen sollte. Wie A. H. Macmillan sagte, wußte die Regierung, daß er „ein besonderes Vorurteil zugunsten der Strafverfolgungsbehörden und gegen die Angeklagten hatte, denen vorgeworfen wurde, das Gesetz verletzt zu haben“, wovon sie jedoch nichts wußten. Macmillan sagte auch: „Aber man ließ uns nicht lange im ungewissen. Seine Feindseligkeit zeigte sich von seiner ersten Besprechung an, die er mit den Anwälten vor dem Prozeß in seinem Richterzimmer hatte. Er ließ wissen: ,Die Angeklagten werden von mir das bekommen, was ihnen zusteht.‘ Jetzt war es jedoch zu spät für unsere Anwälte, einen Antrag wegen Befangenheit des Richters zu stellen.“
Macmillan sagte, daß es in der Anklageschrift ursprünglich hieß, die Angeklagten hätten zwischen dem 6. April 1917, als die Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hatten, und dem 6. Mai 1918 mit ihrer Verschwörung begonnen. Auf Antrag gab die Regierung an, daß das Datum des angeblichen Vergehens zwischen dem 15. Juni 1917 und dem 6. Mai 1918 gelegen hätte.
VORGÄNGE IM GERICHTSSAAL
Da sich die Vereinigten Staaten im Krieg befanden, zog ein Gerichtsverfahren gegen die Bibelforscher wegen der Anklage der Aufwiegelei große Aufmerksamkeit auf sich. Wie stand die Öffentlichkeit dazu? Sie unterstützte alles, was den Krieg vorantreiben würde. Draußen vor dem Gerichtssaal spielten Kapellen, und auf dem nahe gelegenen Rathausplatz exerzierten Soldaten. Im Gerichtssaal schleppte sich der Prozeß fünfzehn Tage lang hin, wobei ein wahrer Berg von Zeugenaussagen aufgehäuft wurde. Wir wollen einmal hineingehen und den Prozeßablauf verfolgen.
A. H. Macmillan, einer der Angeklagten, vermittelt uns einen Eindruck von der Atmosphäre, denn später schrieb er: „Während des Verfahrens sagte die Regierung, wenn jemand an der Straßenecke stehen und das Vaterunser mit der Absicht aufsagen würde, andere davon abzuhalten, zum Militär zu gehen, dann könne er dafür ins Zuchthaus geschickt werden. Daraus erkennt man, wie einfach man es sich machte, Beweggründe auszulegen. Sie meinten, sie wüßten, was eine andere Person denke, und auf dieser Grundlage ging man gegen uns vor, obwohl wir bezeugten, daß wir uns nie verschworen hatten, irgend etwas zu tun, was gegen den Kriegsdienst gerichtet war, und daß wir niemanden jemals ermutigt hatten, sich dagegenzustellen. Doch es half alles nichts. Ein paar religiöse Führer der Christenheit und ihre politischen Verbündeten waren entschlossen, uns zu fassen. Die Staatsanwaltschaft war mit Richter Howes Zustimmung auf unsere Verurteilung aus und blieb bei der Meinung, daß unsere Beweggründe unwichtig seien; man solle aus unseren Handlungen auf unsere Absichten schließen. Ich wurde allein deshalb schuldig gesprochen, weil ich einen Scheck gegengezeichnet hatte, dessen Zweck man nicht erkennen konnte, und weil ich eine Erklärung unterschrieben hatte, die Bruder Rutherford bei einer Vorstandssitzung vorgelesen hatte. Doch sie konnten noch nicht einmal beweisen, daß es meine Unterschrift war. Diese Ungerechtigkeit machte es uns später in der Berufung leichter.“
Einmal wurde ein ehemaliger Beamter der Gesellschaft als Zeuge vereidigt. Nachdem er sich ein Beweisstück angesehen hatte, das zwei Unterschriften trug, sagte er, daß er eine davon als die von W. E. Van Amburgh wiedererkenne. Die Protokollniederschrift sagt an dieser Stelle:
„Frage: Ich lege Ihnen Beweisstück Nr. 31 zur Identifikation vor und bitte Sie, sich die zwei Unterschriften oder angeblichen Unterschriften von MacMillan und Va[n] Amburgh anzusehen. Ich frage Sie als erstes bezüglich der Unterschrift Van Amburghs, ob dies Ihrer Meinung nach seine Unterschrift ist. Antwort: Ich glaube, ja. Ich erkenne sie wieder.
Frage: Und Mr. MacMillans? Antwort: Mr. MacMillans ist nicht so leicht zu erkennen, aber ich glaube, es ist seine Unterschrift.“
Bruder Macmillan schrieb später, was die Angeklagten zu ihrer Verteidigung vorbrachten:
„Nachdem die Regierung ihre Darlegung beendet hatte, brachten wir unsere Verteidigung vor. Im wesentlichen wiesen wir darauf hin, daß die Gesellschaft durch und durch eine religiöse Organisation ist; daß ihre Mitglieder die Heilige Schrift als Grundlage ihres Glaubens anerkennen, so, wie sie von Charles T. Russell erklärt wurde; daß C. T. Russell während seines Lebens sechs Bände der Schriftstudien geschrieben und veröffentlicht hatte und schon im Jahre 1896 einen siebenten Band versprochen hatte, der Hesekiel und die Offenbarung behandeln würde; daß er kurz vor seinem Tode gesagt hatte, daß jemand anders den siebenten Band schreiben würde; daß kurz nach seinem Tod C. J. Woodworth und George H. Fisher vom Exekutivkomitee der Gesellschaft bevollmächtigt wurden, das Manuskript zu schreiben und zur Begutachtung einzureichen, ohne daß irgendein Versprechen in bezug auf die Veröffentlichung gemacht worden wäre; daß das Manuskript für die Offenbarung fertiggestellt worden war, bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, und daß alle Manuskripte des gesamten Buches (außer einem Kapitel über den Tempel) bereits in der Druckerei waren, bevor das Spionagegesetz erlassen wurde; daher war es gar nicht möglich, das Gesetz durch eine Verschwörung zu verletzen, wie dies behauptet wurde.
Wir sagten aus, daß wir uns zu keiner Zeit zusammengesetzt, geeinigt oder verschworen hätten, irgend etwas zu tun, was den Kriegsdienst beeinflußt oder die Kriegsbemühungen der Regierung behindert hätte, auch hätten wir niemals daran gedacht, etwas Derartiges zu tun; wir hätten nie die Absicht gehabt, uns irgendwie in den Krieg einzumischen; unser Werk sei gänzlich religiöser und überhaupt nicht politischer Natur; wir würden keine Mitglieder werben und hätten niemals jemandem dazu geraten oder irgend jemanden ermuntert, sich der Einberufung zu widersetzen; die Briefe, die geschrieben worden seien, seien an Personen gerichtet gewesen, von denen wir gewußt hätten, daß sie Gott hingegebene Christen seien, die einen rechtmäßigen Anspruch auf Rat hätten; wir sagten, daß wir nicht dagegen seien, daß das Land in den Krieg ziehe, doch als Gott hingegebene Christen könnten wir uns nicht an fleischlichen Kämpfen beteiligen.“
Aber nicht alles, was während des Prozesses gesagt und getan wurde, war offen und ehrlich. Macmillan berichtete später: „Einige Brüder, die dem Verfahren beigewohnt hatten, erzählten mir später, daß einer der Staatsanwälte auf den Gang hinausgegangen war, wo er sich flüsternd mit einigen von der Oppositionsgruppe innerhalb der Gesellschaft unterhalten hatte. Sie hatten gesagt: ,Laßt den Kerl [Macmillan] nicht laufen; er ist der schlimmste von allen. Wenn ihr ihn nicht mit den andern kriegt, dann wird er alles fortsetzen.‘ “ Man erinnere sich, daß genau zu dieser Zeit ehrgeizige Männer versuchten, die Leitung der Watch Tower Society an sich zu reißen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Rutherford später die Brüder, denen die Obhut des Bethels anvertraut worden war, warnte: „Wir sind benachrichtigt worden, daß sieben Personen, die im vergangenen Jahr der Gesellschaft und ihrem Werke Widerstand entgegengebracht hatten, bei der Verhandlung zugegen waren und unseren Anklägern Hilfe leisteten. Wir warnen Euch, liebe Brüder, vor den schlauen Bemühungen einiger von ihnen, die Euch jetzt umschmeicheln, in der Absicht, sich der Gesellschaft zu bemächtigen.“
Nach dem langen Prozeß kam schließlich der erwartete Tag der Entscheidung. Am 20. Juni 1918, gegen 17 Uhr wurde der Fall den Geschworenen übergeben. Später erinnerte sich J. F. Rutherford: „Die Geschworenen zögerten lange, bevor sie eine Entscheidung fällten. Doch schließlich ließ ihnen Richter Howe sagen, daß ihre Entscheidung ,Schuldig‘ lauten müsse, wie uns dies einer der Geschworenen später selbst sagte.“ Um 21.40 Uhr, nach über viereinhalbstündiger Beratung, kamen die Geschworenen mit ihrer Entscheidung zurück: „Schuldig.“
Das Urteil wurde am 21. Juni gefällt. Der Gerichtssaal war voll. Auf die Frage, ob sie noch irgend etwas zu sagen hätten, reagierten die Angeklagten nicht. Darauf folgte das Urteil Richter Howes. Zornig sagte er: „Die religiöse Propaganda dieser Männer ist gefährlicher als eine Division deutscher Soldaten. Sie haben nicht nur die Tätigkeit des Staatsanwalts und des Geheimdienstes der Armee in Frage gezogen, sondern auch die Geistlichkeit aller Konfessionen öffentlich bloßgestellt. Dafür sollten sie schwer bestraft werden.“
Das wurden sie auch. Sieben der Angeklagten wurden zu achtzig Jahren Zuchthaus verurteilt (je zwanzig Jahre für vier verschiedene Anklagepunkte, die gleichzeitig liefen). Die Verurteilung von Giovanni DeCecca wurde verschoben, doch er erhielt schließlich vierzig Jahre, je zehn Jahre für jeden derselben vier Anklagepunkte. Die Angeklagten sollten ihre Strafe im Bundesgefängnis von Atlanta (Georgia) verbüßen.
Der Prozeß hatte fünfzehn Tage gedauert. Man hatte umfangreiches Zeugnismaterial gesammelt, und das Verfahren war oft ungerecht gewesen. Es wurde später sogar nachgewiesen, daß die Verhandlung mehr als 125 Fehler enthalten hatte. Nur einige wenige brauchten schließlich vor dem Berufungsrichter angeführt zu werden, um zu bewirken, daß das gesamte Verfahren als parteiisch verworfen wurde.
„Ich habe mit den Brüdern die ganze Zeit gelitten, als man sie dieser ungerechten Prüfung unterzog“, erklärt James Gwin Zea, der als Zuschauer dabeigewesen war. Er fährt fort: „Ich sehe immer noch, wie der Richter Bruder Rutherford die Möglichkeit entzog, sich zu verteidigen. ,Vor diesem Gericht gilt die Bibel nicht‘, lautete sein Kommentar. Ich blieb damals über Nacht bei Bruder M. A. Howlett im Bethel, und etwa um 10 Uhr hieß es, daß sie schuldig gesprochen worden seien. Am nächsten Tag wurden sie verurteilt.“
Bruder Rutherford und die Brüder, die bei ihm waren, blieben trotz ihres ungerechten Schuldspruches und der schweren Strafe, die sie erhalten hatten, furchtlos und unerschrocken. Es ist interessant, zu lesen, was die New York Tribune vom 22. Juni 1918 berichtete: „Joseph F. Rutherford und sechs andere ,Russelliten‘, der Übertretung des Spionagegesetzes für schuldig erklärt, wurden gestern durch Richter Howe zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, die sie in der Strafanstalt Atlanta verbüßen werden. Mr. Rutherford sagte auf dem Weg vom Gerichtshof zum Gefängnis: ,Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens. Eine irdische Strafe für seine Glaubensüberzeugung zu erhalten ist eines der größten Vorrechte, die ein Mensch haben kann.‘ Eine der seltsamsten Kundgebungen, die man je erlebt hat, fand im Gebäude des Brooklyner Bundesgerichts statt, bald nachdem die Gefangenen in den Saal der Anklagejury geführt worden waren. Die Familienangehörigen und die vertrauten Freunde der als schuldig Befundenen stimmten nämlich ein Lied an, so daß das alte Gebäude von den Klängen des Liedes ,Gesegnet Band, das bind’t’ widerhallte. ,Das alles ist Gottes Wille‘, so sagten sie sich gegenseitig mit fast strahlendem Gesicht. ,Der Tag wird kommen, an dem die Welt erkennen wird, was all dies bedeutet. Inzwischen wollen wir dankbar sein für die Gnade Gottes, die uns durch unsere Prüfungen hindurch aufrechterhalten hat, und wir wollen dem großen Tag entgegensehen, der kommen wird.‘ “
Während der Fall in der Berufung schwebte, versuchten die Brüder zweimal, gegen Kaution freizukommen, wurden aber abgewiesen, zuerst von Richter Howe und später von Richter Martin T. Manton. In der Zwischenzeit hielt man sie zuerst im Gefängnis in der Raymond Street in Brooklyn fest, nach A. H. Macmillan „das schmutzigste Loch, in das ich je kam“. Clayton J. Woodworth nannte es scherzhaft das „Hotel de Raymondie“. Nach einer Woche unangenehmen Aufenthalts kamen sie eine weitere Woche in das Stadtgefängnis von Long Island. Am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, brachte man die ungerechterweise verurteilten Männer mit der Bahn zur Strafanstalt in Atlanta (Georgia).
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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 2)Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1975
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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 2)
DIE FEINDE JUBELN
Die Einkerkerung dieser christlichen Zeugen Jehovas war ein sinnbildlicher Todesstoß, der ihren Feinden Freude und Erleichterung brachte. Die Worte aus Offenbarung 11:10 hatten sich erfüllt: „Und die, die auf der Erde wohnen, freuen sich über sie und sind froh, und sie werden einander Gaben senden, weil diese zwei Propheten die, die auf der Erde wohnen, quälten.“ Die Feinde der „zwei Zeugen“ unter den Geistlichen, Richtern, Militärs und Politikern haben wirklich ‘einander Gaben gesandt’, indem sie sich gegenseitig zu dem Anteil beglückwünschten, den sie am Besiegen ihrer Peiniger gehabt hatten.
In seinem Buch Preachers Present Arms untersucht Ray H. Abrams den Prozeß gegen J. F. Rutherford und seine Mitangeklagten und bemerkt dazu:
„Eine Untersuchung des ganzen Falles führt zu dem Schluß, daß ursprünglich die Kirchen und die Geistlichen hinter dieser Maßnahme standen, um die Russelliten auszurotten. ...
Als die Herausgeber der Kirchenzeitungen davon erfuhren, daß die Angeklagten zu zwanzig Jahren verurteilt worden waren, jubelten sie praktisch alle, ob klein oder groß, über das Ereignis. Ich konnte nicht ein einziges Wort der Anteilnahme in irgendeinem orthodoxen religiösen Blatt finden. ,Es kann kein Zweifel darüber bestehen‘, schloß Upton Sinclair, daß ,die Verfolgung ... zum Teil daher kam, daß sie sich den Haß der „orthodoxen“ Religionen zugezogen haben‘. Was die Kirchen in ihren gemeinsamen Anstrengungen nicht erreichen konnten, schien jetzt die Regierung für sie erfolgreich getan zu haben — die ewige Vernichtung der ,Propheten des Baals‘.“
OPTIMISMUS TROTZ „BABYLONISCHER GEFANGENSCHAFT“
In den Jahren 607 bis 537 v. u. Z. waren die Juden im alten Babylon in Gefangenschaft. In ähnlicher Weise wurden treue Anbeter Jehovas, die mit seinem heiligen Geist gesalbt worden waren, während der Zeit des Ersten Weltkrieges, von 1914 bis 1918, in eine babylonische Gefangenschaft und ins Exil gebracht. Wie bedrückend dieser Zustand war, wurde den acht treuen Brüdern des Hauptbüros der Gesellschaft besonders bewußt, als sie ins Bundesgefängnis von Atlanta (Georgia) eingesperrt wurden.
Während dieser gesamten Zeit der Schwierigkeiten fiel jedoch nicht eine einzige Ausgabe des Wacht-Turms aus. Ein Herausgeberkomitee, das ernannt worden war, hielt die Zeitschrift in Umlauf. Auch die Einstellung, die die treuen Bibelforscher trotz der Schwierigkeiten jener Tage offenbarten, war beispielhaft. Bruder T. J. Sullivan bemerkte dazu: „Ich hatte das Vorrecht, das Bethel Brooklyn im Spätsommer des Jahres 1918 zu besuchen, während die Brüder eingekerkert waren. Die Brüder, die die Verantwortung für die Arbeit im Bethel hatten, waren in keiner Weise furchtsam oder niedergeschlagen. Es war sogar das Gegenteil der Fall. Sie waren optimistisch und zuversichtlich, daß Jehova letzten Endes seinem Volk den Sieg geben wird. Am Montagmorgen
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