Die Bewohner der Erde machen alles nur noch schlimmer
Ihre „Heilmittel“ wirken wie ein Bumerang, und sie setzen Kettenreaktionen in Gang, die Millionen Opfer fordern.
RACHEL CARSONS ergreifendes Buch Der stumme Frühling kennzeichnete einen Wendepunkt in der weltweiten Einstellung zum Umweltschutz. Ihr Buch rüttelte die Welt auf und führte ihr in aller Deutlichkeit die Gefahren der Pestizide vor Augen. Allerdings schenkten ihr nur wenige Gehör, und deshalb hat sich seither alles noch verschlimmert.
Schädlinge vernichten die Ernten. Um die Schädlinge zu töten, sprühen die Landwirte Pestizide. Die Schädlinge sterben zu Millionen, aber einige wenige besitzen eine natürliche Immunität und überleben. Diese Immunität erben dann auch ihre Nachkommen, und bald entwickelt sich ein Geschlecht von „Superschädlingen“, die über die Feldfrüchte herfallen. Das „Heilmittel“ hat wie ein Bumerang gewirkt. Eine schlimme Sache ist schlimmer geworden.
Aber zu dieser Bumerangwirkung kommt noch etwas hinzu. Kettenreaktionen sind in Gang gesetzt worden, durch die neues Unheil angerichtet wird und die Zahl der Opfer weiter steigt. Durch die Pestizide werden auch Insekten getötet, die sich von den Schädlingen ernährt haben; die Gifte werden vom Regenwasser in den Boden gespült, wo sie die Bodenbakterien schädigen, und mit dem Wasser gelangt das Gift auch in die Seen und in das Meer, wo Mikroorganismen und Plankton vernichtet und Fische verseucht werden. Raubvögel fressen die vergifteten Fische, was zur Folge hat, daß die Vögel ihre Eier nicht mehr ausbrüten können. Und der Mensch ernährt sich von den mit Pestiziden verseuchten Fischen. Aber die Gifte können auch durch eine andere Nahrungskette in den menschlichen Körper eindringen: Beim Sprühen gelangen Pestizide auf Wiesen, das Vieh frißt das Gras, die Gifte geraten in die Milch des Viehes und in sein Fleisch. Der Mensch trinkt dann die vergiftete Milch und ißt das vergiftete Fleisch.
Die Pestizide bilden nur einen geringen Teil des Verschmutzungsproblems. Wie groß es eigentlich ist, geht schon aus den Schlagzeilen in den Zeitungen hervor. Wir wollen hier nicht wiederholen, was bereits weit und breit bekanntgemacht worden ist. Doch beginnt man jetzt in gewissen Kreisen, immer deutlicher zu erkennen, daß uns große Krisen bevorstehen: der Verlust des Mutterbodens, der Verlust von Pflanzen und Tierarten und ein Mangel an Rücksichtnahme auf andere. Mit diesen Problemen wollen wir uns nun kurz befassen.
In der ganzen Welt geht Mutterboden verloren, doch wir möchten uns lediglich auf die Vereinigten Staaten konzentrieren, von denen gesagt wird, sie seien „der Brotkorb für die hungernden Massen der Welt“. Jedes Jahr gehen 1 215 000 Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Boden durch Urbanisation, Straßenbau, Städteausdehnung und andere landverzehrende Entwicklungen, die mit dem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum einhergehen, verloren. Ferner gehen jährlich über 1 620 000 Hektar durch Erosion verloren. Im Bundesstaat Illinois beträgt der jährliche Verlust 164 Millionen Tonnen — 72 Liter Erde je 36 Liter geerntetes Getreide. Vor 100 Jahren hatte der Mutterboden in Iowa durchschnittlich noch eine Stärke von über 40 Zentimetern, jetzt beträgt sie schon fast nur noch die Hälfte. Jede Sekunde trägt das Wasser des Mississippi über 13 Tonnen Mutterboden ins Meer. „Den besten Mutterboden Iowas“, sagen die Landwirte, „findet man im Golf von Mexiko.“
Und der noch vorhandene Mutterboden ist geschädigt. Gesunder Boden birgt reiches Leben: Algen, Würmer, Insekten, Bakterien, Bodenpilze, Schimmelpilze, Hefepilze, Protozoen und andere winzige Organismen. Diese riesige Gemeinschaft lebender Organismen — nach einigen Schätzungen fünf Milliarden je Kaffeelöffel Erde der gemäßigten Zone — ist für die Zersetzung organischer Stoffe verantwortlich, so daß Humus entsteht. Humus ist lebenswichtig. Er liefert die Nährstoffe für die Pflanzen und verhindert die Erosion.
Ein Experte schrieb: „Der Verlust von Mutterboden stieg zu Beginn der 1970er Jahre, als man mit der intensiven Bodennutzung begann, um 22 %.“ Die synthetischen Düngemittel ersetzen den Humus nicht. Wenn Ammoniumsulfat benutzt wird, entsteht aus dem Sulfat Schwefelsäure, die die humusbildenden Bodenorganismen tötet. Auch die Pestizide richten unter den Bodenorganismen Verheerungen an. Wird tief gepflügt, so werden die Bodenorganismen viele Zentimeter unterhalb ihres natürlichen Lebensraumes — ungefähr die oberen 7 Zentimeter des Bodens — begraben, und die losgegrabene Erde wird vom Wind und vom Wasser abgetragen. Der dem Boden zugeführte Stickstoffdünger wird nur etwa zur Hälfte von den Pflanzen aufgenommen, die andere Hälfte gelangt mit dem abfließenden Regenwasser in Wasserläufe, und diese mögen in einen See münden. Im See wird durch den Stickstoffdünger das Algenwachstum stark gefördert, und wenn die Algen absterben und verfaulen, wird dem Wasser der Sauerstoff entzogen und damit den Fischen die Existenzgrundlage, so daß sie sterben. Und der See kippt um bzw. stirbt biologisch ab.
Die Folgen des Mißbrauchs des Bodens sind weitreichend. Aber noch weitreichender ist der Verlust der pflanzlichen und tierischen Erbmasse.
Die Hochertragssorten, die man in den vergangenen 20 Jahren gezüchtet hat, stammen von Arten ab, die jahrtausendelang wild gewachsen sind. Die wildwachsenden Pflanzen besaßen eine natürliche Resistenz gegen Krankheiten und Schädlinge, doch die von Menschen geschaffenen Zuchtpflanzen, die auf geschädigtem Boden intensiv angebaut werden, müssen durch Herbizide und Insektizide geschützt werden. In vielen Fällen sind die Wildpflanzen, aus denen neue gezüchtet worden sind, ausgestorben und mit ihnen vielleicht die kostbarsten Substanzen auf der Erde, ihr Keimplasma. Ohne den „Genpool“ (Genbestand) dieser Wildpflanzen kann der Mensch, dem nun das Rohmaterial fehlt, keine neuen Pflanzenarten mehr züchten, die den neuen Problemen wie „Superschädlingen“, Pflanzenkrankheiten, verändertem Wetter und Anstieg der Bevölkerungszahl gewachsen wären.
Über 95 Prozent unserer Nahrungsbedürfnisse werden durch nur 30 Pflanzenarten und sieben Tierarten befriedigt. Es ist gefährlich, die Deckung der Nahrungsbedürfnisse von so wenigen Arten abhängig zu machen, besonders da in Monokulturen angebaut wird und auch in Anbetracht der Tatsache, daß Inzucht die Widerstandskraft gegen Schädlinge, Krankheiten und klimatische Veränderungen schwächt. Ein Beispiel für den großen Wert der Wildpflanzen ist der wahrscheinlich vom Wildkohl abstammende Gemüsekohl. Aus ihm hat der Mensch die Kulturpflanzen Brokkoli, Rosenkohl, Kohlrabi, Grünkohl, Kopfkohl oder Weißkohl und Blumenkohl gezüchtet. Man hofft auch, aus einem Verwandten eines wildwachsenden mehrjährigen Maises eine Hochertragssorte zu züchten, die man nicht wie den gewöhnlichen Mais jedes Jahr aussäen müßte, da sie mehrjährig wäre.
Wenn eine Pflanzen- oder eine Tierart ausstirbt, ist ihr Genbestand für immer verloren. Und das passiert überall auf der Erde. Innerhalb der vergangenen drei bis vier Jahrhunderte sind über 200 Tierarten ausgestorben. Über 800 sind gegenwärtig vom Aussterben bedroht. Die größte Gefahr für Tiere und Pflanzen ist der Verlust ihres Lebensraumes.
Jedes Jahr gehen fast 11 Millionen Hektar Tropenwald verloren. In den gemäßigten Zonen der Welt gibt es 1,5 Millionen verschiedene Arten von Organismen; die tropischen Wälder enthalten drei Millionen. Aus manchen könnten vielleicht neue Arzneimittel entwickelt werden, oder sie könnten der Ernährung dienen. Aber die Wälder verschwinden und mit ihnen ihr Genbestand. Wir werden nie erfahren, ob es auf den Philippinen vielleicht eine Pflanze gegeben hat, mit der man Krebs hätte heilen können, oder im Gebiet des Amazonas einen unbekannten Pilz, durch den man den Herztod hätte verhindern können. Abgesehen von einem Atomkrieg, könnte das die schlimmste vom Menschen verursachte Krise werden.
Und noch eins: Wenn in den Tropen Wälder gerodet werden, schwemmt der Regen den Mutterboden weg, der sowieso nicht sehr fruchtbar ist und auf dem man höchstens ein paar Jahre Feldfrüchte anbauen oder Vieh weiden lassen könnte. Die Landwirte und Viehzüchter ziehen dann weiter und wiederholen den Kreislauf der Vernichtung. Es ist vorausgesagt worden, daß aus dem Amazonasurwald eine Amazonaswüste werden wird. Und wenn man die Wälder abbrennt, werden große Mengen Kohlendioxyd an die Luft abgegeben. Diese ist aber bereits stark belastet durch große Mengen dieses Gases, das aus den Schornsteinen der Industriebetriebe entweicht. Seit dem Beginn der industriellen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist der Anteil des Kohlendioxyds an der Luft von 15 auf 25 Prozent gestiegen. Diese ständig wachsende Menge Kohlendioxyd könnte unser Klima verändern und die Nahrungsmittelerzeugung gefährden und damit auch unser aller Leben.
Im Jahre 1980 sagte der Umweltspezialist Norman Meyers anläßlich einer Welttagung: „Bis zum Ende unseres Jahrhunderts könnten wir von den fünf Millionen Arten von Lebewesen, die es auf der Erde gibt, ohne weiteres mindestens eine Million verloren haben. Heute verlieren wir bereits pro Tag eine Art, und bis zum Ende dieses Jahrzehnts könnten wir eine Art pro Stunde verlieren. ... Arten und tropische Wälder sind die großen Zeitbomben der nächsten 20 Jahre. Es gibt wohl kaum zwei Probleme, die für die Menschheit von größerer Bedeutung wären als diese, aber weder die Bevölkerung noch die Politiker schenken ihnen Beachtung.“
Die Politiker der Welt, sie mögen sich der Gefahren bewußt sein oder nicht, setzen andere Prioritäten. Präsident Reagan soll die Umweltgesetze als „Albatros“ am Hals der amerikanischen Industriea bezeichnet haben. Er ist bestrebt, die Zahl dieser Gesetze zu reduzieren, sie weniger energisch anzuwenden, die hohen Maßstäbe zu beseitigen und die Strafen zu verringern. Innenminister James Watt hat sich eilfertig darangemacht, Umweltgesetze zum Schutze von Pflanzen, Tieren, Luft, Wasser und Boden — ja und auch des Menschen — zurückzuziehen. Und weitere Staaten sind dabei, ihre Prioritäten anders zu setzen und die Wirtschaft als wichtiger einzustufen als die Umwelt.
Doch in dem von der UN-Unterorganisation „Umweltprogramm der UN“ (Sitz in Nairobi) jedes Jahr herausgegebenen „Bericht über den Zustand der Umwelt“ wird gesagt, daß der Schaden, der in den Industrieländern durch Verschmutzung angerichtet werde, diese Länder teurer zu stehen käme als die Maßnahmen zum Schutz der Umwelt. In dem Bericht wurde auch auf einen Trend hingewiesen: Industrien, die die Umwelt schwer belasten, werden aus den Industrieländern in die Entwicklungsländer umgesiedelt. Es heißt darin, daß die Japaner es so machen. Aber auch amerikanische Industrien, die für die Umwelt eine Gefahr sind, werden nach Mexiko, Brasilien oder in andere Entwicklungsländer umgesiedelt.
Verrät das nicht eine unerhörte Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohl des Volkes? Zeigt es nicht, daß einem seine Mitmenschen völlig egal sind, daß man nur das Geld, nicht aber seine Mitmenschen liebt, daß der Gewinn wichtiger ist als der Mensch? Ein Beispiel dafür ist die brasilianische Stadt Cubatão. Multinationale Konzerne haben die Stadt so verseucht, daß ihre vier Flüsse biologisch tot sind. Fische, die man an Stellen, wo die Flüsse ins Meer münden, gefangen hat, waren zufolge von aufgenommenem Quecksilber blind oder deformiert. Da gibt es keine Vögel, keine Schmetterlinge und keine Insekten. Wenn Regen fällt, ist es ein Säureregen. Viele Babys werden mit Mißbildungen oder tot geboren. Andere sterben im Laufe der ersten Lebenswoche. In den Industrieländern würde eine so hochgradige Verschmutzung durch die Industrie nicht mehr geduldet. „Deshalb eignet sich die Eisengießerei besser für die Länder der dritten Welt“, meinte kaltschnäuzig der Generaldirektor eines Stahlkonzerns.
Wir müssen zu den alten Werten zurückkehren. Das einzig Vernünftige ist, seinen Nächsten zu lieben. Überleben können wir nur, wenn wir die Umwelt schützen. Der Schaden aber ist leider meist schon angerichtet, bevor die Gefahr wahrgenommen wird. Und selbst wenn die Gefahr erkannt wird, fährt man fort, Schaden zu stiften. Das Netz des Lebens — die wechselseitige Abhängigkeit von Tieren und Pflanzen — ist sehr engmaschig. Gefährdet man einige wenige, werden gleich viele andere gefährdet. Zuerst betrifft es nur ein paar Schmetterlinge, dann uns. Letztlich sind alle davon betroffen.
„Ist es wirklich erforderlich“, fragte Romain Gary, „ständig zu betonen, daß der einzelne Mensch keine Insel ist? Wie oft müssen wir noch gewarnt werden? Wie viele Beweise und Statistiken sind noch erforderlich? Wie viele müssen noch sterben, wieviel Schönheit muß noch zerstört werden, wie viele Arten müssen noch — bis auf ein paar traurige Reste in den zoologischen Gärten — aussterben? ... Entweder spricht das Herz, oder es spricht nicht. ... Es ist absurd, unsere Museen mit Kunstgegenständen zu füllen und Milliarden für Schönheit auszugeben, während wir gleichzeitig die Pracht unserer Umwelt mit all ihrem vielfältigen Leben mutwillig zerstören“ (aus der Einführung zu dem Buch Vanishing Species).
Die entscheidende Frage lautet jedoch: „Was wird der Eigentümer der Erde in dieser Sache tun?“
[Fußnote]
a Anspielung auf den in dem Gedicht „Der alte Seefahrer“ von S. T. Coleridge vorkommenden Albatros, den ein Seemann erschoß und der ihm dann zur Strafe um den Hals gehängt wurde.
[Herausgestellter Text auf Seite 6]
„Den besten Mutterboden Iowas findet man im Golf von Mexiko.“
[Herausgestellter Text auf Seite 9]
Jedes Jahr gehen fast 11 Millionen Hektar Tropenwald verloren.
[Bilder auf Seite 7]
Vom Gemüsekohl stammen:
Brokkoli
Rosenkohl
Kohlrabi
Grünkohl
Kopfkohl
Blumenkohl