Singen war mein ganzes Leben
ICH war glücklich, hatte aber nicht geringes Lampenfieber. Die Stunde für mein Konzert in einer Nationalgalerie in einer Stadt Osteuropas war gekommen. Alle Künstler haben vor dem Auftreten Lampenfieber, selbst wenn sie schon viele Jahre Erfahrung haben. Auch mir war diese nervöse Unruhe nichts Neues. Warum fieberte ich denn so, war aber gleichzeitig auch sehr glücklich? Zum erstenmal sollte mich mein Sohn, ein vorzüglicher Pianist, begleiten. Und wir waren entschlossen, unser Bestes zu geben.
Der Augenblick kam, wo wir die Bühne betraten. Ein Leiter der Galerie stellte uns, meinen Sohn und mich, dem Publikum vor. Hinter dem Rampenlicht konnte ich deutlich die Gesichter der Zuhörer in dem hell erleuchteten Saal sehen. Unter ihnen saßen Professoren, die mit der Leitung der Galerie betraut waren, sowie viele Musikkenner. Außerdem verstanden meine Zuhörer Deutsch, die Sprache, in der ich sang. Sie konnten also Text und Melodie verfolgen. Alle schenkten uns ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Ich begann mit Liedern von Brahms, dann sang ich einige von Schubert und Mozart. Unsere gemeinsame Darbietung war wie aus einem Guß. Nach wenigen Minuten verschwand die Nervosität, und ich spürte, daß ich Kontakt zur Zuhörerschaft gewonnen hatte. Nach jedem Lied spendete sie begeistert Beifall. Am Schluß des Konzerts erzwang sie sich durch ihren stürmischen Applaus Zugaben. Und nachher kamen viele hinter die Bühne und gratulierten uns.
Jenes Konzert liegt zehn Jahre zurück, doch es bildet einen Höhepunkt in meiner fünfzehnjährigen Laufbahn als Sängerin. Gern denke ich auch an ein Konzert zurück, das im Juli 1971 in Washington (D. C.) stattfand. Wie bei anderen Konzerten, so stellte ich auch bei diesem fest, daß sich die Musikliebhaber an der Musik und der Fähigkeit des Sängers, die Lieder richtig zu gestalten, begeistern, selbst wenn sie die Textworte nicht verstehen, weil ihnen die Sprache, in der gesungen wird, fremd ist.
Als lyrischer Sopran bin ich auf Lieder von Klassikern und auf Arien aus leichten Opern spezialisiert. Diese Stücke stellen hohe Anforderungen sowohl an die Stimme als an das gesangstechnische Können, was eine jahrelange Ausbildung notwendig macht. Das Singen war jedoch mein ganzes Leben. Es beglückte mich und bereitete mir Freude.
Meine ersten Lebensjahre habe ich in Süddeutschland, in der Nähe der französischen Grenze, verbracht. Soweit ich zurückdenken kann, habe ich stets gern gesungen. Ich habe gesungen und gesungen. Meine Mutter erkannte, daß ich talentiert war, und förderte mich, aber auch meine Freunde taten das. Mit zwölf Jahren sang ich im Schülerchor und im Kirchenchor. Ferner begeisterte es mich immer, bei Schulfeiern und Weihnachtsspielen mitsingen zu dürfen.
Werdegang
Meine erste Lehrerin war Madame Mischkin von der Pariser Oper. Von 1946 an fuhr ich anderthalb Jahre lang jede Woche nach Straßburg, um bei ihr Unterricht zu nehmen. Für uns Schüler gab es viel Neues zu lernen. Das wichtigste war richtiges Atmen. Wir mußten uns in der Zwerchfellatmung üben, denn dadurch vermag man den Luftvorrat so zu beherrschen, daß man ihn möglichst gut für die Tonbildung ausnutzen kann.
Madame Mischkin machte uns darauf aufmerksam, daß bei einem Hund, der auf der Straße dahintrottet, die Atmung vorzüglich mit den Bewegungen harmoniert, weil bei ihm die Zwerchfellatmung natürlich ist. Für uns war es schwierig, diese Atmung zu erlernen. Manchmal glaubten wir, sie zu beherrschen, doch dann merkten wir, daß wir uns zu früh gefreut hatten. Wenn man die Atembeherrschung meistert, kann man alles singen, auch Staccato, bei dem die Töne nicht gebunden, sondern deutlich voneinander getrennt gesungen werden. Bis man die gesangliche Technik erlernt hat, dauert es zwei bis drei Jahre.
Viele Unterrichtsstunden verwandten wir auf das Singen mit Klavierbegleitung, um die Benutzung der „Kopfstimme“ zu üben. Eigentlich ist das die normale Stimme, nur scheint sie vom Hinterkopf oder aus der Nase und nicht aus dem Mund zu kommen, da sie ohne Vibrieren des Brustkorbs zustande kommt. Die richtig geschulte Kopfstimme ist so tragfähig, daß sie in großen Konzertsälen und Opernhäusern ohne Verstärker bequem zu hören ist. Nach einiger Zeit durften wir den Gästen Madame Mischkins, die sie zu sich nach Hause eingeladen hatte, Gesangstücke vortragen. Dadurch erlangten wir eine gewisse Erfahrung und Selbstvertrauen.
Ferner mußten wir in allen Stellungen singen lernen: stehend, sitzend, knieend, ja sogar auf dem Bauch liegend. In einer Oper singt die sterbende Heldin ihre Schlußarie am Boden liegend.
Im Jahre 1948 begann ich, bei Professor Salvatore Salvati am Konservatorium in Mannheim Unterricht zu nehmen. Das war Unterricht für Fortgeschrittene. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Entwicklung des Tonstärken- und Gehörsinns geschenkt. Das spielt für die Gesangskunst eine wichtige Rolle. Da ich musikalisch war, hatte ich keine Mühe, mir die Melodien einzuprägen. Mehr Mühe kostete es mich, die Texte zu lernen.
In den anderthalb Jahren, in denen ich bei Professor Salvati Unterricht nahm, kam ich gut voran. Um meine Gesangstechnik zu verbessern und meine Publikumsscheu zu überwinden, sang ich häufig in der Schulaula vor Freunden und Mitschülern. Dann begann ich, öffentlich aufzutreten.
Im Jahre 1951 heiratete ich. Auch mein Mann liebte die Musik und hielt mich für begabt. Daher ermunterte er mich, weiterzumachen und Sängerin zu werden. Mir lag viel daran, dieses Ziel zu erreichen. Daher setzte ich meine Gesangsausbildung fort, um meine Naturstimme zu einer leistungsfähigen Singstimme zu entwickeln.
Das Ziel erreicht
Professor Hans Emge, der in Köln, Düsseldorf und Karlsruhe unterrichtete, war mein nächster Lehrer. Er half mir, mein Ziel zu erreichen. Er lehrte mich, während des Singens auf meine Stimme zu hören und sie zu analysieren. Ich lernte, forte und pianissimo — ganz laut und ganz leise — zu singen.
Einem geübten Sänger fällt es nicht schwer, forte zu singen, aber pianissimo zu singen ist sehr schwierig. Obschon er ganz leise singt, muß die Resonanz so groß sein, daß er im ganzen Saal zu hören ist. Um das zu erreichen, waren immer kompliziertere und schwierigere Übungen erforderlich.
Von allen Gesangstücken waren die von Mozart am anspruchsvollsten. Wer Stücke von Mozart meistert, hat das Höchste, was es in der Gesangskunst gibt, erreicht. Eine Zeitlang glaubte ich, es nie zu schaffen. Aber ich ließ nicht locker. Selbst wenn es mir nicht möglich war, bei Professor Emge persönlich zum Unterricht zu erscheinen, schickte ich ihm besungene Tonbänder zu und bat ihn um seine Begutachtung und um Verbesserungsvorschläge. Nach etwa sechs Jahren erhielt ich schließlich mein Diplom.
Dann ging ich in ein Land in Osteuropa und studierte weitere drei Jahre. Meine Stimmbeherrschung und allgemeine Gesangstechnik erhielt dabei den letzten Schliff. Ein sehr begabter rumänischer Komponist ließ mich äußerst schwierige dramatische Stücke singen, um das Letzte aus meiner Stimme herauszuholen. Ich war immer ein lyrischer Sopran gewesen, aber jetzt entwickelte ich mich zu einem dramatischen Sopran. Ich mußte dramatische Arien wie die der Gräfin aus Figaros Hochzeit und Werke von Verdi singen. Diese Stücke mußte ich so lange singen, bis der Professor zufrieden war. Schließlich bestand ich die Prüfung als lyrischer und dramatischer Sopran und erhielt ein Zeugnis, das mich berechtigte, als Gesangspädagogin tätig zu sein.
Meine Laufbahn als Sängerin
In den Jahren, in denen ich mich in der Ausbildung befand, und auch später, als ich als Sängerin auftrat, mußten wir wegen der Arbeit meines Mannes mehrmals von einem Land in ein anderes umziehen. Selten blieben wir mehr als drei Jahre in einem Land. Ich schloß keine Verträge für eine längere Zeit, auch nicht mit einem Opernhaus, sondern konzentrierte mich auf Konzerte, in denen ich gewöhnlich als Solosängerin auftrat. Da ich nicht daran interessiert war, reich zu werden, unterstützte ich mit dem Erlös der Konzerte meist einen guten Zweck. Die Eintrittsgelder erhielt irgendeine wohltätige Organisation. Es befriedigte mich, in dieser Weise Gutes zu tun.
Obschon ich protestantisch war, interessierte ich mich fast gar nicht für die Kirche oder überhaupt für Religion. Ich wußte nur ganz wenig über die Bibel, aber dank meiner Mutter und der Musik hatte ich dennoch eine gewisse Beziehung zu Gott. Die Musikstücke, auf die ich mich spezialisiert hatte, stammten von tief religiösen Komponisten. Durch ihre Stücke wußte ich, daß der Name Gottes Jehova ist. Franz Schubert zum Beispiel komponierte ein Lied, betitelt „Jehova ist groß“. Auch Schumann verwendete den Namen Jehova in „Belsazar“ und ebenso Stradella in „Pietà, Signore!“ Ich sang diese Lieder, und deshalb wußte ich wenigstens das über Gott.
Mir ging es gut, doch beunruhigte es mich — besonders als wir in Afrika lebten —, daß so viele andere Menschen ein kümmerliches Leben fristeten. Aber noch etwas beunruhigte mich. Es erschien mir einfach nicht richtig, daß unser Leben hier auf der Erde mit dem Tod für immer enden sollte. Ich lebte so glücklich mit meinen Freunden und Angehörigen, daß ich es als Ungerechtigkeit empfand, nach so kurzer Zeit durch den Tod von ihnen getrennt zu werden.
Ich lerne ein besseres Leben kennen
Obschon ich in Deutschland von Jehovas Zeugen gehört hatte, wußte ich sehr wenig über sie. Doch als wir auf Ceylon (jetzt Sri Lanka) lebten, wurden wir im Jahre 1960 eines Tages von zwei Zeugen Jehovas besucht. Das, was sie mir sagten, gefiel mir; allerdings hatte ich damals noch Mühe, Englisch zu verstehen. Sie erklärten mir, daß die Menschen die Aussicht hätten, wieder auf der Erde zu leben, auch wenn sie sterben müßten, denn es sei der unabänderliche Wille Gottes, daß die Menschen ewig in einem irdischen Paradies lebten.
Dieser Gedanke begeisterte mich. Es erschien mir so einleuchtend, daß Jehova die Erde von gerechten Menschen bewohnen lassen will. Denn lesen wir nicht in der Bibel, daß Gott die ersten beiden Menschen vollkommen erschuf und sie in ein irdisches Paradies setzte? Wie glücklich war ich, als die Zeugen mir sagten, daß wieder ein solches Paradies erstehen würde. Sie bewiesen es mir, indem sie mir die Verse 3 und 4 aus dem 21. Kapitel der Offenbarung vorlasen. Sie lauten:
„Dann hörte ich eine laute Stimme vom Throne her sagen: ,Siehe! Das Zelt Gottes ist bei den Menschen, und er wird bei ihnen weilen, und sie werden seine Völker sein. Und Gott selbst wird bei ihnen sein. Und er wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch wird Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz mehr sein. Die früheren Dinge sind vergangen.‘“
Diese Worte lassen bestimmt keinen Zweifel offen. Sie zeigen, daß Krankheit und Tod auf unserer Erde, wo Ströme von Tränen vergossen wurden, weil liebe Angehörige aufs Krankenlager geworfen wurden oder starben, verschwinden werden. Es beglückte mich zu erfahren, daß die Bibel ewiges Leben auf der Erde verheißt. So wird zum Beispiel in Psalm 37:29 gesagt: „Die Gerechten selbst werden die Erde besitzen, und sie werden immerdar darauf wohnen.“ Mit der Zeit wurde meine Hoffnung, daß ich zu denen gehören könnte, die ewig auf einer paradiesischen Erde leben dürfen, immer fester.
Für Gottes neues System leben
Joyce, die Zeugin Jehovas, die uns besucht hatte, begann ein Bibelstudium mit mir anhand des Buches Vom verlorenen Paradies zum wiedererlangten Paradies. Als Joyce merkte, daß sich auch mein Mann dafür interessierte, brachte sie ihren Mann mit. Wir beide, mein Mann und ich, staunten über den Eifer und die Aufrichtigkeit dieser Zeugen. Sie kamen jeweils auf einem Leichtmotorrad und ließen sich auch von dem strömenden Regen während der Monsunzeit nicht abhalten. Wir machten durch unsere Studien gewisse Fortschritte, aber dann mußten wir Sri Lanka verlassen, weil mein Mann nach Norwegen versetzt wurde.
In Norwegen suchte ich im Telefonbuch nach Jehovas Zeugen. Aber uns fehlten wiederum die nötigen Sprachkenntnisse. Daher belegten wir einen dreimonatigen Kursus an der Universität, um Norwegisch lesen und sprechen zu lernen. Wir machten die Bekanntschaft eines sehr netten Ehepaars — Zeugen Jehovas —, das mich abholte und zu den Zusammenkünften mitnahm, manchmal bei einer Temperatur von mehr als 34 ° unter Null. Mein Mann ging nicht mit, weil er ganz in seiner Arbeit aufging, ja er versuchte sogar, mich abzuhalten.
Allmählich beeinflußte mich seine Einstellung. Auch begann mich mein Beruf über Gebühr zu fesseln. Die Reisen in die verschiedenen Länder und die Konzerte in Welthauptstädten — zum Beispiel in Washington, Addis Abeba, Colombo und Oslo — waren für mich immer wieder faszinierende Erlebnisse. Während einer ganzen Reihe von Jahren hatte ich deshalb wenig Kontakt mit Jehovas Zeugen. Aber der Gedanke, daß die Bibel ein besseres Leben in Gottes neuem System der Dinge verheißt, haftete in meinem Gedächtnis.
Im Jahre 1970 siedelten wir schließlich in die Vereinigten Staaten über. Dort schloß ich mit einer Frau Freundschaft, die fließend Deutsch sprach. Zu jener Zeit vereinbarte sie mit Jehovas Zeugen ein Bibelstudium, und ich beteiligte mich ebenfalls daran. Auch begann ich, die Zusammenkünfte der Zeugen in Kensington (Maryland) zu besuchen.
Ich kam nun zu der Erkenntnis, etwas tun zu müssen, wenn ich in Gottes neuem System leben wollte: Ich mußte in erster Linie Gott dienen und mein Interesse am Singen diesem Dienst unterordnen. Das tat ich auch. Ferner gaben mir die christlichen Ältesten bei der Auswahl der Lieder für künftige Konzerte guten Rat. Ich sang keine Lieder mehr, die Lehren der falschen Religion enthielten oder die nationalistisch waren. Im Februar 1973 ließ ich mich taufen, um meine Hingabe an Jehova Gott und meinen Wunsch, ihm zu dienen, zu symbolisieren.
Im Juni 1973 zogen wir, mein Mann und ich, nach Trinidad. Dort diene ich Jehova im Verein mit fast 3 000 weiteren seiner christlichen Zeugen. Ich habe volles Vertrauen zu seinen Verheißungen und freue mich darauf, ihm auch in Zukunft, ja für immer, dienen zu dürfen. Außerdem ist es mein sehnlicher Wunsch, daß mein Mann und mein Sohn mit der Zeit die biblische Wahrheit ebenfalls so schätzenlernen, daß auch sie sich unserem liebevollen Schöpfer hingeben und beginnen, ihm zu dienen. (Eingesandt.)