Ein Blick in Großstadtschulen
Kinder verbringen viele Stunden am Tag in der Schule. Der Einfluß der Schule kann folgenschwer sein. Doch viele Eltern haben nur eine vage Vorstellung von dem, was in den Schulen vor sich geht. Erwachet! umreißt daher, beginnend mit den USA, die Verhältnisse an den Schulen in vier verschiedenen Ländern.
IM April 1983 wurde ein mit staatlicher Unterstützung erstellter Bericht veröffentlicht, der Eltern und Lehrer gleicherweise alarmierte. Sein unheilverkündender Titel lautete: Eine Nation in Gefahr. In dem von angesehenen Experten verfaßten Bericht heißt es einleitend: „Unserer Nation droht Gefahr ... Die Fundamente unseres Bildungswesens werden gegenwärtig von einer steigenden Flut der Mittelmäßigkeit unterspült, so daß unsere Zukunft als Nation und als Volk bedroht ist.“ Der Beweis:
◼ „Gemessen an den einfachsten Anforderungen, die der Alltag an die Schreib- und Lesefähigkeit sowie an das Begriffsvermögen stellt, sind 23 Millionen erwachsene Amerikaner praktisch Analphabeten.“
◼ „In den Vereinigten Staaten können ungefähr 13 Prozent aller 17jährigen sozusagen als Analphabeten betrachtet werden.“
◼ „Das durchschnittliche Bildungsniveau der Schüler, die die High-School besuchen, ist, wie die meisten standardisierten Tests ergeben, heute niedriger als vor 26 Jahren.“
Dieser Bericht gab Anlaß, die Schulen in den USA einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Die Probleme des Bildungswesens in den USA treten aber vielleicht nirgendwo so deutlich zutage wie in den Schulen der Großstädte. Dort haben die Schulen unter dem verhängnisvollen Zusammentreffen schrumpfender Etats und überbelegter Klassenräume zu leiden. Niedrige Gehälter, Gewalttätigkeit in den Klassenzimmern und überaus hohe Abwesenheitsziffern entmutigen und vertreiben sogar viele fähige Lehrkräfte. Als Reaktion darauf schicken einige Eltern ihre Kinder in Privat- oder in Vorstadtschulen.a
Das Bild, das Bücher und Zeitungsartikel über diese Probleme in Großstädten vermitteln, ist allerdings nicht vollständig. Daher beschloß ein Erwachet!-Reporter, sich die Verhältnisse zusammen mit einem Bekannten, der in der Schulaufsicht tätig ist, in einigen Schulen, also direkt am Ort des Geschehens, anzusehen. Er berichtet folgendes:
Ein Überblick über die Verhältnisse in den Schulen
„Wir befinden uns auf dem Gelände einer der größten Grundschulen der Stadt. Dutzende den Unterricht schwänzende Kinder ‚hängen‘ trotzig auf dem Schulhof ‚herum‘. ‚Man kann es sich nicht leisten, genügend Aufsichtspersonal einzustellen, um die Kinder einzusammeln‘, erklärt mein Begleiter.
Das Schulgebäude weist alle Anzeichen des für die Stadt charakteristischen Verfalls auf. Wir melden uns im Büro des Direktors, wo wir einen ohrenbetäubenden Lärm — Stimmengewirr, klappernde Schreibmaschinen und klingelnde Telefone — übertönen müssen. Der Direktor macht einen müden, abgespannten Eindruck, und es ist erst 10 Uhr vormittags. Er ist entgegenkommend, und schon sind wir auf dem Weg zu unserem ersten Klassenzimmer.
Vor der Klasse steht ein dynamischer junger Mann, der beweist, was ein guter Lehrer erreichen kann. ‚Worüber würdet ihr heute gern etwas lernen?‘ fragt er die Schüler. ‚Etwas über ein Tier, das die Zunge in der Nase hat, oder über einen Baum in Florida, der spazierengeht, oder über einen Vogel, der nicht fliegen kann?‘ Die Schüler entscheiden sich für das erste, für den Ameisenbären. Voller Spannung schlagen sie ihre Lesebücher auf, um wie üblich Lesen zu üben. Der Lehrer hat sie jedoch so weit gebracht, daß sie lernen wollen.
Städtische Schulen sind kontrastreiche Studienobjekte. Nun besuchen wir eine Schule, in der, wenngleich sie alt ist, alles peinlich sauber und ordentlich aussieht. Kein Schüler hält sich außerhalb des Schulgebäudes auf. Auf den Fluren ist es leise. ‚Diese Schule hat einen guten Direktor‘, erklärt mein Begleiter.
Bedauerlicherweise haben selbst fähige Schulleiter mit enormen Problemen zu kämpfen. Die Bürokratie sorgt dafür, daß die Lehrer mit Formalitäten schriftlicher Natur beschäftigt sind anstatt mit dem Unterricht. Da gibt es Gesetze, die die Schuldisziplin behindern, Lehrer, die um ihr emotionelles oder buchstäbliches Überleben bangen, und Schüler, die nicht lernen wollen, aber Diplome verlangen. Gelder, die eigentlich für Bücher und Ausrüstungsgegenstände bestimmt sind, müssen für die unermeßlich hohen Schäden ausgegeben werden, die durch Vandalismus entstanden sind. Man wundert sich, daß es den städtischen Schulen noch so gut geht.“
Erfreulicherweise gab die Carnegie-Stiftung für Unterrichtsförderung bekannt: „Wir glauben ..., daß sich das amerikanische Bildungswesen auf dem Wege der Besserung befindet.“ Um allerdings herauszufinden, wie es um die Schule deiner eigenen Kinder bestellt ist, gibt es nur ein Mittel: Sieh sie dir selbst einmal an.
[Fußnote]
a Die Zahl der Schüler von Privatschulen hat sich seit 1955 um 60 Prozent erhöht.
[Herausgestellter Text auf Seite 4]
„Die Fundamente unseres Bildungswesens werden gegenwärtig von einer steigenden Flut der Mittelmäßigkeit unterspült“ (Eine Nation in Gefahr)
[Kasten auf Seite 3]
Schulprobleme in den USA
„An die Stelle des herkömmlichen, strengen Unterrichts ist etwas getreten, was sich am besten mit dem Ausdruck ‚schulische Unterhaltung‘ beschreiben läßt“ (The Literacy Hoax von Paul Copperman).
„Das Drogenproblem dringt in alle Bereiche vor ... Die Verbrechen haben von der Straße auf die Schulen übergegriffen“ (Professor Lewis Ciminillo, Staatsuniversität von Indiana).
„Mit dem großen Anstieg der Zahl der Kinder, die aus zerrütteten Familien stammen oder in Armut leben, hat sich der Bevölkerungsteil unserer Nation, der sich in der Schulausbildung befindet, in den vergangenen 15 Jahren radikal gewandelt“ (The Express, Easton, Pennsylvanien, USA).
„Die Qualifikation der Lehrer ist in alarmierendem Maße gesunken“ (U.S. News & World Report).
„Die Schuldisziplin, einschließlich Problemen wie unentschuldigtes Fernbleiben und Drogengenuß, ist die dringendste Frage, vor der der Schulausschuß von Denver steht“ (Rocky Mountain News).
„Unter Schülern ist das Tragen von Messern und Schußwaffen weit verbreitet, und 100 Schüler unterzeichneten eine Bittschrift, in der sie die Installation eines Metalldetektors an der Tür verlangten“ (The New York Times).