Fußballfieber!
Vom „Awake!“-Korrespondenten in der Bundesrepublik Deutschland
JUNI 1978! Auf diesen Monat haben Millionen Fußballfans fieberhaft gewartet. Vom 1. bis 25. des Monats werden alle Augen auf Argentinien gerichtet sein, wo 38 Spiele ausgetragen werden, um zu entscheiden, wer Weltmeister im Fußball wird. Besonders gefiebert wird in der Bundesrepublik Deutschland, deren Nationalmannschaft ihren 1974 errungenen Meisterschaftstitel erfolgreich verteidigen möchte.
Fußball nimmt ständig an Beliebtheit zu, sogar in Ländern wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo seine Popularität bis jetzt nicht so groß war wie in vielen anderen Ländern. Weltbekannte Fußballspieler wie Pelé aus Brasilien und „Kaiser Franz“ Beckenbauer, Kapitän der siegreichen deutschen Mannschaft von 1974, haben in letzter Zeit in den USA gespielt und mögen dadurch zum Teil dazu beigetragen haben.
Wie erklärt man aber die Beliebtheit einer Sportart, die bei Meisterschaftsspielen ein Viertel der Weltbevölkerung zu fesseln vermag? Der Spielablauf ist zum Beispiel ziemlich leicht zu verstehen. Außerdem wird oft sehr schnell gespielt. Elegante Pässe sowie unerwartete und sehr plötzlich fallende Tore verwandeln Fußball in ein Spiel, das nicht nur Spieler, sondern auch Zuschauer in fieberhafte Erregung versetzen kann. Auch das Fernsehen hat zu seiner Popularität beigetragen. Im Wohnzimmer hat der Fußball neue Liebhaber gefunden. Das mag die Faszination des Fußballs zum Teil erklären, obwohl es eine völlig befriedigende Erklärung sicherlich nicht geben wird, denn Fußball ist eben ein „Fieber“. Und wer kann jedes Fieber erklären?
WM 78
Der Internationale Fußballverband (FIFA) wurde im Jahre 1904 gegründet, um das Fußballspielen auf internationaler Ebene zu fördern. Da die meisten Fußballänder der Welt inzwischen Mitglieder dieses Verbandes geworden sind, werden alle vier Jahre Weltmeisterschaftsspiele ausgetragen. Die ersten fanden 1930 in Uruguay statt. Jetzt beginnen die 1978er Spiele. „Beginnen“ ist sicherlich nicht der richtige Ausdruck dafür, denn für die meisten Nationalmannschaften sind die Spiele schon längst vorbei. In den letzten zwei Jahren fanden 248 Qualifikationsspiele zwischen 95 Teams statt, wodurch die 16 Nationalmannschaften ermittelt wurden, die sich in Argentinien jetzt gegenüberstehen (die Bundesrepublik als Titelverteidiger und Argentinien als Gastgeber haben sich nicht qualifizieren müssen): aus Südamerika drei, aus Asien, Afrika und Nordamerika je eine und aus Europa, der Hochburg des Fußballs, zehn. Allerdings ist England, Vaterland des Fußballs, dieses Mal nicht dabei.
Argentinien hat über 900 Millionen DM zur Finanzierung der Spiele bereitgestellt. Ein Teil davon ist für Sicherheitsvorkehrungen bestimmt, denn die Regierung möchte auf jeden Fall verhindern — und sie hofft, es wird ihr auch gelingen —, daß Terroristen sich vor einem weltweiten Publikum Gehör verschaffen.
Zehntausende von Touristen werden erwartet, darunter Fans aus Schottland, die vor einigen Monaten bekanntgaben, daß sie vorhatten, buchstäblich ins Wasser zu gehen, um dabeizusein, denn sie wollten im U-Boot nach Argentinien. Zu der Frage: „Warum in einem U-Boot?“ meinte der Veranstalter: „Warum eigentlich nicht?“ Mindestens 150 Fans teilten seine Meinung und erklärten sich bereit, je 2 500 DM für die Reise auszugeben.
Billiger wird es für die Fans sein, die zu Hause bleiben und die Spiele im Fernsehen verfolgen. In der Bundesrepublik werden an jedem der 12 Spieltage zwei oder drei Spiele direkt übertragen; die übrigen werden aufgezeichnet und später gesendet. Man erinnere sich an das Jahr 1974, als es in einer Zeitschrift hieß: „Harte Wochen stehen Fußball-Feinden bevor: Während der Weltmeisterschaft sendet das bundesdeutsche Fernsehen 92 Stunden Fußball.“ Kein Wunder, daß Fußballfans — wie auch -feinde — gefiebert haben!
Ein Spiel, ein Geschäft, eine Religion oder was?
Besonders seit der Einführung des Profifußballs hat es immer mehr Bestechungsaffären und Skandale gegeben. Auch Ausschreitungen unter randalierenden Zuschauern, wie von religiösem Wahn besessen, haben zugenommen. Deshalb sind die Fragen berechtigt: Ist Fußball immer noch ein Spiel, oder ist daraus inzwischen hauptsächlich nur ein Geschäft oder möglicherweise eine Ersatzreligion geworden? Liegt seine Existenzberechtigung nur darin, als Ventil für aufgestaute Aggressionen zu dienen?
Man kann die Tatsache nur schwer verleugnen, daß in vielen Teilen der Erde mit Fußball Geschäft getrieben wird. Gute Spieler verlangen „sagenhafte Gehälter“, die sie, zum Teil von den Zuschauern bezahlt, auch erhalten. Für ihr Geld verlangen die Zuschauer verständlicherweise Siege, und wenn sie ausbleiben, sind die Fans verstimmt. Diese Verstimmung kann sich schnell in eine Zerstörungswut verwandeln, die, wenn sie außer Kontrolle gerät, sogar zu Gewalttätigkeit führen kann. Deshalb werden die Zuschauer in deutschen Stadien von der Polizei durch Fernrohre oder mittels Fernsehkameras überwacht. Um die Gefahr von Verletzungen abzuwenden, ist das Mitbringen von Flaschen ins Stadion verboten. Kein Wunder, daß die Frankfurter Allgemeine Zeitung von Fußballfanatikern sprach, die „die Vernunft ... offensichtlich an den Stadioneingängen“ zurücklassen. Obwohl sie vermutlich nicht einmal mehr als fünf Prozent der Zuschauer ausmachen, ist die Zahl trotzdem groß genug, um die Freude vieler Zuschauer zu trüben.
In einem Artikel über das Endspiel der WM 74 deutete Der Spiegel auf die fast religiöse Anziehungskraft des Fußballs hin: „Wenigstens eine Milliarde Menschen — von Santiago bis Sofia, von Helsinki bis Hobart — erwarten die TV-Planer zum Endspiel ... vor den Bildschirmen. Das sind mehr, als sich je zur Gebetsstunde der Mohammedaner nach Mekka ausgerichtet haben. Nicht einmal zu Weihnachten vermögen alle christlichen Kirchen zusammen so viele Gläubige vor ihren Altären zu versammeln.“
Wenn Nationalmannschaften gegeneinander spielen, werden patriotische Gefühle wach. „Mehr noch als Olympische Spiele versetzen Fußballmeisterschaften ganze Völker und Erdteile in fiebrige, manchmal chauvinistisch ausartende Spannung.“ So hieß es in diesem Artikel weiter.
Patriotische Gefühle, von religiösem Eifer angefeuert, können gefährlich sein, nicht nur in der Politik, sondern auch beim Sport. Sie können sogar tödlich sein! Als Beispiel dient ein 1964 ausgetragenes Spiel zwischen Peru und Argentinien. Ein Tor wurde nicht anerkannt; ein Tumult erhob sich, und 328 Personen wurden auf den Zementstufen des Stadions totgetrampelt.
„Fußball ist eine Art von Krieg. Jeder muß kämpfen, um zu gewinnen“, gab Johan Cruyff, der 1974 Kapitän der holländischen Mannschaft war, zu. Mordechai Spiegler, israelischer Torwart, sagte, seine Mannschaft habe „die Sturmmethoden der Armee übernommen“. Anläßlich der Qualifikationsspiele für die WM 70 brach im Sommer 1969 zwischen Honduras und El Salvador ein wirklicher „Fußballkrieg“ aus. Das Militär wurde eingesetzt, und es gab etliche Tote. Die Beziehungen zwischen den beiden Regierungen waren wochenlang gestört.
Du magst fragen — und dies zu Recht —, was das alles mit Sport zu tun habe. Vielleicht stimmst du dem zu, was in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand: „Natürlich gibt es Wichtigeres im Leben als das Spiel mit der Lederkugel.“ Trotz dieser Tatsache stellte der Artikel aber fest: „Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß kaum ein Thema die Menschen hierzulande ähnlich stark bewegt. Fußball gehört zum Alltag.“
Zwei ehemalige Fußballer, die wohl qualifiziert sind, um über dieses Thema zu sprechen, erzählen, wie sie zu der Überzeugung kamen, daß es tatsächlich „Wichtigeres im Leben“ gibt als Fußball.
Vom Fußballfieber geheilt
„Für mich war Fußball die größte Leidenschaft. Meine Gedanken als kleiner Junge drehten sich fast ausschließlich um das runde Leder und um die großen Spieler, die den Ball so großartig zu spielen verstanden. In meiner Freizeit gab es immer nur eine nennenswerte Beschäftigung: Fußball auf einer Wiese, auf der Straße, auf dem Hinterhof, in der Wohnung, überall, wo immer sich eine Gelegenheit bot. Als 17jähriger durfte ich zum ersten Mal in der ersten Garnitur der Seniorenmannschaft spielen. Durch gute Leistungen erspielte ich mir darin sogar einen festen Platz. Später wollte ich bei einem besseren Team spielen, was mir auch gelang, als ich zur Mannschaft meiner Kreisstadt Marburg kam, wo ich dann von allen Spielern die meisten Tore schießen konnte. Obwohl diese Mannschaft zur zweithöchsten hessischen Amateurklasse gehörte, ging ich schließlich zu meinem Heimatclub zurück, weil es mein Ziel war, mit ihm die höhere Spielklasse zu erreichen. Im Jahre 1973 sollte es dann auch gelingen.
In der Zwischenzeit hatte ich geheiratet. Mein Wunsch war es, eine christliche Ehe zu führen. In dieser Zeit starb aus unserem Verein ein Spieler in ganz jungen Jahren. Verzweifelt über so vieles, was in der Welt geschah, suchte ich nach dem Sinn des Lebens. Ich bekam Kontakt mit Jehovas Zeugen. Beim regelmäßigen Betrachten der Bibel wurde mir deutlich, daß meine bisherige Lebensweise nicht so war, daß ich hätte sagen können, ich würde Gott mit ganzer Kraft dienen. Dazu hatte ich einfach zuwenig Zeit. Man lud meine Frau und mich zu den Zusammenkünften ein, und wir nahmen diese Einladung dankend an. Allerdings konnte ich sie nicht immer besuchen, weil ich am Sonntag wichtige Spiele hatte. Im Grunde genommen wußte ich, daß es nichts Wichtigeres gibt, als die Erkenntnis über Gott zu vermehren. Deswegen entschloß ich mich, meinem Trainer und der Mannschaft zu sagen, daß ich am Ende der Saison — wie sie auch immer ausgehen würde — Schluß machen wollte.
Wir wurden tatsächlich Meister und Aufsteiger! Doch an meinem Entschluß, den Ball nicht mehr zum wichtigsten Bestandteil meines Lebens zu machen, änderte sich nichts. Im Jahre 1974 ließ ich mich zusammen mit meiner Frau taufen. Das Leben hat heute wie nie zuvor einen sehr tiefen Sinn.“
Ähnlich erzählt ein Profi-Fußballspieler: „Als ich noch ein kleiner Junge war, sagte meine Mutter immer zu mir: ,Wenn du morgens aufstehst, hast du schon den Ball im Kopf!‘ Durch die Fußballbegeisterung litten natürlich auch die Leistungen in der Schule. Mit 10 Jahren schloß ich mich einem kleinen Fußballverein außerhalb Münchens an. Mit 13 Jahren ging ich zur Schülermannschaft des FC Bayern München. Ein Jahr später, als ich zur Sonderjugend des FC Bayern vorstieß, konnte ich dies als ersten großen Erfolg bezeichnen. Im Jahre 1965 wurde mein Traum Wirklichkeit, und ich konnte meinen Arbeitskollegen in der Schlosserwerkstatt freudestrahlend verkünden: ,Jungs, ich habe einen Profivertrag beim FC Bayern bekommen!‘
Was vorher zusätzlich zu meinem Beruf harte Arbeit war, wurde nun zum Gegenstand meines Tagesablaufs. Nun gestalteten Spielvorbereitung und Training meinen Tagesrhythmus. Mit 18 Jahren begann für mich die große Welt des Fußballs. Neben Franz Beckenbauer und Georg Schwarzenbeck, die mit mir aufwuchsen, spielte ich auch mit Gerd Müller und Sepp Maier. Höhepunkte meiner Profilaufbahn waren die Bundesligasaison 1965, der deutsche Pokalsieg von 1966 vor 66 000 Zuschauern im Frankfurter Waldstadion, die anschließenden Europapokalspiele sowie die Reise nach Nord- und Südamerika 1967. In der Spielsaison 1968/69 ging ich zum 1. FC Nürnberg. 1969/70 wechselte ich wieder den Verein und ging zu den Stuttgarter Kickers. Dort in Stuttgart begann ich, ernsthaft mit Jehovas Zeugen die Bibel zu studieren. Es dauerte einige Monate, bis ich begriff, daß Christen ihr regelmäßiges Zusammenkommen nicht versäumen sollten. Bei Heimspielen war dies kein Problem, doch bei Auswärtsspielen konnte ich keine Zusammenkunft besuchen, da die An- und Abfahrtzeiten das ganze Wochenende ausfüllten.
Die Entscheidung, den Profifußball aufzugeben, fiel mir nicht leicht. Aber am 3. August 1973 symbolisierte ich meine Hingabe an Jehova Gott durch die Taufe in meiner Heimatstadt München. Zwar hat mir der Fußballsport viel Freude gebracht, doch die größte Freude im Leben darf nur der Mensch empfinden, der ein gutes Verhältnis zu Jehova hat.“
Ausgeglichen sein
Der Sport kann zur Entspannung, zur Unterhaltung, zur Freude und bedingt sogar zur Gesundheit des Menschen beitragen. Seine Fähigkeit, Sport zu treiben, ist eine Gabe des glücklichen Schöpfers. Aber wie oft wird diese göttliche Gabe leider mißbraucht!
Christen möchten ausgeglichen sein. In diesem Monat des Fußballfiebers werden sie sich weiterhin den wichtigeren geistigen Dingen widmen. Natürlich wird bei der Durchführung ihrer Predigttätigkeit Unterscheidungsvermögen am Platze sein, um Menschen nicht unnötigerweise zu ungünstigen Zeiten zu stören. Wer die WM-Spiele selbst verfolgen möchte, wird dies nicht auf Kosten seiner geistigen Bedürfnisse tun wollen. Christliche Zusammenkünfte werden stets den Vorrang haben, denn sie sind wichtiger. Man wird nicht so viel über die WM-Spiele sprechen, daß andere wertvolle und auferbauende Themen gänzlich verdrängt werden. Da aber das christlich geschulte Gewissen eine Vielfalt von Interessen zuläßt, sollten Sportfreunde nicht von anderen Christen als „weltlich“ betrachtet werden, noch sollten Christen, die sich für Sport nicht begeistern können, als „extrem“ bezeichnet werden.
Vergiß nicht, daß es sich nur um SPIELE handelt. Das Spielergebnis wird weder die Welt verändern noch ihre Probleme lösen. Man mag sich über ein Spiel freuen, aber wenn es vorbei ist, so ist es vorbei. Es besteht kein Grund, untröstlich zu sein, wenn eine Mannschaft verliert, so als wäre die Niederlage ein persönlicher Verlust. Und besonders wenn es sich um Nationalmannschaften handelt — wie dies bei der WM 78 der Fall ist —, werden Christen sorgfältig darauf achten, dem heimtückischen Nationalismus nicht zum Opfer zu fallen, denn sie wissen, daß eine nationalistische Einstellung ihrem Gott mißfallen würde. Übrigens, wer gelernt hat, die Spieltechnik beider Mannschaften wahrzunehmen und zu würdigen, ohne unnötigerweise über den Ausgang des Spiels besorgt zu sein, hat doppelt soviel davon!
In der Bibel (Gal. 5:26) wird Christen ein guter Rat gegeben: „Laßt uns nicht ichsüchtig werden [unsere Mannschaft ist die beste!], indem wir miteinander wetteifern [ständige Mannschaften bilden, die um die ,Meisterschaft‘ spielen] und einander beneiden [falls man verliert].“ Wer diesen christlichen Grundsatz beachtet, wird sich an Fußball erfreuen können, ohne daß er dabei ein Opfer der Epidemie wird, die in diesem Monat Juni auf der ganzen Erde grassiert — das Fußballfieber!