Was die ältere Generation uns zu geben hat
EINE Familie, in der nicht mindestens eines der Glieder mehr als fünfundsechzig Jahre zählt, ist heute eine Ausnahme. In Amerika gibt es jetzt rund 19 000 000 Menschen — fast 10 Prozent der Bevölkerung —, die über fünfundsechzig Jahre alt sind. In Großbritannien leben bereits mehr als 8 000 000 Menschen, die über fünfundsechzig sind, das sind 10 Prozent der Bevölkerung. Ähnlich hoch ist der Anteil der über fünfundsechzig Jahre alten Jahrgänge bei der Bevölkerung anderer Länder.
So viele Millionen Menschen können kaum unbeachtet bleiben. Offenbar besteht aber in unserer schnellebigen Welt, in der der Jugend und ihren Vorzügen so große Bedeutung beigemessen wird, die Tendenz, von alten Menschen nichts wissen zu wollen. Heute kommt es selten vor, daß Jugendliche ältere Personen zu einem Beisammensein einladen, ja man muß jungen Menschen manchmal ins Gewissen reden, um sie dahin zu bringen, ihren Eltern oder anderen älteren Angehörigen zu schreiben oder sie regelmäßig anzurufen. Aber es ist nicht immer so gewesen. Die Zeiten haben sich geändert.
Ein Zweiundachtzigjähriger schildert in einem Aufsatz, den die Newark Evening News veröffentlichte, wie es früher war: „In meiner Jugend hatten die Betagten einen Platz in unserem Leben. Da, wo ich aufgewachsen bin, gab es viele alte Leute ... Wenn ich die Straße entlangging, saßen fast vor jedem der trauten roten Backsteinhäuser ein bis zwei alte Leute auf der Veranda oder auf dem Bürgersteig. Die meisten teilten das Haus mit ihren Kindern und Enkeln, nur wenige wohnten allein. Sie plauderten, lasen oder ruhten sich aus; einige vertrieben sich die Zeit mit einer Liebhaberei. Jeder hatte ein Lächeln und ein freundliches Wort für uns, wenn wir vorübergingen. Neben uns wohnte Mrs. Burns, eine behäbige Frau, die uns jedesmal hereinrief, wenn sie wieder einen Schub von dem herrlichen Hefebrot gebacken hatte; die Schnitten schmierte sie mit frischer, hausgemachter Paprikasoße. ... Der alte Sherman, der einen Textilienladen gehabt hatte, hatte sich zur Ruhe gesetzt ... Seine Tochter führte ihm den Haushalt ...
Wir respektierten diese alten Leute und schauten zu ihnen auf; wir machten keine Witze über sie hinter ihrem Rücken. Sie hatten ihre Kinder gut erzogen und gut für sie gesorgt, und als die Kinder herangewachsen waren, erwarteten die Eltern von ihnen, daß sie nun für sie sorgen würden.
Heute wohnen die Alten allein in einem schäbigen gemieteten Zimmer, oder sie sitzen auf einer Bank in einem Park, von ihren Angehörigen getrennt, und warten ... Sie wissen, daß sich die Zeiten geändert haben, denn sie müssen die trübe Erfahrung machen, daß ihnen die Kinder nicht einmal einen Bruchteil der erwarteten Liebe und Achtung entgegenbringen.
Es ist tragisch, daß es heute immer mehr alte Menschen gibt, die von ihren Kindern und den Jugendlichen um sie herum kaum noch geliebt werden. Heute gibt es wenige Kinder, die es als Vorrecht erachten, für ihre alten Eltern zu sorgen. Viele Kinder früherer Generationen haben jedoch anders gedacht.
Im Altertum hatte man mehr Achtung
Wie man in der Bibel lesen kann, gebot Gott den Kindern der Israeliten, ihre Eltern zu ehren, und das wirkte sich zum Segen der Kinder aus. (2. Mose 20:12) Gemeinden, in denen die Alten zahlreich waren, galten als besonders begünstigt. Folgendes Gebot zeigt, mit welcher Hochachtung man älteren Menschen begegnete: „Vor grauem Haare sollst du aufstehen und die Person eines Greises ehren, und du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Ich bin Jehova.“ (3. Mose 19:32) Das Alter zu ehren war ein Gebot Gottes, eine heilige Pflicht. Wenn der Patriarch Hiob an den Alten vorüberging, erhoben sogar sie „sich, blieben stehen“. (Hiob 29:8) Diese Achtung vor dem Alter war und ist noch heute etwas Schönes, vorausgesetzt, daß derjenige, dem sie erwiesen wird, ihrer würdig ist.
Selbst bei manchen Völkern, die das Gesetz Gottes nicht kannten, war es Brauch, die Alten zu ehren. Bei den Ägyptern standen die jungen Männer vor den alten auf und überließen ihnen die ersten Plätze. Dasselbe taten die Jugendlichen in Sparta und schwiegen vor den älteren Männern. In Griechenland hielt man die älteren Männer in hohen Ehren.
Die Alten galten als einsichtsvolle Männer, die ein gutes Urteilsvermögen besaßen, als Männer mit Weitblick und als beste Kenner der Überlieferung. Alte Männer amteten als Ratgeber für Könige, und das Volk schätzte im allgemeinen ihre Kenntnis und Einsicht. Als Jerobeam und ganz Israel Rehabeam baten, ihnen den harten Dienst zu erleichtern, beriet sich der König Rehabeam, wie wir in der Bibel lesen, „mit den Alten, die vor seinem Vater Salomo gestanden hatten“. Doch Rehabeam verließ den Rat der Alten, den sie ihm geraten hatten; und er beriet sich mit den Jungen, die mit ihm aufgewachsen waren“. (1. Kö. 12:4-19) Das hatte zur Folge, daß ein Aufstand ausbrach und das Zwölf-Stämme-Reich in zwei Reiche gespalten wurde.
In vielen Gegenden der Erde werden ältere Personen immer noch hochgeachtet. In der westlichen Welt ist ihr Einfluß jedoch im allgemeinen stark zurückgegangen. Doch die ältere Generation kann jungen Menschen viel geben, und der Umgang mit alten Menschen mag sich außerordentlich wertvoll erweisen, wenn man ihnen zuhört und von ihnen lernt.
Das bedeutet allerdings nicht, daß jeder alte Mensch, nur Worte der Weisheit oder der Ermunterung spricht. Viele haben eine reiche Lebenserfahrung, und manche von ihnen haben besonders viel erlebt. Doch darf man nicht vergessen, daß viele der Probleme und Schwierigkeiten in der Welt auf das Tun grauer Häupter zurückzuführen sind. Man muß also wählerisch sein. Wenn alte Menschen in ihrem Leben den göttlichen Weg der Gerechtigkeit gegangen sind, mag man durch den Umgang mit ihnen bereichert werden. Der biblische Grundsatz findet Anwendung: „Das graue Haar ist eine prächtige Krone: auf dem Wege der Gerechtigkeit wird sie gefunden.“ (Spr. 16:31) Ein ergrauter Mensch, der durch Gottes Wort geformt worden ist, gleicht einer prächtigen Krone, und das Zusammensein mit einem solchen Menschen ist schön und nützlich.
Was alte Menschen zu geben haben
Viele junge Menschen befürchten, daß betagte Eltern oder andere betagte Angehörige ihnen zur Last fallen könnten, und halten sich deshalb von ihnen fern. Es ist jedoch eine Tatsache, daß für dich zwei- bis fünfmal mehr die Chance besteht, sie zu beerben, als daß du ihre Rechnungen bezahlen müßtest.
Allerdings treten im Alter die typischen Altersbeschwerden auf, aber auch die Jugend hat ihre Beschwerden, man denke nur an die Kinderkrankheiten. Wenn einem das Alter nicht mit mancherlei Leiden vergällt und man nicht von Reue und Angst geplagt wird, ist das Alter eine reizvolle Zeit der Ruhe und Abgeklärtheit, in der man von kostbaren Erinnerungen zehrt. Welcher junge Mensch würde in der heutigen chaotischen Welt nicht gern auch nur einen Bruchteil dieser Ruhe genießen? Das ist ihm möglich, wenn er etwas Zeit mit einem alten, abgeklärten Menschen verbringt.
Manche alte Menschen haben viel zu geben, allein schon ihres Alters wegen. Sie besitzen die Warmherzigkeit und Güte, die Kinder lieben. Deshalb eignen sich Großeltern so vorzüglich zum Kinderhüten, insbesondere, wenn sie nicht ausgenutzt werden. Sie sind auch gute Lehrer. Ein fünfjähriges Mädchen besuchte oft seine Oma. Die Oma erzählte ihm so viel von Gott und von den Segnungen des Königreiches, daß in dem Kind der Wunsch wach wurde, eine Missionarin der Watch Tower Society zu werden; und schließlich erreichte es dieses Ziel.
Wir erinnern uns fast alle gerne an die alten Menschen, die wir gekannt haben, vielleicht an unsere Großeltern. Ein junger Mann dachte immer gerne an seine Großmutter zurück wegen des herrlich duftenden Brotes mit der knusprigen Rinde, das sie jeweils backte. „Die Oma nahm jeweils ein Brot direkt aus dem Ofen, brach es entzwei und legte eine dicke Butterscheibe in die Mitte“, erzählte er begeistert. „Wenn die Butter geschmolzen und durch das Brot hindurchgesickert war, bekam jeder ein Stück davon. Wir verschlangen es bis zum letzten Krümel. Zu Hause durften wir kein frisch gebackenes Brot essen, aber Oma sorgte immer dafür, daß wir von Zeit zu Zeit solches Brot bekamen.“ Der junge Mann hatte seine Oma und ihre Küche, in der es so gut roch, noch gut in Erinnerung.
Die schlichte Tatsache, daß alte Menschen es gewöhnlich nicht eilig haben, ist ein Vorteil, den man nicht übersehen darf. Als Kind oder Jugendlicher wünscht man sich manchmal nur, von jemandem angehört zu werden, der dazu noch etwas Anteilnahme und Verständnis bekundet. Viele alte Menschen haben die Zeit und die Geduld dafür. Eine ältere Frau sagte: „Es hat mich überrascht und erfreut, festzustellen, wie viele Kinder aus der Nachbarschaft zu mir hereinkommen, um ein paar Minuten mit mir zu plaudern. Sie unterbrechen ihre Spiele, um mir etwas Interessantes zu erzählen oder um sich auszusprechen. Ich brauche nur zuzuhören, denn sie suchen offenbar nur jemand, der ihnen Verständnis entgegenbringt und ihnen ein Ohr leiht. Sie wissen gar nicht, welche Freude sie mir bereiten, denn meine eigenen Kinder und Enkel wohnen weit weg, doch vielleicht spüren sie etwas von der Liebe, die sie wachrufen.“
Manchmal sind es nur geringfügige Dinge, die ältere Menschen tun, die aber ihre Wirkung nicht verfehlen. Ihre Plätzchen, die sie backen, können unvergeßlich bleiben. Und welche junge Mutter hat es nicht geschätzt, wenn ihr jemand beim Sockenstopfen geholfen hat? Oder wer ist geeigneter, bei Krankheit oder Überlastung auszuhelfen, als die Oma oder der Opa?
Manchmal kann schon ein Wort, von einem älteren Menschen gesprochen, bewirken, daß man sich geborgen fühlt, und zum Gutestun ermuntern. Eine ältere Frau erzählte, daß sie in ihrer Kindheit viele betagte Menschen gekannt habe, aber eine alte Dame, die so mild, so sanft und so gütig gewesen sei, habe sie besonders in Erinnerung: „Ich weiß noch so genau, als wäre es gestern gewesen, wie ich jeweils ihre Hand nahm, zu ihr aufblickte, sah, wie sie mich anlächelte, und sie sagen hörte: ,Gott befohlen, mein Kind.‘ Ich kann mich sogar noch an ihren Namen erinnern.“ Sie sagte, diese kurze Begegnung mit dieser alten Dame habe in ihr den Wunsch geweckt, das Gute zu tun.
Mit alten Menschen Umgang pflegen
In unserer Gesellschaft wird der Umgang mit alten Menschen wenig gepflegt, doch dadurch gehen alt und jung viel Liebe und viel Gutes verloren. Warum in dieser Hinsicht nicht etwas unternehmen? Warum nicht die Gesellschaft alter Menschen suchen, indem man sie von Zeit zu Zeit einlädt? Lade sie zum Essen ein, sie werden dafür dankbar sein, und du wirst durch ihren Besuch bereichert werden. Oder wenn du Vorbereitungen für ein Fest oder ein geselliges Zusammensein triffst, warum nicht auch einige ältere auf die Gästeliste setzen? Alte Menschen haben die Neigung, in sich gekehrt zu sein, wenn sie sich in einer größeren Gesellschaft befinden. Warum sich ihnen nicht zugesellen und sie in das Fest einbeziehen? Pflege Umgang mit ihnen, und mache sie zu einem Teil deines Lebens. Diese Freundlichkeit alten Menschen gegenüber wird sie davor bewahren, einsam zu werden und sich selbst zu bemitleiden.
Natürlich muß man verschiedenes berücksichtigen, wenn man alte Menschen besucht. Vor allem muß man sich genügend Zeit nehmen, damit der Besuch erbaulich wird. Oft kommt es vor, daß junge Menschen ältere besuchen und gleich von vornherein entschuldigend sagen: „Es tut mir leid, aber ich kann nur ein paar Minuten bleiben.“ Bemühe dich, den Eindruck zu erwecken, Zeit zu haben. Es ist auch empfehlenswert, sich vorher zu überlegen, über welches interessante und wichtige Thema du mit ihnen sprechen möchtest. Denke an etwas Bestimmtes. Bemühe dich, ihnen jedesmal zu sagen, wann du sie das nächste Mal wieder besuchst oder wann sie wieder etwas von dir hören werden, und dieser Zeitpunkt sollte nicht allzu fern sein. So haben sie dann etwas, worauf sie sich freuen können.
Es ist auch zu empfehlen, etwas mitzubringen, was als Stoff für die Unterhaltung dienen kann. Du kannst zum Beispiel einen Brief von einem Angehörigen mitnehmen und vorlesen. Vielleicht hast du ein Buch oder eine Zeitschrift gelesen, die dich besonders gefesselt hat. Du kannst mit ihnen über einige der interessanten Punkte sprechen, die dir besonders gefallen haben. Hebe die Gedanken hervor, die dich beeindruckt haben. Das wird nicht nur ihnen von Nutzen sein, sondern auch dir, denn du wirst dich dann besser an das, was dich besonders interessiert hat, erinnern.
Da alte Menschen Freude an Zimmerpflanzen und Blumen haben, eignen sich diese vorzüglich als Geschenk. Strickst du etwas für sie, so bereitest du ihnen damit eine besondere Freude. Möchtest du ihnen ein Geldgeschenk machen, dann lege das Geld in einen Umschlag und laß sie wissen, wofür du es gedacht hast. Auch Photoalben von Familienangehörigen oder etwas zum Essen, ein Lieblingsgericht, findet bei alten Menschen Anklang.
Berücksichtige jedoch den Umstand, daß sie leicht ermüden und entmutigt werden. Ältere Menschen haben nicht mehr die Kraft wie junge. Bagatellisiere ihre Fehler. Achte darauf, daß das Gespräch positiv ist, kritisiere oder nörgle nicht an ihnen herum. Mache ihnen ein Kompliment, wenn sie gepflegt aussehen. Wenn sie ihre Wohnung und den Garten in Ordnung halten, erwähne das lobend. Wenn ältere Menschen sprechen, höre ihnen zu. Vielleicht lernst du etwas. Ältere Menschen haben gelernt, mit Leid und Schmerz fertig zu werden. Sie können dir vielleicht helfen, indem sie dir zeigen, wie man unnötigen Leiden und gefährlichen Fallgruben aus dem Wege gehen kann.
Im alten Israel waren die Kinder verpflichtet, Vater und Mutter zu ehren, und diese Pflicht haben auch Christen. Der Apostel Paulus gebot dem Timotheus: „An einem älteren Mann übe nicht strenge Kritik. Im Gegenteil, rede ihm bittend zu wie einem Vater, jüngeren Männern wie Brüdern, älteren Frauen wie Müttern.“ 1. Tim. 5:1, 2.
Wir können zeigen, daß die Alten uns nicht gleichgültig sind, indem wir sie besuchen und ihnen einen Platz in unserem Leben geben. Wir können sie grüßen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, und sie wissen lassen, daß wir uns aufrichtig freuen, sie in unserer Mitte zu haben. Wenn sie so weit weg wohnen, daß wir sie nicht so oft besuchen können, wie wir möchten, können wir sie anrufen oder ihnen schreiben. Der Klang unserer Stimme oder ein Brief von uns, in dem wir ihnen schildern, was wir erlebt haben, und der Gedanke, daß sie dir so viel bedeuten, daß du an sie denkst, ist für alte Menschen eine kostbare Belohnung. Das alles kostet uns wenig, aber für sie bedeutet es viel.
Für viele mag das Alter wie der Spätnachmittag eines Sommertages sein, wenn die Schatten schon länger werden, es aber immer noch hell ist, die Vögel in dem Baumwipfeln ihre Lieder pfeifen und der Abendfrieden auf das Land herabsinkt. Wenn wir mit alten Menschen zusammen sind, mögen wir lernen, was das Wichtigste im Leben ist. Betagte Menschen sind oft wie die Erde mit Schätzen angefüllt, mit unbekannten Schätzen, die darauf warten, entdeckt und ausgebeutet zu werden. Junge Menschen handeln gütig, wenn sie den Umgang mit alten Menschen suchen, doch durch diesen Umgang empfangen sie vieles, was nur die ältere Generation zu geben vermag.
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Manche ältere Menschen besitzen die Warmherzigkeit und Güte, die Kinder lieben