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  • Das ehemalige Jugoslawien
    Jahrbuch der Zeugen Jehovas 2009
    • Bosnien und Herzegowina

      „Als am 16. Mai 1992 ein Granatenhagel auf Sarajevo niederging, drängten sich etwa 13 von uns in einer Wohnung zusammen. Das Gebäude, in dem wir Zuflucht gesucht hatten, wurde zwei Mal getroffen. Draußen kämpften Kroaten, Serben und Bosniaken gegeneinander. Obwohl wir auch aus diesen Volksgruppen stammten, vereinte uns die Anbetung Jehovas. Am frühen Morgen ließen die Angriffe etwas nach und wir konnten uns woanders in Sicherheit bringen. Wie schon am Abend schrien wir zu Jehova und er half uns“ (Halim Curi).

      Die mehr als 400 000 Einwohner Sarajevos machten eine der furchtbarsten und längsten Belagerungen des 20. Jahrhunderts durch. Wie erging es unseren Brüdern und Schwestern, als das Land von ethnisch und religiös motivierten Kämpfen zerrissen war? Dazu später mehr.

      Bosnien und Herzegowina, wie das Land offiziell heißt, liegt im Herzen des ehemaligen Jugoslawien. Es grenzt an Kroatien, Serbien und Montenegro. Unter den Einwohnern und den einzelnen Familien herrscht ein starker Zusammenhalt und die Gastfreundschaft wird großgeschrieben. Viele trinken gern mal ein Tässchen türkischen Kaffee beim Nachbarn oder vertreiben sich die Zeit in einem der kafići (Cafés). Die Bevölkerung setzt sich aus Bosniaken, Serben und Kroaten zusammen, die sich äußerlich allerdings kaum voneinander unterscheiden. Viele sind nicht unbedingt religiös. Trotzdem hat die Religion einen Keil zwischen die Volksgruppen getrieben. Die Bosniaken sind zumeist muslimisch, die Serben serbisch-orthodox und die Kroaten römisch-katholisch.

      Die erschreckende Zunahme religiös und ethnisch motivierter Feindseligkeiten Anfang der 1990er-Jahre gipfelte in brutalen „ethnischen Säuberungen“. Vorrückende Truppen vertrieben Zivilisten aus kleinen Dörfern und großen Städten, damit ganze Landstriche nur noch von Angehörigen ihrer eigenen Religion bewohnt wurden. Damals mussten unsere Brüder und Schwestern beweisen, dass sie wirklich neutral waren. Wie in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien ist es auch in Bosnien üblich, die Religion der Eltern zu übernehmen. Der Familienname lässt oft Rückschlüsse auf die Religionszugehörigkeit zu. Wenn jemand ein Zeuge Jehovas wird, kann es sein, dass man ihm Verrat an der Familie und der Tradition vorwirft. Unsere Brüder haben aber erlebt, dass sich Treue gegenüber Jehova immer auszahlt.

      DIE BELAGERUNG VON SARAJEVO

      Wie erwähnt waren die jugoslawischen Brüder tief beeindruckt von der Liebe und Einheit auf dem Kongress „Freunde der göttlichen Freiheit“, der 1991 in Zagreb (Kroatien) stattfand. Dieses unvergessliche Erlebnis gab ihnen Kraft für das, was auf sie zukam. Wie aus heiterem Himmel wurde Sarajevo von Soldaten umzingelt und alle Bewohner waren eingekesselt. Mit dem friedlichen Zusammenleben von Bosniaken, Serben und Kroaten war es vorbei. Die politische Lage sah zwar düster aus, aber niemand konnte ahnen, dass die Belagerung so lange dauern würde.

      Halim Curi, ein Ältester in Sarajevo, berichtete: „Die Leute sind am Verhungern. Sie bekommen im Monat nur ein paar Kilo Mehl, hundert Gramm Zucker und einen halben Liter Öl. Auf jedem freien Stückchen Land wird Gemüse angebaut. Die Bewohner fällen die Bäume, damit sie Holz zum Heizen und Kochen haben. Wenn die Bäume weg sind, muss der Holzfußboden dran glauben. Sie verheizen alles, was brennbar ist, sogar alte Schuhe.“

      Als Sarajevo umzingelt wurde, saßen Ljiljana Ninković und ihr Mann Nenad in der Falle — getrennt von ihren beiden Töchtern. Ljiljana sagt: „Wir waren eine ganz normale Familie mit zwei Kindern, einer netten Wohnung und einem Auto. Auf einen Schlag war alles anders.“

      Oft spürten sie jedoch Jehovas schützende Hand. „Zwei Mal wurde unsere Wohnung bombardiert, als wir gerade aus der Tür waren“, erzählt Ljiljana. „Obwohl wir es sehr schwer hatten, konnten wir uns über kleine Dinge freuen, zum Beispiel über ein paar Löwenzahnblätter, die wir im Park pflückten. Daraus haben wir dann einen Salat gemacht, damit wir nicht immer nur trockenen Reis essen mussten. Wir lernten, mit dem, was wir hatten, zufrieden zu sein und nichts für selbstverständlich zu nehmen.“

      DER HOHE STELLENWERT DER ZUSAMMENKÜNFTE

      Wasserknappheit war ein großes Problem. Aus den Leitungen in den Häusern kam meistens kein Tropfen. Der Weg zur Wasserausgabestelle war bis zu fünf Kilometer lang und man musste immer mit Heckenschützen rechnen. An der Zapfstelle standen die Leute stundenlang Schlange. Nachdem sie endlich ihre Behälter gefüllt hatten, mussten sie sie noch den ganzen Weg nach Hause schleppen.

      „Manchmal hörten wir, dass für kurze Zeit Wasser aus den Leitungen kommen sollte“, erzählt Halim. „Dann konnte man sich endlich duschen, Wäsche waschen und Wasser in alle verfügbaren Behälter abfüllen. Problematisch wurde es aber, wenn dieser sehnlich erwartete Moment ausgerechnet mit den Zusammenkunftszeiten zusammenfiel. Dann mussten wir uns überlegen, was uns wichtiger war.“

      Ohne Wasser und Essen kam man natürlich nicht aus. Die Brüder wussten aber auch, wie wichtig die Zusammenkünfte für sie waren. Dort erhielten sie nicht nur geistige Speise, sondern erfuhren auch, wer gerade im Gefängnis saß, wer verletzt war oder wer getötet worden war. „Wir waren wie eine große Familie“, sagt Milutin Pajić, ein Ältester. „Nach den Zusammenkünften wollte keiner nach Hause. Meistens unterhielten wir uns noch stundenlang über biblische Gedanken.“

      Es war eine schwere Zeit. Die Brüder und Schwestern mussten oft um ihr Leben fürchten. Trotzdem setzten sie die Wahrheit immer an die erste Stelle. Während der Krieg die Bevölkerung entzweite, rückten unsere Brüder enger zusammen und klammerten sich an ihren Vater im Himmel. Kinder konnten die Treue ihrer Eltern beobachten und lernten so, fest für Jehova einzustehen.

      Die Stadt Bihać in der Nähe der kroatischen Grenze war fast vier Jahre lang von der Außenwelt abgeschnitten. Niemand kam raus und Hilfsgüter kamen nicht rein. „Am schlimmsten war es zu Beginn des Krieges“, erzählt Osman Šaćirbegović, der einzige Bruder in der Stadt. „Nicht so sehr wegen der schwierigen Lage, sondern weil wir so etwas noch nie mitgemacht hatten. Als dann die ersten Granaten einschlugen, ließ die Anspannung interessanterweise etwas nach. Denn nicht jede Granate tötet jemanden und manche detonieren überhaupt nicht.“

      Niemand konnte voraussagen, wie lange der Krieg dauern würde. Daher organisierten unsere Zweigstellen in Zagreb und in Wien Hilfslieferungen. Die Hilfsgüter wurden nach Sarajevo, Zenica, Tuzla, Mostar, Travnik und Bihać gebracht, wo man sie in Königreichssälen und in Privatwohnungen deponierte. Während des Krieges wurden Städte von heute auf morgen besetzt und die Nachschublinien abgeschnitten. Die Vorräte waren schnell aufgebraucht. Trotz der Isolation konnte nichts die Einheit unter Jehovas Zeugen erschüttern. Diese Einheit bildete einen starken Kontrast zu dem ethnisch und religiös motivierten Hass, der immer weiter geschürt wurde und der dem ganzen Land nur Leid und Elend brachte.

      EIFRIG, ABER UMSICHTIG

      Zu dem Problem, das Lebensnotwendige zu beschaffen, kam in Sarajevo noch die Gefahr durch Heckenschützen hinzu, die einfach drauflosschossen. Überall krachten Granaten ein. Man konnte sich kaum gefahrlos draußen aufhalten. In diesem Klima ständiger Angst handelten unsere Brüder und Schwestern mutig und zugleich umsichtig. Sie hörten nicht auf, über die gute Botschaft vom Königreich zu reden, zumal die Menschen unbedingt Trost brauchten.

      Ein Ältester berichtet: „An einem Samstag, als Sarajevo unter schwerem Beschuss lag, sind Tausende von Granaten eingeschlagen. Trotzdem haben die Brüder am Vormittag angerufen und gefragt: ‚Wo ist denn heute Treffpunkt?‘ “

      Eine Schwester sagt: „Ich merkte, wie dringend die Leute die Wahrheit brauchten. Das hat mir geholfen durchzuhalten, ohne die Freude zu verlieren.“

      Viele Leute kamen zu der Überzeugung, dass ihnen die Bibel Hoffnung schenken kann. „Nicht wir müssen die Menschen suchen“, erzählte ein Bruder, „sondern sie suchen uns, weil sie sich Trost aus der Bibel wünschen. Manche tauchen einfach im Königreichssaal auf und bitten um ein Bibelstudium.“

      Diese guten Resultate waren zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass die Einheit unter Jehovas Zeugen nicht zu übersehen war. Nada Bešker, eine langjährige Sonderpionierin, sagt: „Bosniaken und Serben, die gemeinsam predigen gingen, waren das Gesprächsthema. Oder auch die Kroatin und die ehemalige Muslimin, die ein Bibelstudium mit einer Serbin hatten. Keiner konnte bestreiten, dass wir anders waren.“

      Der Eifer unserer Brüder und Schwestern hat Früchte getragen. Viele Menschen lernten während des Krieges die Wahrheit kennen. Die Versammlung in Banja Luka wuchs auf das Doppelte an, obwohl um die hundert Verkündiger in andere Versammlungen wechselten.

      EINE TREUE FAMILIE

      Unsere Brüder waren immer sehr vorsichtig. Trotzdem traf einige von ihnen „unvorhersehbares Geschehen“, weil sie leider zur falschen Zeit am falschen Ort waren (Pred. 9:11, Fn.). Božo Ðorem, ein Serbe, ließ sich 1991 auf dem internationalen Kongress in Zagreb taufen. Als er wieder in Sarajevo war, musste er wegen seiner neutralen Haltung wiederholt ins Gefängnis und wurde schlimm behandelt. 1994 erhielt er 14 Monate Haft. Am meisten litt er darunter, dass er von seiner Frau Hena und seiner fünfjährigen Tochter Magdalena getrennt war.

      Kurz nach seiner Entlassung geschah etwas Schreckliches. An einem ruhigen Nachmittag ging Božo mit seiner Frau und seiner Tochter zu einem Bibelstudium in der Nähe ihrer Wohnung. Urplötzlich explodierte eine Granate. Hena und Magdalena waren sofort tot. Božo starb im Krankenhaus.

      EIN ÜBERZEUGENDES ARGUMENT

      Wegen der weitverbreiteten Vorurteile stieß unser neutraler Standpunkt auf großes Unverständnis. Die Versammlung Banja Luka setzte sich hauptsächlich aus jungen Männern zusammen, die man unbedingt einziehen wollte. Sie weigerten sich und wurden wiederholt geschlagen.

      Osman Šaćirbegović erinnert sich: „Oft verhörte man uns. Die Polizisten beschimpften uns als Feiglinge, die ihre Familie nicht beschützen wollen.“

      Osman argumentierte dann immer so: „Sie tragen Ihre Waffe doch zum Schutz, oder?“

      „Klar“, antwortete der Polizist.

      „Würden Sie sie gegen eine Kanone eintauschen, um noch besser geschützt zu sein?“

      „Ja.“

      „Und würden Sie eine Kanone gegen einen Panzer eintauschen?“

      „Natürlich.“

      „Sie möchten also den bestmöglichen Schutz haben. Mein Schutz kommt von Jehova, dem allmächtigen Gott, der das Universum erschaffen hat. Einen besseren Schutz gibt es für mich nicht.“

      Das war ein überzeugendes Argument und man ließ ihn in Ruhe.

      HILFSLIEFERUNGEN ERREICHEN IHR ZIEL

      Die Brüder in Bosnien litten große Not. Daher überlegte man sich, wie man ihnen von Nachbarländern aus Hilfsgüter zukommen lassen könnte. Leider war das eine Zeit lang unmöglich. Im Oktober 1993 erfuhr man dann aber von offizieller Stelle, dass jetzt eventuell Hilfslieferungen möglich wären. Diese Gelegenheit ließen sich unsere Brüder natürlich nicht entgehen. Am 26. Oktober machten sich fünf Lkws auf die gefährliche Reise von Wien nach Bosnien. Sie hatten 16 Tonnen Lebensmittel und Brennholz geladen. Doch wie kam die Lkw-Kolonne durch die vielen heftig umkämpften Gebiete?c

      Auf ihrer Fahrt waren die Brüder mehr als einmal in Lebensgefahr. Ein Fahrer berichtet: „An einem Vormittag bin ich erst spät losgekommen. Ich fuhr hinter anderen Lkws her, die auch Hilfsgüter geladen hatten. An einer Kontrollstelle mussten wir alle anhalten und unsere Papiere vorzeigen. Plötzlich fielen Schüsse. Ein Fahrer, der kein Zeuge Jehovas war, wurde von einem Heckenschützen getroffen.“

      Nur die Fahrer durften mit ihren Lkws nach Sarajevo. Die Brüder, die sie begleitet hatten, mussten vorher aussteigen. Doch statt nur zu warten, suchten sie nach einer Möglichkeit, ihren Brüdern in Sarajevo etwas Gutes zu tun. Schließlich war es ihnen möglich, telefonisch nach Sarajevo durchzukommen und einen Vortrag zu halten, der den Verkündigern viel Kraft gab. Während des Krieges setzten reisende Aufseher, Bethelmitarbeiter und Mitglieder des Landeskomitees oft ihr Leben aufs Spiel, um ihre Brüder mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen und sie im Glauben zu stärken.

      Fast vier Jahre lang kamen keine Hilfslieferungen nach Bihać. Buchstäbliche Speise konnte die Absperrungen nicht passieren, wohl aber geistige. Wie war das möglich? Über ein Faxgerät. Die Verkündiger erhielten ab und zu den Königreichsdienst und den Wachtturm als Fax, das sie dann für jede Familie abtippten. Zu Beginn des Krieges gab es in Bihać nur einen Bruder und zwei Schwestern. Zwölf ungetaufte Verkündiger warteten zwei Jahre lang sehnsüchtig auf eine Gelegenheit, sich taufen zu lassen.

      Die lange Isolation machte ihnen ganz schön zu schaffen. Osman erzählt: „Die Interessierten waren noch nie auf einem Kongress gewesen und hatten auch noch nie einen Kreisaufseherbesuch miterlebt. Oft haben wir uns darüber unterhalten, wie es sein wird, wenn wir endlich mit unseren Brüdern und Schwestern zusammen sein können.“

      Man muss sich ihre Freude vorstellen, als am 11. August 1995 in Bihać zwei Fahrzeuge ankamen, die die mutige Aufschrift trugen „Jehovas Zeugen — Humanitäre Hilfe“. Es waren die ersten zivilen Fahrzeuge mit Hilfsgütern, die seit dem Beginn der Belagerung in die Stadt gelangten. Die Hilfe kam zu einer Zeit, als die Brüder mit ihren Kräften und Nerven am Ende waren.

      Die Leute in Bihać konnten beobachten, wie sich die Verkündiger gegenseitig halfen, beispielsweise beim Reparieren von Fenstern. „Das machte großen Eindruck auf unsere Nachbarn“, erzählt Osman. „Sie wussten ja, dass wir kein Geld hatten. Die Leute reden noch immer darüber. All das warf ein gutes Licht auf unseren Glauben.“ In Bihać gibt es heute eine starke Versammlung mit 34 Verkündigern und 5 Pionieren.

      EINE UNVERGESSLICHE REISE

      Die Brüder, die Lebensmittel und Literatur in die umkämpften Städte Bosniens brachten, riskierten wiederholt ihr Leben. Bei der Fahrt vom 7. Juni 1994 kam hinzu, dass sie etwas Besonderes vorhatten. Am frühen Morgen fuhren drei Lkws mit Brüdern vom Landeskomitee und zusätzlichen Helfern von Zagreb los. Sie wollten nicht nur Hilfsgüter abliefern, sondern auch zum ersten Mal nach drei Jahren einen Tagessonderkongress abhalten, allerdings mit verkürztem Programm.

      Eine der Städte, wo der Kongress stattfinden sollte, war Tuzla. Bei Kriegsbeginn gab es in der Versammlung dort nur etwa 20 getaufte Verkündiger. Umso erstaunlicher war es, dass sich zum Programm mehr als 200 Besucher einfanden. 30 ließen sich taufen. Heute hat Tuzla drei Versammlungen und über 300 Verkündiger.

      In Zenica gab es zwar einen geeigneten Versammlungsort, aber kein Becken für die Taufe. Nach langem Suchen fand sich ein Bottich. Das einzige Problem war der Geruch. In dem Bottich waren nämlich Fische aufbewahrt worden. Doch die Täuflinge, die auf Jesu Einladung hin „Menschenfischer“ werden wollten, ließen sich davon nicht abschrecken (Mat. 4:19). Herbert Frenzel, der heute zum kroatischen Zweigkomitee gehört, hielt die Taufansprache. Er sagt: „Die Taufbewerber hatten so lange gewartet, dass sie jetzt nichts von ihrem Entschluss abbringen konnte. Nach der Taufe hatten sie das Gefühl: ,Endlich haben wir’s geschafft!‘ “ Heute gibt es in Zenica eine eifrige Versammlung mit 68 Verkündigern.

      In Sarajevo musste man den Kongress in der Nähe einer von Heckenschützen belagerten Kreuzung abhalten. Nachdem die Brüder sicher angekommen waren, standen sie vor dem Problem, erstens ein Taufbecken zu beschaffen und zweitens dafür zu sorgen, dass das kostbare Nass nicht verloren ging. Damit man genug Wasser für alle Täuflinge hatte, mussten sie sich der Statur nach aufstellen. Die Kleineren kamen zuerst dran und die kräftiger Gebauten zum Schluss.

      Einen Tag lang vergaßen die Brüder und Schwestern das grauenvolle Geschehen um sie herum. Sie ließen sich die Freude über diesen Kongress durch nichts und niemanden trüben. Zurzeit gibt es in Sarajevo drei starke Versammlungen.

      NACH DEM STURM

      Nachdem die Versorgungswege wieder offen waren, war die Situation für unsere Brüder und Schwestern etwas erträglicher. Doch die Vertreibungen gingen weiter. Ivica Arabadžić, ein Ältester in Kroatien, musste sein Elternhaus in Banja Luka verlassen. Er erzählt: „Ein bewaffneter Mann eröffnete uns, dass er ab sofort in unserem Haus wohnt. Er war aus seinem Haus in Kroatien vertrieben worden, weil er Serbe war, und wollte jetzt uns vertreiben. Obwohl uns ein Militärpolizist, mit dem wir die Bibel studierten, zu Hilfe kam, mussten wir das Haus räumen. Wir konnten mit dem Serben aber einen Handel machen: unser Haus gegen sein Haus. So mussten wir schweren Herzens unsere Heimat und die Versammlung verlassen, in der wir die Wahrheit kennengelernt hatten. Wir nahmen nur das Nötigste mit und machten uns auf die Suche nach unserem ‚neuen‘ Haus in Šibenik. Als wir es gefunden hatten, stellten wir fest, dass es bereits bewohnt war. Jetzt standen wir vor dem Nichts. Doch die Brüder hießen uns herzlich willkommen und ein Ältester nahm uns für ein Jahr bei sich auf, bis die Sache geklärt war.“

      Der politische Zustand in Bosnien-Herzegowina ist immer noch recht instabil. Doch die Versammlungen in diesem Land, in dem fast 40 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, wachsen und gedeihen. Seit Kriegsende sind einige dringend benötigte Königreichssäle gebaut worden. Der Saal in Banja Luka musste jedoch mit allen rechtlichen Mitteln erkämpft werden. In dieser Gegend hat die serbisch-orthodoxe Kirche einen großen Einfluss und unsere Brüder haben sich jahrelang vergeblich um eine Baugenehmigung bemüht. Obwohl unsere Tätigkeit in Bosnien rechtlich anerkannt ist, wurde der Antrag immer wieder abgelehnt. Doch nach vielen Gebeten und unzähligen Versuchen erhielten sie die nötigen Papiere. Nach diesem Sieg ist es heute in diesem Teil Bosnien-Herzegowinas leichter, Königreichssäle zu bauen.

      Die neu gewonnene Freiheit ermöglichte es, dass 32 Sonderpioniere in Gegenden geschickt werden konnten, wo mehr Hilfe benötigt wird. Viele von ihnen kommen aus dem Ausland. Sie haben einen guten Einfluss auf die Versammlungen, weil sie so eifrig sind und sich treu an das halten, was die Organisation vorgibt.

      Es ist noch gar nicht so lange her, dass Heckenschützen in Sarajevo überall für Angst und Schrecken sorgten. Jetzt kommen dort Brüder und Schwestern aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien zusammen und können in Ruhe und Frieden Kongresse abhalten. Wenn Bosnien-Herzegowina auch in der Vergangenheit von Kriegen erschüttert wurde — die „ungeheuchelte brüderliche Zuneigung“ unserer Brüder wurde dadurch nur noch fester (1. Pet. 1:22). Heute verherrlichen in dem schönen, gebirgigen Land 1 163 Verkündiger in 16 Versammlungen vereint den wahren Gott, Jehova.

  • Das ehemalige Jugoslawien
    Jahrbuch der Zeugen Jehovas 2009
    • [Kasten/Bild auf Seite 195, 196]

      Wir kehrten zurück

      HALIM CURI

      GEBURTSJAHR: 1968

      TAUFE: 1988

      KURZPORTRÄT: Er half dabei mit, humanitäre Hilfe für Sarajevo zu organisieren und Hilfsgüter zu verteilen. Zurzeit ist er Ältester, gehört zu einem Krankenhaus-Verbindungskomitee und ist Rechtsvertreter für Jehovas Zeugen in Bosnien-Herzegowina.

      SARAJEVO war 1992 unter Belagerung. Als die Literaturlieferungen ausblieben, behalfen wir uns mit älteren Zeitschriften. Einige von uns schrieben mit einer alten Schreibmaschine Studienartikel ab. Es gab zwar nur 52 Verkündiger, aber bei den Zusammenkünften waren wir über 200. Bibelstudien hatten wir ungefähr 240.

      Im November 1993, als der Krieg am schlimmsten wütete, wurde unser Töchterchen Arijana geboren. Es war nicht gerade die ideale Zeit, ein Kind zur Welt zu bringen. Zeitweise hatten wir wochenlang kein fließendes Wasser und keinen Strom. Wir fingen schon an, Möbel zu verheizen. Der Weg zu den Zusammenkünften führte durch gefährliches Gebiet. Heckenschützen feuerten wild drauflos. Oft mussten wir rennen, um lebend über die Straße zu kommen oder Straßensperren zu passieren.

      An einem ruhigen Tag waren Amra und ich mit unserem Baby und Bruder Dražen Radišić gerade auf dem Heimweg von einer Zusammenkunft, als plötzlich Maschinengewehre losfeuerten. Obwohl wir uns auf die Straße legten, traf mich eine Kugel in den Magen. Es tat furchtbar weh. Viele Leute hatten von ihrem Fenster aus alles beobachtet. Ein paar mutige junge Männer liefen aus den Häusern und brachten uns in Sicherheit. Ich wurde schleunigst in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort wollte man mir unbedingt eine Bluttransfusion geben. Ich sagte dem Arzt, mein Gewissen lasse das nicht zu. Man bedrängte mich, aber ich blieb fest. Die Operation dauerte zweieinhalb Stunden. Ich überstand sie ohne Bluttransfusion.

      Danach brauchte ich dringend Ruhe, was im Krieg jedoch ein Ding der Unmöglichkeit war. Also beschlossen wir, unsere Familie in Österreich zu besuchen. Der einzige Weg, der aus Sarajevo hinausführte, war ein Tunnel unter dem Flughafen. Er war fast einen Kilometer lang und etwa 1,2 Meter hoch. Amra hatte unser Baby auf dem Arm, und ich versuchte das Gepäck zu tragen. Da ich aber noch sehr geschwächt war, musste sie mir dabei helfen.

      Der Besuch in Österreich war eine einzige Freude. Doch bei unserer Abreise aus Sarajevo hatten wir unseren Brüdern und unserem Schöpfer versprochen zurückzukehren, wenn wir uns etwas erholt hätten. Der Abschied von unseren Verwandten fiel uns schwer, besonders von meiner Mutter. Wir erzählten ihnen von dem Versprechen, das wir Gott gegeben hatten. Wie könnten wir jetzt zu ihm sagen: „Vielen Dank, dass du uns hierher gebracht hast! Wir fühlen uns wohl und würden gern bleiben“? Außerdem brauchten uns die Brüder in Sarajevo. Amra stand bei alldem voll hinter mir.

      Im Dezember 1994 durchquerten wir den Tunnel also noch einmal, nur in umgekehrter Richtung. Die Leute, die uns begegneten, sagten zu uns: „Was macht ihr denn hier? Alle wollen raus, und ihr geht in eine belagerte Stadt!“ Ich kann gar nicht beschreiben, wie groß die Freude war, als wir unsere Brüder im Königreichssaal wiedersahen. Wir haben es nie bereut, dass wir zurückgekehrt sind.

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