Venezolaner lernen, auf Jehova zu vertrauen
„ZEITEN des Überflusses“ — das waren die Jahre nach 1976 für die meisten Venezolaner. Damals verstaatlichte die Regierung alle ausländischen Ölgesellschaften in Venezuela, worauf die Wirtschaft des Landes einen gewaltigen Aufschwung erlebte. Zufolge des neuerlangten materiellen Wohlstands wuchsen überall im Land Bauprojekte in den Himmel. Die höchsten Gebäude des Landes, die Parque-Central-Hochhäuser, wurden in Caracas, der Hauptstadt, errichtet. Die Menschen hatten anscheinend allen Grund, ihr Vertrauen in die blühende Konjunktur zu setzen.
Heute sieht die Zukunft jedoch nicht mehr so rosig aus. Venezuela ist zwar immer noch ein wohlhabendes Land, aber es blieb von wirtschaftlichen Problemen nicht verschont. Jedem hier ist der „Schwarze Freitag“, der 28. Februar 1983, in Erinnerung geblieben, an dem die einheimische Währung, der Bolivar, abgewertet wurde. Daraufhin verlor die Währung an Stabilität, und die Auslandsschulden begannen zu steigen. Auf die „Zeiten des Überflusses“ folgten „Zeiten wirtschaftlicher Einschränkungen“. Viele sind sehr enttäuscht, weil ihr Vertrauen erschüttert wurde. Im Gegensatz dazu haben Jehovas Zeugen in Venezuela gelernt, ihr Vertrauen auf Jehova, den wahren Gott, zu setzen. Sie erleben seit Jahren ein fortwährendes Wachstum und eine ständige Ausdehnung.
Wachstum des ersten Königreichssamens
Im Jahre 1936 brachten zwei Pioniere (Vollzeitprediger) aus Texas (USA) den ersten Samen der guten Botschaft vom Königreich nach Venezuela (Matthäus 24:14). Zehn Jahre später trafen zwei Missionare ein, Absolventen der fünften Klasse der Wachtturm-Bibelschule Gilead. Bereits im September jenes Jahres wurde in Venezuela ein Zweigbüro der Watch Tower Society eröffnet. Der Bericht für das Jahr zeigt, daß es damals insgesamt 19 Königreichsverkündiger im Land gab.
N. H. Knorr, der damalige Präsident der Gesellschaft, und M. G. Henschel, sein Sekretär, kamen im November 1953 im Rahmen einer Reise durch Südamerika auch nach Venezuela. 942 Personen besuchten einen Kongreß in Caracas. 1977 wurde eine Höchstzahl von über 13 800 Königreichsverkündigern erreicht. Das erforderte den Bau eines neuen Zweigbüros in La Victoria, 85 km von der Hauptstadt entfernt. Erweiterungen dieser Gebäude wurden im Jahre 1985 der Bestimmung übergeben. Heute gibt es in Venezuela über 42 900 Verkündiger, die mit etwa 500 Versammlungen und Verkündigergruppen verbunden sind. Und immer mehr Menschen in diesem Land lernen, ihr Vertrauen auf Jehova zu setzen, was die außergewöhnlich hohe Zahl von 154 881 Gedächtnismahlbesuchern im Jahre 1988 zeigt.
Ein sehr unterschiedliches, aber fruchtbares Feld
Venezuela ist ein Land der Gegensätze, was auch unter denjenigen zu beobachten ist, die gelernt haben, ihr Vertrauen auf Jehova zu setzen. Ein besonderes Merkmal des Landes sind die zahlreichen Einwanderer. Daher gibt es auch unter Jehovas Zeugen viele, die ursprünglich aus Italien, Portugal, Deutschland, Spanien, Frankreich, Haiti, Trinidad, Kuba, der Dominikanischen Republik, Ecuador und aus anderen Ländern stammen. Doch im Verein mit ihren venezolanischen Glaubensbrüdern vertrauen sie auf Jehova, den wahren Gott, dem sie dienen.
Es gibt außerdem große regionale Unterschiede. Ein Fischer aus den östlichen Gebieten unterscheidet sich außerordentlich von einem Viehzucht treibenden llanero aus dem zentralen Hochland im Süden. Welten trennen einen gestreßten Caraqueño aus der Hauptstadt oder einen redseligen Erdölarbeiter aus Maracaibo, der zweitgrößten Stadt des Landes, von einem bedächtigen Andino-Bauern, der im Südwesten, am Fuß der Anden, lebt. Jeder hat seine eigenen Sitten und seinen eigenen Dialekt. Unter den Menschen gibt es eine bunte Vielfalt, zu der die Einwanderer mit ihrem fremdländischen Kolorit ihren Teil beitragen.
Trotz der unterschiedlichen Verhältnisse haben Menschen aus allen Volksschichten Jehova kennengelernt. Zu ihnen gehört auch María Luisa. Von ihrem siebten Lebensjahr an hatte sie mit Spiritismus zu tun. Später wurde sie alkohol- und drogenabhängig, führte ein unsittliches Leben und ging ganz in der Verehrung der venezolanischen Göttin María Lionza auf.a Doch dann ekelte ihre Lebensführung sie an, und sie begann für eine katholische Missionsgesellschaft zu arbeiten, die unter den Indianern im westlichen Teil des Landes tätig ist. Sie kam jedoch bald zu dem Schluß, daß ihre Arbeit weder den Indianern noch ihr selbst half. Daraufhin beschäftigte sie sich oberflächlich mit Metaphysik und Reinkarnation, aber auch das gab ihr nichts. Schließlich wurde María Luisa von Zeugen Jehovas besucht. Die biblische Erkenntnis, die sie erlangte, verlieh ihr die nötige Kraft, gegen die bösen Geister anzukämpfen. Jetzt setzt sie ihr Vertrauen auf Jehova, und sie ist eine eifrige Verkündigerin der guten Botschaft vom Königreich.
Selbst Behinderte lernen, ihr Vertrauen auf Jehova zu setzen, so zum Beispiel Juan und Carlos, zwei leibliche Brüder. Mit neun Jahren erkrankte Carlos an Hirnhautentzündung und verlor das Augenlicht. Später studierte er mit Zeugen Jehovas die Bibel, obwohl er sich der katholischen charismatischen Bewegung angeschlossen hatte. Im Jahre 1982 ließ er sich taufen, und seit Dezember 1983 ist er ein Vollzeitprediger. Trotz seiner Blindheit geht er als Pionier in jeden Winkel seines Gebiets, nötigenfalls sogar allein. Der Bericht seines Bruders Juan hört sich allerdings ganz anders an.
Juan, der über 1,80 m groß ist, war ein richtiger Raufbold. Eines Tages wurde er von zwei Kugeln in den Rücken getroffen. Er überlebte zwar, war aber von der Brust abwärts gelähmt und völlig ans Bett gefesselt. Nur widerwillig nahm er von Zeugen, die bei ihm vorsprachen, das Angebot an, mit ihm die Bibel zu studieren. Durch das Studium erlangte er jedoch wieder Achtung vor der Bibel. Die Hoffnung auf vollkommenes Leben im Paradies berührte ihn tief. Als er nicht mehr rauchte, nicht mehr trank und keine unflätigen Worte mehr gebrauchte, verließen ihn alle früheren Freunde, weil er ihrer Ansicht nach ein „Heiliger“ geworden war. Doch Juan setzte weiterhin sein Vertrauen auf Jehova und ließ sich schließlich taufen.
„Daß ich ans Bett gefesselt bin, hindert mich nicht, Jehovas Willen zu tun, denn meine Hände und mein Gehirn funktionieren gut“, sagt Juan. Wie dient er Jehova unter diesen Umständen? „Ich kann mit Hilfe meines Kassettenrecorders meinen Verpflichtungen nachkommen, zum Beispiel Ansprachen in der Theokratischen Predigtdienstschule halten, Programmpunkte in der Dienstzusammenkunft behandeln und im wöchentlichen Wachtturm-Studium vorlesen. Ich habe auch das Vorrecht, eines der örtlichen Versammlungsbuchstudien zu leiten, das bei mir zu Hause stattfindet. Außerdem kann ich als allgemeiner Pionier dienen.“ Wie denkt er über das alles? „Ich bin meinen Verwandten sowie meinen Glaubensbrüdern und -schwestern für ihre große Hilfe sehr dankbar. Ich hoffe und bete darum, daß wir alle weiterhin unser Vertrauen auf Jehova setzen, damit wir den Tag erleben können, an dem ‘der Lahme klettern wird wie ein Hirsch’“ (Jesaja 35:6).
Kongresse zum Lobpreis Jehovas
Um dem Werk, durch das so vielen geholfen wird, ihr Vertrauen auf Jehova zu setzen, weiteren Auftrieb zu geben, wurden in Venezuela in letzter Zeit zwei Kongreßsäle errichtet. Der eine befindet sich in Campo Elias (Yaracuy), im Nordwesten des Landes. Der andere, etwa 60 km südlich von Caracas, ist mit einem Taufbecken ausgestattet und verfügt über Klimaanlage, Küche und Cafeteria.
Diese Säle haben auf Außenstehende und Interessierte, die sie besichtigt haben, großen Eindruck gemacht. Als der Fahrer eines gemieteten Busses, der eine Gruppe von Zeugen zu ihrem Kreiskongreß fuhr, bei der Ankunft den großen Parkplatz und die schönen Anlagen sah, beschloß er, sich das Gebäude auch von innen anzusehen. „Im Saal befand ich mich in einer anderen Welt; ich glaubte mich in eine andere Dimension versetzt“, sagte er. Er war von der Ordnung und der Einheit so beeindruckt, daß er dem gesamten Programm aufmerksam zuhörte. Später bat er um ein Bibelstudium, und jetzt ist er ein getaufter Bruder.
Einmal sollte ein Kreiskongreß in El Tigre, einer Stadt im Südosten des Landes, abgehalten werden. Da es in der Gegend keinen Kongreßsaal gab, mietete man am Ort eine Lokalität. Die Brüder wußten allerdings nicht, daß zur selben Zeit in der Stadt Karneval gefeiert wurde. Als städtische Angestellte direkt neben der Kongreßstätte eine Bühne für die Musiker errichten wollten, baten die Zeugen die Organisatoren des Karnevals inständig, diese doch woanders aufzustellen, aber ohne Erfolg. Schließlich wußten sich die Zeugen keinen Rat mehr, und so sagte einer von ihnen zu den Verantwortlichen: „Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß Sie mit Jehova Probleme bekommen werden.“ Einer der Verantwortlichen erwiderte darauf: „O nein, mit Jehova möchte ich keine Probleme bekommen!“ Man traf daraufhin auf einem Gelände Vorbereitungen für den Karneval, das von der Lokalität, wo der Kreiskongreß abgehalten werden sollte, weit entfernt war.
Auf einem anderen Kongreß wollte ein Mann, der eine Laufbahn in der Politik eingeschlagen hatte, feststellen, ob seine Frau, eine Glaubensschwester, dort mit jemand eine Affäre habe. Er war überrascht von dem hohen Niveau der Ansprachen, die gehalten wurden. „Wenn ich so reden könnte wie diese Männer, würde ich in meiner politischen Laufbahn wirklich vorankommen“, sagte er zu seiner Frau. Nach dem Programm sprach er einen Ältesten an, von dem er sich allerdings einzig und allein zeigen lassen wollte, wie er sich im öffentlichen Sprechen verbessern könne. „Erwarten Sie von mir nicht, daß ich mit der Büchertasche von Tür zu Tür gehe“, gab er sofort zu verstehen. Ein Bibelstudium wurde begonnen, und bald änderte der Mann seine Ansicht — er wollte mit der Büchertasche von Tür zu Tür gehen und die gute Botschaft verkündigen! Er gab die Politik auf und ließ sich taufen. Heute setzen er und seine Angehörigen ihr Vertrauen auf Jehova.
Vorbereitung auf weitere Ausdehnung
Während eines Besuchs von L. A. Swingle, einem Glied der leitenden Körperschaft, versammelten sich 63 580 Personen in der Plaza-Monumental-Stierkampfarena von Valencia. Viele von ihnen waren die ganze Nacht mit dem Bus unterwegs gewesen. Es war für alle Anwesenden sehr ermunternd, von Bruder Swingle folgendes zu hören: „Ihr seid kein kleiner Zweig mehr, sondern schon ein mittelgroßer. Und wie es aussieht, werdet ihr in nicht allzu ferner Zeit zum ‚100 000-Verkündiger-Klub‘ gehören!“
Pläne zur Ausdehnung des Zweigbüros in La Victoria werden gemacht, damit man sich des erstaunlichen Wachstums annehmen kann. Ja, in Venezuela lernen Tausende von Menschen, auf Jehova zu vertrauen.
[Fußnote]
a Siehe Erwachet! vom 22. September 1967, Seite 21—23.
[Karten/Bild auf Seite 21]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
KARIBISCHES MEER
VENEZUELA
Maracaibo
ANDEN
Campo Elias
Valencia
La Victoria
Caracas
El Tigre
KOLUMBIEN
BRASILIEN
GUYANA
600 km
400 Meilen
[Bilder auf Seite 24]
Außen- und Innenansicht des Kongreßsaals in Cúa