Jehova sorgt für jedes meiner Bedürfnisse
Von John E. Sewell erzählt
BEI jedem Schritt durch den dampfenden thailändischen Urwald dachte ich: „Es gibt bestimmt bequemere Wege von Bangkok nach Birma.“ Meine Füße waren wund, und ich war völlig durchgeschwitzt, aber meine Hauptsorge war, bloß nicht auf einen der Tiger, Schwarzbären oder Elefanten zu treffen, die diesen Urwald durchstreiften — von den Giftschlangen ganz abgesehen. Warum hatten wir, Frank Dewar und ich, uns überhaupt auf diese gefährliche Reise eingelassen?
Wir beide standen in Thailand im Missionardienst und hatten kurz zuvor erfahren, daß vom 26. bis 28. November 1938 in Rangun (Birma) ein dreitägiger Kongreß stattfand. Wegen unserer bescheidenen Finanzen durfte die Reise von Bangkok nach Rangun nicht viel kosten; deshalb bestand eine Etappe aus einem 80 km langen Fußmarsch durch den Urwald.
Am 16. November verließen wir Bangkok mit der Eisenbahn. Vom Zug stiegen wir dann in einen Kleinbus um und vom Bus in einen großen Einbaum, der uns an das andere Ufer des Ping brachte, wo unser langer Marsch durch den Urwald begann. Frank hatte über den Karten gebrütet und schließlich eine geeignet scheinende Route festgelegt. Es gab keine Straßen, denen wir hätten folgen können, sondern nur einen schmalen Pfad, der von Reisenden stammte, die sich hauptsächlich an einer Telefonleitung orientiert hatten.
Glücklicherweise waren die einzigen Tiere, die wir zu Gesicht bekamen, die zahllosen Affen in den Bäumen. Ein unerwartetes Entzücken bereiteten uns die atemberaubend schönen Orchideen, die über den Pfad hingen. Als gegen Abend die Schatten länger wurden, fragten wir uns, wie sicher es wohl sei, im Urwald zu übernachten. Er war so völlig anders als das Buschland in Australien, wo ich nachts oft draußen geschlafen hatte. Man hatte uns auch vor Schmugglern gewarnt, die dafür bekannt waren, daß sie Reisende ausraubten und selbst vor Gewalttätigkeiten nicht zurückschreckten.
Unser Mut sank, als eine Gruppe wild aussehender Männer vor uns auftauchte; jeder von ihnen trug eine lange Machete am Gürtel. Sie hielten uns an und fragten, wohin wir gingen. Als wir ihnen erklärten, daß wir zu einem christlichen Kongreß nach Rangun unterwegs seien, blickten sie uns zwar ungläubig an, zogen jedoch weiter, ohne uns ein Leid anzutun.
Kurz darauf trafen wir zwei junge Männer, die etwas freundlicher aussahen. Mit unserem begrenzten Wortschatz in Thai heuerten wir sie an, uns nach Birma zu führen. Bei Anbruch der Dunkelheit gelangten wir zu einem hohen Baum mit Trittstufen, die zu einer großen Plattform in den Ästen führten. Dort schliefen wir vier.
Am Abend des nächsten Tages kamen wir in ein kleines Dorf, wo wir auf der Veranda eines einfachen Hauses übernachten durften. Nach drei Tagen erreichten wir das Dorf Mae Sot an der birmanischen Grenze. Hier verabschiedeten wir uns von unseren Führern und bezahlten sie gern für ihre guten Dienste.
Auf der birmanischen Seite des Flusses stiegen wir in einen kleinen Bus, der durch das Gebirge fuhr. An Bord eines Flußbootes gelangten wir dann nach Moulmein. Die letzte Etappe unserer Reise nach Rangun legten wir mit der Eisenbahn zurück, was uns nach dem qualvollen Fußmarsch geradezu luxuriös vorkam. Die gesamte Reise hatte zwar eine Woche gedauert, aber die geistige Gemeinschaft mit unseren Brüdern war wirklich jede Mühe wert. Das Erlebnis war eine weitere Bestätigung dafür, daß Jehova für jedes meiner Bedürfnisse sorgte. Doch ich möchte einmal erzählen, wie ich überhaupt nach Thailand kam.
Die geistigen Bedürfnisse erkannt
Die Lebensgewohnheiten und die Sitten waren im Umbruch begriffen, als ich im Jahre 1910 in Westaustralien zur Welt kam. Der Erste Weltkrieg, der 1914 ausbrach, schien diese Veränderungen noch zu beschleunigen. Obwohl ich erst sieben Jahre alt war, kann ich mich noch deutlich daran erinnern, daß meine Mutter Briefe an meinen Vater schrieb, der im fernen Europa am Krieg teilnahm. Eines Tages sagte sie zu mir: „Weißt du, in der Bibel steht, daß es Kriege und Kriegsgerüchte geben wird.“ Sie erklärte es mir nicht näher, aber es machte mich neugierig.
Jahre später, im Dezember 1934, als ich einmal zu der Farm, auf der ich arbeitete, zurückritt, traf ich einen alten Schulfreund, der mir erzählte, daß kürzlich Zeugen Jehovas von Perth gekommen seien. Seine Angehörigen hatten zwar ihre Bücher gekauft, wollten sie aber nicht lesen. Aus Neugier erwarb ich von ihm das Buch Leben.
Ich ritt durch die klare Nachtluft. Das Mondlicht schien so hell, daß ich die großgedruckten Kapitelüberschriften lesen konnte. Zurück auf der Farm, las ich im Schein einer Petroleumlampe weiter. Ich erfuhr, daß Gott einen Namen hat — Jehova. Es begeisterte mich, daß Gott hinsichtlich der Erde einen wunderbaren Vorsatz gefaßt hat, ja daß die Erde zu einem Paradies für die gehorsame Menschheit werden wird. In diesem Buch wurden tatsächlich alle meine Fragen beantwortet.
Meine Eltern — sie lebten auf einer kleinen Farm, etwa 140 km entfernt — sollten die ersten sein, denen ich davon erzählte. Der Ritt dorthin dauerte eineinhalb Tage. Als ich meiner Mutter berichtete, was ich gelesen hatte, sagte sie mir zu meiner Überraschung, daß sie dieselbe biblische Literatur mit großer Freude studiere. Eine Woche später machte ich mich wieder auf den langen Rückweg. Unterwegs mußte ich über vieles nachdenken, denn mein Studium hatte mir gezeigt, daß Gott nicht nur Erkenntnis und Glauben fordert. Mir war jetzt bewußt, daß ein wahrer Christ Jesus Christus nachfolgen und Jehova persönlich dienen muß, indem er anderen predigt. Ich faßte den Entschluß, ab sofort möglichst an jedem Wochenende den Predigtdienst durchzuführen.
Wunderbare Dienstgelegenheiten
Um auf den weitverstreuten Farmen in unserer Gegend Zeugnis geben zu können, kaufte ich mir einen Ford Modell T, der zu einem Kombiwagen umgebaut worden war. Ich nahm mein Bettzeug und andere notwendige Dinge mit, besuchte jeweils am Samstag nachmittag die Farmer, übernachtete im Wagen und setzte am Sonntag vormittag meine Zeugnistätigkeit von Farm zu Farm fort. Am späten Nachmittag kehrte ich nach Hause zurück.
Im April 1936 symbolisierte ich auf einem kleinen Kongreß in Perth meine Hingabe an Jehova durch die Taufe. In einer der Ansprachen wurde Nachdruck auf den Pionierdienst (Vollzeitpredigtdienst) gelegt. Mir war klar, daß mich keine biblischen Verpflichtungen daran hinderten, mich an diesem wichtigen Werk zu beteiligen. Daher nahm ich im Dezember 1936 den Pionierdienst auf.
In jenem Monat trafen zwei unerschrockene Pioniere, Arthur Willis und Bill Newlands, mit einem Lastwagen in Perth ein. Sie hatten das an der Ostküste gelegene Sydney neun Monate zuvor verlassen und eine Predigtreise quer durch Australien unternommen. Man kann sich meine Freude vorstellen, als mich die Gesellschaft einlud, sie auf ihrer Rückreise zu begleiten. Dies war für mich eine unbezahlbare, unvergeßliche Schulung.
Durch die Nullarborebene
Der Name Nullarbor bedeutet „keine Bäume“. Das ist eine treffende Beschreibung dieser trockenen, baumlosen Ebene in Mittelaustralien. Mitte der 30er Jahre führte die 1 600 km lange Route, auf der wir sie durchquerten, über die schlimmsten Straßen, die man sich vorstellen kann.
Nachts schliefen wir gewöhnlich auf unseren Feldbetten unter freiem Himmel. In diesem Teil des Landes regnet es so gut wie nie, und es gibt überhaupt keinen Tau. Wenn wir zu den Sternen aufschauten, die durch die klare, saubere Luft funkelten, kamen mir oft folgende Worte aus Psalm 19 in den Sinn: „Die Himmel verkünden die Herrlichkeit Gottes; und die Ausdehnung tut das Werk seiner Hände kund.“
Es heißt, daß die Eisenbahnlinie durch die Nullarborebene die längste gerade Eisenbahnstrecke der Welt ist. Sie verläuft über 480 km ohne die leichteste Kurve. Es machte uns Freude, in den kleinen Siedlungen entlang der Eisenbahnlinie sowie den Leuten, die auf den Schafstationen oder Viehfarmen wohnten, Zeugnis zu geben. In diesem Teil Australiens verfügten einige über riesigen Grundbesitz. Ich kann mich an eine Station von über 4 000 km2 erinnern; das Gehöft lag etwa 80 km vom Eingangstor entfernt.
Schließlich erreichten wir das westlich von Sydney in den Blue Mountains gelegene Katoomba — gerade rechtzeitig zum Gedächtnismahl am 26. März 1937. Die Reisezuteilung hatte uns viel Freude bereitet und war eine geistige Bereicherung gewesen, aber es war auch ganz angenehm, einige Zeit mit einer Versammlung des Volkes Gottes verbunden zu sein.
Von den Symbolen nehmen oder nicht?
Im Jahre 1937 herrschte immer noch Verwirrung darüber, wer zur Klasse der „anderen Schafe“ gehörte (Johannes 10:16). Einige meinten, daß das Maß des Glaubens und des christlichen Eifers zeige, ob jemand himmlische Berufung habe oder nicht. Daher nahm ich — wie auch andere unter ähnlichen Umständen — von den Symbolen. Im nächsten Jahr standen jedoch einige von uns Pionieren erneut vor der schwierigen Frage, ob sie teilnahmeberechtigt waren.
Wir erhofften uns eigentlich ein Leben auf einer paradiesischen Erde, doch viele waren der Ansicht, daß unser Eifer und unser Pioniergeist der Beweis für unsere Geistsalbung seien. Zur rechten Zeit ließ Jehova durch seine irdische Organisation die Angelegenheit klarstellen. Am Nachmittag vor dem Gedächtnismahl traf die Wachtturm-Ausgabe vom 15. März 1938a ein. Der Hauptartikel, „Seine Herde“, war eine eingehende Betrachtung von Johannes 10:14-16. Wie freuten wir uns über die eindeutige Erklärung, die unsere Fragen beantwortete!
In dem Artikel wurden Beispiele angeführt, wie Gottes Geist in alter Zeit, lange bevor es eine himmlische Berufung gab, auf seine Diener einwirkte und sie zu machtvollen Werken veranlaßte. In ähnlicher Weise gibt Gott heute seinen ergebenen Dienern, die eine irdische Hoffnung haben, seinen Geist. Wir waren für das Verständnis dankbar, daß es ein Unterschied ist, ob jemand vom heiligen Geist gezeugt ist oder durch Gottes Geist Kraft erhält, seinen Willen zu tun.
Einladung, den Dienst auszudehnen
Weitere begeisternde Ereignisse des Jahres 1938 waren der Besuch von Bruder Rutherford, dem Präsidenten der Watch Tower Society, und der Kongreß, der im Sportstadion von Sydney stattfand. Auf dem Kongreß erging ein Aufruf an Pioniere, sich für den Dienst in Birma, Malaya, Siam (heute Thailand) und Java (heute Indonesien) zu melden. Hector Oates, Fred Paton und ich freuten uns, nach Birma gesandt zu werden.
Ich war bis dahin noch nie aus Australien herausgekommen. Doch nun, nur zwei Monate nach dem Kongreß, war ich zusammen mit anderen Pionieren an Bord eines Schiffes unterwegs in ein neues Gebiet. Am 22. Juni 1938 legten wir in Singapur an. Bill Hunter, der dort bereits den Pionierdienst durchführte, wartete am Anleger auf uns. Wie fremdartig und interessant uns alles erschien — angefangen von der Kleidung und den Sitten der Einheimischen bis zu den Sprachen, die wir nicht verstanden.
Bruder Hunter überreichte mir ein Telegramm aus Australien, in dem mir mitgeteilt wurde, daß ich nicht nach Birma, sondern nach Malaya gehen sollte. Fred Paton und Hector Oates mußten also ohne mich nach Birma weiterreisen. Ich war froh, als ich erfuhr, daß ich mit zwei erfahrenen Missionaren, Kurt Gruber und Willi Unglaube, zusammenarbeiten würde. Die beiden stammten ursprünglich aus Deutschland, dienten aber schon einige Zeit in Malaya.
Nach drei Monaten in Malaya wurde ich nach Thailand gesandt. Willi Unglaube und Frank Dewar, der dort schon früher als Missionar gearbeitet hatte, sollten mich begleiten. Im September 1938 reisten wir mit der Eisenbahn nach Thailand, suchten uns eine Unterkunft und begannen mit dem Zeugniswerk. Die Thailänder waren freundlich und geduldig, wenn wir Schwierigkeiten hatten, uns in ihrer Sprache auszudrücken.
Der anregende Kongreß in Rangun
Von Bangkok aus unternahmen wir dann die bereits beschriebene strapaziöse Reise nach Rangun. Zum erstenmal wurde in Birma ein Kongreß abgehalten, und die schöne Stadthalle war beim öffentlichen Vortrag mit über tausend Menschen so überfüllt, daß die Türen geschlossen werden mußten. In Birma und in den Nachbarländern gab es nur eine Handvoll Zeugen; die meisten, die dem öffentlichen Vortrag beiwohnten, waren demnach aufgrund der Einladungszettel gekommen, die man vor dem Kongreß zu Tausenden verteilt hatte.
Für uns, die wir aus Missionarzuteilungen kamen, wo wir auf uns allein gestellt waren, war der Kongreß eine große geistige Stärkung. Nach dem Kongreß kehrten wir nach Thailand zurück — jedoch auf einem leichteren Weg, der keinen Marsch durch den Urwald erforderte.
Krieg und japanische Invasion
Schon bald bewegten sich die drohenden Schatten des Krieges in Richtung Südostasien. Die japanischen Streitkräfte marschierten in Thailand ein und verboten das Werk der Zeugen Jehovas. Alle Briten, Amerikaner und Niederländer wurden für die Dauer des Krieges in Lagern interniert. George Powell, ein Pionier, der aus Singapur gekommen war, um sich uns in Bangkok anzuschließen, wurde zusammen mit mir eingesperrt. Wir verbrachten gemeinsam drei Jahre und acht Monate im Lager.
Während der gesamten Internierungszeit erhielten wir weder neue Literatur noch Mitteilungen von der Gesellschaft. Doch wir erlebten das, was der Psalmist verheißen hat: „Jehova stützt alle Fallenden und richtet auf alle Niedergebeugten“ (Psalm 145:14).
Zurück nach Australien
Nach Kriegsende im Jahre 1945 kehrte ich nach Australien zurück. Durch das gute Essen und die besseren Lebensbedingungen erholte ich mich gesundheitlich so gut, daß ich den Pionierdienst wiederaufnehmen konnte. Schließlich wurde mir im Jahre 1952 die Aufgabe übertragen, den Reisedienst als Kreisaufseher durchzuführen, und ich durfte dieses Vorrecht 22 Jahre lang wahrnehmen. Im Jahre 1957 heiratete ich Isabell, die schon 11 Jahre im Pionierdienst gestanden hatte, und sie begleitete mich dann im Kreisdienst.
Da sich gesundheitliche Probleme einstellten, die das ständige Reisen sehr erschwerten, ließen wir uns 1974 als Pioniere in Melbourne nieder. Ich diene noch von Zeit zu Zeit als stellvertretender Kreisaufseher und hatte kürzlich das Vorrecht, als Unterweiser in der Pionierdienstschule mitzuwirken. Bei all meiner Tätigkeit hat mich meine Frau stets gern unterstützt. Jetzt bin ich 78 Jahre alt, und ich bin Jehova sehr dankbar, daß er weiterhin für jedes meiner Bedürfnisse sorgt.
Wenn ich auf all die Jahre zurückblicke, denke ich oft daran, wie Jehova uns geschult hat, wie er uns geholfen hat, Fehler zu überwinden, und uns in Zucht genommen hat, um uns als seine Diener zu läutern. Ich kann mich an Gelegenheiten erinnern, in denen Gott mir die nötige Unterstützung gewährte, um Prüfungen zu bestehen, die ich mit menschlicher Kraft nicht hätte ertragen können. Diese Erinnerungen sind ein Quell der Stärkung, und sie führen mir ständig vor Augen, daß Jehova wirklich für jedes meiner Bedürfnisse gesorgt hat.
[Fußnote]
a Deutsch 15. April 1938.
[Bild auf Seite 10]
Meine Frau Isabell und ich heute
[Bild auf Seite 12]
Zeugnisgeben in der Nullarborebene