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Die psychischen UrsachenErwachet! 1987 | 22. Oktober
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„ICH habe alle Untersuchungen machen lassen und nichts gefunden“, sagte der freundliche Arzt zu Elisabeth. „Nach meiner Meinung sind Sie äußerst depressiv, und das nicht ohne Grund.“
Elisabeth, die ein physisches Leiden zu haben glaubte, überlegte, ob der Arzt womöglich recht habe. Sie ließ die letzten beiden Jahre an sich vorüberziehen, den täglichen Kampf mit ihrem übermütigen, oft unkontrollierbaren sechsjährigen Jungen, der, wie sich später herausstellte, ein krankhaftes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit hatte. „Tagaus, tagein der Streß und die unablässigen Sorgen haben mein Nervenkostüm ganz schön strapaziert“, vertraute Elisabeth dem Arzt an. „Ich war schon so weit, daß ich weder aus noch ein wußte und an Selbstmord dachte.“
Wie Elisabeth sind viele der depressiv Erkrankten psychisch ungewöhnlich stark belastet. Gemäß einer Grundlagenstudie kamen die britischen Forscher George Brown und Tirril Harris zu dem Ergebnis, daß „nennenswerte Schwierigkeiten“ wie schlechte Wohnbedingungen oder gespannte Familienverhältnisse bei depressiven Frauen dreimal häufiger anzutreffen waren als bei nichtdepressiven. Schwierigkeiten wie diese hatten über zwei Jahre lang „beträchtlich und oft unaufhörlich Kummer“ verursacht. Auch Schicksalsschläge wie der Tod eines nahen Verwandten oder Bekannten, ein schlimmes Leiden oder ein schwerer Unfall, Unglücksnachrichten oder der Verlust des Arbeitsplatzes waren bei depressiven Frauen viermal häufiger zu verzeichnen als bei anderen.
Die Forscher Brown und Harris stellten fest, daß tragische Erlebnisse allein keine Depressionen hervorrufen. Ausschlaggebend war vor allem, wie der einzelne innerlich reagierte und wie verwundbar er gefühlsmäßig war.
„Alles schien hoffnungslos“
Sarah zum Beispiel, eine tüchtige Ehefrau und Mutter von drei kleinen Kindern, hatte sich bei einem Arbeitsunfall den Rücken verletzt. Der Arzt eröffnete ihr, daß sie wegen ihres bleibenden Bandscheibenschadens die körperliche Arbeit erheblich einschränken müsse. „In mir brach eine Welt zusammen. Bisher war ich ein unternehmungslustiger, sportlicher Mensch gewesen und hatte mit den Kindern immer Sport getrieben. Ich grübelte über den Verlust nach und meinte, nun sei alles aus und vorbei. Bald verlor ich jede Freude am Leben. Alles schien hoffnungslos“, gestand Sarah.
Ihre Reaktion auf den Unfall ließ Gedanken über die Hoffnungslosigkeit ihres zukünftigen Lebens an sich aufkommen, die dann die Depression zum Keimen brachten. Brown und Harris sagen in ihrem Buch Social Origins of Depression (Soziale Ursachen der Depression): „Das [der auslösende Vorfall wie Sarahs Unfall] kann in jemandem Gedanken über die Hoffnungslosigkeit seines Lebens an sich wecken. Gerade diese Verallgemeinerung der Hoffnungslosigkeit bildet nach unserer Ansicht den Kern einer depressiven Verstimmung.“
Aber was nimmt vielen Menschen die Fähigkeit, einen schmerzlichen Verlust zu verwinden, so daß sie sehr depressiv werden? Warum neigte beispielsweise Sarah zu derart negativem Denken?
„Ich tauge zu nichts“
„Mir hat es schon immer an Selbstvertrauen gefehlt“, erklärte Sarah. „Meine Selbstachtung war gering, und ich meinte, an mir sei nichts Anziehendes.“ Die schmerzlichen Gefühle, die mit einer mangelnden Selbstachtung einhergehen, sind oft entscheidend. „Durch den Schmerz des Herzens gibt es einen niedergeschlagenen Geist“, heißt es in Sprüche 15:13. In der Bibel wird eingeräumt, daß ein niedergedrückter Geist nicht nur durch äußere Belastungen, sondern auch durch innere Befürchtungen zustande kommen kann. Wie kann es zu einer geringen Selbstachtung kommen?
Verschiedene Denkmuster werden durch die Erziehung geprägt. „Als Kind wurde ich von meinen Eltern nie gelobt“, sagte Sarah. „Ich kann mich nicht daran erinnern, daß mir jemals ein Kompliment gemacht wurde, bevor ich meinen Mann kennenlernte. Folglich suchte ich die Anerkennung anderer. Ich habe schreckliche Angst davor, von anderen nicht akzeptiert zu werden.“
Sarahs ausgeprägtes Bedürfnis nach Anerkennung ist ein übliches Merkmal von Personen, bei denen es zu schweren Depressionen kommt. Forschungen zeigen, daß solche Personen ihre Selbstachtung auf die Liebe und die Anerkennung von anderen gründen statt auf ihre eigenen Leistungen. Sie messen ihren Wert daran, wie sehr andere sie mögen oder wie wichtig sie in den Augen anderer sind. „Geht diese Grundlage verloren“, so ein Forscherteam, „bricht die Selbstachtung zusammen, und das trägt entscheidend zur Auslösung der Depression bei.“
Perfektionismus
Ein übersteigertes Streben nach Anerkennung äußert sich häufig auf absonderliche Weise. Sarah erklärte: „Ich bemühte mich, alles peinlich genau zu machen, damit mir die Anerkennung zuteil werde, die mir als Kind versagt blieb. So war es auch auf meiner Arbeitsstelle. In meiner Familie mußte alles ‚perfekt‘ ablaufen. Diesem Wunschbild hatte ich zu entsprechen.“ Nachdem Sarah den Unfall erlitten hatte, schien jedoch alles hoffnungslos zu sein. Sie sagte weiter: „Ich hielt mich für den Motor der Familie und befürchtete, daß ohne mich nichts mehr ginge und andere mich für eine schlechte Ehefrau und Mutter halten würden.“
Sarahs Denkweise mündete in eine schwere Depression. Forschungen über die Persönlichkeit depressiver Menschen zeigen, daß Sarah kein Einzelfall ist. Margaret, die ebenfalls unter schweren Depressionen gelitten hatte, gab zu: „Ich machte mir stets Sorgen, was andere wohl von mir denken könnten. Ich war ein perfektionistischer, nach der Uhr lebender durchorganisierter Angsthase.“ Unrealistische Ansprüche an sich zu stellen oder übergewissenhaft zu sein und schließlich den Erwartungen nicht gerecht zu werden ruft häufig Depressionen hervor. Prediger 7:16 gibt die Warnung: „Werde nicht allzu gerecht, noch zeige dich übermäßig weise. Warum solltest du Verwüstung über dich bringen?“ Der Versuch, sich gegenüber anderen nahezu „vollkommen“ zu geben, kann sich psychisch und physisch verheerend auswirken. Die Frustrationen können auch zu zerstörerischen Selbstvorwürfen führen.
„Ich mache alles falsch“
Sich Vorwürfe zu machen muß nicht verkehrt sein. Jemand könnte zum Beispiel überfallen werden, weil er in einer gefährlichen Gegend allein spazierengegangen ist. Er macht sich Vorwürfe, weil er sich in eine solche Gefahr hineinbegeben hat, und nimmt sich vor, dies nicht mehr zu tun und somit einem ähnlichen Problem vorzubeugen. Doch jemand könnte einen Schritt weitergehen und sich darüber Vorhaltungen machen, was für eine Art Mensch er ist, und sich sagen: „Ich bin einfach ein unachtsamer Mensch, der unfähig ist, Problemen auszuweichen.“ Diese Art von Selbstvorwürfen zerstört den eigenen Charakter und untergräbt die Selbstachtung.
Ein Beispiel für solche zerstörerischen Selbstvorwürfe ist das, was sich bei der 32jährigen Maria ereignete. Sechs Monate lang hegte sie Groll gegen ihre ältere Schwester — aufgrund eines Mißverständnisses. Eines Abends machte sie ihre Schwester am Telefon herunter. Als ihre Mutter hörte, was Maria sich erlaubt hatte, rief sie zurück und wies Maria streng zurecht.
„Ich wurde wütend auf meine Mutter, aber noch mehr auf mich selbst, weil ich einsah, daß ich meine Schwester tief verletzt hatte“, erklärte Maria. Kurz darauf schrie sie ihren neunjährigen Sohn an, weil er sich schlecht benommen hatte. Der Junge, der ganz aufgelöst war, sagte später zu ihr: „Mami, es hat sich angehört, als ob du mich umbringen wolltest.“
Maria war niedergeschmettert. Sie berichtete: „Ich hielt mich für unausstehlich.“ Ich dachte bei mir: „Ich mache alles falsch. Mehr fiel mir dazu nicht ein. Damit setzte die schwere Depression wirklich ein.“ Ihre Selbstvorwürfe erwiesen sich als vernichtend.
Heißt das, daß jeder, der unter schweren Depressionen leidet, eine geringe Selbstachtung hat? Natürlich nicht. Die Ursachen sind vielschichtig und von Fall zu Fall verschieden. Selbst der „Schmerz des Herzens“, von dem in der Bibel die Rede ist, hat zahlreiche emotionale Ursachen wie Zorn, Kränkung, Schuldgefühle — berechtigte oder aufgebauschte — und ungelöste Konflikte (Sprüche 15:13). All das kann zu einem niedergeschlagenen Geist oder zu Depressionen führen.
Als es Sarah klar wurde, daß ihre Depression größtenteils auf ihre Denkweise zurückging, war sie erst einmal völlig zerknirscht. „Aber dann wurde mir etwas wohler“, bekannte sie, „denn ich erkannte, daß meine Depression, wenn sie durch meine Gedanken verursacht worden ist, auch durch meine Gedanken wieder geheilt werden kann.“ Sarah sagte, diese Überlegung habe sie begeistert, und fuhr fort: „Ich erkannte, daß sich mein ganzes Leben zum Guten wenden könnte, wenn ich über bestimmte Dinge anders dächte.“
Sarah nahm die notwendigen Änderungen vor, und ihre Depression ließ nach. Maria, Margaret und Elisabeth gewannen den Kampf ebenfalls.
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Den Kampf gegen die Depression gewinnenErwachet! 1987 | 22. Oktober
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Der Arzt wird nicht selten Antidepressiva verschreiben. Das sind Medikamente, mit denen ein chemisches Mißverhältnis ins Lot gebracht werden soll. Elisabeth, von der zuvor die Rede war, hatte solche Mittel eingenommen, und innerhalb weniger Wochen besserte sich ihr Gemütszustand zusehends. „Ich mußte aber über die Einnahme von Medikamenten hinaus weiterhin auf eine positive Einstellung zur Arbeit achten“, sagte sie. „Die ‚Starthilfe‘, die mir die Medikamente gaben, stärkten meinen Genesungswillen. Außerdem verschaffte ich mir täglich genügend Bewegung.“
Antidepressiva schlagen nicht bei jedem so gut an. Gelegentlich treten unangenehme Nebenwirkungen auf. Wenn das Denken nicht korrigiert wird, kommt es selbst dann immer wieder zu Depressionen, wenn die chemische Funktionsstörung behoben worden ist. Ein äußerst wirksames Mittel ist die Bereitschaft, seine Gefühle zu zeigen.
Seine Gefühle zeigen
Sarah war die einseitige Belastung durch ihre Familienpflichten und ihre Erwerbstätigkeit leid. (Siehe Seite 7.) „Aber ich schluckte alles hinunter“, erklärte sie. „Eines Abends war ich mit den Nerven so fertig, daß ich meine Schwester anrief und das erstemal in meinem Leben jemandem erzählte, wie es in mir aussah. Das war ein Wendepunkt, denn dieser Anruf wirkte Wunder.“
Wenn jemand niedergedrückt ist, tut er gut daran, sich an einen vertrauenswürdigen, einfühlsamen Menschen zu wenden. Das kann der Ehepartner sein, ein guter Freund, ein Verwandter, ein befähigter Glaubensgefährte, ein Arzt oder ein fähiger Berater. Gemäß einer Studie, über die in der Zeitschrift Journal of Marriage and the Family berichtet wird, ist es im Kampf gegen Depressionen unverzichtbar, „einen Helfer zu haben, mit dem man die Drangsale des Lebens teilen kann“.
Zu sagen, was man fühlt, wirkt heilend, weil dadurch dem Sinn die Möglichkeit entzogen wird, ein Problem oder einen Verlust zu verleugnen und somit unbewältigt zu lassen. Daher empfiehlt es sich, zu zeigen, was man wirklich empfindet, und Gefühle nicht aus falschem Stolz zu verbergen, um bei anderen weiterhin als jemand zu gelten, der durch nichts unterzukriegen ist. „Angstvolle Besorgtheit im Herzen eines Mannes wird es niederbeugen, aber das gute Wort erfreut es“, heißt es gemäß Sprüche 12:25. Nur wenn für andere sichtbar ist, was in einem vorgeht, können sie die „angstvolle Besorgtheit“ verstehen und ein ermunterndes ‘gutes Wort’ aussprechen.
„Als ich meine Schwester anrief, wollte ich nur Mitgefühl, aber ich bekam viel mehr als das“, erinnert sich Sarah. „Sie half mir einzusehen, wo ich von falschen Voraussetzungen ausging. Sie meinte, ich würde mir zuviel Verantwortung aufladen. Das war zwar alles andere als Musik in meinen Ohren, aber als ich ihren Rat befolgte, spürte ich, daß die zentnerschwere Last immer leichter wurde.“ Wie wahr sind doch die Worte aus Sprüche 27:9: „Öl und Räucherwerk erfreuen das Herz, auch die Süßigkeit von jemandes Gefährten zufolge des Rates der Seele.“
Es ist angenehm, einen Freund oder Ehegefährten zu haben, der bestimmte Dinge beim Namen nennt und einem hilft, sie aus dem richtigen Blickwinkel zu betrachten. Das trägt dazu bei, daß man sich jeweils auf nur ein Problem konzentriert. Statt also in Igelstellung zu gehen, wäre es besser, solche „geschickte Lenkung“ zu schätzen. Man braucht vielleicht jemanden, der in der Lage ist, einem nach mehreren Gesprächen Nahziele aufzuzeigen, durch die die eigene Lage schrittweise abgeändert werden kann, um die Auslöser der emotionalen Belastung zu schwächen oder gar völlig zu beseitigen.b
Der Kampf gegen Depressionen erfordert es meistens, sich gegen Minderwertigkeitsgefühle zu behaupten. Wie kann man solchen Gefühlen geschickt entgegenwirken?
Gegen Minderwertigkeitsgefühle ankämpfen
Wie im vorigen Artikel beschrieben, wurde Maria beispielsweise depressiv, nachdem es zu Konflikten in der Familie gekommen war. Sie war zu dem Schluß gelangt: „Ich bin ein unausstehlicher Mensch und mache alles falsch.“ Diese Schlußfolgerung war verkehrt. Wenn sie ihre Folgerungen unter die Lupe genommen hätte, hätte sie sich sagen können: „Ich mache wie jeder andere einiges richtig und anderes falsch. Mir unterläuft so mancher Fehler, und ich muß eben darauf achten, etwas überlegter vorzugehen, aber es gibt keinen Grund, das Ganze überzubetonen.“ Ein solcher Gedankengang hätte ihr Selbstwertgefühl nicht belastet.
Die innere Stimme im Menschen ist oft überkritisch und verurteilt oft zu Unrecht. Verschiedene typische verzerrte Gedanken, die eine Depression nähren, werden in der hier abgedruckten Liste angeführt. Es gilt, solche abwegigen Gedanken zu erkennen und deren Gültigkeit gedanklich anzufechten.
Unter Minderwertigkeitsgefühlen litt auch Jean, eine 37jährige alleinerziehende Mutter. „Die Erziehung meiner beiden Söhne belastete mich stark. Wenn ich sah, daß andere alleinerziehende Mütter wieder heirateten, meinte ich, bei mir müsse irgend etwas nicht stimmen“, erklärte sie. „Da ich nur bei negativen Gedanken verweilte, uferten diese aus, und schließlich mußte ich wegen Depression ins Krankenhaus.“
„Nach meiner Entlassung“, fährt Jean fort, „sah ich in der Erwachet!-Ausgabe vom 8. Dezember 1981 eine Aufstellung von ‚Gedanken, die für Depressionen anfällig machen können‘. Diese Aufstellung las ich mir allabendlich durch. Einige der angeführten falschen Überlegungen lauteten: ‚Mein Persönlichkeitswert hängt davon ab, was andere von mir denken.‘ ‚Ich sollte nie gekränkt sein; ich sollte immer glücklich und gelassen sein.‘ ‚Ich sollte ein vollkommener ... Vater (Mutter) ... sein.‘ Ich war mir meiner Neigung zum Perfektionismus bewußt, daher betete ich zu Jehova, sobald solche Gedanken aufkamen, und bat ihn, mir zu helfen, meinen Gedankengang abzubrechen. Mir wurde klar, daß negatives Denken das Selbstwertgefühl verringert, denn man sieht in einem solchen Fall nur den Ärger im Leben statt das Gute, das Jehova einem schenkt. Ich überwand meine Depression, indem ich mich zwang, gewisse unrichtige Gedanken auszuschalten.“ Jeder könnte sich fragen, ob sein Denken anfechtbar ist und verworfen werden sollte.
Liegt es an mir?
Alexander war in der Lage, eine Schulklasse zu unterrichten, obwohl er schwer depressiv war. (Siehe Seite 3.) Als einmal mehrere seiner Schüler bei einer wichtigen Leseprüfung schlecht abschnitten, wollte er sich das Leben nehmen. „Er meinte, er habe versagt“, erzählte seine Frau Esther. „Ich habe ihm gesagt, daß es nicht an ihm gelegen habe und daß es keinen hundertprozentigen Erfolg gebe.“ Seine übermächtigen Schuldgefühle machten ihn jedoch verschlossen und trieben ihn in den Selbstmord. Ein solch übersteigertes Schuldempfinden geht oft darauf zurück, daß jemand eine unrealistische Verantwortung für das Verhalten anderer übernimmt.
Sogar Eltern haben das Leben ihrer Kinder nicht völlig im Griff; sie können es bestenfalls stark beeinflussen. Wenn etwas anders ausgeht als geplant, sollte man sich fragen: Waren unvorhersehbare Ereignisse mit im Spiel, die sich meinem Einfluß entziehen? (Prediger 9:11). Habe ich alles getan, was mir vernünftigerweise körperlich, geistig und gefühlsmäßig zuzumuten war? Habe ich einfach übertriebene Erwartungen gehegt? Muß ich vernünftiger und bescheidener werden? (Philipper 4:5).
Was aber, wenn einem ein schwerer Fehler unterläuft und man wirklich schuld ist? Wird sich an dem, was geschehen ist, etwas ändern, wenn man sich darüber das Hirn zermartert? Ist Jehova nicht bereit, jedem „in großem Maße“ zu vergeben, der echte Reue bekundet? (Jesaja 55:7). Wenn sogar Jehova ‘nicht für alle Zeit fortfährt zu rügen’, sollte man sich dann selbst damit bestrafen, daß man sich sein Leben lang wegen einer solchen Verfehlung quält? (Psalm 103:8-14). Was Jehova gefällt und die Depression abbaut, ist nicht anhaltende Traurigkeit, sondern es sind zielstrebige Schritte zur „Berichtigung des Unrechts“ (2. Korinther 7:8-11).
‘Die Dinge, die dahinten sind, vergessen’
Es kann sein, daß ein emotionelles Problem in die Vergangenheit zurückreicht, insbesondere wenn jemand ungerecht behandelt wurde. Hier ist es ratsam, zum Vergeben bereit zu sein und zu vergessen. „Vergessen ist nicht einfach“, mag man einwenden. Das stimmt zwar, aber es ist besser, über gewisse Vorfälle, die nicht ungeschehen gemacht werden können, Gras wachsen zu lassen, als sich dauernd damit zu beschäftigen und sich den Rest seines Lebens zu verleiden.
„Die Dinge vergessend, die dahinten sind, und mich nach den Dingen ausstreckend, die vor mir sind“, schrieb der Apostel Paulus, „jage ich dem Ziel entgegen, dem Preis“ (Philipper 3:13, 14). Paulus grübelte weder über den verkehrten Lauf nach, den er als Vertreter des Judaismus eingeschlagen hatte, noch darüber, daß er sogar zum Mord angestachelt hatte (Apostelgeschichte 8:1). Nein, er konzentrierte seine Kräfte darauf, sich für den künftigen Preis, das ewige Leben, zu eignen. Auch Maria lernte es, nicht mehr über längst Vergangenes nachzugrübeln. Einmal machte sie ihrer Mutter Vorwürfe wegen der Art und Weise, wie sie erzogen worden war. Ihre Mutter hatte besonderen Wert auf Glanzleistungen und ein makelloses Aussehen gelegt. Deshalb wurde aus Maria eine Perfektionistin, und sie neigte zur Eifersucht auf ihre attraktive Schwester.
„Diese unterschwellige Eifersucht war zwar die Wurzel der Auseinandersetzungen, dennoch gab ich meinen Angehörigen die Schuld für mein Verhalten. Schließlich gelangte ich an den Punkt, wo ich mich fragte, ob es wirklich eine Rolle spiele, wer an alldem schuld war. Ich sagte mir: ‚Mag sein, daß an meinen Unarten teilweise die Erziehung meiner Mutter schuld ist, aber es geht darum, etwas dagegen zu tun! So darf es nicht weitergehen!‘“ Diese Einsicht half Maria, die nötige Sinnesänderung vorzunehmen, um den Kampf gegen die Depression zu gewinnen (Sprüche 14:30).
Der wahre Wert eines Menschen
Kurzum, den Kampf gegen Depressionen erfolgreich zu führen erfordert eine ausgeglichene Einschätzung des eigenen Wertes. Der Apostel Paulus schrieb: „Ich [warne] jeden einzelnen von euch: Schätzt euch nicht höher ein, als euch zukommt. Bleibt bescheiden“ (Römer 12:3, Hoffnung für alle). Falscher Stolz, das Ignorieren der eigenen Grenzen und Perfektionismus zeugen allesamt von Selbstüberschätzung. Solchen Neigungen gilt es zu widerstehen, aber ohne von einem Extrem ins andere zu fallen.
Jesus Christus betonte den Wert jedes einzelnen seiner Jünger, indem er sagte: „Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Münzen von geringem Wert? Doch nicht einer von ihnen wird vor Gott vergessen. Aber sogar die Haare eures Hauptes sind alle gezählt. Fürchtet euch nicht; ihr seid mehr wert als viele Sperlinge“ (Lukas 12:6, 7). Wir sind für Gott so wertvoll, daß er die winzigste Einzelheit eines jeden wahrnimmt. Er weiß mehr über uns als wir selbst, denn er sorgt sich sehr um uns (1. Petrus 5:7).
Die Erkenntnis, daß Gott persönlich an den Menschen interessiert ist, trug zur Steigerung von Sarahs Selbstwertgefühl bei. „Ich empfand stets Ehrfurcht vor dem Schöpfer, aber dann wurde mir bewußt, daß er persönlich für mich sorgt. Mir war bewußt, daß ich ungeachtet dessen, was meine Kinder taten, was mein Mann tat, wie meine Eltern mich erzogen hatten, in einem freundschaftlichen Verhältnis zu Jehova stand. Von da an steigerte sich mein Selbstwertgefühl.“
Da Gott seine Diener für kostbar erachtet, richtet sich ihr Wert nicht nach der Anerkennung, die ihnen andere entgegenbringen. Natürlich ist es unerfreulich, von anderen abgelehnt zu werden. Aber wer seinen Wert an der Anerkennung oder Ablehnung durch andere mißt, setzt sich der Gefahr aus, depressiv zu werden. König David, ein Mann nach dem Herzen Gottes, wurde einmal als „nichtsnutziger Mann“ bezeichnet, was buchstäblich „Mann der Nichtswürdigkeit“ bedeutet. Doch David begriff, daß Schimei, der ihn verwünscht hatte, die Situation verkannte, und betrachtete dessen Bemerkung nicht als endgültiges Werturteil. Wie es oft der Fall ist, entschuldigte sich Schimei später. Selbst wenn man zu Recht kritisiert wird, ist es vernünftig, sich klarzumachen, daß sich die Kritik gegen eine spezielle Handlungsweise richtet und nicht gegen den ganzen Menschen (2. Samuel 16:7; 19:18, 19).
Das persönliche Studium der Bibel und biblischer Literatur sowie der Besuch der Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas halfen Sarah, die Grundlage für ein gutes Verhältnis zu Gott zu legen. „Doch am meisten hat mir meine veränderte Einstellung zum Gebet geholfen“, erinnerte sie sich. „Ich hatte bis dahin gedacht, man sollte im Gebet zu Gott nur wesentliche Dinge erwähnen und dürfte ihn nicht mit unbedeutenden Problemen behelligen. Jetzt weiß ich, daß ich zu ihm über alles sprechen kann. Wenn ich heute wegen einer zu treffenden Entscheidung beunruhigt bin, bitte ich Gott, mir zu helfen, ruhig und vernünftig zu sein. Es bringt mich ihm näher, festzustellen, daß er auf meine Gebete reagiert und mir täglich hilft, prüfungsreiche Situationen zu meistern (1. Johannes 5:14; Philipper 4:7).
Für jemanden, der gegen Depressionen zu kämpfen hat, ist der Schlüssel in diesem Kampf die Zusicherung, daß Gott persönlich an ihm interessiert ist, daß er die Grenzen des Betreffenden kennt und daß er ihm die Kraft gibt, jeden Tag zu bewältigen. Doch zuweilen hält die Depression an, ganz gleich, was jemand dagegen unternimmt.
Stunde um Stunde durchhalten
„Ich habe alles ausprobiert, auch Nahrungszusätze und Antidepressiva“, klagt Eileen, eine 47jährige Mutter, die seit Jahren gegen schwere Depressionen kämpft. „Mir ist es gelungen, mein verkehrtes Denken zu korrigieren, und das hat dazu beigetragen, daß ich vernünftiger geworden bin. Aber Depressionen habe ich nach wie vor.“
Wenn Depressionen anhalten, bedeutet das nicht, daß man sie ohne Erfolg bekämpft. Ärzte wissen nicht alles über Depressionen und deren Bekämpfung. In manchen Fällen wird die Depression durch eine Nebenwirkung eines Medikaments ausgelöst, das wegen einer anderen ernsten Krankheit verordnet wurde. Somit ist die Anwendung solcher Medikamente angesichts des Nutzens in der Behandlung eines anderen Gesundheitsproblems eine Kompromißlösung.
Natürlich hilft es, einer verständnisvollen Person sein Herz auszuschütten. Allerdings kann kein Mensch wirklich wissen, welche Qualen man persönlich durchmacht. Aber Gott weiß es und wird helfen. „Jehova hat mir die Kraft gegeben, es weiter zu versuchen“, erzählte Eileen. „Er bewirkt, daß ich nicht aufgebe, und gibt mir Hoffnung.“
Gottes Hilfe, der emotionelle Beistand anderer und eigene Anstrengungen verhindern, daß man übermannt wird und aufgibt. Mit der Zeit lernt man es, sich auf die Depression einzustellen wie auf ein anderes chronisches Leiden. Durchzuhalten ist nicht leicht, aber möglich. Jean, deren schwere Depression anhielt, sagte: „Wir nahmen es nicht Tag um Tag dagegen auf, sondern eher Stunde um Stunde.“ Eileen und auch Jean hielt die Hoffnung aufrecht, die die Bibel vermittelt.
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