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Wenn Essen zum Feind wirdErwachet! 1999 | 22. Januar
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Wenn Essen zum Feind wird
Jean kann sich noch lebhaft daran erinnern, wie sie als Jugendliche oft gehänselt und verspottet wurde. Aus welchem Grund? Sie war die Größte und Kräftigste in ihrer Klasse. Doch das war nicht der einzige Grund. „Noch schlimmer als meine kräftige Figur war, daß ich schüchtern und gehemmt war“, sagt Jean. „Ich war oft einsam und wollte irgendwo dazugehören, aber die meiste Zeit fühlte ich mich wie eine Außenseiterin.“
Jean war davon überzeugt, daß ihre Größe schuld an allen ihren Problemen war und daß mit einer schlanken, durchtrainierten Figur alles in Ordnung käme. Jean war nicht etwa dick. Im Gegenteil, mit einem Gewicht von 66 Kilogramm bei einer Größe von 1,83 Meter war sie ganz und gar nicht übergewichtig. Dennoch fühlte sich Jean dick, und mit 23 Jahren beschloß sie abzunehmen. „Wenn ich dünn bin, werden die Leute mich gern um sich haben“, überlegte sie sich. „Dann werde ich endlich das Gefühl haben, akzeptiert zu werden und etwas Besonderes zu sein.“
Sie erklärt: „Diese dumme Denkweise führte dazu, daß ich aus dem Sog der Anorexia nervosa beziehungsweise Bulimie 12 Jahre nicht herauskam. Ich bin tatsächlich dünn geworden, so dünn, daß ich fast gestorben wäre, doch statt mir ein glückliches Leben aufzubauen, habe ich meine Gesundheit ruiniert und nur erreicht, daß ich über 10 Jahre lang depressiv und unglücklich war.“
JEAN ist kein Einzelfall. Gemäß einer Schätzung tritt bei jeder 100. Amerikanerin Anorexia nervosa auf, und die Anzahl der bulimischen Frauen ist vielleicht dreimal so hoch. „Ich arbeite seit Jahren an Schulen und Hochschulen“, sagt Dr. Mary Pipher. „Und ich weiß aus erster Hand, daß Eßstörungen so verbreitet sind wie eh und je.“
Außerdem treten sie in unterschiedlichen Formen auf. Früher dachte man, Eßstörungen seien ein Problem reicher Leute, doch heute weiß man, daß es sie in allen rassischen, sozialen und wirtschaftlichen Schichten gibt. Sogar die Anzahl der Männer, bei denen Eßstörungen diagnostiziert werden, steigt an, weshalb das Magazin Newsweek schrieb, Eßstörungen würden „auf ihren Beutezügen wahllos zuschlagen“.
Besonders alarmierend ist allerdings das offensichtlich immer niedriger werdende Durchschnittsalter der wegen Eßstörungen zu behandelnden Patienten. „In die Therapieprogramme der Krankenhäuser werden Mädchen aufgenommen, die nicht einmal 10, mitunter sogar erst 6 Jahre alt sind“, sagt Margaret Beck, die amtierende Leiterin eines Zentrums für Eßstörungen in Toronto. „Es sind noch nicht viele“, fügt sie hinzu, „aber es werden immer mehr.“
Alles in allem sind Millionen Menschen von Eßstörungen betroffen — hauptsächlich Mädchen und junge Frauen.a „Was die Einstellung zum Essen und die Verwendung von Nahrungsmitteln angeht, verhalten sie sich anders als die meisten Menschen“, bemerkt die Sozialarbeiterin Nancy Kolodny. „Statt zu essen, um ihren Hunger zu stillen, sich Nährstoffe zuzuführen und gesund zu bleiben, oder statt aus Spaß an der Freude zu essen oder um sich einer angenehmen Gesellschaft bei einem gemeinsamen Essen zu erfreuen, haben sie ein bizarres Verhältnis zum Essen und tun Dinge, die man nicht als ‚normal‘ bezeichnen würde — beispielsweise entwickeln sie seltsame Rituale, bevor sie sich etwas zu essen genehmigen, oder verspüren unmittelbar danach den Drang, ihren Körper wieder von der Nahrung zu befreien.“
Werfen wir einen Blick auf zwei häufig auftretende Eßstörungen: Anorexia nervosa und Bulimia nervosa.
[Fußnote]
a Da mehr Frauen als Männer an Eßstörungen leiden, werden wir in dieser Artikelserie in der Regel die weibliche Form gebrauchen.
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Anorexia und Bulimie — Fakten und GefahrenErwachet! 1999 | 22. Januar
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Anorexia und Bulimie — Fakten und Gefahren
„Der emotionale Aspekt des Essens wiegt weit schwerer als alles, was in Kalorien oder Gramm meßbar ist“ (Janet Greeson, Autorin).
ANOREXIA und Bulimie sind die beiden häufigsten Eßstörungen. Jede hat ihre ganz spezifischen Charakteristika. Doch wie wir sehen werden, können beide gefährlich sein — sogar lebensgefährlich.
Anorexia — sich zu Tode hungern
Anorektiker, also Personen, die an Anorexia leiden, weigern sich entweder zu essen oder essen so kleine Portionen, daß sie unterernährt sind. So erzählt die 17jährige Antoinette beispielsweise, ihr Gewicht sei irgendwann auf 37 Kilogramm gesunken — ein ziemlich niedriges Gewicht für eine Jugendliche mit 1,70 Meter Größe. „Ich habe am Tag nicht mehr als 250 Kalorien zu mir genommen und über alles, was ich gegessen habe, Buch geführt“, sagt sie.
Bei Anorektikern drehen sich die Gedanken ständig ums Essen, und sie tun alles Erdenkliche, um nicht zuzunehmen. „Ich fing damit an, das Essen in die Serviette zu spucken, wobei ich so tat, als ob ich mir den Mund abwischen würde“, erzählt Heather. Susan trainierte hart, um ihr Gewicht niedrig zu halten. „Fast jeden Tag ging ich 12 Kilometer joggen oder eine Stunde lang schwimmen. Wenn ich das nicht tat, wurde mir angst und bange, und ich hatte ein entsetzliches Schuldgefühl. Mein größtes Vergnügen — und gewöhnlich auch mein einziges echtes Vergnügen — war es, jeden Morgen auf die Waage zu steigen und zu sehen, daß mein Gewicht weit unter 45 Kilogramm lag.“
Paradoxerweise sind etliche Anorektikerinnen ausgezeichnete Köchinnen und servieren exquisite Mahlzeiten, die sie selbst nicht anrühren. „In meiner schlimmsten Zeit“, sagt Antoinette, „bereitete ich zu Hause jede einzelne Abendmahlzeit zu und packte für meinen kleinen Bruder und meine kleine Schwester die Lunchpakete zusammen. Ich ließ sie nicht einmal in die Nähe des Kühlschranks. Die Küche war mein Revier.“
Gemäß dem Buch A Parent’s Guide to Anorexia and Bulimia bekommen einige Anorektikerinnen „einen regelrechten Ordnungsfimmel und verlangen bisweilen von der ganzen Familie, daß sie ihren unrealistisch hohen Erwartungen gerecht wird. Keine Zeitschrift, kein Paar Hausschuhe und keine Kaffeetasse darf auch nur einen Moment lang am falschen Platz liegen oder stehen. Noch besessener sind sie unter Umständen von ihrer persönlichen Hygiene und ihrem Aussehen, was bedeutet, daß sie sich stundenlang im Badezimmer einschließen und niemand anders hereinlassen, auch wenn sich derjenige für die Schule oder die Arbeit fertig machen muß.“
Wie entsteht diese ungewöhnliche Krankheit, die den Namen Anorexia trägt? Charakteristisch für die Krankheit ist, daß eine Jugendliche oder eine junge Frau — zumeist handelt es sich um das weibliche Geschlecht — damit beginnt, eine bestimmte Anzahl Kilogramm abzunehmen. Hat sie ihr Ziel erreicht, ist sie jedoch nicht zufrieden. Wenn sie in den Spiegel schaut, findet sie sich nach wie vor dick und beschließt, besser noch ein paar Kilogramm abzunehmen. Diese Entwicklung setzt sich immer weiter fort, bis das Gewicht der Diäthaltenden mindestens 15 Prozent niedriger ist als das Normalgewicht für ihre Größe.
An diesem Punkt fangen Freunde und Familienangehörige an, ihre Besorgnis zu äußern und der Diäthaltenden zu sagen, sie sehe extrem dünn aus, ja abgemagert. Aber Anorektiker sehen das anders. „Ich fand nicht, daß ich dürr aussah“, sagt Alan, ein 1,75 Meter großer Anorektiker, der irgendwann nur noch 33 Kilogramm wog. „Je mehr man abnimmt, um so verzerrter und undeutlicher wird das Bild, das man von sich hat“, meint er.a
Mit der Zeit kann Anorexia zu schweren gesundheitlichen Problemen wie Osteoporose und Nierenschäden führen. Sie kann sogar lebensbedrohlich werden. „Mein Arzt hat zu mir gesagt, ich hätte meinem Körper so viele Nährstoffe verweigert, daß ich an Unterernährung gestorben wäre, wenn ich noch zwei Monate lang so weitergemacht hätte“, erzählt Heather. Nach einem Bericht im Harvard Mental Health Letter sterben in einem Zeitraum von 10 Jahren 5 Prozent der Frauen, bei denen Anorexia diagnostiziert wurde.
Bulimie — Freßanfälle und Abführzyklen
Die Eßstörung, die als Bulimia nervosa bekannt ist, ist gekennzeichnet durch Freßanfälle (schnelle Aufnahme einer großen Nahrungsmenge mit gegebenenfalls 5 000 Kalorien und mehr) und Abführzyklen (Leeren des Magens, oft durch Erbrechen oder mit Hilfe von Abführmitteln).b
Im Gegensatz zu Anorexia ist Bulimie nicht ohne weiteres erkennbar. Die Betreffende ist möglicherweise nicht ungewöhnlich dünn, und ihre Eßgewohnheiten scheinen ziemlich normal zu sein — zumindest nach außen hin. Doch für die Bulimikerin ist das Leben alles andere als normal. Sie ist im Gegenteil so besessen vom Essen, daß alles andere daneben verblaßt. „Je mehr ich in mich hineinstopfte und wieder erbrach, desto weniger kümmerten mich andere Sachen oder Menschen“, sagt die 16jährige Melinda. „Ich hatte tatsächlich vergessen, wie es ist, mit Freunden Spaß zu haben.“
Geneen Roth, Autorin und Therapeutin auf dem Gebiet der Eßstörungen, beschreibt eine Freßorgie als „einen dreißigminütigen Anfall, eine Fahrt in den Abgrund der Hölle“. Sie sagt, während eines Freßanfalls würde „nichts zählen — keine Freunde, keine Familie ..., nichts außer Essen“. Die 17jährige Lydia zieht zu ihrer Störung eine recht plastische Parallele. „Ich fühle mich wie ein Müllzerkleinerer“, sagt sie. „Reinschaufeln, zermahlen, ausspucken — und das immer wieder von vorn.“
Die Bulimikerin versucht verzweifelt, zu verhindern, daß sie zunimmt, was normalerweise infolge ihres unkontrollierten Essens passieren würde. Kurz nach der Freßorgie beginnt sie deshalb, sich zu übergeben, oder sie nimmt Abführmittel, um die Nahrung wieder loszuwerden, bevor der Körper sie in Fettpolster umwandeln kann.c Allein der Gedanke daran mag für den einen oder anderen abstoßend sein, doch für die geübte Bulimikerin ist das nicht so. „Je häufiger die Freß- und Abführzyklen sind, desto einfacher wird es“, erklärt die Sozialarbeiterin Nancy Kolodny. „Der anfängliche Ekel oder sogar die anfängliche Angst davor weicht schnell einem zwanghaften Drang, dieses bulimische Verhaltensmuster zu wiederholen.“
Bulimie ist extrem gefährlich. Durch wiederholtes Erbrechen ist die Mundhöhle zum Beispiel der ätzenden Magensäure ausgesetzt, die den Zahnschmelz zerfrißt. Außerdem können dadurch die Speiseröhre, die Leber, die Lunge und das Herz Schaden nehmen. In Extremfällen kommt es als Folge des ständigen Übergebens zu einem Magendurchbruch oder sogar zum Tod. Auch der übermäßige Gebrauch von Abführmitteln kann gefährlich werden. Dadurch funktioniert vielleicht der Darm nicht mehr, und es stellen sich anhaltender Durchfall und Blutstuhl ein. Ebenso wie das wiederholte Erbrechen kann der Mißbrauch von Abführmitteln in Extremfällen zum Tod führen.
Gemäß dem Nationalen Institut für Mentalhygiene nehmen Eßstörungen permanent zu. Was veranlaßt eine junge Frau, mit ihrem Leben zu spielen und sich fast zu Tode zu hungern? Warum wird eine junge Frau so besessen vom Essen, daß sie Freßorgien veranstaltet, und so besessen von ihrem Gewicht, daß sie alles, was sie gegessen hat, wieder erbricht oder abführt? Diese Fragen werden im folgenden Artikel beleuchtet.
[Fußnoten]
a Wie einige Experten sagen, kann ein 20- bis 25prozentiger Verlust des Gesamtgewichts chemische Veränderungen auslösen, die unter Umständen bewirken, daß die Wahrnehmung des Betreffenden verzerrt ist und er Fett sieht, wo gar kein Fett ist.
b Zwanghaftes Überessen, ohne sich zu übergeben oder abzuführen, wird von manchen ebenfalls als Eßstörung betrachtet.
c Viele Bulimiker trainieren jeden Tag hart, um nicht zuzunehmen. Manche von ihnen sind so erfolgreich mit dem Abnehmen, daß sie anorektisch werden und dann ständig zwischen anorektischem und bulimischem Verhalten hin- und herpendeln.
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