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Seite 2Erwachet! 1989 | 8. August
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Diese gezackte Linie charakterisiert einen finanziellen Alptraum.
Sie stellt den Kurssturz an der New Yorker Börse im Oktober 1987 dar. An nur einem Tag fielen die Kurse um schwindelerregende 508 Punkte und rissen dabei die 22 anderen Leitbörsen der Welt mit sich. Wie war es dazu gekommen? Wie hat der Börsenkrach unser Leben berührt?
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Der große KrachErwachet! 1989 | 8. August
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Der große Krach
DER 19. OKTOBER 1987 war ein eigenartiger Tag für unsere Erde. An diesem Tag fegte ein Sturm über den ganzen Erdball, der in Dutzenden von Nationen ein Chaos hinterließ. Doch der Sturm war ohne Wind; er brachte keinen Platzregen, riß keine Häuser um und tötete niemanden. Aber weltweit hallte ein Krachen wider, und aus einem stürmischen Bullen wurde für eine Weile ein flüchtender Bär.
Ein Sturm ohne Wind? Ein Bulle, der zu einem Bären wird? Wie vielen bekannt ist, hatte dieser Sturm nichts mit dem Wetter zu tun, sondern vielmehr mit der Weltwirtschaft. Der 19. Oktober war der Tag des inzwischen berühmt gewordenen Börsenkrachs von 1987, der Tag, an dem die Börse der Wallstreet ihren tiefsten und rasantesten Sturz der Geschichte erlebte, was in der ganzen Welt Panik auslöste. Die stürmische Aufwärtsbewegung des Marktes („Hausse“ [aus dem Französischen]: Erhöhung; englisch: Bullenmarkt) war zum Stillstand gekommen. Es ging zeitweise im freien Fall nach unten („Baisse“: Senkung; englisch: Bärenmarkt).
Der „Krach“ verursachte zwar keinen echten Lärm, doch die Opfer waren echt. Ein Reporter in Zürich, der einen Mann schreien hörte: „Ich bin ruiniert, vollständig ruiniert“, bemerkte, die Zeitungsleser im Finanzbezirk hätten ausgesehen, als läsen sie ihre eigene Todesanzeige. Der Markt in Hongkong geriet so in Panik, daß man ihn für vier Tage schloß. Mit einem Wertverlust von 33 Prozent hatte er mehr unter dem Sturz zu leiden als alle anderen Märkte. Ein einzelner Geschäftsmann dort verlor 124 Millionen Dollar. Eine 63jährige Witwe in New York mußte nicht nur den Wertverlust ihrer Aktien hinnehmen, sondern bekam auch noch eine Rechnung über mehr als 400 000 Dollar von ihrem Makler.
Millionen Menschen ärmer
Helmut Schmidt, ehemaliger Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, sagte gegenüber der Zeit: „Der Kurssturz um über 1 000 Milliarden Dollar an den Aktienbörsen der ganzen Welt hat hundert oder zweihundert Millionen privater Haushalte in der westlichen Welt ärmer gemacht, als sie sich noch gegen Mitte Oktober gewähnt hatten.“ Der Sturz war jedoch nicht auf die westliche Welt beschränkt. Gleich Dominosteinen kippten die Märkte in Hongkong, Tokio, Singapur, Taiwan, Australien, Südafrika und Lateinamerika ebenso wie die in Europa und Nordamerika.
Der Pariser Quotidien brachte die fettgedruckte Schlagzeile „LE CRASH“. In Lima (Peru) war in Cambio zu lesen: „PANIK IN NEW YORK, TOKIO UND LONDON!“ Die Sydneyer Australian Financial Review verglich den Börsenkrach an der Wallstreet mit dem „Aufschlag eines toten Bullen, den man vom Empire State Building geworfen hat“. Doch wie Helmut Schmidt ausführte, brachten die Kursstürze mehr als nur durcheinanderpurzelnde Zahlen und schreiende Schlagzeilen mit sich. Vielen, die ihre Wertpapiere zu einem niedrigen Kurs verkaufen mußten, brachten die Stürze echte Verluste. Ersparnisse, Pensionsfonds, Notgroschen, Alterssicherungen, Pläne für ein Eigenheim oder die Ausbildung der Kinder — all das war dem finanziellen Sturm ausgesetzt.
Der Optimismus des stürmischen Haussemarktes, der schließlich zum Krach führte, machte alles noch schlimmer. Die Zahl der Direktinvestoren an den amerikanischen Börsen hatte sich zwischen 1975 und 1985 fast verdoppelt. Im gleichen Zeitraum hatte sich die Zahl derjenigen, die indirekt über Pensionsfonds, Versicherungen und Banken an Wertpapieren beteiligt waren, um 35 Millionen erhöht. Die kräftige Hausse hatte Anleger angezogen wie Honig die Bienen. Viele investierten zu spät, zahlten zuviel und konnten dann nicht mehr schnell genug aussteigen.
Eine neue Depression?
Als die Kursstürze auf die anderen Märkte übergriffen, wurden viele an ein anderes berüchtigtes Jahr der Wirtschaftsgeschichte erinnert: 1929. In jenem Jahr führte ein ähnlicher Börsenkrach zu einer weltweiten Depression. Noch heute erschaudert man bei dem Gedanken an diese Zeit mit ihren Suppenküchen, ihrer grassierenden Arbeitslosigkeit und ihrer Armut. Würde der jetzige Börsenkrach eine vergleichbare Depression mit sich bringen? 1929 waren die Kurse am schlimmsten Tag (dem „schwarzen Dienstag“) um 12,8 Prozent gefallen, am „schwarzen Montag“ 1987 hingegen stürzten sie im freien Fall um 22,6 Prozent. Eine Schlagzeile der New York Times vom 20. Oktober 1987 fragte: „1987 = 1929?“
Zur großen Erleichterung von vielen konnte diese Frage schließlich verneint werden. Jetzt, fast zwei Jahre nach dem schwarzen Montag, schätzen viele Fachleute die bleibenden Schäden des Sturmes als gering ein. Die amerikanische Wirtschaft wuchs weiter, und die Arbeitslosenrate war niedrig. Selbst nach dem schwarzen Montag lagen die Kurse nur 4 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Ja man konnte das Jahr sogar mit einem leichten Gewinn abschließen.
Viele Experten sahen im schwarzen Montag nicht mehr als das Platzen einer Blase — die fällige Berichtigung der aufgeblähten Aktienkurse. Wenn der Krach eine bleibende Auswirkung hatte, dann war es die Rekordflucht vieler Anleger. „Nie wieder!“ schworen sie; und sie scheinen das ernst gemeint zu haben.
Heißt das, der schwarze Montag sei unbedeutend gewesen? Auf keinen Fall! Fachleute möchten ihn als Warnung verstanden wissen, als Ereignis, das die tiefen Risse beleuchtet, die sich, von der Wallstreet ausgehend, durch die Weltwirtschaft ziehen. Doch hat die Welt auf diese Warnung gehört? Nicht, wenn das zutrifft, was ein Wirtschaftsprofessor gegenüber der Zeitschrift Time äußerte: „Es ist wie bei einer Clique betrunkener Jugendlicher, die Auto fahren und meinen, sie würden die nächste Kurve schon schaffen, da sie die vorherige ja auch geschafft hätten.“
Was lief schief an der Wallstreet? Könnte es wieder passieren? Berührt irgend etwas davon uns persönlich?
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Wie beeinflußt uns die Wallstreet?Erwachet! 1989 | 8. August
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Wie beeinflußt uns die Wallstreet?
DIE VOLKSWIRTSCHAFT wird auch die trostlose Wissenschaft genannt. Doch sie ist eine Wissenschaft, die uns alle berührt. Die Preise im Laden, das Stellenangebot, die Dienstleistungen des Staates — all das hängt von der wirtschaftlichen Stärke des Landes ab, in dem man lebt.
„Aber was hat das mit der Wallstreet zu tun?“ mag jemand fragen. „Die ist viel zu weit weg, um für mich von Bedeutung zu sein.“ Nun, Börsen sind Spiegel der Wirtschaft, und heutzutage sind die Nationen so voneinander abhängig, daß keine Wirtschaft mehr eine Insel ist.
Internationalisierte Wirtschaft
Der Präsident der zweitgrößten amerikanischen Börse meinte, nach dem Schock des schwarzen Montags sei es „glasklar, daß kein Land sein Schicksal ganz allein in der Hand hat“. Ein italienischer Journalist drückte es in La Repubblica so aus: „Die Steuern in der Bundesrepublik Deutschland gestern, die lateinamerikanischen Schulden heute und ... die Gesetzgebung des US-Kongresses morgen sind Dinge, die früher voneinander getrennt waren oder nur über einen großen Zeitraum hinweg miteinander zu tun hatten. Heute sind sie unmittelbar miteinander gekoppelt. Um das festzustellen, braucht man nur den Schalterraum einer großen internationalen Bank zu betreten, wo eine Art elektronisches Raumschiff Tag und Nacht mit allen Märkten der Welt verbunden ist.“
Welches Land, welche Volkswirtschaft könnte von sich behaupten, von diesem abhängigen und weltweit verknüpften System losgelöst zu sein? Vielleicht die afrikanischen Länder? Gemäß den Herausgebern eines Wirtschaftsmagazins, das sich mit der Situation in Afrika beschäftigt, reagieren „die afrikanischen Volkswirtschaften sehr empfindlich auf Erschütterungen an ausländischen Börsen“. Wie steht es mit Lateinamerika? Ein Redakteur des Jornal do Brasil erklärte, die Börsenkrise sei nur ein Teil einer internationalen Finanzkrise gewesen. Und was ist über den Nahen Osten zu sagen? Der verantwortliche Redakteur von Ma’ariv (Tel Aviv) zitierte einen ehemaligen israelischen Premierminister, der gesagt hat: „Wenn sich Amerika erkältet, muß Israel niesen.“
Wer ist denn vor den heutigen wirtschaftlichen Stürmen noch sicher? Könnte sich ein Passagier, der sich an Deck eines Ozeanriesen sonnt und dem gesagt wird, das Schiff sei unten am Rumpf leckgeschlagen, vernünftigerweise sicher fühlen, da er ja vom Ort des Geschehens weit entfernt ist? Nein, alle Bereiche des Schiffes sind miteinander verbunden, und keiner davon ist allein schwimmfähig. Das gleiche kann von den Volkswirtschaften gesagt werden. Hat eine mit Problemen zu kämpfen, könnte das auch uns in Schwierigkeiten bringen.
Gefährliche Gewässer für kleine Fische
Nach dem Krach verließen Kleinanleger scharenweise den Markt. Der Massenexodus bedeutete nicht nur einen schweren Verlust für das Maklerwesen, das 25 000 Arbeitsplätze verlor, sondern noch weit größere Schwierigkeiten für die Börse selbst.
Was hat viele der Anleger von der Wallstreet verjagt? Sicherlich war der Krach eine der Ursachen, doch die Wallstreet scheint auch noch auf andere Weise zu einem gefährlichen Gewässer für Kleinanleger geworden zu sein. Wir wollen kurz drei Entwicklungen betrachten: Computerisierung, Übernahmeschlachten und Schuldenexplosion.
Haben Maschinen das Sagen?
Der schwarze Montag war auch ein schwarzer Tag für die Computer. Die Flutwelle an Verkäufen war mehr, als sie verkraften konnten. Im ganzen Land sahen Makler mit ohnmächtiger Wut, wie ihr Bildschirm nur noch einen Wust von Fragezeichen ausspuckte oder gleich ganz schwarz blieb. Im Herzen des Sturmes — an der New Yorker Börse — gab es in fast allen Teilen des Systems Ausfälle. Aber viele sind der Ansicht, daß die Computer nicht nur Opfer waren, sondern die panikartigen Verkäufe sogar mitverschuldeten. Jemand drückte das gegenüber der New York Times folgendermaßen aus: „Es sind eben Computer, die an Computer verkaufen.“
Das ist sicherlich etwas übertrieben, doch es gibt Computerprogramme, die dem Makler empfehlen, was er tun soll. Sie sind mit Handelsstrategien gefüttert, wie sie von großen institutionellen Anlegern verwendet werden, und reagieren automatisch auf bestimmte Marktentwicklungen wie z. B. den Kursverlust einer Aktie. Das Problem ist nur, daß der Makler kaum Zeit hat, die Empfehlung zu prüfen. So können Computer Scharen von Händlern dirigieren wie Soldaten auf dem Exerzierplatz. Im Gleichschritt gehorchen sie ihren Computern, wodurch große Kaufs- oder Verkaufswellen ausgelöst werden, die ihrerseits weitere Wellen hervorrufen. Auf diese Weise könnten Computer die Kursstürze verstärkt haben, etwa so, wie eine Rückkopplung in einem Lautsprechersystem ein ohrenbetäubendes Pfeifen hervorrufen kann. Einige meinen, 300 der 508 Verlustpunkte seien auf das Konto der Computer gegangen.
Die Börse mag zwar auf Computer nicht verzichten können, aber am schwarzen Montag gaben sie den Kleinen das Gefühl, noch kleiner zu sein. Privatanleger konnten noch nicht einmal ihren Makler ans Telefon bekommen, um ihre absackenden Aktien zu verkaufen. In der Zwischenzeit stießen die Großanleger mit ihrem computergesteuerten Programmhandel paketweise die Aktien ab.
Das „große Fressen“
Für viele ist es auch beunruhigend, daß sich die großen und mittleren Fische seit einigen Jahren in einem „großen Fressen“ bei Aufkaufsschlachten und kreditgestützten Firmenübernahmen gegenseitig verschlingen. „Die Leute kaufen heute Firmen, wie sie früher Aktien gekauft haben“, sagte ein pensionierter Investmentbanker gegenüber Erwachet!
Kreditgestützte Firmenübernahmen (leveraged buyouts) sind an der Wallstreet sehr beliebt. Ein Unternehmen kauft mit einer Menge geliehenem Geld (das z. B. durch den Verkauf von Schundanleihen [junk bonds] beschafft wurde) den Aktionären einer anderen Firma die Anteile ab. Hat der Räuber sein Opfer aufgekauft, zerteilt er es und verkauft die Stücke, um seine Schulden wieder abzutragen. Was ihm übrigbleibt, hat ihn dann oft praktisch nichts gekostet. Mit dem Verkauf von Schundanleihen sind kleine Unternehmen in der Lage, große zu „fressen“, so als ob Goldfische Haie verschlingen würden.
Firmenübernahmen bringen den Banken, Anwälten und Geschäftsleuten, die den Handel arrangieren, fast unvorstellbare Summen. Bei einer gigantischen Übernahme Ende 1988 erreichten allein die Zahlungen an Banken und Berater die Summe von 1 Milliarde Dollar. Einige berühmt gewordene Aufkäufer gewannen in ein paar Jahren Hunderte von Millionen. Nicht wenige gerieten dabei mit dem Gesetz in Konflikt.
Die Schuldenexplosion
Kreditgestützte Firmenübernahmen sind lediglich eine der Ausdrucksformen des Liebesverhältnisses der Amerikaner zu Schulden. Der einzelne Amerikaner spart nur etwa 5 Prozent seines Einkommens, der Bundesdeutsche etwa 13 Prozent und der Japaner 17 Prozent. Die Liebe der Amerikaner zu Kreditkarten und ihr Wahlspruch „Kaufe jetzt, zahle später“ sind sprichwörtlich geworden. Amerikanische Firmen sind mit über 1,8 Billionen Dollar verschuldet, und die Staatsschulden belaufen sich auf über 2,6 Billionen. Die US-Regierung hat es im internationalen Handel in nur acht Jahren vom größten Gläubiger zum größten Schuldner der Welt gebracht. Ein Journalist der kanadischen Zeitschrift Globe and Mail brachte die amerikanische Politik auf den Nenner „Ausgeben, ausgeben und Kredite aufnehmen“.
Eine Rezession könnte die tiefverschuldeten amerikanischen Firmen in große Schwierigkeiten bringen. Diese Unternehmen wären in einem solchen Klima sehr anfällig. Eine Welle von Zahlungsunfähigkeiten und Bankrotten könnte die Folge sein. Auch den Banken droht Gefahr. Sie haben mit riskanten Krediten Milliarden von Dollar gemacht. Einige hundert Banken sind in Schwierigkeiten, und viele mußten schließen.
Die Schulden auf internationaler Ebene sind noch bedrohlicher. Die Entwicklungsländer sind mit schwindelerregenden 1,2 Billionen Dollar verschuldet. Kein Wunder, daß der Investmentbanker Felix Rohatyn die Wirtschaft mit den Worten beurteilt: „Wir haben ein riesiges finanzielles Kartenhaus geschaffen, und die Anzeichen für seine Instabilität sind nicht zu übersehen.“
Der Exodus
Für Kleinanleger scheint die Börse ein Gewässer geworden zu sein, wo Computer herrschen, die riesige Wellen hervorrufen, wo sich dicke Fische zum „großen Fressen“ versammelt haben und wo ein bodenloser Abgrund von Schulden alles zu verschlingen droht. Ist es da verwunderlich, daß die kleinen Fische das Gewässer verlassen haben?
Doch außer der Angst gibt es noch etwas, was viele kleine Anleger von der Wallstreet vertrieben hat. Es ist eine Entwicklung, die von der gleichen Eigenschaft regiert wird, die heutzutage die ganze Welt anzutreiben scheint. Worum handelt es sich?
[Herausgestellter Text auf Seite 8]
Einige hundert amerikanische Banken sind in Schwierigkeiten, und viele mußten schließen
[Kasten auf Seite 6]
Börsenwörter kurz erklärt
Was an der Börse geschieht, kommt vielen von uns spanisch vor, da die Welt der Finanzen ihre eigene Sprache hat. Nebenstehend werden kurz einige der am häufigsten gebrauchten Begriffe erklärt.
◆ AKTIEN. Wer Aktien einer Firma kauft, erwirbt Anteile am Vermögen der Firma. Die Ausgabe von Aktien ist eine der Möglichkeiten, wie Firmen sich Geld beschaffen können. In gewissen Zeitabständen wird ein Teil des Gewinnes der Firma an die Aktienbesitzer ausgeschüttet. Dieser Betrag heißt Dividende.
◆ SCHULDVERSCHREIBUNGEN. Um sich Kapital zu beschaffen, kann ein Unternehmen sich auch Geld leihen, indem es Schuldverschreibungen ausgibt. Wer eine Schuldverschreibung erwirbt, leiht der betreffenden Firma Geld. Dafür, daß sie mit dem Geld arbeiten kann, zahlt sie dem Geldgeber Zinsen. Aktien und Schuldverschreibungen fallen unter die Sammelbezeichnung „Wertpapiere“. Der Wert von Schuldverschreibungen wächst zwar nicht in dem Maße, wie das manchmal bei Aktien der Fall ist, aber sie gelten im allgemeinen als sicherere Anlagen. Eine Ausnahme bilden die sogenannten Schundanleihen, die als sehr riskant eingestuft werden. Es sind Anleihen angeschlagener oder unbekannter Firmen, bei denen es eher wahrscheinlich ist, daß sie zahlungsunfähig werden. Doch solche Anleihen werden trotzdem gekauft, da sie hohe Zinsen einbringen.
◆ [WERTPAPIER]BÖRSE. Organisierter Handelsplatz, wo Wertpapiere wie Aktien und Schuldverschreibungen ge- und verkauft werden. Im Börsensaal wickeln Makler gegen Courtage (Gebühr) die Kaufs- und Verkaufsaufträge ihrer Klienten, der Anleger, ab.
◆ DOW-JONES-INDEX. Das wichtigste Barometer für die Gesundheit und den Wert der New Yorker Börse. Es handelt sich um einen Durchschnitt der 30 wichtigsten Industriewerte. Fragt jemand: „Was macht der Markt?“, wird oft einfach der Dow-Jones-Index angeführt.
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Ein Haus auf Habgier gebautErwachet! 1989 | 8. August
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Ein Haus auf Habgier gebaut
„HABSUCHT ist gesund. Man kann habsüchtig sein und sich dennoch wohl fühlen.“ Diese Worte aus einer Rede vor Absolventen einer Handelsschule wurden gemäß dem Werk The Roaring ’80s (Die stürmischen 80er, Adam Smith) mit Gelächter und Applaus aufgenommen. Der Redner war einer der größten Aufsteiger der Wallstreet; er besaß Hunderte von Millionen Dollar. Doch nicht viel später nannte die Zeitschrift Fortune diesen Mann den „Gauner des Jahres“. Innerhalb weniger Monate war er im Gefängnis.
Die Habsucht war wohl doch nicht so gesund. Allerdings werden die obigen Worte oft als typisch zitiert für die Einstellung der Wallstreet. Was zeigen die Tatsachen?
Denken wir nur an die schon besprochenen Entwicklungen. Blitzschneller Programmhandel, rasante Firmenausverkäufe mit riesigen Gewinnspannen, Berge von geliehenem Geld — allem scheint eines gemein zu sein: die Ausrichtung auf kurzfristigen Gewinn.
Alle Augen richten sich auf den sofortigen Profit. Ein Leitartikel in der kanadischen Zeitschrift Maclean’s brachte die Sache auf den Punkt: „Die neuen Reichen der 80er wollen etwas für nichts: das meiste Geld für die geringste Anstrengung.“ Verwundert es einen dann, daß eine so profitsüchtige Gesellschaft ihre eigene Art Kriminalität ausgebrütet hat? Es handelt sich dabei um ...
Insidergeschäfte
„Was ist das überhaupt?“ fragte Erwachet! einen pensionierten Investmentbanker. Seine Antwort: „Im weitesten Sinne bedeutet es, Wissen zu benutzen, das man als Berufsbörsianer hat und über das die investierende Allgemeinheit nicht verfügt. Das Ausnutzen dieses Wissens verschafft einem dann einen Vorsprung.“
An der Wallstreet haben in den 80er Jahren diese Geschäfte, die in den Vereinigten Staaten illegal sind, so sehr um sich gegriffen, daß in nur gut einem Jahr über 70 Geschäftsleute deswegen verhaftet wurden. Wie viele Probleme der Wallstreet hat auch dieses den ganzen Globus überschwemmt. In Japan versuchte ein Mann, der des Insidergeschäfts angeklagt war, den mit dem Fall beschäftigten Untersuchungsbeamten zu bestechen, indem er mit einer Aktentasche, die mit 40 000 Dollar vollgestopft war, vor ihm niederkniete. Was er allerdings nicht wußte: Die ganze Szene war gefilmt worden und wurde später im Fernsehen ausgestrahlt.
Auch andere Börsen — darunter Kanadas Bay Street, Frankreichs Bourse und Italiens Borsa — wurden von Insiderskandalen erschüttert. Ein Insiderring flog auf, der von England bis Israel reichte. In vielen Ländern wurden Gesetze gegen diese Art des Betrugs geschaffen, doch wie der oben erwähnte Banker gegenüber Erwachet! erklärte, ist es „schwierig zu definieren, was Insidergeschäfte sind, und noch schwieriger, sie zu kontrollieren. Wir haben ausgeklügelte Sicherheitssysteme, aber es ist leichter, Informationen zu stehlen als Geld.“
Das Yuppie-Syndrom
Die Habgier der Wallstreet hat zwar einige in die Kriminalität getrieben, doch weit mehr in den Materialismus. Gemäß der Zeitschrift Newsweek war die Wallstreet das eigentliche Herz der habgierigen amerikanischen „Geldkultur“. Die Hausse der 80er Jahre zog Scharen junger Akademiker an, die an der Börse ihr Glück zu machen suchten. Sie werden Yuppies genannt (young urban professionals: junge großstädtische Erfolgsmenschen). Für ihre hohen Ansprüche und Einkommen bekannt, sind sie als echte Goldesel das ideale Ziel der Werbung.
Ein ehemaliger Wallstreet-Börsianer, der sich selbst als Exyuppie bezeichnet, berichtete gegenüber Erwachet! über sein Leben an der Wallstreet während des Booms. In seiner Firma herrschte, wie er sagte, die Einstellung vor: „Die Arbeit ist das Leben. Alles andere ist zweitrangig.“ Es sei üblich gewesen, um 5 aufzustehen, den ganzen Tag zu arbeiten und dann bis spät in die Nacht mit Kunden auszugehen.
Er erinnerte sich noch lebhaft an einen Vorfall, der seiner Ansicht nach die Einstellung der Leute deutlich charakterisierte. Ein Kollege zeigte ihm eine Reihe Fotos, auf denen zu sehen war, wie ein Makler im Börsensaal einen Herzinfarkt erlitt. Um den zusammengebrochenen Mann herum lief der fieberhafte Handel weiter, ohne sich auch nur zu verlangsamen.
Laut New York Times war der Börsenkrach für die Yuppies nicht nur wegen ihrer Kredit- und Ausgabegewohnheiten ein Schlag, sondern auch wegen ihrer Denkweise. Viele Yuppies kannten einfach nicht den Unterschied zwischen Anlagewerten und inneren Werten.
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Die Suche nach einer LösungErwachet! 1989 | 8. August
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Die Suche nach einer Lösung
WENN es darum geht, die Wallstreet zu heilen, mangelt es wahrhaftig nicht an Ideen. Allerdings mangelt es an Übereinstimmung. Einige Fachleute fordern die Beschränkung von Schulden und kreditgestützten Firmenübernahmen, während andere behaupten, beides sei gut für die Wirtschaft. Jede Position ist mit Statistiken schwer bewaffnet, mit denen sie ihre Ansicht „beweist“.
Wie Helmut Schmidt ausführte, müssen die führenden Wirtschaftsmächte der Welt (die Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und Japan) zusammenarbeiten, wenn das Wehe von der Weltwirtschaft abgewendet werden soll. Er sagte: „Die Mittelmäßigkeit aller drei Regierungen ist keine Entschuldigung dafür, daß sie ... über die Splitter im Auge der anderen lamentieren, die Balken im eigenen Auge aber nicht wahrhaben wollen. ... Auch alle mittelmäßigen Menschen tragen Verantwortung!“
Aber frage dich selbst: Was kann man vernünftigerweise von menschlichen Regierungen erwarten, die seit jeher kaum mittelmäßig sind? Das Schuldenproblem der dritten Welt ist beispielsweise, wie Schmidt zugibt, ungelöst und praktisch nicht zu lösen. Können mittelmäßige Menschen das Unlösbare lösen?
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