Kleine Kostbarkeiten am Flußufer
Von unserem Korrespondenten in Spanien
IMMER wenn ich an einem Fluß oder einem Teich entlang schlendere, halte ich nach einem meiner Lieblingsjuwelen Ausschau — es kann ein roter, ein blauer oder auch ein grüner sein. Manchmal liegt ein solcher Juwel bewegungslos auf einem Blatt, dann kann ich einen beobachten, der über dem Wasser schwebt oder direkt vor meinen Augen hin und her schwirrt. Der Juwel, nach dem ich suche, ist die Libelle, der auffällige „Hubschrauber“ der Insektenwelt.
Zum ersten Mal wurde ich auf diese fliegenden Kostbarkeiten aufmerksam, als ich vor Jahren einmal zufällig auf einen Bach stieß, der gemächlich durch den Wald floß. Mehrere Libellen huschten in den Sonnenstrahlen hin und her — manche in metallisch schimmerndem Hellblau, andere in prächtigem Gelbgrün. Ich verbrachte eine ganze Stunde damit, den Tanz in den Lüften zu beobachten, der die Waldlichtung in einen Ballsaal in Miniaturausgabe verwandelte. Seither faszinieren mich Libellen.
Je mehr ich über Libellen erfuhr, desto mehr lernte ich ihre Schönheit und ihren Wert schätzen. Zuerst erfuhr ich, daß man zwischen Groß- und Kleinlibellen unterscheidet. Die Großlibellen sind schneidige Flieger, und gewöhnlich sind sie kräftiger gebaut. Die Kleinlibellen hingegen sind, wie ihr Name schon sagt, zierlicher, und ihr Flug ist eher gaukelnd. Ein wesentlicher Unterschied besteht in der Art, wie sie ihre Flügel halten. Die Großlibelle breitet in Ruhestellung gewöhnlich die beiden Flügelpaare waagrecht vom Körper aus, wohingegen die Kleinlibelle die Flügel über sich zusammenklappt.a
Ich wunderte mich über die offensichtliche Leichtigkeit, mit der sich Libellen Mücken in der Luft schnappen können. Für mich ist es schon fast ein Ding der Unmöglichkeit, eine große Fliege zu erwischen, die an der Küchenwand krabbelt. Ich fragte mich daher, was eine Libelle wohl hat, das ich nicht habe. Zweierlei: die absolute Luftraumbeherrschung sowie Augen, die einen Wächter vor Neid erblassen lassen könnten.
Der Libellenflug
Die Libelle mit dem Spitznamen „Hubschrauber“ zu bedenken, wie in Spanien üblich, ist strenggenommen eine Herabsetzung. Sie vollführt ihre Flugkunststücke dermaßen schnell, daß es manchmal unmöglich ist, sie mit dem Auge zu verfolgen. Auf Kurzstrecken können einige Libellenarten eine Spitzengeschwindigkeit von annähernd hundert Kilometern in der Stunde erreichen. Libellen können auch auf der Stelle schweben und dann blitzschnell vorwärts oder rückwärts stoßen oder seitwärts abfliegen. Wie berechnet wurde, muß eine Libelle außerdem, wenn sie eine scharfe Wendung in der Luft macht, einer Kraft standhalten, die dem Zweieinhalbfachen der Fallbeschleunigung entsprechen kann.
Libellen haben zwei biegsame, häutige Flügelpaare. Zwar wirken die Flügel zerbrechlich, aber sie können bis zu 40mal in der Sekunde schlagen und überstehen Zusammenstöße, ohne großen Schaden zu nehmen. Der Biologe Robin J. Wootton nennt sie eine „meisterhafte flugfähige Konstruktion“.
Er fügt hinzu: „Je besser wir die Funktionsweise von Insektenflügeln verstehen, desto raffinierter und wunderbarer dünkt uns ihr Design. ... Dazu gibt es keine technischen Pendants.“ Es überrascht daher kaum, daß Luftfahrtingenieure die Flugtechniken der Libellen studieren.
Ein Kopf voller Augen
Das Libellenauge steht dem Libellenflug, was Außergewöhnlichkeit betrifft, in nichts nach. Zwei riesige Komplexaugen nehmen fast den gesamten Kopf der Libelle ein. Jedes Auge hat bis zu 30 000 sechseckige Facetten, winzige Einzeläuglein im Auge, von denen jedes dem Gehirn ein separates Bild übermittelt. Das heißt jedoch nicht, daß eine Libelle Tausende von verschiedenen Bildern zur gleichen Zeit sieht. Statt wie wir Menschen ein vollständiges Gesamtbild zu sehen, nimmt das Libellenauge Bewegungen, Muster, Kontraste und Umrisse wahr.
All diese Bildeindrücke müssen analysiert werden. Deshalb sind 80 Prozent des Libellengehirns damit beschäftigt, visuelle Eindrücke zu verarbeiten. Nur wenige optische Systeme sind derart hoch entwickelt — eine Libelle kann eine Mücke in ungefähr 20 Meter Entfernung ausmachen. Sogar in der Dämmerung, wenn das Licht so schwach ist, daß ein Mensch kaum winzige Fliegen erkennen würde, können tropische Libellenarten sie mit Leichtigkeit erbeuten.
Der pfeilschnelle Flug der Libelle durch die Vegetation in Gewässernähe verlangt ihr jede Sekunde Hunderte von blitzschnellen Entscheidungen ab. Sie ist dieser enormen Aufgabe gewachsen, weil sie bis zu hundert einzelne Bildeindrücke in der Sekunde wahrnehmen kann, das ist fünfmal mehr, als es dem Menschen möglich ist. Eine Libelle würde bei einem Kinofilm mit einer Bildsequenz von 24 Bildern in der Sekunde lediglich eine Aneinanderreihung von Standbildern sehen.
Eine ganz andere Lebensweise
Wenn eine Libelle zur Welt kommt, läßt nichts auf den hervorragenden Flugkünstler schließen, der sie einmal sein wird. Nachdem die aquatische Larve geschlüpft ist, verharrt sie mehr oder weniger bewegungslos im Tümpel oder Bach und lauert auf Beute, die sie sich greift, sobald sie in ihre Reichweite kommt. Viele Häutungen später — das kann nach mehreren Monaten oder bei manchen Arten sogar nach Jahren sein — klettert die Larve aus dem Wasser auf einen Schilfstengel. Dort geht eine außergewöhnliche Metamorphose vonstatten.
Die Haut zerreißt in der Mitte des Rückens, und eine vollständig ausgebildete Libelle schiebt sich heraus. Wie bei den Schmetterlingen muß der erwachsene Neuankömmling ein paar Stunden warten, bis die Flügel sich erhärtet haben. Dann kann für ihn ein neues Leben beginnen. Innerhalb von wenigen Tagen wird er dank seiner instinktiven Weisheit zum erfolgreichen Jäger und beherrscht die kompliziertesten Flugtechniken.
Schon bald wird die Junglibelle zur Expertin darin, wie man Fliegen und Mücken im Flug fängt. Dadurch, daß sie jeden Tag ihr eigenes Körpergewicht an Insekten vertilgt, leistet sie unschätzbare Dienste. Um sich einen zuverlässigen Nahrungsmittelvorrat zu sichern, markieren viele Libellenmännchen ein kleineres Revier, wo sie eifersüchtig Patrouille fliegen.
Einige Libellenarten jagen Blattläuse oder Käfer, andere erbeuten kleine Frösche, und eine tropische Kleinlibelle ernährt sich sogar von Spinnen. Sie schwirrt um das Netz einer Radnetzspinne und greift sich die kleineren Spinnen, die das Netz aufsuchen, um die vom Netzeigentümer zurückgelassenen Nahrungsbröckchen zu ergattern.
Beweismaterial gegen die Evolution
Viele Wissenschaftler, die die Evolution vertreten, sehen Libellen als die frühesten Fluginsekten an. Ein Fossil, das man in Frankreich entdeckte, zeigt den Abdruck von Libellenflügeln mit einer Spannweite von 75 Zentimetern. Es stammt von der größten bekannten Libelle und ist dreimal so groß wie irgendeine heute lebende Libelle.
Ich fragte mich, wie ein Flugmechanismus, der zu den komplexesten gehört, die wir kennen, perfekt entwickelt einfach so erschienen sein soll. In dem Buch Alien Empire—An Exploration of the Lives of Insects wird eingeräumt: „Es gibt keine Insektenfossilien, die die direkte Verbindung vom flügellosen zum geflügelten Stadium darstellen.“ Die Libelle ist ganz offensichtlich das Werk eines intelligenten Meisterkonstrukteurs.
Libellen haben sich fast überall auf der Erde erfolgreich angesiedelt. Sie fühlen sich an einem Bergsee genauso zu Hause wie in einem Sumpfgebiet am Äquator oder sogar an einem Swimmingpool am Stadtrand.
Ich habe schon in Afrika Schwärme von Libellen an einem Tropenstrand beobachtet und in Europa eine einsame Königslibelle, die unermüdlich ihren Lieblingstümpel patrouillierte. Und als ich auf den Philippinen mit dem Kanu durch ein von Bäumen gesäumtes Flußtal fuhr, wurde ich von glitzernden Kleinlibellen begleitet, die sich sogar auf meine nackten Arme setzten.
Obwohl die Libelle vielleicht eine der ausgeklügeltsten „Flugmaschinen“ auf der Erde ist, beeindrucken mich ihre Grazie und ihre Schönheit immer viel mehr als ihre Flugkünste. Sie verleiht unseren Teichen und Flußufern einen besonderen Glanz. Libellen sind kleine Kostbarkeiten, an denen man sich immer erfreuen kann.
[Fußnote]
a Es kommt auch vor, daß Libellen ihre Flügel nach unten halten und ihren Hinterleib in Richtung Sonne emporstrecken. Dadurch, daß sie diese Stellung einnehmen, kühlen sie sich ab, denn die Körperfläche, die der Sonne ausgesetzt ist, wird so auf ein Mindestmaß reduziert.
[Bilder auf Seite 16, 17]
Großlibellen, die ihre Flügel waagrecht ausbreiten, sind gewöhnlich kräftiger gebaut als Kleinlibellen, die ihre Flügel über sich zusammenklappen