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Wissen, was recht ist, und danach handelnDer Wachtturm 2006 | 1. März
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Missionargebiet
Im Jahr 1958 teilten wir den Brüdern im Zweigbüro mit, dass wir den internationalen Kongress „Göttlicher Wille“ in New York besuchen wollten. Sie reagierten darauf mit Bewerbungsunterlagen für die Wachtturm-Bibelschule Gilead in den Vereinigten Staaten. Da wir Mitte dreißig waren, dachten wir, wir seien für die Gileadschule zu alt. Wir schickten die Bewerbungen aber dennoch ab und durften die 32. Klasse besuchen. In der Mitte des Kurses erfuhren wir, dass Indien unser Missionargebiet sein würde. Trotz anfänglicher Bedenken handelten wir treu nach unserem Wahlspruch und nahmen die Aufgabe gern an.
An einem Morgen des Jahres 1959 kamen wir mit dem Schiff in Bombay (jetzt Mumbai) an. Es war noch sehr früh. Hunderte von schlafenden Arbeitern lagen ausgestreckt auf den Kaianlagen. Fremdartige Gerüche erfüllten die Luft. Als die Sonne aufgegangen war, bekamen wir einen Vorgeschmack von dem, was auf uns zukommen würde. Nie zuvor hatten wir eine derartige Hitze erlebt. Lynton und Jenny Dower, ein Missionarehepaar, das in Ballarat mit uns im Pionierdienst gewesen war, begrüßte uns. Sie fuhren mit uns in das indische Zweigbüro — eine enge Wohnung im Obergeschoss eines Hauses nahe dem Stadtzentrum. In dem Heim wohnten sechs Bethelmitarbeiter. Bruder Edwin Skinner, der seit 1926 Missionar in Indien war, riet uns, bevor wir in unser Gebiet weiterreisen würden, zwei Reisetaschen aus Segeltuch zu kaufen. In indischen Zügen sind solche Taschen ein vertrauter Anblick. Sie haben uns auf unseren Reisen gute Dienste geleistet.
Nach einer zweitägigen Zugreise kamen wir in unserem neuen Wirkungskreis Tiruchirapalli an, einer Stadt im südlichen Bundesstaat Madras (jetzt Tamil Nadu). Wir schlossen uns drei indischen Sonderpionieren an, denen ein Gebiet anvertraut worden war, in dem 250 000 Menschen lebten. Die Lebensbedingungen waren bescheiden. Einmal hatten wir umgerechnet nur noch etwa 3 Euro im Portmonee. Dann waren auch diese ausgegeben. Aber Jehova verließ uns nicht. Ein Interessierter lieh uns Geld, damit wir eine Wohnung mieten konnten, die sich auch für Zusammenkünfte eignete. Als wir einmal kaum noch etwas zu essen hatten, brachte uns ein Nachbar ein hausgemachtes Currygericht. Ich fand’s herrlich, aber es war so scharf, dass ich Schluckauf bekam.
Im Predigtdienst
Einige Bewohner in Tiruchirapalli sprachen zwar Englisch, aber die meisten nur Tamil. Daher strengten wir uns mächtig an, ein einfaches Zeugnis in dieser Sprache zu lernen. So gewannen wir den Respekt vieler Einheimischer.
Der Haus-zu-Haus-Dienst gefiel uns sehr. Inder sind von Natur aus gastfreundlich. Die meisten baten uns herein und boten eine Erfrischung an. Da die Temperaturen häufig 40 Grad Celsius erreichten, waren wir über ihre Gastfreundschaft sehr froh. Es galt als höflich, auf persönliche Angelegenheiten einzugehen, bevor man auf die Botschaft zu sprechen kam. So wurden meine Frau und ich häufig gefragt, woher wir seien, ob wir Kinder hätten, und wenn das verneint wurde, fragte man: „Warum nicht?“ Bei diesem Punkt angelangt, empfahl man uns gewöhnlich einen qualifizierten Arzt. Immerhin führten solche Unterhaltungen doch dazu, dass wir uns vorstellen und die Bedeutung unseres biblischen Werkes erklären konnten.
Die Mehrheit der Menschen, denen wir predigten, waren Anhänger des Hinduismus — ein System von Glaubensansichten, die sich sehr vom Christentum unterscheiden. Statt über die Komplexität hinduistischer Philosophie zu diskutieren, predigten wir einfach die gute Botschaft von Gottes Königreich, und zwar mit Erfolg. Nach sechs Monaten kamen circa 20 Personen zu unseren Zusammenkünften ins Missionarheim. Einer der Besucher war Nallathambi, ein Bauingenieur. Zusammen mit seinem Sohn Vijayalayan konnte er später rund 50 Personen helfen, sich für Jehova zu entscheiden. Vijayalayan war auch eine Zeit lang im indischen Zweigbüro tätig.
Unterwegs
Wir waren noch nicht einmal sechs Monate im Land, als ich zum ersten ständigen Bezirksaufseher ernannt wurde. Das bedeutete, in ganz Indien Kongresse zu organisieren und mit neun verschiedenen Sprachgruppen zusammenzuarbeiten. Das war Schwerstarbeit. Für sechs Monate packten wir Kleidung und Ausrüstungsgegenstände in drei große Metallkoffer und in unsere altbewährten Reisetaschen. Dann ging es von Madras (heute Chennai) aus mit dem Zug auf die Reise. Da der Bezirk einen Umfang von 6 500 Kilometern hatte, waren wir ständig unterwegs. Einmal fuhren wir gleich am Sonntag nach einem Kongress in Bangalore im Süden Indiens zum nächsten Kongress. Er fand in der folgenden Woche im Norden statt, und zwar in Darjeeling, das an den Ausläufern des Himalaja liegt. Auf der etwa 2 700 Kilometer langen Reise dorthin mussten wir fünfmal umsteigen.
Auf unseren ersten Reisen zeigten wir gern den Film Die Neue-Welt-Gesellschaft in Tätigkeit. Der Film machte die Menschen mit dem Aufgabenbereich und der Tätigkeit der irdischen Organisation Jehovas bekannt. Nicht selten kamen Hunderte zu den Vorführungen. Einmal zeigten wir den Film einer Gruppe am Straßenrand. Plötzlich zogen dicke Gewitterwolken auf und kamen bedrohlich näher. Da früher einmal Zuschauer randaliert hatten, als die Vorführung abgebrochen wurde, beschloss ich, einfach weiterzumachen, und zwar etwas schneller. Zum Glück ging alles ohne Unterbrechung zu Ende, noch bevor die ersten Regentropfen fielen.
In den folgenden Jahren bereisten Melody und ich die meisten Landesteile Indiens. Da sich jede Region durch ihre Sprache, ihre Speisen, die Kleidung sowie durch die typische Landschaft unterscheidet, war es so, als würde man jedes Mal in ein anderes Land reisen. Wie großartig und vielfältig Jehovas Schöpfung doch ist! Das gilt auch für Indiens Tier- und Pflanzenwelt. Einmal zelteten wir im nepalesischen Dschungel und bekamen einen riesigen Tiger zu Gesicht. Ein prächtiges Tier! Erlebnisse wie diese stärkten in uns den Wunsch, im Paradies zu leben, wenn schließlich zwischen Mensch und Tier Frieden herrscht.
Organisatorische Verbesserungen
Damals mussten die Brüder in Indien lernen, sich noch enger an die Anweisungen der Organisation Jehovas zu halten. Zum Beispiel saßen in einigen Versammlungen während der Zusammenkünfte die Männer auf der einen und die Frauen auf der anderen Seite des Raums. Es war auch eher die Ausnahme, dass eine Zusammenkunft pünktlich anfing. An einem anderen Ort erinnerte eine laute Glocke die Verkündiger an den Beginn der Zusammenkünfte. In manchen Regionen war der Stand der Sonne maßgebend. Kongresse und Besuchswochen reisender Aufseher fanden nicht regelmäßig statt. Die Brüder hatten den Wunsch, zu tun, was recht war, aber sie benötigten Schulung.
1959 führte Jehovas Organisation die Königreichsdienstschule ein. Diese weltweit durchgeführte Unterweisung hat Kreisaufsehern, Sonderpionieren, Missionaren und Versammlungsältesten geholfen, ihren biblischen Verpflichtungen noch wirkungsvoller nachzukommen. Als die Schule 1961 in Indien eingeführt wurde, war ich einer der Unterweiser. Nach und nach konnte man die Ergebnisse der Schulung landesweit sehen und die Versammlungen machten schnell Fortschritte. Hatten die Brüder erst einmal erkannt, was richtig ist, spornte Gottes Geist sie an, es auch zu tun.
Auch große Kongresse wirkten sich auf die Brüder positiv und einigend aus. Herausragend war der internationale Kongress „Ewige gute Botschaft“, der 1963 in Neu-Delhi stattfand. Zeugen Jehovas aus ganz Indien reisten Tausende von Kilometern zu diesem Kongress. Viele opferten dafür ihre gesamten Ersparnisse. Unter den Anwesenden waren auch 583 Delegierte aus 27 anderen Ländern. Es war das erste Mal, dass die einheimischen Zeugen mit vielen Glaubensbrüdern Gemeinschaft pflegen konnten.
1961 wurden Melody und ich eingeladen, in Bombay den Betheldienst aufzunehmen. Später gehörte ich dort zum Zweigkomitee. Weitere schöne Aufgaben folgten. Über einen größeren Zeitraum hinweg bereiste ich als Zonenaufseher weite Teile Asiens und den Nahen Osten. Da das Predigtwerk in vielen dieser Länder eingeschränkt war, mussten die einheimischen Verkündiger „vorsichtig wie Schlangen und doch unschuldig wie Tauben“ sein (Matthäus 10:16).
Ausdehnung und Veränderungen
Als wir 1959 in Indien ankamen, waren dort 1 514 Verkündiger tätig. Heute ist die Zahl auf über 24 000 angestiegen. Um dieser Zunahme gerecht zu werden, bezogen wir zweimal neue Bethelgebäude in oder unweit von Bombay. Dann, im März 2002, zog die Bethelfamilie erneut um, und zwar in einen neuen Komplex in der Nähe von Bangalore (Südindien). Diese modernen Einrichtungen beherbergen momentan 240 Bethelmitarbeiter. Einige übersetzen biblische Literatur in 20 Sprachen.
Melody und ich wären zwar gern mit nach Bangalore gezogen, aber nachlassende Gesundheit zwang uns, 1999 nach Australien zurückzukehren.
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Wissen, was recht ist, und danach handelnDer Wachtturm 2006 | 1. März
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[Bilder auf Seite 13]
Hadyn und Melody (1942)
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