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Einsam in einer total vernetzten WeltErwachet! 2010 | September
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In dem Buch Loneliness—Human Nature and the Need for Social Connection (Einsamkeit: Der Mensch und sein Bedürfnis nach Sozialkontakten) setzen sich John T. Cacioppo und William Patrick ausführlich mit dem Thema Einsamkeit auseinander. Unter anderem führen sie eine Studie an, nach der „jemand, der sich auf Kosten persönlicher Kontakte mehr und mehr aufs Internet verlegt, eher in die soziale Isolation und in Depressionen abrutscht“.
Durch den hektischen Lebensstil, der einem in unserer modernen Gesellschaft aufgedrückt wird, bleibt das Zwischenmenschliche oft auf der Strecke. So entgeht einem beim Telefonieren oder E-Mailen meist das liebe Lächeln des anderen und mancher warme Blick.
Das betrifft zum einen die Arbeitswelt, aber noch viel häufiger die Familie. Nicht selten kommt und geht man, ohne miteinander zu reden oder gemeinsam zu essen. Kinder und Jugendliche besitzen einen Computer und leben dadurch oft in ihrer eigenen Welt. Doch trotz all der technischen Kommunikationsmöglichkeiten fühlen sich viele junge Leute paradoxerweise einsam und verlassen.
Nicht einmal vor der Ehe machen Einsamkeitsgefühle halt. Fehlt das Gespräch, lebt man mit der Zeit womöglich nur noch nebeneinanderher und hat kaum noch Berührungspunkte. „Einsam in der Zweisamkeit“ ist mit die schlimmste Einsamkeit, die man sich denken kann.
Insbesondere kann Einsamkeit auch Alleinerziehende treffen. Nicht zuletzt durch die vielen Kommunikationsmittel verebbt leicht das Gespräch mit den Kindern und der Zusammenhalt geht verloren. Die Folge: Man vereinsamt immer mehr. Nicht zu vergessen sind noch die vielen Singles, die sich sehnlichst einen Partner wünschen, aber niemanden finden: Ihre Sehnsucht bleibt.
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Der Einsamkeit auf den Grund gehenErwachet! 2010 | September
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Was kann die Ursache sein?
● Isolation in Großstädten
In großen Städten leben Tausende, wenn nicht Millionen Menschen dicht an dicht. Seltsamerweise macht sich trotzdem unter ihnen Einsamkeit breit. Durch den hektischen Lebensrhythmus in der Stadt bekommt man oft gar nicht mit, wer rechts und links neben einem wohnt: Man lebt letztendlich unter lauter Fremden. Hinzu kommt das verbreitete Misstrauen gegenüber Leuten, die man nicht kennt, und der ausgeprägte Wunsch nach Privatsphäre — all das trägt mit Sicherheit zur Vereinsamung in den Städten bei.
● Unsoziale Arbeitsbedingungen
Der Führungsstil in vielen großen Firmen und Industriebetrieben ruft bei Arbeitnehmern — von der Chefetage bis hin zur Arbeiterschaft — das Gefühl hervor, allein auf weiter Flur zu stehen und überfordert zu sein. Vielfach sieht man sich permanent unter Druck und im Dauerstress.
In großen Unternehmen ist es außerdem Praxis, die Belegschaft des Öfteren woandershin zu versetzen. Die Folge? Verunsicherung, Isolation, Vereinsamung. In einem Kommentar zu einer Selbstmordserie in französischen Konzernen schrieb die International Herald Tribune, viele Arbeitnehmer in Frankreich hätten das Gefühl, „durch die rasanten wirtschaftlichen Entwicklungen weit über die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben zu werden“.
● Sterile Kommunikation
Professor Tetsuro Saito aus Japan erklärte: „Je mehr sich Handys und andere Kommunikationsmittel zwischen die Leute drängeln, desto mehr geht die Fähigkeit zu kommunizieren verloren.“ Und im australischen Sunday Telegraph konnte man lesen: „Die Technik . . . macht Menschen zu Einsiedlern. . . . anstatt miteinander zu reden, werden nur noch E-Mails oder SMS verschickt.“
Rachel (21) aus Frankreich nennt einen der Gründe, warum sie einsam ist. Sie klagt: „Ich finde, den anderen liegt gar nicht mehr so viel daran, einen zu sehen, weil sie denken, simsen, e-mailen oder chatten würde ja reichen. Doch ich fühl mich dadurch erst recht einsam.“
● Herausreißen aus der gewohnten Umgebung
Aufgrund der Wirtschaftslage sehen sich viele gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, um ihre Arbeit zu behalten oder eine zu finden. Dadurch werden sie aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, weg von den Nachbarn, Freunden, Schulkameraden und manchmal sogar der engsten Familie. Sie kommen sich entwurzelt vor — wie eine Pflanze, die aus dem Boden gerissen wurde.
Francis aus Ghana kann sich noch gut an seinen ersten Tag in Frankreich erinnern: „Ich konnte die Sprache nicht, hatte keine Freunde und dann noch dieses Wetter — ich fühlte mich völlig verloren.“
Behjat verrät, was sie als Migrantin in England anfangs empfand: „Ich hatte Mühe, mit der englischen Kultur klarzukommen. Ich kannte zwar ein paar Leute, hatte aber keine Freunde oder Angehörigen, mit denen ich mal so richtig reden konnte.“
● Tod eines geliebten Menschen
Stirbt der Ehepartner, empfindet man eine große innere Leere. Vor allem, wenn man ihn vorher eine ganze Zeit lang gepflegt hat. Man fühlt sich oft völlig einsam und verlassen.
Das bestätigt Fernande, eine Witwe in Paris: „Am schlimmsten ist für mich, dass ich jetzt nichts mehr mit meinem Mann bereden kann; er war mein allerbester Freund.“ Auch Anny erzählt, wie sehr sie ihren Mann vermisst, vor allem wenn wichtige Entscheidungen anstehen, wie zum Beispiel in Gesundheitsfragen.
● Scheidung, Trennung, unfreiwilliges Single-Dasein
Nach einer Scheidung oder Trennung fühlt man sich oft einsam und als Versager. Am meisten leiden die Kinder, und zwar viel mehr, als man bisher dachte. Wie die Erfahrung zeigt, haben Scheidungskinder als Erwachsene vermehrt mit Einsamkeitsgefühlen zu kämpfen.
Wer keinen Ehepartner finden kann, macht ebenfalls Phasen der Einsamkeit durch. Und wenn dann noch jemand gedankenlos fragt: „Würdest du nicht gern mal heiraten?“, verstärkt sich das Gefühl noch.
Auch Alleinerziehende leiden unter Einsamkeit. Kinder machen einem Freude, aber auch Sorgen. Und dann ist kein Partner da, mit dem man sich beraten kann.
● Fortgeschrittenes Alter, kindliche Unerfahrenheit
Ältere kommen sich häufig allein vor, selbst wenn sie von der Familie nicht vernachlässigt werden und des Öfteren Besuch von Verwandten oder Freunden bekommen. Aber wie ist es an den Tagen oder in den Wochen, wenn keiner vorbeischaut?
Und auch junge Menschen fühlen sich oft mutterseelenallein. Sie verbringen ihre Freizeit nur noch mit sich und werden regelrecht süchtig nach Fernsehen und Videospielen oder verschanzen sich stundenlang hinter dem Computer.
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