Das Meer — Schatzkammer oder Müllkippe der Welt?
O woge, woge, blauer Ocean!
Nicht tausend Flotten können dich bezwingen.
Zerstörte Reiche sind des Menschen Bahn,
Auf deinen Wassern endet sein Vollbringen
(aus Harolds Pilgerfahrt von Lord Byron).
ES GAB Zeiten, wo diese Zeilen nicht nur poetisch waren, sondern auch zutreffend. Doch das ist vorbei. Heute klingen die Worte des Dichters, der so ausdrucksvoll von der Unermeßlichkeit der Meere und ihrer scheinbaren Unempfindlichkeit gegen kümmerliche Störversuche des Menschen spricht, ebenso falsch und hohl wie die Behauptung, der Mensch würde nie fliegen können. Das Vollbringen des Menschen endet nicht mehr auf den Wassern. Er hinterläßt seine Bahn auch auf der See — und was für eine häßliche Bahn!
Wer schon einmal am Strand war, denkt zweifellos mit Freude daran zurück: glitzerndes Sonnenlicht auf dem Wasser, beruhigende, rhythmische Brandung, erfrischendes Schwimmen und Spielen in den Wellen. Weckt nicht allein der Gedanke daran die Vorfreude auf das nächste Mal? Aber möglicherweise gibt es kein nächstes Mal. Und das ist vielleicht noch das wenigste, denn die Meere erfreuen uns nicht nur.
Atmen wir einmal tief ein. Gemäß der New Encyclopædia Britannica verdanken wir einen Großteil des Atemzuges den Ozeanen. Wieso? Es heißt, die Wasser unserer Erde — und darin besonders die Algen — würden etwa 90 Prozent des Sauerstoffs zur Verfügung stellen, den wir einatmen. Nach anderen Schätzungen sorgt allein das mikroskopisch kleine Phytoplankton für ein Drittel des Sauerstoffs der Erde. Die Meere gleichen die Temperatur aus, beherbergen eine unermeßliche Vielfalt an Leben und spielen bei den globalen Klima- und Wasserkreisläufen eine entscheidende Rolle. Kurz gesagt: Das Leben auf diesem Planeten hängt von den Meeren ab.
Müllkippe der Welt
Doch für den Menschen erfüllen sie noch einen anderen Zweck. Er benutzt sie als Müllkippe. Abwässer, chemische Industrieabfälle und pestizidbeladene Sickerwasser aus der Landwirtschaft finden auf Lastkähnen, in Flüssen und Rohrleitungen ihren Weg in die See. Der Mensch hat das Meer lange wie eine riesige Kloake behandelt. Aber sie holt ihn langsam wieder ein. In den letzten Jahren mußten in der ganzen Welt beliebte Badestrände geschlossen werden, weil Unmengen von Abfällen angespült worden waren.
Pharmazeutisch-medizinische Abfälle wie schmutzige Binden, Injektionsnadeln und Gefäße mit Blut — teilweise aidsverseucht — tauchten an den Stränden der Ostküste der Vereinigten Staaten auf und sorgten für Schlagzeilen. Ungeklärte Abwässer, tote Laborratten, die Magenschleimhaut eines Menschen und andere unappetitliche Dinge hatten ihren grausigen Auftritt. Manches davon ist zu einem alltäglichen Anblick geworden.
Strände an der Nordsee und der Ostsee sind genauso von der Krise betroffen wie die am Mittelmeer, am sowjetischen Ufer des Schwarzen Meeres und am Pazifik. Einige wurden geschlossen, da man sich dort eine von vielen Krankheiten hätte zuziehen können. Der weltbekannte Meeresforscher Jacques Cousteau sprach kürzlich von 30 Krankheiten, die man beim Baden im Mittelmeer bekommen könnte. Die Liste reicht von Eiterbeulen bis Gangrän. Er sagte eine Zeit voraus, in der es niemand mehr wagen würde, auch nur eine Zehenspitze ins Wasser zu tauchen.
Aber der Müll ist nicht nur daran schuld, daß Strände geschlossen werden und einem das Schwimmen verleidet wird. Der Schaden hat sich auch auf die hohe See ausgeweitet.
Vor einigen Jahren begann man, den Klärschlamm von New York etwa 200 Kilometer vor der Küste zu verklappen. Kürzlich brachten dann Fischer aus unterseeischen Gräben, ca. 130 Kilometer davon entfernt, Fische mit Wunden und angefaulten Flossen mit sowie Krabben und Hummer, die „Brandlöcher“ hatten — Löcher in den Schalen, die aussahen, als wären sie mit einem Lötkolben eingebrannt worden. Regierungsvertreter leugneten jede Verbindung zu der Verklappung, doch die Fischer sehen das anders. Ein Hafenmeister erklärte gegenüber dem Magazin Time, die New Yorker seien dabei, „ihren Abfall postwendend mit dem Fisch wieder serviert zu bekommen“.
Nach der Meinung von Experten greift die Meeresverschmutzung weltweit rasant um sich. Sie ist nicht auf Industrieländer beschränkt. Auch Entwicklungsländer sind bedroht. Das hat zwei Gründe: Erstens sind die Meere in Wirklichkeit nur ein großes Weltmeer, in dem sich die Strömungen nicht um die Grenzen scheren. Zweitens haben die Industrienationen ärmere Länder als Müllabladeplätze benutzt. Allein in den letzten zwei Jahren verfrachteten die Vereinigten Staaten und Europa etwa drei Millionen Tonnen Sondermüll in osteuropäische und afrikanische Länder. Außerdem haben ausländische Unternehmer in Asien und Afrika Fabriken ohne die notwendigen Entsorgungssysteme gebaut.
Die Kunststoffpest
Mit den Kunststoffen hat der Mensch weitere Geister gerufen, die er nun nicht mehr los wird. Nicht nur, daß Kunststoffe zur Zeit für die Technik anscheinend unverzichtbar sind, sie sind praktisch auch unzerstörbar. Braucht der Mensch sie nicht mehr, hat er Schwierigkeiten, sie wieder loszuwerden. Der Kunststoff, mit dem ein Sechserpack Bier zusammengehalten wird, hat möglicherweise eine „Lebenszeit“ von 450 bis 1 000 Jahren.
Ein beliebter Weg, so etwas zu beseitigen, besteht, wie man sich vorstellen kann, darin, es ins Meer zu werfen. Ja, laut einem jüngsten Bericht werden jährlich etwa 26 000 Tonnen Verpackungsmaterial und 150 000 Tonnen Fischereiausrüstung ins Meer geworfen oder gehen dort verloren. Gemäß dem Spiegel gehen jedes Jahr „etwa 233 Millionen Kunststoff-Behälter“ über Bord. Ein Fachmann berechnete, daß selbst in der Mitte des Pazifiks auf den Quadratkilometer noch 50 000 Kunststoffreste kommen.
Die Meere können diese Plastikpest nicht absorbieren. Der Kunststoff schwimmt so lange im Meer, bis er an einem Strand ausgespuckt wird, wo er fortfährt, die Schönheit der Erde zu zerstören. Doch er bewirkt noch weit Schlimmeres.
Horrender Preis
Das eigentliche Problem ist wie bei anderen Umweltzerstörern der Tribut an Leben, den der Kunststoff fordert. Große Meeresschildkröten verwechseln Mülltüten mit durchscheinenden, sich wellenförmig bewegenden Quallen — eine ihrer Lieblingsspeisen. Sie ersticken daran oder schlucken sie hinunter; in jedem Fall bringt ihnen das Plastik den Tod.
Alle möglichen Meeresbewohner, von Walen bis zu Delphinen und Robben, verheddern sich in aufgegebenen Angelschnüren und Netzen. Robben stecken spielerisch ihre Schnauze in weggeworfene Plastikringe, können sich dann aber weder daraus befreien noch das Maul öffnen und erleiden so einen langsamen Hungertod. Seevögel verfangen sich in Angelschnüren und sterben bei dem verzweifelten Versuch, sich wieder daraus zu befreien. Und das sind keine Einzelfälle. Jedes Jahr werden etwa eine Million Seevögel und einhunderttausend Meeressäuger so erdrosselt.
Auch die chemische Vergiftung leistet ihren Beitrag zum großen Sterben. Im vergangenen Sommer fand man die ersten toten Seehunde an der Nordseeküste. In den folgenden Monaten gingen ca. 12 000 der 18 000 Seehunde in der Nordsee zugrunde. Woran starben sie? An einem Virus. Doch das ist nur die halbe Erklärung. Die Millionen von Kubikmeter Abfall, die regelmäßig in die Nord- und die Ostsee gekippt werden, haben dazu beigetragen, das Immunsystem der Seehunde zu schwächen, so daß sich die Krankheit ausbreiten konnte.
In der Nord- und der Ostsee ist zwar der Verseuchungsgrad besonders hoch, aber ein Tier fände wohl heute auch andernorts kaum ein unverschmutztes Stück Meer. In den entlegensten Regionen der Arktis und Antarktis weisen Pinguine, Narwale, Eisbären, Fische und Robben im Körpergewebe Spuren künstlicher Chemikalien und Pestizide auf. Tote Weißwale werden im kanadischen St.-Lorenz-Golf als gefährlicher Abfall eingestuft, so stark sind sie mit Giften belastet. An der Atlantikküste der Vereinigten Staaten starben innerhalb eines Jahres etwa 40 Prozent der Delphine dieser Gegend. Sie wurden mit Blasen, Wunden und sich ablösenden Hautfetzen an das Ufer geschwemmt.
Eingriff in ein empfindliches System
Die Verschmutzung der Meere rächt sich noch auf andere Weise. Sie stellt einen tödlichen Eingriff in das komplexe Ökosystem dar — mit furchterregenden Folgen. Die Ozeane verfügen z. B. über eingebaute Schutzsysteme gegen Verschmutzungen. Flußmündungen und Marschländer filtern wirkungsvoll schädliche Stoffe aus dem Wasser, bevor es ins Meer fließt. Das Meer selbst hat eine ungeheure Fähigkeit, sich selbst zu erneuern und zu reinigen. Doch der Mensch „kultiviert“ das Marschland, überfordert die Flußmündungen und wirft gleichzeitig mehr Abfall ins Meer, als es verkraften kann.
Abwässer und Ablaufwasser, die unkontrolliert in das Meer gelangen, liefern den Algen zuviel Nahrung, so daß diese blühen und sich als rote oder braune Fluten ausbreiten. Sie entziehen dem Wasser Sauerstoff und löschen im Umkreis von einigen Kilometern alles Leben im Wasser aus. Weltweit breiten sich diese Fluten aus.
Der Mensch hat das Meer auch auf bisher unbekannte Weise verseucht. Warmer Abfall, der die örtliche Wassertemperatur, wenn auch nur ganz leicht, ansteigen läßt, kann das Wachstum von Organismen fördern, die das Ökosystem durcheinanderbringen.
Zur Verschmutzung gehört ebenfalls Lärm. Wie der New York Times zu entnehmen war, stört der Mensch die Ruhe der unterseeischen Welt durch Sprengungen für seismische Forschungen, durch Ölbohrungen und durch die großen Schiffe. Dies schädigt die empfindlichen Hörorgane der Fische, Wale und Robben, was wahrscheinlich sogar ihre Fähigkeit zur gegenseitigen Verständigung beeinträchtigt. Carl Sagan erklärt in dem Buch Cosmos, daß Wale wohl früher ihre niederfrequenten Laute über Tausende von Kilometern hinweg hören konnten — Entfernungen etwa wie von Alaska bis zur Antarktis. Wie er annimmt, sind es heute zufolge des künstlichen Lärms nur noch einige hundert Kilometer. Nachdenklich stellt er fest, daß wir die Wale voneinander abgeschnitten haben.
Das Meer ist auch ein Beispiel dafür, wie sehr die Umweltkrisen miteinander verflochten sind. Da der Mensch die Ozonschicht schädigt, erreicht immer mehr ultraviolettes Licht die Meeresoberfläche, wo es das Plankton tötet, das an der Oberfläche schwimmt. Die Zerstörung des Planktons, das Kohlendioxyd aufnimmt, trägt zur Erwärmung der Erde bei, dem sogenannten Treibhauseffekt. Ebenso spielt der saure Regen eine Rolle, weil dadurch dem Wasser Nitrogene zugeführt werden, was möglicherweise das todbringende Algenblühen fördert. Was für ein verworrenes, gefährliches Gespinst der Mensch doch gewoben hat!
Ist die Situation nun hoffnungslos verfahren? Was wird mit unseren Ozeanen geschehen? Sind sie dazu verdammt, zu leblosen Jauchegruben voller Abfälle und Chemikalien zu verkommen?
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EINE WELTWEITE GEISSEL
◼ Im Jahr 1987 mußte ein Drittel der amerikanischen Muschelbänke wegen Verschmutzung geschlossen werden.
◼ Die Insel Sylt, lange Zeit bekannt für ihre sauberen Strände, wurde im letzten Sommer von blühenden Algen und Schmutz heimgesucht. Eine fast ein Meter hohe stinkende Schaumschicht bedeckte die Strände.
◼ Naturliebhaber freuten sich darauf, Laysan, eine abgelegene, unbewohnte, über 1 500 Kilometer von Hawaii entfernte Pazifikinsel, zu besuchen. Was sie vorfanden, waren mit Plastik und anderem Müll übersäte Strände.
◼ Jedes Jahr gelangen etwa sechs Millionen Tonnen Öl in die Ozeane — das meiste davon absichtlich.
◼ Gemäß der Umweltschutzorganisation Greenpeace ist die Irische See mit mehr radioaktivem Abfall belastet als alle anderen Meere zusammen. Das mag mit zu dem 50prozentigen Anstieg der Leukämiefälle an der Küste beigetragen haben.
◼ Die Strände aller Anrainer des Indischen Ozeans sind durch Teerklumpen verunstaltet, die sich aus Öl bilden, das die Tanker ins Meer ablassen.
◼ Jedes Jahr sterben etwa 30 000 Nördliche Seebären, die sich in verlorenen oder aufgegebenen Treibnetzen verfangen haben. Allein die asiatischen Fangschiffe verlieren jede Nacht schätzungsweise 15 Kilometer Netz.
◼ Die italienische Regierung beziffert zwar den Anteil der sauberen Strände auf 86 Prozent, doch Umweltschützer erklären, es seien nur 34 Prozent. Ungefähr 70 Prozent der Küstenstädte am Mittelmeer leiten ihre Abwässer ungeklärt ins Meer.
◼ Die 20 000 Inseln in Südostasien leiden ebenfalls unter der Verschmutzung. Der Zinnabbau im Meer, Explosionen und die Abfälle, die vom Land oder von Schiffen stammen, fordern ihren Preis: Tierarten sind bedroht, Korallenriffe zerstört und Strände durch Schmutz und Teer ruiniert.
◼ Die brasilianische Zeitschrift Veja brachte unter der Überschrift „Hilfeschrei“ einen Artikel über die Verschmutzung der brasilianischen Küsten und Küstengewässer. Schuld daran seien die ungeeignete Abwasserbeseitigung sowie die Industrialisierung ohne die notwendigen Schutzmaßnahmen.
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Durch Ölteppiche finden Tausende von Lebewesen den Tod
[Bildnachweis]
H. Armstrong Roberts