Riesige Maschinen, winzige Teilchen
STELL dir einmal vor, du solltest innerhalb von wenigen Sekunden Tausende von Malen die französisch-schweizerische Grenze überqueren. „Unmöglich!“ würdest du sagen. Doch genau das schaffen Milliarden neuartige „Grenzbewohner“. Es handelt sich um winzige Teilchen, die durch das Innere eines riesigen Metallringes sausen — tief unter der Erde im Gelände einer europäischen Forschungsanlage in der Nähe des internationalen Flughafens von Genf. Dort helfen riesige Maschinen, sogenannte Teilchenbeschleuniger, den Physikern auf einem Gebiet, das den Menschen seit alters in seinen Bann zieht: die Erforschung der Geheimnisse der Materie und der Gesetze, die das Universum beherrschen.
Ein Blick in das unendlich Kleine
Tausende von Jahren hat der Mensch von der Entdeckung der Grundbausteine der Materie geträumt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts fanden Wissenschaftler heraus, daß das Atom, das man bis dahin für das kleinste und daher unteilbare Bruchstück der Materie hielt, aus einem Kern besteht, der von Elektronen umkreist wird. Später stellte man fest, daß die Möglichkeiten zur Aufspaltung damit noch nicht erschöpft sind. Nach einer der heutigen Theorien setzt sich die gesamte Materie des Universums aus nur drei Grundbausteinen zusammen: Elektronen und zwei Quarktypen. Alles andere ist leerer Raum.
Archäologen zum Beispiel, die eine alte Mauer ausgraben, untersuchen nicht nur die Ziegel, sondern auch den Mörtel, durch den die Ziegel miteinander verbunden sind. Vergleichbar damit untersuchen die Physiker heute die Kräfte, die zwischen den Teilchen wirken. Wie Wissenschaftler sagen, können sich zwei Teilchen miteinander verbinden, indem sie untereinander ein drittes austauschen, in etwa so, wie ein Ball zwischen zwei Spielern ausgetauscht wird. Und ebenso wie bei verschiedenartigen Spielen wie Fußball, Basketball oder Tennis unterschiedliche Bälle benutzt werden, so hat jede Kraft ihr eigenes Überträgerteilchen (oder ihre eigene Gruppe von Überträgerteilchen). Um diese zwei Teilchenarten (Ziegel und Mörtel, Spieler und Bälle) untersuchen zu können, benötigt man Beschleuniger.
Ohne Beschleuniger wären die Forscher auf dem Gebiet der Elementarteilchenphysik heute ebenso hilflos wie ein Botaniker ohne Mikroskop oder ein Astronom ohne Teleskop. Beiderseits der französisch-schweizerischen Grenze befinden sich auf dem Gelände von CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) Anlagen, in denen mehrere Beschleuniger im Verbund arbeiten. Was im Innern dieser Maschinen vor sich geht, können wir wahrscheinlich besser verstehen, wenn wir uns tausendbillionenmal kleiner machen. Jetzt können wir uns einem außergewöhnlichen Führer anschließen.
Eine Reise durch das Innere eines Beschleunigers
Guten Tag! Ich bin eines der Milliarden Protonen, die dich auf deiner Reise durch das SPS begleiten. SPS ist eine Abkürzung für das Super-Protonensynchroton, den derzeit größten Beschleuniger auf dem Gelände von CERN. Mache dich bitte auf einiges gefaßt, denn wir werden immerhin über eine Million Kilometer zurücklegen, und das in nicht einmal fünf Sekunden.
Bevor wir in das SPS eintreten dürfen, müssen wir uns in kleineren Maschinen einer Vorbeschleunigung unterziehen, damit wir eine bestimmte Geschwindigkeit erreichen, die über 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beträgt — schneller als die Lichtgeschwindigkeit (im Vakuum 299 793 km/s) geht es nicht. Im SPS werden wir lediglich um 0,4 Prozent schneller. Aber unsere Masse wird stark zunehmen, denn wir machen einen Energiesprung von 10 GeVa auf 400 GeV, und genau das wollen die Physiker erreichen. Das SPS ist also kein Beschleuniger im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern es ähnelt mehr einer Schleuder, in der ein Stein mit gleichbleibender Geschwindigkeit herumgeschleudert wird, wobei dessen Gewicht zunimmt.
Jetzt sind wir in das Vakuumrohr des SPS hineingesaust. Der gesamte Ring mit einem Umfang von fast sieben Kilometern läuft durch einen unterirdischen Tunnel von mehreren Metern Durchmesser. Techniker können mit dem Fahrrad durch den Tunnel fahren, wenn der Beschleuniger außer Betrieb ist.
Sobald wir im Rohr sind, nehmen uns 744 Führungsmagnete bei der Hand. Die kräftigen Felder der Elektromagnete zwingen uns auf eine nahezu kreisförmige Bahn. Andernfalls würden wir durch die Zentrifugalkraft in die dicke Ummantelung geschleudert, die nur die von uns ausgehende gefährliche Strahlung aufnehmen soll. Da wir uns am liebsten verteilen würden, sind 216 Fokussierungsmagnete nötig, um aus uns einen dichten, dünnen Strahl zu machen. Diese Magnete sind mit den Linsen zu vergleichen, mit denen man in einem Leuchtturm das Licht zu einem dünnen Strahl mit großer Reichweite bündelt.
Möglich geworden ist unsere Reise erst dadurch, daß die meisten Teilchen, mit denen wir hätten zusammenstoßen können, aus dem Weg geräumt worden sind — in dem Rohr herrscht ein sehr hohes Vakuum. Bei jeder neuen Runde werden wir mit zusätzlicher Energie versorgt, und zwar dann, wenn wir auf dem langen, geraden Abschnitt durch mehrere jeweils 20 Meter lange Hochfrequenz-Hohlraumresonatoren flitzen. Die darin erzeugte elektromagnetische Welle gibt uns einen Teil ihrer Energie ab, ähnlich wie eine Meereswelle einem Surfer, der auf ihr reitet, Schwung gibt.
Nun dauert es nur noch gut eine halbe Sekunde, bis wir den Beschleuniger in Gruppen von zehn Billionen Teilchen wieder verlassen. Nachdem wir aus dem Beschleuniger hinausgelenkt worden sind, werden wir auf ein Target aufprallen, das je nach Art des Experiments eine Metallplatte, ein Gas oder eine Flüssigkeit sein kann. Ein Teil unserer Energie, die beim Zusammenstoß zwischen Protonen und Targetteilchen freigesetzt wird, verwandelt sich meist kurzzeitig in Materie. Das ist in etwa das Gegenteil von dem, was in einem Kernreaktor geschieht, wo Materie in Energie umgewandelt wird. Die Bruchstücke, die bei der Kollision entstehen, werden mit Hilfe von aufwendigen Detektoren und leistungsfähigen Computern analysiert.
Ich muß mich jetzt leider verabschieden. Wenn du aber noch ein paar Minuten Zeit hast, dann erwartet dich ein weit aufregenderes Experiment.
Kollisionsringe
Die gerade erst beschleunigten Protonen sind nun gegen ein ruhendes Target geprallt. Ein großer Teil ihrer Energie wird beim Zusammenprall mit den Targetteilchen „vergeudet“. Wenn sie also mit einer Energie von 400 GeV auf Protonen eines ruhenden Targets treffen, so wird nur eine Energie von 28 GeV frei, die der Erzeugung neuer Teilchen dienen kann.
Dieses Problem gab Anlaß zu weiteren Forschungen. Da man die verfügbare Energie besser nutzen wollte, kam man auf die Idee, Teilchenstrahlen kollidieren zu lassen. Im SPS läßt man einen Strahl von Antiprotonen (Teilchen mit der gleichen Masse wie Protonen, aber mit entgegengesetzter elektrischer Ladung) mit einem gegensinnig kreisenden Protonenstrahl frontal zusammenstoßen. Stößt ein Proton von 270 GeV mit einem Antiproton von 270 GeV zusammen, steht fast die gesamte Energie, also 540 GeV, für die Entstehung schwererer Teilchen zur Verfügung.
Nachdem die Probleme in Verbindung mit der Erzeugung, Speicherung und Beschleunigung der Antiprotonen überwunden worden waren, konnten die Physiker von CERN im Jahre 1983 den Beweis für die Existenz äußerst instabiler Teilchen liefern — die W- und Z-Bosonen. Wie bei den meisten Teilchen, die in solchen Beschleunigern erzeugt werden, dauert es auch bei den Bosonen nicht lange — weniger als ein Billionstel einer billionstel Sekunde —, bis sie sich in Energie oder in andere Teilchen umwandeln. Mit einer hundertmal größeren Masse als die der Protonen sind die Z-Bosonen die schwersten Teilchen, die man bisher entdeckt hat.
Noch größere Maschinen
In der ganzen Welt ist man auf der Jagd nach noch schwereren neuen Teilchen, insbesondere nach Trägerteilchen (die am Anfang des Artikels erwähnten Spielbälle). Das macht bessere, noch leistungsfähigere Maschinen nötig. Daher wurde 1983 auf dem CERN-Gelände in der Nähe von Genf mit dem Bau eines weiteren Ringes begonnen. Man nennt ihn LEP (Großer Elektron-Positron-Speicherring). Dabei handelt es sich um eine Maschine mit einem Ringumfang von 27 Kilometern, in der Elektronen und Positronen (die Antiteilchen der Elektronen) beschleunigt werden können. Es ist zu erwarten, daß den Physikern mit diesen neuen „Teilchen-Projektilen“ ein neues Werkzeug in die Hand gegeben wird, sozusagen ein noch feineres Skalpell zum Zerlegen von Materie.
Du fragst dich vielleicht: „Worin liegt der Nutzen all dieser Maschinen?“ Der Nutzen dieser Technik scheint begrenzt zu sein, wenn man einmal davon absieht, daß einige wenige Beschleuniger in Krankenhäusern zur Erzeugung von Teilchen eingesetzt werden, die der Zerstörung von Krebszellen oder als radioaktive Markierungsstoffe dienen. Doch die Physiker sind nach wie vor eifrig auf der Suche nach einer genaueren Antwort auf die Frage: „Wie ist die Materie aufgebaut?“ Deshalb werden sie zweifellos fortfahren, die Welt des unendlich Kleinen auszuspionieren, und das, so paradox es klingt, mit immer riesigeren Beschleunigern.
[Fußnote]
a Bei chemischen Reaktionen spielen Energien mit dem Betrag von wenigen Elektronenvolt eine Rolle. Ein Gigaelektronenvolt (GeV) entspricht einer Milliarde Elektronenvolt.
[Kasten auf Seite 25]
Was sind das für Teilchen?
Elektronen: Teilchen mit negativer elektrischer Ladung, die im Betrag der Ladung des Protons entspricht. Ihre Masse ist aber im Vergleich zu der des Protons 2 000mal geringer. Elektronen bewegen sich um den Atomkern, wobei ihre Anzahl der Zahl der Protonen entspricht.
Protonen: Teilchen mit gleicher elektrischer Ladung wie das Elektron, aber positiv. Sie sind Bestandteil jedes Atomkerns. Der Atomkern des Wasserstoffs enthält ein Proton.
Neutronen: Teilchen mit nahezu der gleichen Masse wie das Proton, aber ohne elektrische Ladung. Ein weiterer Bestandteil aller Atomkerne mit Ausnahme des Kerns von Wasserstoff.
Quarks: Teilchen, die vermutlich die grundlegenden Bausteine der Protonen und Neutronen sind. Quarks treten nicht einzeln, sondern immer im Verbund mit anderen Quarks auf. Jedes ist elektrisch geladen. Der Betrag der Ladung entspricht entweder einem Drittel oder zwei Dritteln der elektrischen Ladung des Elektrons.
Bosonen: Teilchen, die Kräfte zwischen anderen subatomaren Teilchen übertragen. Ein Boson, das ein Teilchen abgibt, wird von einem anderen Boson absorbiert.
Energie verwandelt sich in Materie
Beschleunigung verleiht Energie: Fällt dir ein Tennisball auf den Fuß, so spürst du das kaum. Trifft dich ein solcher Ball aber mit hoher Geschwindigkeit auf die Nase, kann er dich ernsthaft verletzen. Warum? Weil der Ball mit zunehmender Geschwindigkeit mehr Energie erhält, und diese Energie wird beim Auftreffen wieder frei. Der Hauptzweck eines Beschleunigers besteht darin, den Teilchen Energie zuzuführen, indem sie auf hohe Geschwindigkeiten beschleunigt werden.
Konzentrierte Energie verwandelt sich in Materie: Die Umwandlung von Energie in Materie ist nicht eine Frage der Menge, sondern der Konzentration. Wenn hochenergetische, schnelle Teilchen in ausreichender Zahl auf kleinem Raum komprimiert werden, können beim Aufprall auf ein beliebiges Objekt oder beim gegenseitigen Zusammenprall daraus neue Teilchen entstehen.
Materie entsteht — aber in winzigen Mengen: In den Energie verschlingenden Beschleunigern wird nicht viel Materie produziert. Gemäß einer offiziellen Veröffentlichung von CERN „ist in all den Versuchen der letzten 25 Jahre nicht mehr als ein Milligramm Materie erzeugt worden“.
[Kasten/Bild auf Seite 26]
Rezept zur Herstellung einer Kuh
„Eine Kuh ist leicht herzustellen. Man benötigt nur eine große Menge von Grundbausteinen — u- und d-Quarks sowie Elektronen. Zuerst mache man sich die Protonen. Man benötigt zwei u-Quarks und ein d-Quark. Dann stelle man einige Neutronen her, und zwar aus jeweils einem u-Quark und zwei d-Quarks. Nun setzt man die Atome zusammen. Für die Herstellung einer Kuh benötigt man hauptsächlich Kohlenstoff-, Sauerstoff-, Wasserstoff- und Stickstoffatome ... Das Rezept für ein Wasserstoffatom ist ziemlich einfach: ein Proton und ein Elektron, das es umkreist. Kohlenstoff ist etwas komplizierter herzustellen ...
Nun müssen die Atome zu Molekülen zusammengesetzt werden. Beim Wasser geht das einfach. Man nehme ein Sauerstoffatom und zwei Wasserstoffatome. Für andere Moleküle braucht man aber Hunderte oder sogar Tausende von Atomen. Zuallerletzt nehme man diese Atome und baue mehrere Milliarden Zellen und setze daraus sorgfältig die Kuh zusammen.
Dieses Rezept wird von CERN zur Verfügung gestellt. Es ist absolut genau, wenn man sich genügend Zeit nimmt und sich an den geheimnisvollen Bauplan hält, nach dem bereits eine Kuh gemacht worden ist“ (L’Express, französische Wochenzeitschrift).
Wer könnte aber einen solch „geheimnisvollen Bauplan“ entworfen haben? Nur ein hochstehendes, intelligentes Wesen, der Eine, den die Bibel als den Schöpfer bezeichnet — Jehova Gott (Psalm 104:24).
[Bilder/Diagramm auf Seite 24]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
LEP
SPS
site Prévessin
site Meyrin
FRANCE
SUISSE
[Bildnachweis]
Fotos: CERN, Genf