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Hundertfünfzig Jahre U-BahnErwachet! 1997 | 22. März
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DIE Tunnelarbeiter starrten ungläubig auf ihre Entdeckung. Es war das Jahr 1912. Tief unter den Straßen von New York waren sie beim Ausbau der neuen Untergrundbahn auf eine große verborgene Kammer gestoßen. Der Raum war prunkvoll ausgestattet wie ein Palast. Er war der Länge nach mit Spiegeln, Kronleuchtern und Fresken geschmückt. Die verwitterte Holztäfelung zierte immer noch die Wände. In der Mitte des Raums befand sich ein schöner Brunnen, dessen Plätschern längst verstummt war.
Der Raum führte zu einem Tunnel. Zum Erstaunen der Arbeiter stand dort auf Schienen ein geschmückter U-Bahn-Wagen für 22 Fahrgäste. Hatte es vorher schon in New York eine U-Bahn gegeben? Wer konnte diese Station gebaut haben?
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Hundertfünfzig Jahre U-BahnErwachet! 1997 | 22. März
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Die erste New Yorker U-Bahn
Auf der anderen Seite des Atlantiks zerbrach sich Alfred Ely Beach, ein begabter Erfinder, den Kopf über die kritische Verkehrslage in New York. Als Herausgeber der Zeitschrift Scientific American war Beach ein Befürworter moderner Lösungen für alte Probleme, wie zum Beispiel verstopfte Straßen. 1849 unterbreitete er einen revolutionären Plan: das Untertunneln des Broadways, einer der verkehrsreichsten Straßen, „mit Öffnungen und Treppen an jeder Straßenecke. Dieser unterirdische Gang soll mit doppeltem Schienenstrang und einem Fußgängerweg zu beiden Seiten angelegt werden.“
In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten hatten auch noch andere Verkehrsplaner Vorschläge für den Nahschnellverkehr in New York. Alle diese Pläne wurden letzten Endes abgelehnt. Der korrupte und mächtige Politiker Boss Tweed wünschte keine Konkurrenz zu den bestehenden Verkehrsgesellschaften, durch die er einen Großteil seiner illegalen Einkünfte bezog. Doch der findige Beach, der seine Idee nicht aufgab, überlistete den energischen Boss Tweed.
Beach erhielt die Genehmigung, unter dem Broadway zwei nebeneinanderliegende Tunnel zu bauen, die allerdings für die Personenbeförderung zu klein sein würden. Sie waren „für die Weiterleitung von Briefen, Paketen und Waren“ an das Hauptpostamt vorgesehen. Unter dem Vorwand, Kosten sparen zu wollen, beantragte er dann, nur einen einzigen, dafür aber großen Tunnel bauen zu dürfen. Irgendwie blieb diese List unbemerkt, und die Abänderung wurde genehmigt. Beach machte sich sofort, aber unauffällig an die Arbeit. Er grub vom Keller eines Bekleidungsgeschäftes aus und ließ die Erde nachts mit Wagen abtransportieren, deren Räder zur Schalldämpfung umwickelt waren. Der 95 Meter lange Tunnel wurde in nur 58 Nächten fertiggestellt.
„Luftantrieb“
Beach war sich der verpesteten Luft in der Londoner U-Bahn, die auf kohlenbetriebene Dampfmaschinen zurückzuführen war, sehr wohl bewußt. Er trieb seinen Zug mit Luftdruck an, der von einem riesigen Gebläse erzeugt wurde, das in einer Nische an einem Ende des Tunnels eingebaut war. Der Luftdruck schob den Zug sachte mit einem Tempo von zehn Kilometern pro Stunde vorwärts, doch der Zug hätte auch zehnmal schneller fahren können. War er am anderen Ende angelangt, wurde das Gebläse umgeschaltet, so daß der Zug nun durch Sogwirkung zurückgezogen wurde. Um den Leuten irgendwelche unterschwelligen Ängste vor unterirdischen Gängen zu nehmen, sorgte Beach dafür, daß die geräumige Wartehalle mit Zirkoniumlampen erleuchtet wurde, die damals zu den hellsten Lampen gehörten. Auch stattete er die Halle verschwenderisch mit Plüschsesseln aus, mit Statuen, falschen Fenstern mit Vorhängen, einem großen Piano und einem Goldfischbassin. Die kurze Strecke wurde im Februar 1870 einer ahnungslosen Öffentlichkeit vorgestellt und war sofort die Sensation. Innerhalb eines Jahres besichtigten 400 000 Menschen die Untergrundbahn.
Boss Tweed war wütend. Mit politischer Taktik überredete Tweed den Gouverneur, einem konkurrierenden Plan für eine Hochbahn zuzustimmen, die 16mal so teuer kommen würde wie die von Beach befürwortete luftangetriebene Untergrundbahn. Kurze Zeit später wurde Tweed verhaftet und zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Allerdings bewirkte ein Börsensturz im Jahr 1873, daß sich Investoren und Beamte nicht mehr für Untergrundbahnen interessierten, worauf Beach den Tunnel schloß. So geriet er in Vergessenheit, bis man 1912 zufällig darauf stieß. Das war mehr als sieben Jahre nach der Eröffnung der heute noch bestehenden New Yorker U-Bahn im Jahr 1904. Ein Teil des von Beach erbauten Tunnels gehört heute zur City-Hall-Station im Zentrum von Manhattan.
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