-
Wenn Essen zum Feind wirdErwachet! 1999 | 22. Januar
-
-
Wenn Essen zum Feind wird
Jean kann sich noch lebhaft daran erinnern, wie sie als Jugendliche oft gehänselt und verspottet wurde. Aus welchem Grund? Sie war die Größte und Kräftigste in ihrer Klasse. Doch das war nicht der einzige Grund. „Noch schlimmer als meine kräftige Figur war, daß ich schüchtern und gehemmt war“, sagt Jean. „Ich war oft einsam und wollte irgendwo dazugehören, aber die meiste Zeit fühlte ich mich wie eine Außenseiterin.“
Jean war davon überzeugt, daß ihre Größe schuld an allen ihren Problemen war und daß mit einer schlanken, durchtrainierten Figur alles in Ordnung käme. Jean war nicht etwa dick. Im Gegenteil, mit einem Gewicht von 66 Kilogramm bei einer Größe von 1,83 Meter war sie ganz und gar nicht übergewichtig. Dennoch fühlte sich Jean dick, und mit 23 Jahren beschloß sie abzunehmen. „Wenn ich dünn bin, werden die Leute mich gern um sich haben“, überlegte sie sich. „Dann werde ich endlich das Gefühl haben, akzeptiert zu werden und etwas Besonderes zu sein.“
Sie erklärt: „Diese dumme Denkweise führte dazu, daß ich aus dem Sog der Anorexia nervosa beziehungsweise Bulimie 12 Jahre nicht herauskam. Ich bin tatsächlich dünn geworden, so dünn, daß ich fast gestorben wäre, doch statt mir ein glückliches Leben aufzubauen, habe ich meine Gesundheit ruiniert und nur erreicht, daß ich über 10 Jahre lang depressiv und unglücklich war.“
JEAN ist kein Einzelfall. Gemäß einer Schätzung tritt bei jeder 100. Amerikanerin Anorexia nervosa auf, und die Anzahl der bulimischen Frauen ist vielleicht dreimal so hoch. „Ich arbeite seit Jahren an Schulen und Hochschulen“, sagt Dr. Mary Pipher. „Und ich weiß aus erster Hand, daß Eßstörungen so verbreitet sind wie eh und je.“
Außerdem treten sie in unterschiedlichen Formen auf. Früher dachte man, Eßstörungen seien ein Problem reicher Leute, doch heute weiß man, daß es sie in allen rassischen, sozialen und wirtschaftlichen Schichten gibt. Sogar die Anzahl der Männer, bei denen Eßstörungen diagnostiziert werden, steigt an, weshalb das Magazin Newsweek schrieb, Eßstörungen würden „auf ihren Beutezügen wahllos zuschlagen“.
Besonders alarmierend ist allerdings das offensichtlich immer niedriger werdende Durchschnittsalter der wegen Eßstörungen zu behandelnden Patienten. „In die Therapieprogramme der Krankenhäuser werden Mädchen aufgenommen, die nicht einmal 10, mitunter sogar erst 6 Jahre alt sind“, sagt Margaret Beck, die amtierende Leiterin eines Zentrums für Eßstörungen in Toronto. „Es sind noch nicht viele“, fügt sie hinzu, „aber es werden immer mehr.“
Alles in allem sind Millionen Menschen von Eßstörungen betroffen — hauptsächlich Mädchen und junge Frauen.a „Was die Einstellung zum Essen und die Verwendung von Nahrungsmitteln angeht, verhalten sie sich anders als die meisten Menschen“, bemerkt die Sozialarbeiterin Nancy Kolodny. „Statt zu essen, um ihren Hunger zu stillen, sich Nährstoffe zuzuführen und gesund zu bleiben, oder statt aus Spaß an der Freude zu essen oder um sich einer angenehmen Gesellschaft bei einem gemeinsamen Essen zu erfreuen, haben sie ein bizarres Verhältnis zum Essen und tun Dinge, die man nicht als ‚normal‘ bezeichnen würde — beispielsweise entwickeln sie seltsame Rituale, bevor sie sich etwas zu essen genehmigen, oder verspüren unmittelbar danach den Drang, ihren Körper wieder von der Nahrung zu befreien.“
Werfen wir einen Blick auf zwei häufig auftretende Eßstörungen: Anorexia nervosa und Bulimia nervosa.
[Fußnote]
a Da mehr Frauen als Männer an Eßstörungen leiden, werden wir in dieser Artikelserie in der Regel die weibliche Form gebrauchen.
-
-
Anorexia und Bulimie — Fakten und GefahrenErwachet! 1999 | 22. Januar
-
-
Anorexia und Bulimie — Fakten und Gefahren
„Der emotionale Aspekt des Essens wiegt weit schwerer als alles, was in Kalorien oder Gramm meßbar ist“ (Janet Greeson, Autorin).
ANOREXIA und Bulimie sind die beiden häufigsten Eßstörungen. Jede hat ihre ganz spezifischen Charakteristika. Doch wie wir sehen werden, können beide gefährlich sein — sogar lebensgefährlich.
Anorexia — sich zu Tode hungern
Anorektiker, also Personen, die an Anorexia leiden, weigern sich entweder zu essen oder essen so kleine Portionen, daß sie unterernährt sind. So erzählt die 17jährige Antoinette beispielsweise, ihr Gewicht sei irgendwann auf 37 Kilogramm gesunken — ein ziemlich niedriges Gewicht für eine Jugendliche mit 1,70 Meter Größe. „Ich habe am Tag nicht mehr als 250 Kalorien zu mir genommen und über alles, was ich gegessen habe, Buch geführt“, sagt sie.
Bei Anorektikern drehen sich die Gedanken ständig ums Essen, und sie tun alles Erdenkliche, um nicht zuzunehmen. „Ich fing damit an, das Essen in die Serviette zu spucken, wobei ich so tat, als ob ich mir den Mund abwischen würde“, erzählt Heather. Susan trainierte hart, um ihr Gewicht niedrig zu halten. „Fast jeden Tag ging ich 12 Kilometer joggen oder eine Stunde lang schwimmen. Wenn ich das nicht tat, wurde mir angst und bange, und ich hatte ein entsetzliches Schuldgefühl. Mein größtes Vergnügen — und gewöhnlich auch mein einziges echtes Vergnügen — war es, jeden Morgen auf die Waage zu steigen und zu sehen, daß mein Gewicht weit unter 45 Kilogramm lag.“
Paradoxerweise sind etliche Anorektikerinnen ausgezeichnete Köchinnen und servieren exquisite Mahlzeiten, die sie selbst nicht anrühren. „In meiner schlimmsten Zeit“, sagt Antoinette, „bereitete ich zu Hause jede einzelne Abendmahlzeit zu und packte für meinen kleinen Bruder und meine kleine Schwester die Lunchpakete zusammen. Ich ließ sie nicht einmal in die Nähe des Kühlschranks. Die Küche war mein Revier.“
Gemäß dem Buch A Parent’s Guide to Anorexia and Bulimia bekommen einige Anorektikerinnen „einen regelrechten Ordnungsfimmel und verlangen bisweilen von der ganzen Familie, daß sie ihren unrealistisch hohen Erwartungen gerecht wird. Keine Zeitschrift, kein Paar Hausschuhe und keine Kaffeetasse darf auch nur einen Moment lang am falschen Platz liegen oder stehen. Noch besessener sind sie unter Umständen von ihrer persönlichen Hygiene und ihrem Aussehen, was bedeutet, daß sie sich stundenlang im Badezimmer einschließen und niemand anders hereinlassen, auch wenn sich derjenige für die Schule oder die Arbeit fertig machen muß.“
Wie entsteht diese ungewöhnliche Krankheit, die den Namen Anorexia trägt? Charakteristisch für die Krankheit ist, daß eine Jugendliche oder eine junge Frau — zumeist handelt es sich um das weibliche Geschlecht — damit beginnt, eine bestimmte Anzahl Kilogramm abzunehmen. Hat sie ihr Ziel erreicht, ist sie jedoch nicht zufrieden. Wenn sie in den Spiegel schaut, findet sie sich nach wie vor dick und beschließt, besser noch ein paar Kilogramm abzunehmen. Diese Entwicklung setzt sich immer weiter fort, bis das Gewicht der Diäthaltenden mindestens 15 Prozent niedriger ist als das Normalgewicht für ihre Größe.
An diesem Punkt fangen Freunde und Familienangehörige an, ihre Besorgnis zu äußern und der Diäthaltenden zu sagen, sie sehe extrem dünn aus, ja abgemagert. Aber Anorektiker sehen das anders. „Ich fand nicht, daß ich dürr aussah“, sagt Alan, ein 1,75 Meter großer Anorektiker, der irgendwann nur noch 33 Kilogramm wog. „Je mehr man abnimmt, um so verzerrter und undeutlicher wird das Bild, das man von sich hat“, meint er.a
Mit der Zeit kann Anorexia zu schweren gesundheitlichen Problemen wie Osteoporose und Nierenschäden führen. Sie kann sogar lebensbedrohlich werden. „Mein Arzt hat zu mir gesagt, ich hätte meinem Körper so viele Nährstoffe verweigert, daß ich an Unterernährung gestorben wäre, wenn ich noch zwei Monate lang so weitergemacht hätte“, erzählt Heather. Nach einem Bericht im Harvard Mental Health Letter sterben in einem Zeitraum von 10 Jahren 5 Prozent der Frauen, bei denen Anorexia diagnostiziert wurde.
Bulimie — Freßanfälle und Abführzyklen
Die Eßstörung, die als Bulimia nervosa bekannt ist, ist gekennzeichnet durch Freßanfälle (schnelle Aufnahme einer großen Nahrungsmenge mit gegebenenfalls 5 000 Kalorien und mehr) und Abführzyklen (Leeren des Magens, oft durch Erbrechen oder mit Hilfe von Abführmitteln).b
Im Gegensatz zu Anorexia ist Bulimie nicht ohne weiteres erkennbar. Die Betreffende ist möglicherweise nicht ungewöhnlich dünn, und ihre Eßgewohnheiten scheinen ziemlich normal zu sein — zumindest nach außen hin. Doch für die Bulimikerin ist das Leben alles andere als normal. Sie ist im Gegenteil so besessen vom Essen, daß alles andere daneben verblaßt. „Je mehr ich in mich hineinstopfte und wieder erbrach, desto weniger kümmerten mich andere Sachen oder Menschen“, sagt die 16jährige Melinda. „Ich hatte tatsächlich vergessen, wie es ist, mit Freunden Spaß zu haben.“
Geneen Roth, Autorin und Therapeutin auf dem Gebiet der Eßstörungen, beschreibt eine Freßorgie als „einen dreißigminütigen Anfall, eine Fahrt in den Abgrund der Hölle“. Sie sagt, während eines Freßanfalls würde „nichts zählen — keine Freunde, keine Familie ..., nichts außer Essen“. Die 17jährige Lydia zieht zu ihrer Störung eine recht plastische Parallele. „Ich fühle mich wie ein Müllzerkleinerer“, sagt sie. „Reinschaufeln, zermahlen, ausspucken — und das immer wieder von vorn.“
Die Bulimikerin versucht verzweifelt, zu verhindern, daß sie zunimmt, was normalerweise infolge ihres unkontrollierten Essens passieren würde. Kurz nach der Freßorgie beginnt sie deshalb, sich zu übergeben, oder sie nimmt Abführmittel, um die Nahrung wieder loszuwerden, bevor der Körper sie in Fettpolster umwandeln kann.c Allein der Gedanke daran mag für den einen oder anderen abstoßend sein, doch für die geübte Bulimikerin ist das nicht so. „Je häufiger die Freß- und Abführzyklen sind, desto einfacher wird es“, erklärt die Sozialarbeiterin Nancy Kolodny. „Der anfängliche Ekel oder sogar die anfängliche Angst davor weicht schnell einem zwanghaften Drang, dieses bulimische Verhaltensmuster zu wiederholen.“
Bulimie ist extrem gefährlich. Durch wiederholtes Erbrechen ist die Mundhöhle zum Beispiel der ätzenden Magensäure ausgesetzt, die den Zahnschmelz zerfrißt. Außerdem können dadurch die Speiseröhre, die Leber, die Lunge und das Herz Schaden nehmen. In Extremfällen kommt es als Folge des ständigen Übergebens zu einem Magendurchbruch oder sogar zum Tod. Auch der übermäßige Gebrauch von Abführmitteln kann gefährlich werden. Dadurch funktioniert vielleicht der Darm nicht mehr, und es stellen sich anhaltender Durchfall und Blutstuhl ein. Ebenso wie das wiederholte Erbrechen kann der Mißbrauch von Abführmitteln in Extremfällen zum Tod führen.
Gemäß dem Nationalen Institut für Mentalhygiene nehmen Eßstörungen permanent zu. Was veranlaßt eine junge Frau, mit ihrem Leben zu spielen und sich fast zu Tode zu hungern? Warum wird eine junge Frau so besessen vom Essen, daß sie Freßorgien veranstaltet, und so besessen von ihrem Gewicht, daß sie alles, was sie gegessen hat, wieder erbricht oder abführt? Diese Fragen werden im folgenden Artikel beleuchtet.
[Fußnoten]
a Wie einige Experten sagen, kann ein 20- bis 25prozentiger Verlust des Gesamtgewichts chemische Veränderungen auslösen, die unter Umständen bewirken, daß die Wahrnehmung des Betreffenden verzerrt ist und er Fett sieht, wo gar kein Fett ist.
b Zwanghaftes Überessen, ohne sich zu übergeben oder abzuführen, wird von manchen ebenfalls als Eßstörung betrachtet.
c Viele Bulimiker trainieren jeden Tag hart, um nicht zuzunehmen. Manche von ihnen sind so erfolgreich mit dem Abnehmen, daß sie anorektisch werden und dann ständig zwischen anorektischem und bulimischem Verhalten hin- und herpendeln.
-
-
Was ist die Ursache für Eßstörungen?Erwachet! 1999 | 22. Januar
-
-
Was ist die Ursache für Eßstörungen?
„Eine Eßstörung taucht nicht einfach aus dem Nichts auf. Sie ist ein Symptom, ein Signal, daß etwas im Leben des Betreffenden nicht stimmt“ (Nancy Kolodny, Sozialarbeiterin).
ESSSTÖRUNGEN sind nichts Neues. Anorexia nervosa wurde 1873 zum ersten Mal offiziell diagnostiziert, und die Symptome dafür sind Berichten zufolge bereits vor 300 Jahren beobachtet worden. Seit dem Zweiten Weltkrieg scheint die Zahl der Anorektiker allerdings drastisch angestiegen zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Bulimie. Diese Krankheit ist seit Jahrhunderten bekannt, doch erst in den letzten Jahrzehnten ist sie, wie ein einschlägiges Buch erklärt, „schlagartig ins Rampenlicht getreten“.
Was verbirgt sich hinter Eßstörungen? Sind sie erblich bedingt, oder sind sie eine atypische Reaktion auf eine Kultur, die das Schlanksein verherrlicht? Welche Rolle spielt das familiäre Umfeld? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Wie die Sozialarbeiterin Nancy Kolodny sagt, läßt sich eine Eßstörung nicht so eindeutig bestimmen, „wie sich ein medizinisches Problem diagnostizieren läßt, beispielsweise Masern oder Windpocken — Krankheiten, bei denen ein Arzt genau weiß, wo die Ursache liegt, wie man sie sich zuzieht, wie lange sie andauern und wie die beste Behandlungsmöglichkeit aussieht“.
Trotz alldem weisen Forscher auf eine Reihe Faktoren hin, die zur Entstehung einer Eßstörung beitragen können. Auf einige davon wollen wir jetzt eingehen.
Die Kultur der Schlankheit
In den wohlhabenden Ländern führt die Modeindustrie einer jungen und leicht beeinflußbaren Kundschaft spindeldürre Mannequins vor und zwingt einem Mädchen damit die Vorstellung auf: Je dünner, um so schöner. Als Folge der hierbei propagierten verdrehten Ansicht denken viele Frauen, sie müßten ein Körpergewicht anstreben, das sowohl ungesund als auch unrealistisch ist. Dr. Christine Davies bemerkt dazu: „Im Durchschnitt sind Frauen 1,65 Meter groß und wiegen 66 Kilogramm. Mannequins hingegen sind im Durchschnitt 1,80 Meter groß und wiegen 50 Kilogramm. 95 Prozent von uns können da nicht mithalten und werden es auch nie.“
Trotz dieser Tatsache gehen einige Frauen bis zum Äußersten, um die ihrer Vorstellung entsprechende Idealfigur zu erreichen. Zum Beispiel sagten 24 Prozent von 3 452 Frauen, die 1997 befragt wurden, sie wären bereit, für ihr Traumgewicht drei Jahre ihres Lebens zu opfern. Eine signifikante Minderheit erklärte bei der Umfrage: „Das Leben ist lediglich lebenswert, wenn man dünn ist.“ Da 22 Prozent der Befragten meinten, ihr Körperbild sei im Jugendlichenalter von den Models in Magazinen geprägt worden, wurde in dem Bericht der Schluß gezogen: „Es läßt sich nicht länger leugnen, daß Bilder von Models oder Mannequins in den Medien eine enorme Wirkung auf das Selbstbild der Frauen haben.“
Am empfänglichsten für das von den Medien hochstilisierte Ideal sind natürlich Menschen, die von vornherein unzufrieden mit sich sind. Die Sozialarbeiterin Ilene Fishman sagt deshalb, der springende Punkt sei Selbstachtung. So heißt es, daß Menschen, die ihr Äußeres akzeptieren, selten ein zwanghaftes Verhältnis zum Essen haben.
Essen und Gefühle
Viele Experten sagen, daß es bei einer Eßstörung um mehr geht als nur um das Essen. „Eine Eßstörung ist ein Alarmzeichen, das Ihnen mitteilt, daß Sie sich mit irgendeiner Situation in Ihrem Leben, die Sie ignorieren oder scheuen, auseinandersetzen müssen“, sagt die Sozialarbeiterin Nancy Kolodny. „Eine Eßstörung ist ein Warnsignal dafür, daß Sie bestimmte Belastungen und Frustrationen unterdrücken.“
Belastungen und Frustrationen welcher Art? Bei manchen handelt es sich vielleicht um Schwierigkeiten im familiären Bereich. Geneen Roth erinnert sich beispielsweise daran, daß in ihrer Kindheit Essen — insbesondere von Süßigkeiten — eine „Schutzreaktion auf Türenwerfen und laute Stimmen“ war. Sie sagt: „Wenn ich spürte, daß sich ein Streit zwischen meinen Eltern anbahnte, schaltete ich einfach um, so wie man ein Fernsehprogramm umschaltet, weg von dem Gefühl, meinen Eltern ausgeliefert zu sein, hin zu einer Welt, in der es nichts gab außer mich und die süßen Gaumenfreuden in meinem Mund.“
Mitunter hat eine Eßstörung noch tiefer liegende Gründe. Im New Teenage Body Book heißt es beispielsweise: „Studien zeigen, daß Personen, die ein sexuelles Trauma (durch Mißbrauch oder sexuelle Belästigung) erlitten haben, unbewußt versuchen, sich zu schützen, indem sie ihren Körper sexuell unattraktiv machen und sich auf etwas Ungefährliches wie Nahrung konzentrieren.“ Natürlich sollte man nicht voreilig den Schluß ziehen, daß jemand, der Eßstörungen hat, sexuell mißbraucht wurde.
Die Weichen für eine Eßstörung können in einem an sich harmonischen Umfeld gestellt werden. Hauptanwärter für Anorexia sind tatsächlich Mädchen, die in ihrem privaten Lebensbereich keine eigenen Entscheidungen treffen oder keine negativen Gefühle zum Ausdruck bringen dürfen. Nach außen hin fügen sie sich; aber im Innern sind sie aufgewühlt und haben das Gefühl, über ihr Leben keine Kontrolle zu haben. Da sie nicht wagen, offen zu rebellieren, konzentrieren sie sich auf den Bereich in ihrem Leben, über den sie Kontrolle haben — ihren Körper.
Allerdings muß man dazu sagen, daß nicht alle Eßstörungen die Folge familiärer Querelen oder eines sexuellen Traumas sind. Bei manchen kommt es einfach zu Eßstörungen, weil das Gewicht in der Familie ein zentrales Thema ist. Vielleicht ist ein Elternteil übergewichtig oder lebt ständig diät und vermittelt eine übervorsichtige, ja sogar ängstliche Einstellung zum Essen. Bei anderen ist das Einsetzen der Pubertät ein Grund. Die Veränderungen im Körper, die ein wesentlicher Bestandteil des Erwachsenwerdens sind, können einem Mädchen das Gefühl geben, dick zu sein — vor allem wenn es schneller heranreift als seine Altersgenossinnen. Falls ihr dieser Übergang zum Erwachsenenalter angst macht, greift sie vielleicht zu extremen Maßnahmen, um die weiblichen Rundungen zu verlieren.
Neben emotionellen Faktoren nennen einige Forscher auch physische Ursachen. Zum Beispiel weisen sie darauf hin, daß Bulimie möglicherweise ihre Ursachen im Stoffwechsel des Gehirns hat. Sie behaupten, eine Rolle spiele hierbei der Teil des Gehirns, der die Stimmungen und den Appetit regelt, und dies würde erklären, warum sich die Symptome einer Bulimikerin durch Antidepressiva bisweilen lindern ließen.
Auf jeden Fall ist es für Forscher schwierig, eine einzige Ursache für Anorexia oder Bulimie festzumachen. Aber wie kann Personen, die mit Eßstörungen zu kämpfen haben, geholfen werden?
-
-
Eßstörungen — Was kann helfen?Erwachet! 1999 | 22. Januar
-
-
Eßstörungen — Was kann helfen?
WENN die Tochter einer Familie eine Eßstörung hat, benötigt sie Hilfe. Die Eltern dürfen die Sache nicht hinausschieben, weil sie davon ausgehen, daß sich das Problem irgendwann von allein regelt. Eine Eßstörung ist eine komplexe Krankheit mit physischen und emotionellen Komponenten.
Natürlich haben Spezialisten viele Behandlungsmöglichkeiten für Eßstörungen entwickelt. Manche empfehlen eine medikamentöse Behandlung. Andere sprechen sich für Psychotherapie aus. Viele sagen, eine Kombination von beidem sei am wirkungsvollsten. Dann gibt es Familientherapien, die nach Ansicht einiger besonders wichtig sind, wenn die Betroffene noch zu Hause wohnt.a
Obwohl die Experten unterschiedliche Ansatzpunkte haben, sind sich die meisten zumindest in einem Punkt einig: Bei Eßstörungen geht es nicht nur um das Essen. Gehen wir einmal auf einige der tiefer liegenden Ursachen ein, die für Anorexia oder für Bulimie charakteristisch sind und die man angehen muß, um jemand zu helfen, die Krankheit zu überwinden.
Eine ausgewogene Ansicht über das Körperbild
„Ich habe mit ungefähr 24 Jahren ganz aufgehört, Modemagazine zu kaufen“, sagt eine Frau. „Wenn ich mich mit den Models in den Zeitschriften verglich, hatte das einen ungeheuer negativen Einfluß auf mich.“ Wie bereits erklärt, können die Medien den Schönheitsbegriff eines Mädchens völlig verzerren. Die Mutter eines Mädchens mit Eßstörungen spricht sogar von der „unaufhörlichen Bombardierung durch Zeitungen, Zeitschriften und durch die Fernsehwerbung, gemäß denen man dünn, dünn und nochmals dünn sein muß“. Dann sagt sie: „Sowohl meine Tochter als auch ich sind gern schlank, aber wir haben das Gefühl, daß dieses Thema durch die ständige Bombardierung das Vorrangigste im Leben wird, etwas, was vor allem anderen kommt.“ Um eine Eßstörung zu überwinden, muß man demnach eine neue Einstellung zu dem entwickeln, was wirkliche Schönheit ausmacht.
In dieser Hinsicht kann die Bibel eine Hilfe sein. Der christliche Apostel Petrus schrieb: „Euer Schmuck bestehe nicht im äußerlichen Flechten der Haare und im Anlegen goldener Schmucksachen oder im Tragen äußerer Kleider, sondern er sei die verborgene Person des Herzens im unvergänglichen Gewand des stillen und milden Geistes, der in den Augen Gottes von großem Wert ist“ (1. Petrus 3:3, 4).
Petrus meinte damit, daß wir uns mehr Gedanken über unsere inneren Werte machen sollten als über Äußerlichkeiten. Die Bibel sichert uns sogar zu: „Nicht wie der Mensch sieht, sieht Gott, denn der Mensch sieht das, was vor den Augen erscheint; Jehova aber, er sieht, wie das Herz ist“ (1. Samuel 16:7). Das ist tröstlich, denn an bestimmten Aspekten unseres Äußeren können wir nichts ändern, aber an unserer Persönlichkeit können wir immer etwas verbessern (Epheser 4:22-24).
Da ein niedriges Selbstwertgefühl Eßstörungen fördert, muß man vielleicht umdenken, was den Wert der eigenen Person angeht. In der Bibel steht zwar, man solle nicht höher von sich denken, als zu denken nötig sei (Römer 12:3). Aber sie sagt auch, daß sogar ein einziger Sperling in Gottes Augen Wert hat, und erklärt dann weiter: „Ihr seid mehr wert als viele Sperlinge“ (Lukas 12:6, 7). Die Bibel kann also jemandem helfen, eine gesunde Selbstachtung zu entwickeln. Und wer seinen Körper schätzt, wird für ihn sorgen. (Vergleiche Epheser 5:29.)
Doch was ist, wenn man wirklich abnehmen muß? Hilfreich ist möglicherweise eine gesunde Ernährung und ein Fitneßprogramm. Die Bibel sagt ganz richtig, daß ‘Leibesübung nützlich ist’, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad (1. Timotheus 4:8). Das Gewicht darf jedoch nie zu einem Wahn für jemanden werden. „Am klügsten ist es vielleicht“, so das Fazit einer Umfrage zum Thema Körperbild, „sich viel Bewegung zu verschaffen — und sich so zu akzeptieren, wie man ist, statt zu versuchen, einem eng definierten und willkürlichen Ideal gerecht zu werden.“ Eine 33jährige Frau in den Vereinigten Staaten fand diesen Ansatz hilfreich. „Ich habe eine einfache Regel“, sagt sie. „Ich arbeite an dem, was ich realistischerweise ändern kann, und mache mir über den Rest keine Sorgen.“
Wenn man eine positive Lebenseinstellung hat und sie mit einer gesunden Ernährung und einem vernünftigen Fitneßprogramm kombiniert, werden die Pfunde, die herunter müssen, höchstwahrscheinlich auch verschwinden.
Einen ‘wahren Gefährten’ finden
Professor James Pennebaker kam nach Beobachtungen bei einer Reihe von Bulimikerinnen zu dem Schluß, daß der Kreislauf, Essen zu sich zu nehmen und zu erbrechen, diese Frauen meistenteils zu einem Doppelleben zwang. Er sagt: „Beinahe jede von ihnen [führte] den ungewöhnlich hohen Zeitaufwand und die Anstrengung an, die es sie kostete, ihre Eßgewohnheiten vor ihren engsten Freunden und der Familie zu verbergen. Sie lebten alle mit einer Lüge, und sie haßten das.“
Ein wichtiger Schritt zur Besserung ist daher, das Schweigen zu brechen. Sowohl Anorektiker als auch Bulimiker müssen über das Problem reden. Aber mit wem? Ein Bibelspruch lautet: „Ein wahrer Gefährte liebt allezeit und ist ein Bruder, der für die Zeit der Bedrängnis geboren ist“ (Sprüche 17:17). Dieser ‘wahre Gefährte’ kann ein Elternteil oder ein anderer reifer Erwachsener sein. Manche haben es auch für gut befunden, sich jemandem anzuvertrauen, der über Erfahrung mit der Behandlung von Eßstörungen verfügt.
Zeugen Jehovas können sich außerdem an die Ältesten in der Versammlung wenden. Diese Männer können sich „wie ein Bergungsort vor dem Wind und ein Versteck vor dem Regensturm erweisen, wie Wasserbäche in einem wasserlosen Land, wie der Schatten eines wuchtigen zerklüfteten Felsens in einem erschöpften Land“ (Jesaja 32:2). Natürlich sind die Ältesten keine Ärzte, so daß man neben ihrem hilfreichen Rat vielleicht trotzdem eine medizinische Behandlung benötigt. Dennoch können diese geistig befähigten Männer einem bei der Überwindung der Störung eine ausgezeichnete Stütze sein (Jakobus 5:14, 15).b
Der engste Vertraute kann allerdings der Schöpfer sein. Der Psalmist schreibt: „Wirf deine Bürde auf Jehova, und er selbst wird dich stützen. Niemals wird er zulassen, daß der Gerechte wankt“ (Psalm 55:22). Ja, Jehova Gott ist an seinen irdischen Kindern interessiert. Deshalb sollte man es niemals versäumen, mit ihm im Gebet über seine tiefsten Ängste zu sprechen. Petrus sagt zur Erinnerung: „[Werft] all eure Sorge auf ihn ..., denn er sorgt für euch“ (1. Petrus 5:7).
Wenn ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist
Ein Krankenhausaufenthalt an sich bringt keine Heilung. Doch wenn ein Mädchen wegen schwerer Anorexia unterernährt ist, ist ohne Frage professionelle Hilfe unerläßlich. Man muß freilich einräumen, daß dieser Schritt für Eltern nicht leicht ist. Ein Beispiel hierfür ist Emily, deren Tochter ins Krankenhaus mußte, nachdem das Leben, wie Emily sagt, „für sie und für uns unerträglich“ geworden war. Sie erzählt weiter: „Meine völlig in Tränen aufgelöste Tochter ins Krankenhaus zu bringen war das Schlimmste, was ich je durchgemacht habe, es war der schwärzeste Tag in meinem Leben.“ Ähnlich ging es Elaine, die ebenfalls eine Tochter ins Krankenhaus bringen mußte. „Der schlimmste Moment, an den ich mich erinnern kann, war, glaube ich, als sie sich im Krankenhaus weigerte zu essen und man sie zwangsernähren mußte. Ich hatte das Gefühl, daß man ihren Willen gebrochen hatte“, erzählt sie.
Ein Krankenhausaufenthalt ist vielleicht kein schöner Gedanke, aber in manchen Fällen ist er wahrscheinlich erforderlich. Für eine Reihe Patienten mit Eßstörungen ebnet er den Weg zur Besserung. Emily sagt bezüglich ihrer Tochter: „Sie mußte wirklich ins Krankenhaus. Und seit dem Krankenhausaufenthalt kommt sie langsam wieder auf die Beine.“
Ohne Eßstörungen leben
Zur Genesung gehört, daß ein Anorektiker oder ein Bulimiker lernen muß, ohne eine Eßstörung zu leben. Das kann schwierig sein. Kim beispielsweise schätzt, daß sie in ihrer anorektischen Phase innerhalb von 10 Monaten 18 Kilogramm verlor. Doch sie brauchte 9 Jahre, um wieder 16 Kilogramm zuzunehmen. „Sehr mühsam und langsam lernte ich, wieder normal zu essen, ohne jede Kalorie zu zählen, ohne mein Essen abzuwiegen, ohne nur ‚ungefährliche‘ Nahrungsmittel zu essen, ohne Panik zu bekommen, wenn ich nicht wußte, was in einem Auflauf oder einem Dessert drin war, und ohne nur in Restaurants mit Salatbüfetts zu gehen.“
Aber damit Kim wieder gesund wurde, war noch etwas anderes erforderlich. „Ich lernte, meine Gefühle zu erkennen und auszudrücken, und zwar durch Worte, nicht durch Taten oder durch mein Eßverhalten“, sagt sie. „Als mir neue Wege bewußt wurden, wie ich Konflikten mit anderen begegnen und sie lösen konnte, öffnete mir das die Tür zu einem engeren Verhältnis zu Freunden und Familienangehörigen.“
Eine Eßstörung zu überwinden ist zweifellos schwierig, aber letztendlich ist es die Mühe wert. Dieser Meinung ist Jean, von der im ersten Artikel der Serie die Rede war. „Wieder in ein gestörtes Eßverhalten zurückzufallen“, sagt sie, „wäre so, als würde man wieder in eine Gummizelle zurückkehren, nachdem man eine Weile in Freiheit gelebt hat.“
[Fußnoten]
a Erwachet! empfiehlt keine bestimmte Behandlungsform. Christen sollten ihre eigene Entscheidung treffen und sichergehen, daß etwaige Behandlungen nicht gegen biblische Grundsätze verstoßen. Niemand sollte sie wegen ihrer Entscheidung kritisieren oder verurteilen.
b Weitere Informationen, wie man Anorektikern und Bulimikern beistehen kann, findet man in dem Artikel „Hilfe für Eßgestörte“ (Erwachet!, 22. Februar 1992) und in der Artikelserie „Eßstörungen — Was tun?“ (Erwachet!, 22. Dezember 1990).
[Kasten auf Seite 11]
Die Voraussetzungen für eine Besserung schaffen
WAS sollte man tun, wenn man den Verdacht hat, daß die eigene Tochter eine Eßstörung hat? Auf keinen Fall darf das ignoriert werden. Aber wie soll man das Thema anschneiden? „Eine direkte Frage kann manchmal etwas bewirken, aber ebensogut kann es einem passieren, daß man das Gefühl hat, gegen eine Wand zu reden“, erklärt der Autor Michael Riera.
Aus diesem Grund bringt ein behutsamerer Ansatz vielleicht mehr. „Wenn Sie mit Ihrer Tochter sprechen“, empfiehlt Riera, „muß sie wissen und spüren, daß Sie sie nicht wegen etwas Unrechtem anklagen. Gelingt es Eltern, eine solche Atmosphäre zu schaffen, werden die Heranwachsenden in den meisten Fällen ihnen gegenüber ziemlich ehrlich und sogar etwas erleichtert sein. Manche Eltern hatten Erfolg damit, ihrem heranwachsenden Kind Briefe zu schreiben, in denen sie ihre Sorge ausdrückten und ihr Kind ihrer Unterstützung versicherten. Wenn sie sich dann gemeinsam darüber unterhielten, waren bereits gute Voraussetzungen geschaffen.“
[Kasten auf Seite 12]
Eine Herausforderung für Eltern
EIN Kind zu haben, das an Eßstörungen leidet, stellt Eltern vor eine Reihe von Herausforderungen. „Man darf nicht aus Pappe sein“, sagt ein Vater. „Man sieht, wie sich das eigene Kind vor einem zugrunde richtet.“
Wenn man ein Kind mit einer Eßstörung hat, muß man damit rechnen, daß einen sein halsstarriges Verhalten mitunter frustriert. Aber man sollte geduldig sein und nie damit aufhören, Liebe zu zeigen. Emily, deren Tochter an Anorexia litt, gibt zu, daß ihr das nicht immer leichtgefallen ist. Dennoch sagt sie: „Ich versuchte stets, Hautkontakt zu ihr zu haben; ich versuchte, sie zu umarmen; ich versuchte, sie zu küssen. ... Ich dachte, wenn ich aufhöre, lieb zu ihr zu sein und ihr meine Liebe zu zeigen, würden wir nie wieder zueinanderfinden.“
Einer der besten Wege, dem Kind zu helfen, eine Eßstörung zu überwinden, ist, mit ihm zu sprechen. Dabei muß man vielleicht mehr zuhören als reden. Und man sollte auch Bemerkungen wie: „Das stimmt nicht“ oder: „So solltest du nicht denken“ unterdrücken. Ja, man sollte nicht ‘sein Ohr vor dem Klageschrei des Geringen verstopfen’ (Sprüche 21:13). Wenn eine gute Kommunikation herrscht, wird der Jugendliche wissen, an wen er sich in schwierigen Zeiten wenden kann, und wahrscheinlich nicht zu ungesunden Eßgewohnheiten Zuflucht nehmen.
-