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Eine bessere Welt — Nur ein schöner Traum?Der Wachtturm 1994 | 1. April
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Eine bessere Welt — Nur ein schöner Traum?
WÄRST du ein Anhänger des Parsismus gewesen, der Lehre des iranischen Propheten Zarathustra, hättest du auf den Tag gewartet, an dem die Erde in ihrer ursprünglichen Schönheit wiederhergestellt würde. Hättest du im alten Griechenland gelebt, dann hättest du möglicherweise davon geträumt, die idyllischen Inseln der Seligen zu erreichen, oder auf die Wiederkehr des vom Dichter Hesiod im achten Jahrhundert v. u. Z. beschriebenen Goldenen Zeitalters gewartet. Ein Guarani-Indianer in Südamerika sucht womöglich heute noch nach dem Land ohne das Böse. Aber da du im 20. Jahrhundert lebst, hoffst du vielleicht, die Welt lasse sich durch irgendeine politische Ideologie oder aufgrund des wachsenden Umweltbewußtseins verbessern.
Ein goldenes Zeitalter, die Inseln der Seligen, das Land ohne das Böse — das sind nur einige von vielen Begriffen, die ein und dieselbe Sehnsucht ausdrücken: die Hoffnung auf eine bessere Welt.
Die heutige Welt, unsere Welt, ist alles andere als ideal. Immer brutalere Verbrechen, Bruderkriege von beispielloser Gewalttätigkeit, Völkermord, Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer, Armut und Hunger, Arbeitslosigkeit und fehlende Solidarität, ökologische Probleme, unheilbare Krankheiten, von denen Millionen Menschen betroffen sind — die Aufzählung der heutigen Mißstände ließe sich beliebig fortsetzen. Mit Bezug auf die gegenwärtig geführten Kriege sagte ein italienischer Journalist: „Man fragt sich unwillkürlich, ob nicht Feindseligkeit zum intensivsten Gefühl unserer Zeit geworden ist.“ Hältst du es in Anbetracht der Lage für realistisch, sich nach anderen, nach besseren Zuständen zu sehnen? Oder wäre das lediglich ein Sehnen nach Utopia, ein schöner Traum, der sich nie erfüllen wird? Leben wir in der besten aller möglichen Welten?
Diese Überlegungen sind nichts Neues. Seit Jahrhunderten träumt der Mensch von einer Welt, in der Eintracht, Gerechtigkeit, Wohlstand und Liebe herrschen. Eine ganze Reihe Philosophen haben im Lauf der Zeit ihre Vorstellungen von einem idealen Staat oder einer besseren Welt ausführlich beschrieben. Leider ist es ihnen aber nie gelungen, zu erklären, wie sie sich realisieren ließe.
Können wir aus dieser jahrhundertealten Sammlung von Träumen, Utopien und menschlichen Bestrebungen nach einer besseren Gesellschaftsordnung irgend etwas lernen?
[Bild auf Seite 3]
Ist unsere Welt die beste aller möglichen Welten?
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Eine bessere Welt steht bevor!Der Wachtturm 1994 | 1. April
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Eine bessere Welt steht bevor!
„DIE Sehnsucht nach dem Paradies ist eine der starken Sehnsüchte, von denen die Menschen offenbar nicht loskommen, ja vielleicht sogar die stärkste und hartnäckigste überhaupt. Auf jeder Ebene religiösen Lebens ist ein gewisses Verlangen nach einem Paradies erkennbar“, heißt es in der Encyclopedia of Religion.
Der Wunsch nach einem Leben in einer besseren Welt ist anscheinend allen Kulturen gemeinsam, als ob man einem verlorengegangenen ursprünglichen Idealzustand nachtrauert. Es ist daher naheliegend, an die Möglichkeit zu denken, daß es tatsächlich einmal ein Paradies gegeben hat. Doch wo? Ein Psychoanalytiker würde womöglich antworten, dieses Streben lasse ein Verlangen erkennen, die verlorengegangene Geborgenheit des Mutterleibs wiederzugewinnen — eine Erklärung, die allerdings Erforscher der Religionsgeschichte nicht überzeugen kann.
„Sehnsucht nach dem Paradies“ — Weshalb?
Dient eine solche Sehnsucht, wie manche behaupten, lediglich dazu, die Schwierigkeiten und die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz erträglicher zu machen? Oder gibt es eine andere Erklärung?
Weshalb sehnt sich der Mensch nach einer besseren Welt? Die Bibel enthält eine ebenso klare wie einfache Erklärung dafür: Der Mensch stammt aus einer besseren Welt! Ein ursprüngliches Paradies hat es wirklich einmal gegeben. Gottes Wort beschreibt es als „einen Garten“, der in einer bestimmten Gegend im Nahen Osten lag und ausgestattet war mit ‘allerlei Bäumen, begehrenswert für den Anblick und gut zur Speise’. Die Pflege dieses Gartens übertrug Gott dem ersten Menschenpaar (1. Mose 2:7-15). In diesem idealen Umfeld hätten die Menschen wahrhaft glücklich sein können.
Aus welchem Grund ging jener paradiesische Zustand verloren? Weil sich zunächst ein Geistgeschöpf und dann das erste Menschenpaar auflehnte (1. Mose 2:16, 17; 3:1-6, 17-19). So verlor der Mensch nicht nur das Paradies, sondern auch seine Vollkommenheit, seine Gesundheit und die Aussicht auf endloses Leben. Die Zustände, die statt dessen um sich griffen, verbesserten keinesfalls die menschlichen Lebensbedingungen. Im Gegenteil, diese haben sich ständig verschlechtert und erreichen heute einen nie dagewesenen Tiefststand (Prediger 3:18-20; Römer 5:12; 2. Timotheus 3:1-5, 13).
Die Suche nach dem Paradies — Geschichte einer Idee
Wie man sich gut vorstellen kann, hat die „Sehnsucht nach dem Paradies“ eine lange Geschichte. Die Sumerer sprachen von einer Zeit, da im ganzen Universum Harmonie herrschte. „Es gab weder Furcht noch Schrecken, der Mensch hatte keinen Rivalen. ... Das ganze Universum, die Menschen brachten einmütig mit einer Zunge Enlil Lobpreis dar“, heißt es in einem alten mesopotamischen Gedicht. Wie beispielsweise die alten Ägypter hofften einige, nach ihrem Tod in eine bessere Welt zu gelangen. Die Ägypter glaubten, eine unsterbliche Seele erreiche die sogenannten Felder von Aaru. Allerdings war diese Hoffnung, zumindest anfänglich, dem Adel vorbehalten; die Armen durften nicht auf eine bessere Welt hoffen.
In einer anderen Religion, dem Hinduismus, wartet man seit Jahrhunderten auf ein besseres Weltzeitalter oder Juga. Nach der hinduistischen Lehre kehren vier Juga in einem immerwährenden Zyklus wieder, und gegenwärtig leben wir in dem schlimmsten Juga. Unglücklicherweise soll dieses Kali-Juga (finsteres Zeitalter) mit all seinen Leiden und der Bosheit nach Aussage einiger bis zu 432 000 Jahre dauern. Dessenungeachtet sehnen gläubige Hindus ein goldenes Zeitalter herbei, das sogenannte Krita-Juga.
Griechen und Römer hingegen träumten davon, die mythischen Inseln der Seligen irgendwo im Atlantik zu erreichen. Und viele Dichter wie Hesiod, Vergil und Ovid erwähnten ein wunderbares ursprüngliches goldenes Zeitalter, darauf hoffend, es werde eines Tages wiederhergestellt werden. Gegen Ende des ersten Jahrhunderts v. u. Z. sagte der römische Dichter Vergil den unmittelbar bevorstehenden Anbruch eines neuen und dauerhaften aetas aurea (Goldenes Zeitalter) vorher. In den darauffolgenden Jahrhunderten, so die Encyclopedia of Religion, „behaupteten nicht weniger als sechzehn römische Kaiser, durch ihre Herrschaft sei das Goldene Zeitalter wiederhergestellt worden“. Wie wir aber heute nur allzugut wissen, war das lediglich politische Propaganda.
Die Kelten sehnten sich nach einem gemäß ihrer Vorstellung vielversprechenden Land auf einer Insel (oder Inselgruppe) jenseits des Meeres, wo die Menschen, wie sie glaubten, in vollkommenem Glück lebten. Der Legende nach soll König Artus, obwohl tödlich verwundet, weitergelebt haben, als er die Wunderinsel Avalon fand.
Im Altertum wie auch im Mittelalter waren nicht wenige der Meinung, ein buchstäblicher Garten der Wonne, der Garten Eden, existiere noch irgendwo — „auf dem Gipfel eines unerreichbaren Berges oder jenseits eines unüberwindlichen Ozeans“, wie der Historiker Jean Delumeau erklärt. Der italienische Dichter Dante glaubte zwar an ein himmlisches Paradies, stellte sich aber dennoch vor, es gebe immer noch ein irdisches Paradies, und zwar auf dem Gipfel des Berges der Läuterung, der sich auf einer Insel im Südmeer erhebe, der Stadt Jerusalem diametral gegenüberliegend. Andere glaubten, das Paradies sei in Asien, in Mesopotamien oder im Himalaja zu finden. Und Legenden über ein Edenparadies gab es im Mittelalter wie Sand am Meer. In der Nähe dieses Paradieses, so glaubten viele, gebe es ein sagenhaftes Königreich unter der Herrschaft des frommen Johannes Presbyter. Dank der Nähe zu dem Erdenparadies genoß man in dem Königreich dieses Priesterkönigs angeblich ein langes, gesegnetes Leben, ein Leben in ewiger Fülle und immerwährendem Wohlstand. Andere erinnerten sich an die alten griechischen Legenden und dachten immer noch, die Paradiesinseln seien im Atlantik zu finden. Karten aus dem Mittelalter lassen erkennen, wie fest jene Menschen an einen Garten Eden glaubten, denn seine vermutete Stelle ist darauf eingezeichnet.
Seefahrer des 15. und 16. Jahrhunderts, die den Atlantik befuhren, suchten eigentlich nach einer Welt, die gleichzeitig neu und alt war. Sie dachten, auf der anderen Seite des Ozeans würden sie nicht nur Indien, sondern auch den Garten Eden finden. Christoph Kolumbus beispielsweise suchte ihn auf den Bergen der tropischen und subtropischen Länder Mittel- und Südamerikas. In Brasilien ankommende europäische Entdeckungsreisende waren sich in Anbetracht des milden Klimas und der Fülle an Nahrung und Pflanzen sicher, hier müsse sich das verlorene Paradies befinden. Nur allzubald waren sie allerdings gezwungen, der grausamen Wirklichkeit ins Auge zu sehen.
Utopia — Idealzustand?
Statt in irgendeiner entlegenen Gegend der Erde nach einer idealen Welt zu suchen, bemühten sich andere, sich eine solche auszudenken. So beschrieb der englische Humanist Thomas More im Jahr 1516 die Insel Utopia, einen wunderbaren Ort, wo Frieden und Toleranz herrschen — in krassem Gegensatz zu der entarteten Welt, wie er sie kannte. Er war nicht der einzige, der eine bessere, glücklichere Welt planen wollte: Platon hatte es im sechsten Jahrhundert v. u. Z. mit seiner Republik versucht, der italienische Mönch Tommaso Campanella im Jahr 1602 mit seinen Vorstellungen von dem perfekt organisierten Sonnenstaat und nur wenige Jahre später der englische Philosoph Francis Bacon in seiner Erzählung über „eine glückliche Blütezeit“ in Neu-Atlantis. Denker aller Richtungen — ob gläubig oder nicht — haben über die Jahrhunderte hinweg Dutzende von utopischen Entwürfen beschrieben. Wenn überhaupt, nahm man aber nur wenige von ihnen ernst.
Der eine oder andere hat sogar versucht, sich sein eigenes Utopia zu errichten. Zum Beispiel beschloß Robert Owen, ein reicher Engländer, 1824 nach Indiana (USA) auszuwandern, um dort seine Vorstellungen von Utopia in einem Dorf zu verwirklichen, das er New Harmony (Neue Eintracht) nannte. Fest davon überzeugt, Menschen würden sich bessern, wenn sie nur unter den richtigen Bedingungen lebten, setzte er fast all sein Hab und Gut zu dem Zweck ein, eine neue, moralische Welt nach seinen Vorstellungen zu errichten. Die Ergebnisse bewiesen jedoch, daß bessere Lebensumstände nicht ausreichen, um einen besseren Menschentyp zu schaffen.
In fast allen politischen Ideologien geht man davon aus, der Mensch müsse die Welt nach seinem eigenen Wissen und seinem Empfinden für Wahrheit planen, um das erträumte Paradies auf Erden herbeizuführen. Paradoxerweise haben aber Versuche, dieses Streben zu verwirklichen, zu Kriegen und Revolutionen geführt wie der Französischen Revolution von 1789 und der bolschewistischen Revolution von 1917. Statt paradiesische Verhältnisse zu schaffen, haben jene Bemühungen Schmerz und Leid häufig nur noch verschlimmert.
Die Geschichte der Hoffnungen und Pläne, der utopischen Entwürfe und der Versuche, diese zu verwirklichen, ist von einer Enttäuschung nach der anderen geprägt. So hört man heute einige von einem „zerstörten Traum“ und dem „Ende des utopischen Zeitalters“ sprechen; sie fordern dazu auf, „in Zukunft ohne das große Tam-Tam der Utopien“ leben zu lernen.
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