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  • Warum an anderen Religionen interessiert sein?
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 1

      Warum an anderen Religionen interessiert sein?

      1—7. Führe an, wodurch sich verschiedene Religionen der Welt auszeichnen.

      GANZ gleich, wo man lebt, beobachtet man zweifellos, daß die Religion das Leben von Millionen Menschen, vielleicht auch das eigene, beeinflußt. In hinduistischen Ländern ist häufig zu sehen, daß die Menschen Rituale der Pudscha verrichten — eine Zeremonie, bei der sie ihren Göttern Opfergaben darbringen, zum Beispiel Kokosnüsse, Blumen oder Äpfel. Ein Priester bringt dann den Tilaka an der Stirn der Gläubigen an, einen Punkt aus einem roten oder gelben Farbstoff. Auch kommen jedes Jahr Millionen an den Ganges, um sich durch dessen Wasser rituell zu reinigen.

      2 In katholischen Ländern beten die Menschen in Kirchen und Kathedralen und halten dabei ein Kruzifix oder einen Rosenkranz in der Hand. Dabei dienen die Perlen des Rosenkranzes dazu, die Gebete zu zählen, die meist aus Frömmigkeit gegenüber Maria dargebracht werden. Auch ist es nicht schwer, einen Priester oder eine Nonne zu erkennen, da sie in ihren schwarzen Gewändern geradezu auffallen.

      3 In protestantischen Ländern gibt es eine Vielzahl von Kirchen und anderen Gotteshäusern, und sonntags gehen die Gemeindemitglieder gewöhnlich in ihrer besten Kleidung dorthin und versammeln sich, um Kirchenlieder zu singen und sich Predigten anzuhören. Nicht selten tragen ihre Geistlichen einen schwarzen Anzug und einen steifen Halskragen.

      4 In islamischen Ländern ertönt von den Minaretts die Stimme der Muezzins, der muslimischen Gebetsrufer, die fünfmal am Tag die Gläubigen zum ṣalāt rufen, zum rituellen Gebet. Der Qurʼān ist für sie die Heilige Schrift des Islams. Nach islamischem Glauben ist der Qurʼān von Gott offenbart und im siebten Jahrhundert u. Z. vom Engel Gabriel dem Propheten Muḥammad übermittelt worden.

      5 Zum Straßenbild zahlreicher buddhistischer Länder gehören die buddhistischen Mönche, die zum Zeichen ihrer Frömmigkeit safrangelbe, schwarze oder rote Gewänder tragen. Alte Tempel mit der Statue des heiteren Buddha zeugen von dem Alter des buddhistischen Glaubens.

      6 Hauptsächlich in Japan ist der Schintoismus mit seinen Familienschreinen und den Opfergaben, die für die Ahnen dargebracht werden, Bestandteil des Alltags. Der Japaner findet nichts dabei, für die weltlichsten Dinge zu beten, sogar um Erfolg bei Prüfungen in der Schule.

      7 Eine andere weltweit bekannte religiöse Tätigkeit ist, daß Menschen von Haus zu Haus gehen und mit Bibeln und biblischer Literatur auf den Straßen stehen. An den Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! erkennt sie fast jeder als Zeugen Jehovas.

      8. Was verrät die Geschichte der Glaubensausübung?

      8 Was verrät die große Vielfalt der Glaubensausübung in der Welt? Daß die Menschen schon seit Tausenden von Jahren geistige Bedürfnisse und ein Verlangen nach geistigen Dingen verspüren. Die Menschen haben mit Härten und Belastungen gelebt, mit Zweifeln und Fragen, auch mit der Frage, warum sie sterben. Sie wenden sich Gott oder ihren Göttern zu, um gesegnet oder getröstet zu werden, und bringen ihre religiösen Empfindungen auf die unterschiedlichste Weise zum Ausdruck. Die Religionen versuchen auch, die großen Fragen anzugehen: Warum sind wir hier? Wie sollten wir leben? Was steht der Menschheit bevor?

      9. Inwiefern sind die meisten Menschen auf irgendeine Art und Weise religiös?

      9 Andererseits gibt es Millionen, die sich weder zu einer Religion noch zu irgendeiner Art Glauben an einen Gott bekennen. Sie sind Atheisten. Wieder andere sind Agnostiker und glauben, Gott sei unbekannt und wahrscheinlich unerkennbar. Das muß aber nicht bedeuten, daß sie keine Prinzipien oder keine ethischen Grundsätze haben, ebenso wie jemandes Bekenntnis zu einem Glauben nicht bedeuten muß, daß er sie hat. Wenn man jedoch Religion als „Ergebenheit gegenüber Grundsätzen, strikte Treue oder Loyalität, Gewissenhaftigkeit, fromme Zuneigung oder Anhänglichkeit“ auffaßt, dann sind die meisten Menschen, auch Atheisten und Agnostiker, auf irgendeine Art und Weise religiös (The Shorter Oxford English Dictionary).

      10. Üben die verschiedenen Religionen in der Welt von heute einen Einfluß aus? Veranschauliche es.

      10 In einer Welt, die zufolge der zunehmend schneller werdenden Verkehrs- und Kommunikationsmittel immer dichter zusammenrückt, ist der Einfluß der zahlreichen Religionen weltweit zu verspüren, ob es einem lieb ist oder nicht. Die Empörung, die 1989 das Buch Die Satanischen Verse ausgelöst hat — manche bezeichnen den Autor als „abgefallenen Muslim“ —, ist ein beredtes Zeugnis, wie religiöse Empfindungen sich weltweit äußern können. Führende islamische Geistliche haben dazu aufgerufen, das Buch zu verbieten und den Autor zu Tode zu bringen. Was veranlaßt die Menschen, so heftig zu reagieren, wenn es um ihren Glauben geht?

      11. Warum ist es nicht verkehrt, sich mit den Glaubensansichten anderer zu befassen?

      11 Die Antwort erfordert es, sich mit der Vorgeschichte der Religionen der Welt zu befassen. Geoffrey Parrinder schrieb treffend in dem Werk World Religions—From Ancient History to the Present: „Die verschiedenen Religionen zu erforschen muß nicht auf Untreue gegenüber dem eigenen Glauben hindeuten, sondern dieser wird eher größer, wenn man versteht, wie andere Menschen nach der Wirklichkeit gesucht haben und wie ihre Suche sie bereichert hat.“ Wissen führt zum Verständnis und Verständnis zur Toleranz gegenüber Menschen, die anderer Ansicht sind.

      Warum nachforschen?

      12. Welche Faktoren bestimmen gewöhnlich, welcher Religion jemand angehört?

      12 Vielleicht hat man schon einmal gedacht oder gesagt: „Ich habe meinen Glauben. Das ist eine rein persönliche Sache. Darüber rede ich nicht mit anderen.“ Religion ist tatsächlich eine sehr persönliche Sache, denn Eltern und Verwandte pflanzen einem sozusagen von Geburt an religiöse oder ethische Vorstellungen ein. Daher übernimmt man gewöhnlich die religiösen Ideale der Eltern und Großeltern. Die Religion ist fast Familientradition. Was ist die Folge davon? Oft entscheiden andere, welchen Glauben man hat. Es hängt einfach davon ab, wo jemand geboren wurde und wann. Welcher Religion jemand angehört, wird nach den Worten des Historikers Arnold Toynbee nicht selten durch „den geographischen Zufall der Lage seines Geburtsortes“ bestimmt.

      13, 14. Warum ist es nicht vernünftig, anzunehmen, daß die Religion, in die man hineingeboren worden ist, automatisch Gottes Wohlgefallen findet?

      13 Ist es vernünftig, anzunehmen, daß die Religion, in die man sozusagen hineingeboren worden ist, zwangsläufig die ganze Wahrheit ist? Wer in Italien oder in Südamerika zur Welt kommt, wächst höchstwahrscheinlich katholisch auf. Wer in Indien geboren wird, wird fast ausnahmslos ein Hindu oder, falls er aus dem Pandschab stammt, ein Sikh. Wenn jemandes Eltern aus Pakistan sind, ist er offensichtlich ein Muslim. Und wer in den letzten Jahrzehnten in einem sozialistischen Land geboren wurde, hat eventuell keine andere Wahl gehabt, denn als Atheist erzogen zu werden (Galater 1:13, 14; Apostelgeschichte 23:6).

      14 Ist also die Religion, in die man hineingeboren wird, automatisch die wahre Religion, die Religion, die Gottes Wohlgefallen findet? Hätte man sich die Jahrtausende über daran gehalten und hätte man stets gedacht: „Was für meine Vorfahren gut war, ist auch für mich gut“, würden noch heute viele den primitiven Schamanismus und alte Fruchtbarkeitskulte ausüben.

      15, 16. Welchen Nutzen hat es, andere Religionen zu untersuchen?

      15 Angesichts der Verschiedenartigkeit der religiösen Ausdrucksformen, die sich in den vergangenen 6 000 Jahren weltweit herausgebildet haben, ist es zumindest lehrreich und erweitert den Gesichtskreis, wenn man versteht, was andere glauben und woher ihre Ansichten stammen. Außerdem könnte dies neue Perspektiven eröffnen: eine konkretere Hoffnung für die Zukunft.

      16 Heute haben Ein- und Auswanderungen sowie Bevölkerungsumschichtungen dazu geführt, daß Menschen verschiedener Religionen Nachbarn geworden sind. Wenn einer die Ansichten des anderen versteht, können zwischen Menschen verschiedenen Glaubens die Verständigung und das Gespräch sinnvoller werden. Vielleicht würde dies auch überall auf der Welt zumindest zum Teil den Haß verscheuchen, den religiöse Unterschiede hervorrufen. Große Meinungsverschiedenheiten in bezug auf Glaubensansichten können zwar aufkommen; aber es ist kein Grund, jemand zu hassen, nur weil er eine andere Ansicht vertritt (1. Petrus 3:15; 1. Johannes 4:20, 21; Offenbarung 2:6).

      17. Warum sollte man religiös Andersdenkende nicht hassen?

      17 Im alten jüdischen Gesetz hieß es: „Du sollst deine Verwandten in deinem Herzen nicht hassen. Weise deinen Verwandten zurecht, aber lade wegen ihm keine Schuld auf dich. Du solltest nicht Rache nehmen noch Groll gegen deine Landsmänner hegen. Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst: Ich bin der HERR [Jehova]“ (3. Mose 19:17, 18, Ta). Und der Stifter des Christentums sagte: „Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Fahrt fort, eure Feinde zu lieben, denen Gutes zu tun, die euch hassen, ... und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“ (Lukas 6:27, 35). Unter der Überschrift „Die Geprüfte“ wird im Qurʼān ein ähnlicher Grundsatz angeführt (Sure 60:7, übersetzt von Max Henning): „Vielleicht daß Allah zwischen euch und denen unter ihnen, die euch (bisher) feind sind, Liebe setzt; denn Allah ist mächtig und Allah ist verzeihend, barmherzig.“

      18. Inwiefern ist es nicht gleichgültig, was man glaubt?

      18 Toleranz und Verständnis sind zwar nötig, aber deshalb ist es nicht gleichgültig, was man glaubt. Der Historiker Geoffrey Parrinder schrieb: „Manchmal wird gesagt, alle Religionen hätten dasselbe Ziel oder seien gleiche Wege zur Wahrheit, oder sogar, daß alle dieselben Lehren lehrten ... Doch die alten Azteken, die die noch schlagenden Herzen ihrer Opfer der Sonne entgegenhielten, hatten bestimmt keine so gute Religion wie der friedliche Buddha.“ Sollte Gott außerdem, was die Anbetung betrifft, nicht selbst bestimmen, was für ihn annehmbar ist und was nicht? (Micha 6:8).

      Wonach ist die Religion zu beurteilen?

      19. Wie sollte sich die Religion auf den Lebenswandel auswirken?

      19 Die meisten Religionen haben eine bestimmte Sammlung von Glaubenssätzen oder Dogmen. Meist bilden sie jedoch eine schwerverständliche Theologie, die den Laien überfordert. Immer anwendbar ist dagegen der Grundsatz von Ursache und Wirkung. Die Lehren einer Religion sollten sich auf die Persönlichkeit und das Benehmen eines Gläubigen auswirken. Demnach ist der Lebenswandel einer Person normalerweise mehr oder weniger ein Spiegelbild ihrer Religion oder ihres Glaubens. Wie wirkt sich der Glaube auf mich persönlich aus? Bewirkt mein Glaube, daß ich ein freundlicher, großzügiger, ehrlicher, demütiger, toleranter und mitfühlender Mensch bin? Das sind berechtigte Fragen, zumal ein bedeutender religiöser Lehrer, Jesus Christus, sagte: „Jeder gute Baum [bringt] vortreffliche Frucht hervor, aber jeder faule Baum bringt wertlose Frucht hervor; ein guter Baum kann nicht wertlose Frucht tragen, noch kann ein fauler Baum vortreffliche Frucht hervorbringen. Jeder Baum, der nicht vortreffliche Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. Ihr werdet also diese Menschen wirklich an ihren Früchten erkennen“ (Matthäus 7:17-20).

      20. Welche Fragen erheben sich hinsichtlich Religion und Geschichte?

      20 Bestimmt sollte uns die Weltgeschichte veranlassen, innezuhalten und uns zu fragen: Welche Rolle hat die Religion in den zahllosen Kriegen gespielt, die die Menschheit heimgesucht und unsagbares Leid verursacht haben? Warum haben so viele Menschen im Namen der Religion so viele Mitmenschen getötet? Die Kreuzzüge, die Inquisition, die Konflikte im Nahen Osten und in Nordirland, das gegenseitige Hinschlachten im Krieg zwischen dem Iran und dem Irak (1980—1988), die Zusammenstöße zwischen Hindus und Sikhs in Indien — all das läßt in denkenden Menschen Fragen über religiöse Anschauungen und Moral aufkommen. (Siehe den Kasten.)

      21. Nenne einige Früchte der Christenheit.

      21 Bekannt für Heuchelei auf diesem Gebiet sind die Länder der Christenheit. In zwei Weltkriegen haben Katholiken auf das Geheiß „christlicher“ Machthaber Katholiken getötet, und Protestanten töteten Protestanten. Die Bibel stellt die Werke des Fleisches und die Früchte des Geistes einander gegenüber. Über die Werke des Fleisches heißt es: „Nun sind die Werke des Fleisches offenbar, und sie sind: Hurerei, Unreinheit, zügelloser Wandel, Götzendienst, Ausübung von Spiritismus, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Wutausbrüche, Wortzänkereien, Spaltungen, Sekten, Neidereien, Trinkgelage, Schwelgereien und dergleichen Dinge. Vor diesen Dingen warne ich euch im voraus, so wie ich euch im voraus gewarnt habe, daß die, die solche Dinge treiben, Gottes Königreich nicht erben werden.“ Doch sogenannte Christen haben diese Dinge jahrhundertelang getrieben, und Geistliche haben über ein solches Verhalten meist hinweggesehen (Galater 5:19-21).

      22, 23. Welche Früchte sollte dagegen die wahre Religion hervorbringen?

      22 Die Früchte des Geistes sind andererseits: „Liebe, Freude, Frieden, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Glauben, Milde, Selbstbeherrschung. Gegen solche Dinge gibt es kein Gesetz.“ Solche friedsamen Früchte sollten alle Religionen hervorbringen. Bringen sie sie aber hervor? Und wie verhält es sich mit der Religion, der man selbst angehört? (Galater 5:22, 23).

      23 Darum soll die folgende Betrachtung der Suche der Menschheit nach Gott mit Hilfe der Religionen der Welt dazu dienen, eine Reihe solcher Fragen zu beantworten. Aber nach welchen Gesichtspunkten sollte man eine Religion beurteilen? Nach wessen Maßstab?

      „Mein Glaube genügt mir“

      24, 25. Vor welcher herausfordernden Aufgabe steht jeder hinsichtlich seines Glaubens?

      24 Viele Menschen biegen ein Gespräch über ein religiöses Thema mit der Bemerkung ab: „Mein Glaube genügt mir. Ich tu’ niemand etwas zuleide, und ich helfe anderen, soweit mir das möglich ist.“ Genügt das aber? Sind die persönlichen Kriterien in bezug auf Religion ausreichend?

      25 Religion ist, wie ein Wörterbuch sagt, „der Ausdruck des Glaubens an eine übermenschliche Macht und Verehrung einer Macht, die als Schöpfer und Herrscher des Universums anerkannt wird“. Demgemäß kommt man nicht umhin, sich zu fragen: Genügt meine Religion dem Schöpfer und Herrscher des Universums? In diesem Fall stünde es auch dem Schöpfer zu, festzulegen, welches Verhalten, welche Anbetung und welche Lehre für ihn annehmbar ist oder nicht. Um dies festzulegen, müßte er der Menschheit seinen Willen offenbaren, und das, was er offenbarte, müßte für alle leicht erhältlich und allen leicht zugänglich sein. Überdies sollten seine Offenbarungen stets miteinander harmonieren und einheitlich sein, auch wenn sie in Abständen von Jahrhunderten gegeben wurden. Das stellt jeden vor eine herausfordernde Aufgabe: die Beweise zu prüfen und sich selbst davon zu überzeugen, was der annehmbare Wille Gottes ist.

      26. Welches heilige Buch sollte als Maßstab für die wahre Anbetung gelten? Und warum?

      26 Eines der ältesten Bücher, die beanspruchen, von Gott inspiriert zu sein, ist die Bibel. Sie ist das seit Menschengedenken am weitesten verbreitete und am häufigsten übersetzte Buch. Vor fast zweitausend Jahren sagte einer ihrer Schreiber: „Formt euch nicht mehr nach diesem System der Dinge, sondern werdet durch die Neugestaltung eures Sinnes umgewandelt, damit ihr durch Prüfung feststellen könnt, was der gute und annehmbare und vollkommene Wille Gottes ist“ (Römer 12:2). Worauf sollte sich eine solche Prüfung stützen? Derselbe Schreiber erklärte: „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert und nützlich zum Lehren, zum Zurechtweisen, zum Richtigstellen der Dinge, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes völlig tauglich sei, vollständig ausgerüstet für jedes gute Werk.“ Das inspirierte Wort Gottes sollte also als zuverlässiger Maßstab für die wahre und annehmbare Anbetung dienen (2. Timotheus 3:16, 17).

      27. (a) Nenne die heiligen Schriften einiger Weltreligionen. (b) Inwiefern dürften ihre Lehren denen der Bibel nicht widersprechen?

      27 Der älteste Teil der Bibel ist älter als alles andere religiöse Schrifttum der Welt. Die Thora oder die ersten fünf Bücher der Bibel, das Gesetz, das Moses unter Inspiration schrieb, geht bis in das 15. und 16. Jahrhundert v. u. Z. zurück. Die Niederschrift des Rigweda des Hinduismus (eine Sammlung von Hymnen) wurde um 900 v. u. Z. abgeschlossen, und darin wird kein Anspruch auf göttliche Inspiration erhoben. Die als „Dreikorb“ bezeichnete buddhistische Textsammlung datiert aus dem 5. Jahrhundert v. u. Z. Der Qurʼān, den Gott durch den Engel Gabriel übermittelt haben soll, ist ein Produkt des siebten Jahrhunderts u. Z. Das Buch Mormon, das angeblich ein Engel namens Moroni in den Vereinigten Staaten Joseph Smith ausgehändigt hat, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Wenn einige dieser Werke, wie behauptet wird, von Gott inspiriert sind, dann dürfte das, was sie in bezug auf religiöse Anleitung zu bieten haben, den Lehren der Bibel nicht widersprechen, die ja die ursprüngliche inspirierte Quelle ist. Außerdem sollten sie einige der brennendsten Fragen der Menschen beantworten.

      Fragen, die einer Antwort bedürfen

      28. Welche Fragen bedürfen unter anderem einer Antwort?

      28 1. Lehrt die Bibel das, was die Mehrzahl der Religionen lehrt und was viele Menschen glauben, nämlich, daß der Mensch eine unsterbliche Seele hat, die beim Tod in ein anderes Reich, ins „Jenseits“, in den Himmel, die Hölle oder in das Fegefeuer, kommt, oder daß sie als Reinkarnation wiederkehrt?

      2. Lehrt die Bibel, daß der Souverän des Universums namenlos ist? Lehrt sie, daß er e i n Gott ist oder drei Personen in einer Gottheit oder daß er in Form vieler Götter existiert?

      3. Was sagt die Bibel über das, was Gott ursprünglich vorhatte, als er die Menschen für ein Leben auf der Erde erschuf?

      4. Lehrt die Bibel, daß die Erde vernichtet wird? Oder weist sie nur auf ein Ende oder einen Abschluß des gegenwärtigen verderbten Weltsystems hin?

      5. Wie sind innerer Frieden und Rettung wirklich zu erlangen?

      29. (a) Von welchem Grundsatz sollten wir uns bei der Suche nach der Wahrheit leiten lassen? (b) Wie beantwortet die Bibel die angeführten Fragen?

      29 Jede Religion gibt darauf andere Antworten; aber bei unserer Suche nach dem ‘reinen Dienst vor Gott’ (EÜ) oder der reinen Religion gilt es, schließlich zu den Schlußfolgerungen zu gelangen, zu denen wir gemäß dem Willen Gottes gelangen sollten (Jakobus 1:27). Wieso können wir das sagen? Weil wir nach dem Grundsatz verfahren: „Gott werde als wahrhaftig befunden, wenn auch jeder Mensch als Lügner erfunden werde, so wie geschrieben steht: ‚Damit du dich in deinen Worten als gerecht erweist und den Sieg gewinnst, wenn du gerichtet wirst‘ “ (Römer 3:4).a

      30. Welche Fragen werden im nächsten Kapitel beantwortet?

      30 Wenden wir uns jetzt, da wir eine Grundlage für die Überprüfung der Religionen der Welt haben, dem frühen Verlangen der Menschheit nach Geistig-Religiösem zu. Was wissen wir darüber, wie die Religion aufkam? Welche Glaubensformen sind im Altertum und vielleicht bei Naturvölkern entstanden?

  • Die Religion — Wie nahm sie ihren Anfang?
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 2

      Die Religion — Wie nahm sie ihren Anfang?

      1, 2. Was fällt in bezug auf Alter und Vielfalt der Religionen auf?

      DIE Geschichte der Religion ist so alt wie die Geschichte des Menschen selbst. So sagen es die Archäologen und die Anthropologen. Sogar bei den „primitivsten“ Völkern, das heißt bei den unentwickelten Kulturen, sind Beweise für eine bestimmte Form der Anbetung zu finden. So schreibt die New Encyclopædia Britannica: „Soweit Gelehrte feststellen konnten, hat niemals und nirgendwo ein Volk existiert, das nicht in einem gewissen Sinne religiös war.“

      2 Neben ihrem hohen Alter zeichnet sich die Religion durch große Vielfalt aus. Jedes Volk der Erde hat seinen Gott oder seine Götter und seine Art, sie anzubeten: die Kopfjäger im Dschungel Borneos, die Eskimos in der Arktis, die Nomaden in der Sahara und auch die Städter in den Metropolen der Welt. Die Vielfalt unter den Religionen ist wirklich erstaunlich.

      3. Mit welchen Fragen über die Religionen der Welt sollte man sich befassen?

      3 Folglich steigen Fragen auf. Woher stammen all die Religionen? Sind sie unabhängig voneinander entstanden, wie die markanten Unterschiede vermuten lassen, oder haben sie, weil sie auch Ähnlichkeiten aufweisen, den gleichen Ursprung? Man könnte sich fragen: Wieso ist die Religion überhaupt ins Dasein gekommen, und wie? Die Antworten sind von entscheidender Bedeutung für jeden, der nach der Wahrheit über Religion und über Glaubensansichten sucht.

      Die Frage nach dem Ursprung

      4. Was ist über viele Religionsstifter bekannt?

      4 Bei der Frage nach dem Ursprung denken Angehörige verschiedener Religionen an Namen wie Muḥammad, Buddha, Konfuzius und Jesus. Ja, in fast jeder Religion stößt man auf eine Hauptperson, die als Begründer des „wahren Glaubens“ gilt. Zu den Religionsstiftern gehören ikonoklastische Reformer. Andere waren Moralphilosophen. Wieder andere waren selbstlose Volkshelden. Viele ließen Schriften oder Äußerungen zurück, die als Grundpfeiler einer neuen Religion dienten. Im Laufe der Zeit wurden ihre überlieferten Worte und Taten ausgefeilt, ausgeschmückt und mit der Aura eines Geheimnisses versehen. Einige dieser Führer erhob man sogar zu Göttern.

      5, 6. Wie sind viele Religionen ins Dasein gekommen?

      5 Personen wie diese gelten zwar als Stifter der größeren, uns bekannten Religionen, jedoch ist festzuhalten, daß eigentlich nicht sie selbst die Religion ins Leben gerufen haben. Auch wenn sich die meisten Religionsstifter darauf beriefen, von Gott inspiriert worden zu sein, so beruhten ihre Lehren doch meistens auf religiösen Vorstellungen, die es schon vorher gab. Oder man modifizierte, das heißt änderte, bestehende religiöse Systeme, wenn sie auf die eine oder andere Weise nicht mehr hinreichend waren.

      6 Zum Beispiel war Buddha, soweit aus der Geschichte bekannt, ein Fürstensohn, der über das Leiden und die beklagenswerten Verhältnisse in der überwiegend hinduistischen Gesellschaft entsetzt war. Seine Suche nach einer Lösung für die bedrückenden Probleme des Lebens führte zum Buddhismus. Auch Muḥammad war bestürzt über den Götzendienst und die Unmoral in den religiösen Gebräuchen um sich herum. Später behauptete er, daß Gott ihm besondere Offenbarungen gab — Offenbarungen, die den Qur’ān bildeten, die Grundlage für eine neue religiöse Bewegung: den Islam. Im frühen 16. Jahrhundert, als Martin Luther gegen den damaligen Ablaßhandel der katholischen Kirche protestierte, kam es zur Reformation, die dazu führte, daß aus dem Katholizismus der Protestantismus hervorging.

      7. Welche Frage hinsichtlich der Religion muß noch beantwortet werden?

      7 Über den Ursprung, die Entwicklung, die Stifter und die heiligen Schriften der heutigen Religionen ist man sich also nicht im unklaren. Wie verhält es sich aber mit den Religionen, die es vorher gegeben hat, und mit noch früheren? Verfolgt man die Geschichte weit genug zurück, stößt man früher oder später auf die Frage: Wie nahm die Religion ihren Anfang? Es leuchtet ein, daß die Antwort einen Blick über die Grenzen der einzelnen Religionen hinaus erfordert.

      Zahlreiche Theorien

      8. Wie war man jahrhundertelang zur Religion eingestellt?

      8 Das Studium des Ursprungs und der Fortentwicklung der Religion ist vergleichsweise neu. Jahrhundertelang haben die Menschen die religiöse Tradition, in die sie hineingeboren wurden und in der sie aufwuchsen, mehr oder weniger übernommen. Meistens begnügte man sich mit den überlieferten Erklärungen seiner Vorväter und hielt deren Religion für die wahre. Anlaß zum Zweifel gab es selten, und es war nicht nötig, zu erforschen, wie, wann oder warum alles angefangen hatte. Jahrhundertelang wußte im Grunde genommen kaum jemand etwas davon, daß es andere Religionssysteme gab, zumal es nur begrenzt möglich war, zu reisen und sich mit anderen zu verständigen.

      9. Welche Versuche hat man seit dem 19. Jahrhundert unternommen, um herauszufinden, warum und wie die Religion ins Dasein kam?

      9 Im 19. Jahrhundert setzte dagegen ein Wandel ein. Die Evolutionstheorie zog in intellektuelle Kreise ein. Wissenschaftliche Untersuchungen gesellten sich hinzu, und beides bewirkte, daß viele Lehrgebäude, religiöse inbegriffen, in Frage gestellt wurden. Einige Gelehrte erkannten, daß sie innerhalb der bestehenden Religionen nur begrenzt nach Anzeichen für ihren Ursprung Ausschau halten konnten, und wandten sich deshalb den Überresten der frühen Kulturen zu, oder sie begaben sich an entlegene Stellen der Erde, wo die Menschen noch in primitiven Gesellschaftsformen lebten. Sie versuchten, auf diese Menschen die Methoden der Psychologie, Soziologie, Anthropologie usw. anzuwenden, und hofften, Anzeichen dafür zu finden, wie und warum die Religion entstanden ist.

      10. Wozu führten die Forschungen über den Ursprung der Religion?

      10 Wozu führte dies? Plötzlich tauchten viele Theorien auf — anscheinend ebenso viele, wie es Forscher gab —, wobei eine Theorie der anderen widersprach und sie an Wagemut und Originalität zu übertreffen suchte. Einige dieser Forscher gelangten zu wichtigen Schlußfolgerungen; die Arbeit anderer geriet einfach in Vergessenheit. Es ist lehrreich, einen Blick auf die Ergebnisse dieser Forschungen zu werfen. Wir verstehen dann besser die religiöse Haltung der Menschen, denen wir begegnen.

      11. Erkläre die animistische Theorie.

      11 Der englische Kulturanthropologe Edward Tylor (1832 bis 1917) stellte eine Theorie auf, die allgemein als Animismus bezeichnet wird. Nach seiner Vermutung haben Erfahrungen wie Träume, Visionen, Delirien und die Leblosigkeit von Leichnamen die Naturvölker auf den Gedanken gebracht, daß im Körper eine Seele (lateinisch: anima) wohnt. Gemäß dieser Theorie nahmen sie an — weil sie häufig von ihren verstorbenen Angehörigen träumten —, daß nach dem Tod die Seele weiterlebt, das heißt den Körper verläßt und in Bäumen, Felsen, Flüssen oder sonstwo Wohnung nimmt. Schließlich wurden die Toten und die Gegenstände, in denen die Seelen wohnen sollten, vergöttlicht. Und so nahm nach Tylors Ansicht die Religion ihren Anfang.

      12. Erkläre die animatistische Theorie.

      12 R. R. Marett (1866 bis 1943), ein anderer englischer Anthropologe, schlug eine Verfeinerung der animistischen Theorie vor und nannte sie Animatismus. R. R. Marett schloß aus seinem Studium der Glaubensansichten der Melanesier im Pazifik und der Ureinwohner Afrikas und Amerikas, daß sich der „primitive“ Mensch keine persönliche Seele vorstellte, sondern glaubte, es gebe eine unpersönliche Kraft oder übersinnliche Macht, die alles belebe; jene Glaubensansicht rief im Menschen Ehrfurcht und Furcht hervor: die Grundlage für seine Naturreligion. Für Marett war Religion hauptsächlich die Gefühlsreaktion des Menschen auf das Unbekannte. Gemäß seinem Lieblingsspruch war die Religion „weniger erdacht als ertanzt“.

      13. Welche Religionstheorie schlug James Frazer vor?

      13 Im Jahre 1890 veröffentlichte der Schotte James Frazer (1854—1941), ein guter Kenner der antiken Volkskunde, das einflußreiche Buch Der goldene Zweig, in dem er argumentierte, daß die Religion aus der Magie entstanden sei. Nach Frazers Ansicht versuchte der Mensch zuerst, sein Leben und seine Umgebung zu beherrschen, indem er nachahmte, was in der Natur vor sich ging. Er glaubte beispielsweise, er könne es regnen lassen, wenn er, begleitet von donnerähnlichen Trommelschlägen, Wasser auf den Boden spritze, oder er glaubte, er könne seinem Feind schaden, wenn er Nadeln in ein Bild von ihm steche. Dies führte dazu, daß in vielen Lebensbereichen Rituale, Zaubersprüche und Zaubermittel üblich wurden. Blieb der erwartete Erfolg aus, versuchte der Mensch die übernatürlichen Mächte nicht mehr zu beherrschen, sondern er ging dazu über, sie zu besänftigen und sie um Hilfe anzuflehen. Aus den Ritualen und Beschwörungen seien Opfer und Gebete geworden, und so habe die Religion ihren Anfang genommen. Nach Frazer ist Religion „eine Versöhnung oder Beschwichtigung von Mächten, die dem Menschen übergeordnet sind“.

      14. Wie erklärte Sigmund Freud den Ursprung der Religion?

      14 Sogar der bekannte österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856—1939) versuchte in seinem Buch Totem und Tabu, den Ursprung der Religion zu erklären. Seinem Fach getreu, erklärte Freud, die früheste Religion gehe auf eine Vaterfigur-Neurose zurück. Er stellte die Theorie auf, daß in der primitiven Gesellschaft der Vater — wie bei den Wildpferden und -rindern — die Horde beherrschte. Die Söhne, die den Vater haßten und zugleich bewunderten, empörten sich gegen den Vater und töteten ihn. Freud erklärte, daß „jene kannibalischen Wilden ihr Opfer verspeisten“, um sich die Macht des Vaters „einzuverleiben“. Später hätten sie aus Reue Riten und Rituale eingeführt, um für ihre Taten Sühne zu leisten. Nach der Freudschen Theorie wurde aus der Vaterfigur Gott, aus den Riten und Ritualen die Ur-Religion und aus dem Verspeisen des getöteten Vaters der Brauch der Kommunion, der in vielen Religionen gepflegt wird.

      15. Was ist mit den meisten Theorien über den Ursprung der Religion geschehen?

      15 Es könnten zahlreiche andere Theorien über den Ursprung der Religion angeführt werden. Die meisten davon sind jedoch in Vergessenheit geraten, und keine sticht unter den anderen als glaubwürdiger und annehmbarer hervor. Warum nicht? Weil es einfach nie ein historisches Zeugnis oder einen Beweis für die Richtigkeit dieser Theorien gab. Sie waren reine Phantasie und Mutmaßungen des Forschers und wurden bald von der nächstbesten Theorie abgelöst.

      Eine fehlerhafte Grundlage

      16. Warum sind jahrelange Forschungen zur Klärung der Frage, wie die Religion ihren Anfang nahm, fehlgeschlagen?

      16 Nach jahrelangem Ringen in dieser Angelegenheit sind viele zu dem Schluß gelangt, daß auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie die Religion ihren Anfang nahm, höchstwahrscheinlich kein Durchbruch zu erwarten ist. Und das vor allem deshalb nicht, weil Knochen und andere Überreste alter Völker darüber schweigen, wie man damals dachte, wovor man sich fürchtete oder warum man jemanden oder etwas verehrte. Irgendwelche Schlüsse aus diesen Artefakten sind bestenfalls schlaue Mutmaßungen. Außerdem kann an den religiösen Gebräuchen der sogenannt „primitiven“ Völker wie die australischen Ureinwohner heute nicht unbedingt zuverlässig abgelesen werden, was die Völker in alter Zeit getan oder gedacht haben. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob oder wie sich ihre Kultur im Laufe der Jahrhunderte verändert hat.

      17. (a) Was wissen Historiker heute über die Religionen? (b) Was scheint bei der Untersuchung der Religion im Vordergrund zu stehen?

      17 In Anbetracht all dieser Unsicherheitsfaktoren, so folgert man in dem Buch Religionen der Welt, „weiß der moderne Religionshistoriker, daß es unmöglich ist, an die Quelle der Religion zu gelangen“. Über die Bemühungen des Historikers wird in dem Buch behauptet, „in der Vergangenheit hätten zu viele Theoretiker versucht, die frühen Religionen wegzuerklären, anstatt sie zu beschreiben, da sie fürchteten, daß die neuen Hochreligionen unterhöhlt werden könnten, wenn gezeigt würde, daß die frühen Formen auf Täuschung beruhten“.

      18. (a) Warum ist es vielen Erforschern nicht gelungen, den Ursprung der Religion zu erklären? (b) Welche Absichten hatten die „wissenschaftlichen“ Erforscher der Religion anscheinend in Wirklichkeit?

      18 Der letzte Kommentar deutet auf den Grund hin, warum die verschiedenen „wissenschaftlichen“ Erforscher des Ursprungs der Religion nicht mit haltbaren Erklärungen aufwarten konnten. Von der Logik her können richtige Schlußfolgerungen nur von richtigen Voraussetzungen hergeleitet werden. Geht man von einer fehlerhaften Voraussetzung aus, wird man kaum zu einer vernünftigen Schlußfolgerung gelangen. Daß es den „wissenschaftlichen“ Erforschern wiederholt mißlungen ist, mit einer vernünftigen Erklärung aufzuwarten, läßt somit den starken Verdacht aufkommen, daß sie bei ihren Ansichten von falschen Voraussetzungen ausgehen. Sie sind ihren vorgefaßten Meinungen gefolgt und haben in ihrem Bemühen, die „Religionen wegzuerklären“, versucht, Gott wegzuerklären.

      19. Nenne ein Grundprinzip für den Erfolg wissenschaftlicher Untersuchungen. Veranschauliche es bitte.

      19 Die Situation ist damit zu vergleichen, wie unterschiedlich viele Astronomen vor dem 16. Jahrhundert die Bewegung der Planeten zu erklären suchten. An Theorien fehlte es nicht, aber keine war wirklich zufriedenstellend. Warum nicht? Weil man glaubte, die Erde sei der Mittelpunkt des Weltalls, um den sich die Sterne und die Planeten drehen würden. Echte Fortschritte wurden erst gemacht, als Wissenschaftler — und auch die katholische Kirche — es gelten ließen, daß die Erde nicht das Zentrum des Weltalls ist, sondern sich um die Sonne dreht, um das Zentrum des Sonnensystems. Das Unvermögen der zahllosen Theorien, die Tatsachen zu erklären, veranlaßte unvoreingenommene Personen nicht dazu, neue Theorien aufzustellen, sondern dazu, den Ausgangspunkt ihrer Forschungen zu überprüfen. Und das führte zum Erfolg.

      20. (a) Von welcher falschen Voraussetzung ist man bei der „wissenschaftlichen“ Erforschung des Ursprungs der Religion ausgegangen? (b) Auf welches grundlegende Bedürfnis nahm Voltaire Bezug?

      20 Der gleiche Grundsatz kann auf die Erforschung des Ursprungs der Religion übertragen werden. Seit der Atheismus aufgekommen ist und die Evolutionstheorie auf breiter Ebene Anklang gefunden hat, ist es für viele selbstverständlich, daß es keinen Gott gibt. Gestützt auf diese Annahme, meinen sie, die Erklärung für das Vorhandensein der Religion sei im Menschen selbst zu suchen — in seinem Denken, seinen Bedürfnissen, seinen Ängsten, seinen „Neurosen“. Voltaire sagte: „Gäbe es Gott nicht, müßte man ihn erfinden“; somit unterstellen sie, der Mensch habe Gott erfunden. (Siehe Kasten, Seite 28.)

      21. Welcher logische Schluß kann aus dem Versagen der vielen Theorien über den Ursprung der Religion gezogen werden?

      21 Da die vielen Theorien keine wahrhaft befriedigende Antwort geben, erhebt sich die Frage, ob es Zeit ist, die Voraussetzungen zu überprüfen, von denen man bei diesen Erforschungen ausgegangen ist. Wäre es nicht logisch, woanders nach einer Antwort Ausschau zu halten, statt sich vergeblich im gewohnten Trott abzumühen? Wer unvoreingenommen sein möchte, wird einräumen, daß es vernünftig und wissenschaftlich zugleich ist, so vorzugehen. Und es gibt ein Beispiel, das uns die Logik eines solchen Vorgehens begreiflich macht.

      Eine alte Frage

      22. Wie wirkten sich die zahlreichen Theorien der Athener über ihre Götter auf die Art ihrer Gottesanbetung aus?

      22 Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung war Athen ein bekanntes Zentrum der Gelehrsamkeit. Unter den Athenern gab es Vertreter vieler verschiedener geistiger Richtungen, wie die Epikureer und die Stoiker, die alle ihre eigenen Vorstellungen von Göttern hatten. Gestützt auf diese verschiedenen Vorstellungen, verehrte man viele Gottheiten, und es entstanden unterschiedliche Arten der Verehrung. Demzufolge war die Stadt voller Götzen und Tempel (Apostelgeschichte 17:16).

      23. Welchen völlig anderen Gesichtspunkt über Gott unterbreitete der Apostel Paulus den Athenern?

      23 Etwa um das Jahr 50 u. Z. besuchte der christliche Apostel Paulus Athen und unterbreitete den Athenern einen völlig anderen Gesichtspunkt. Er sagte zu ihnen: „Der Gott, der die Welt und alles, was darin ist, gemacht hat, dieser, der der Herr des Himmels und der Erde ist, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind, noch wird er von Menschenhänden bedient, als ob er etwas benötigte, da er selbst allen Personen Leben und Odem und alles gibt“ (Apostelgeschichte 17:24, 25).

      24. Was sagte Paulus den Athenern im Grunde genommen über die wahre Anbetung?

      24 Mit anderen Worten, Paulus erklärte den Athenern, daß der wahre Gott, der „die Welt und alles, was darin ist, gemacht hat“, kein Produkt menschlicher Einbildung ist und daß es nicht Sache des Menschen ist, sich auszudenken, wie er Gott dienen möchte. Die wahre Religion ist nicht einfach das einseitige Bemühen des Menschen, ein gewisses psychologisches Bedürfnis zu stillen oder sich von einer gewissen Furcht zu befreien. Da der wahre Gott als Schöpfer den Menschen mit Denkvermögen und Verstandeskraft ausgestattet hat, wäre es nur logisch, daß er ihm ermöglichen würde, in ein befriedigendes Verhältnis zu ihm zu gelangen. Genau das hat, wie Paulus sagte, Gott getan. „Er hat aus e i n e m Menschen jede Nation der Menschen gemacht, damit sie auf der ganzen Erdoberfläche wohnen, ... damit sie Gott suchen, ob sie ihn wohl tastend fühlen und wirklich finden mögen, obwohl er tatsächlich einem jeden von uns nicht fern ist“ (Apostelgeschichte 17:26, 27).

      25. Erkläre den Kernpunkt in der Argumentation über den Ursprung der Menschheit.

      25 Man beachte den Kernpunkt der Argumentation des Paulus: Gott „hat aus e i n e m Menschen jede Nation der Menschen gemacht“. Den Forschern ist bekannt, daß die Menschen die gleiche Herkunft haben, obwohl es heute auf der ganzen Erde viele Völker gibt. Dieses Verständnis ist von großer Bedeutung; denn wenn man sagt, daß die Menschen die gleiche Herkunft haben, dann reicht dies über die biologische und genetische Verwandtschaft hinaus. Dann sind sie auch auf anderen Gebieten miteinander verwandt.

      26. Welche Kenntnis über die Sprache unterstützt den Schlüsselgedanken des Paulus?

      26 Man beachte beispielsweise, was in dem Buch Story of the World’s Worship über die Sprache des Menschen gesagt wird. „Wer die Sprachen der Welt erforscht und sie miteinander verglichen hat, kommt nicht umhin, folgendes zu sagen: Alle Sprachen können in Sprachfamilien oder -klassen eingeordnet werden, und es ist zu erkennen, daß alle einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben.“ Mit anderen Worten: Die verschiedenen Sprachen der Welt sind, was ihren Ursprungsort betrifft, nicht getrennt und unabhängig voneinander entstanden, wie Evolutionisten andere glauben machen möchten. Nach ihrer Theorie haben Höhlenbewohner in Afrika, Europa und Asien anfangs Grunz- und Knurrlaute von sich gegeben und schließlich eigene Sprachen entwickelt. Das trifft aber nicht zu. Die Beweise zeigen, daß die Sprachen „einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben“.

      27. Warum ist es logisch, zu schlußfolgern, daß die Vorstellungen des Menschen über Gott und Religion aus einer gemeinsamen Quelle stammen?

      27 Wenn dies für etwas so Persönliches und ausgesprochen Menschliches wie die Sprache gilt, wäre es dann nicht vernünftig, zu folgern, daß die Vorstellungen des Menschen über Gott und Religion auch aus einer gemeinsamen Quelle stammen? Im Grunde ist Religion mit dem Denken verknüpft und das Denken wiederum mit dem menschlichen Sprachvermögen. Nicht daß alle Religionen aus ein und derselben Religion entstanden sind, aber die Vorstellungen und Auffassungen sollten einen bestimmten gemeinsamen Ursprung haben oder auf ein und dieselbe religiöse Gedankenwelt zurückzuführen sein. Ist das zu beweisen? Und um welche Quelle könnte es sich handeln, wenn die Religionen des Menschen wirklich einer einzigen Quelle entsprungen sind? Wie ist das herauszufinden?

      Verschieden und doch ähnlich

      28. Wie ist festzustellen, ob die Religionen der Welt einen gemeinsamen Ursprung haben?

      28 Wir können die Antwort so ermitteln, wie Sprachforscher ihre Antworten über den Ursprung der Sprache erhalten haben. Etymologen ordnen die verschiedenen Sprachen nebeneinander an, achten auf Ähnlichkeiten und verfolgen sie so bis zu ihrer Quelle. Ebenso können die Religionen nebeneinander angeordnet und ihre Lehren, Legenden, Riten, Zeremonien, Institutionen usw. miteinander verglichen werden, um zu sehen, ob sie irgend etwas gemeinsam haben und wohin diese Gemeinsamkeiten führen.

      29. Worauf sind die zahlreichen Unterschiede zwischen den Religionen zurückzuführen?

      29 Oberflächlich betrachtet, scheinen sich die zahlreichen Religionen von heute beträchtlich voneinander zu unterscheiden. Befreit man sie jedoch von Ausschmückungen und späteren Zusätzen oder von Unterschieden, die auf Klima, Sprache, Eigenheiten des Landes und andere Umstände zurückgehen, stellen sich die meisten Religionen als verblüffend ähnlich heraus.

      30. Welche Ähnlichkeiten fallen zwischen dem Katholizismus und dem Buddhismus auf?

      30 Zum Beispiel würde fast jeder meinen, daß es kaum zwei unterschiedlichere Religionen gibt als die römisch-katholische Kirche im Westen und den Buddhismus im Osten. Was ist jedoch zu beobachten, wenn sprach- und kulturbedingte Unterschiede ausgeklammert werden? Bei objektiver Betrachtung muß eingeräumt werden, daß beide Religionen vieles gemeinsam haben. Sowohl der Katholizismus als auch der Buddhismus sind durchdrungen von Ritualen und Zeremonien. Dazu gehören Gesänge, der Gebrauch von Kerzen, Weihrauch, Weihwasser, vom Rosenkranz, von Heiligenbildern und Gebetbüchern sowie die Verwendung des Kreuzzeichens. Beide Religionen unterhalten Einrichtungen für Mönche und Nonnen, und beide sind bekannt für den Priesterzölibat, besondere Gewänder, religiöse Festtage und besondere Speisen. Diese Aufstellung ist keineswegs erschöpfend, aber sie genügt, um zu zeigen, worum es geht. Die Frage lautet: Warum haben zwei Religionen, die so grundverschieden zu sein scheinen, so vieles gemeinsam?

      31. Welche Ähnlichkeiten haben andere Religionen miteinander?

      31 Da sich der Vergleich zwischen diesen beiden Religionen als aufschlußreich erweist, bietet es sich an, andere Religionen ebenfalls miteinander zu vergleichen. Dabei stellt sich heraus, daß bestimmte Lehren und Glaubensansichten nahezu bei allen vorkommen. Die meisten Menschen sind z. B. mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Menschenseele vertraut oder mit der Lehre, daß alle guten Menschen in den Himmel kommen, daß die Bösen in einer Unterwelt ewige Qual erleiden, mit der Lehre vom Fegefeuer, von einem dreieinigen Gott oder einer Gottheit, bestehend aus vielen Göttern, und von einer Gottesmutter oder Göttin in Gestalt einer Himmelskönigin. Darüber hinaus gibt es viele Legenden und Mythen, die ebenso verbreitet sind. Zum Beispiel handeln Legenden davon, daß der Mensch die Gunst Gottes verlor, weil er auf unrechte Weise Unsterblichkeit erlangen wollte; sie beschreiben das Bedürfnis, zur Sühnung von Sünde Opfer darzubringen, und die Suche nach einem Baum des Lebens oder einem Jungbrunnen; sie erzählen von Göttern und Halbgöttern, die bei den Menschen wohnten und übernatürliche Nachkommen hervorbrachten, sowie von einer katastrophalen Flut, in der fast die gesamte Menschheit ausgelöscht wurde.a

      32, 33. (a) Was ist aus den bemerkenswerten Ähnlichkeiten zwischen den Religionen der Welt zu schließen? (b) Welche Frage bedarf einer Antwort?

      32 Was ist aus alldem zu schließen? Wir stellen fest, daß die Völker, die an diese Mythen und Legenden glaubten, geographisch weit voneinander entfernt lebten. Ihre Kultur und ihre Traditionen waren eindeutig verschieden. Ihre gesellschaftlichen Bräuche standen in keiner Beziehung zueinander. Was aber ihre Religion betrifft, so hatten sie dennoch auffallend ähnliche Vorstellungen. Nicht jedes Volk glaubte an alles, was angeführt wurde, doch alle glaubten an einiges davon. Hier drängt sich die Frage auf, warum das so ist. Es scheint, als hätte jede Religion ihre grundlegenden Glaubensansichten mehr oder weniger aus etwas Gemeinsamem bezogen, als seien im Laufe der Zeit jene grundlegenden Glaubensansichten ausgeschmückt und abgewandelt worden und als hätten sich daraus weitere Lehren entwickelt. Doch die grundlegenden Konturen sind unverkennbar gleich.

      33 Logischerweise ist die Ähnlichkeit zwischen den Grundvorstellungen der zahlreichen Religionen der Welt ein zwingender Beweis, daß sie nicht getrennt und unabhängig voneinander ihren Anfang genommen haben. Vielmehr müssen ihre Vorstellungen einen gemeinsamen Ursprung haben. Worum handelte es sich bei diesem Ursprung?

      Ein frühes goldenes Zeitalter

      34. Welche Sage über den Anfang des Menschen haben viele Religionen gemein?

      34 Interessanterweise hat gemäß einer der Sagen, die in vielen Religionen zu finden sind, die Menschheit in einem goldenen Zeitalter ihren Anfang genommen, in dem der Mensch ohne Schuld war, glücklich und friedlich in enger Gemeinschaft mit Gott lebte und Krankheit und Tod nicht kannte. Abgesehen von Unterschieden in einigen Einzelheiten, ist die gleiche Vorstellung von einem ehemaligen vollkommenen Paradies in den Schriften und Legenden vieler Religionen zu finden.

      35. Beschreibe, was die alten Zoroastrier in bezug auf ein goldenes Zeitalter glaubten.

      35 Das Awesta, die heiligen Bücher der zoroastrischen Religion, erzählt von „dem gerechten Yima, dem guten Hirten“, dem ersten Sterblichen, mit dem sich Ahura Mazdā (der Schöpfer) zuerst besprach. Ahura Mazdā gebot ihm: „So fördere meine Welt, so mehre meine Welt, so sollst du dich mir bereit stellen als Schützer und Wächter und Beaufsichtiger der Welt.“ Zu diesem Zweck sollte er „eine Vara“ bauen, eine unterirdische Wohnung für alle Lebewesen. Darin „war weder Niederdrückung noch Niederträchtigkeit, weder Nichtklugheit noch Gewalt, weder Armut noch Täuschung, weder Schwachheit noch Verunstaltung, nicht die (Körper)-verkrümmung, nicht ungestalte Zähne. Die Bewohner wurden nicht durch böse Geister befleckt. Sie wohnten unter duftenden Bäumen und zwischen goldenen Säulen; sie waren die größten, die besten und schönsten auf Erden; sie selbst waren ein großes und schönes Geschlecht.“

      36. Wie beschrieb der griechische Dichter Hesiod das „Goldene Zeitalter“?

      36 Was die alten Griechen betrifft, so ist in Hesiods Epos Werke und Tage von den fünf Menschenzeitaltern die Rede, von denen das erste das „Goldene Zeitalter“ war, in dem sich der Mensch ungetrübten Glücks erfreute. Hesiod schrieb:

      „Golden war das Geschlecht der redenden Menschen, das erstlich

      Die unsterblichen Götter, des Himmels Bewohner, erschufen.“

      „Und sie lebten dahin wie Götter ohne Betrübnis

      Fern von Mühen und Leid, und ihnen nahte kein schlimmes

      Alter, und immer regten sie gleich die Hände und Füße,

      Freuten sich an Gelagen.“

      Jenes legendäre Goldene Zeitalter ging gemäß der griechischen Mythologie verloren, als Epimetheus die schöne Pandora, die ihm der olympische Gott Zeus schenkte, als Gattin annahm. Eines Tages öffnete Pandora den Deckel ihres großen Tonkrugs, und plötzlich entwichen daraus Schwierigkeiten, Leiden und Krankheit, wovon sich die Menschheit nie erholen sollte.

      37. Beschreibe die alte chinesische Legende über ein „Paradies“ am Anfang der Geschichte.

      37 Auch alte chinesische Legenden erzählen von einem goldenen Zeitalter in den Tagen des Huang-Ti (Gelben Kaisers), der im 26. Jahrhundert v. u. Z. hundert Jahre lang regiert haben soll. Ihm wurden alle Kulturerrungenschaften zugeschrieben — Kleidung und Wohnung, Transportmittel, Waffen und Krieg, Landverwaltung, Fabrikation, Seidenzucht, Musik, Sprache, Mathematik, der Kalender und anderes. Während seiner Herrschaft, so heißt es, „gab es in China keine Diebe und keine Kämpfe, und das Volk war genügsam und lebte in Frieden. Rechtzeitiger Regen und der Jahreszeit entsprechendes Wetter führten Jahr für Jahr zu reichen Ernten. Am erstaunlichsten war, daß nicht einmal die wildlebenden Tiere töteten und Raubvögel niemand etwas zuleide taten. Kurzum, die Geschichte Chinas beginnt mit einem Paradies.“ Bis heute behaupten die Chinesen, Nachkommen des Gelben Kaisers zu sein.

      38. Was können wir aus der Ähnlichkeit zwischen den legendären Erzählungen über den Anfang des Menschen ableiten?

      38 Ähnliche legendäre Erzählungen über eine Zeit des Glücks und der Vollkommenheit zu Beginn der Geschichte des Menschen sind in den Religionen vieler anderer Völker zu finden — bei den Ägyptern, Tibetern, Peruanern, Mexikanern und anderen. Sollten all jene weit voneinander entfernt lebenden Völker mit völlig verschiedenen Kulturen, Sprachen und Bräuchen zufällig die gleiche Vorstellung von ihrem Ursprung haben? Ist es nur Zufall oder ein zufälliges Zusammentreffen, daß alle ihren Anfang auf die gleiche Weise erklären? Logik und Erfahrung lehren uns, daß dies kaum möglich ist. Im Gegenteil, in all diesen Legenden müssen gemeinsame Elemente der Wahrheit über den Anfang des Menschen und seiner Religion miteinander verflochten sein.

      39. Welches Bild kann aus den Gemeinsamkeiten zwischen vielen Legenden über den Anfang des Menschen zusammengestellt werden?

      39 Tatsächlich sind viele gemeinsame Elemente in all den verschiedenen Legenden über den Anfang des Menschen zu erkennen. Insgesamt gesehen, wird ein vollständigeres Bild deutlich. Es erzählt davon, daß Gott den ersten Mann und die erste Frau erschuf und sie in ein Paradies setzte. Sie waren anfangs sehr zufrieden und sehr glücklich, doch bald wurden sie rebellisch. Diese Auflehnung führte zum Verlust des vollkommenen Paradieses, das von schwerer Arbeit und Mühsal, Schmerz und Leid abgelöst wurde. Schließlich war die Menschheit so schlecht geworden, daß Gott sie durch eine große Wasserflut strafte, die bis auf eine Familie alle hinwegraffte. Als sich diese Familie wieder vermehrte, schlossen sich einige ihrer Nachkommen zusammen und trotzten Gott, indem sie einen riesigen Turm bauten. Gott durchkreuzte ihr Unterfangen, indem er ihre Sprache verwirrte und sie bis an die entferntesten Enden der Erde zerstreute.

      40. Erkläre, in welcher Beziehung die Legenden über den Ursprung der Religion der Menschheit zur Bibel stehen.

      40 Ist dieses Gesamtbild nur das Ergebnis einer Gedankenübung? Nein. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um das Bild, das die Bibel in den ersten 11 Kapiteln des 1. Buches Mose vermittelt. An dieser Stelle soll nicht näher auf die Glaubwürdigkeit der Bibel eingegangen werden, aber es gilt festzuhalten, daß der Bibelbericht über die frühe Geschichte der Menschheit in den Grundelementen vieler Legenden wiederzuerkennen ist.b Der Bericht enthüllt, daß die Menschen, als sie sich von Mesopotamien aus zerstreuten, ihre Erinnerungen, Erfahrungen und Vorstellungen überallhin mitnahmen, wohin sie zogen. Mit der Zeit wurden diese ausgeschmückt und abgewandelt und durchdrangen die Religion in jedem Teil der Erde. Anders ausgedrückt, ist der Genesisbericht, wenn man zu der zuvor gebrauchten Analogie zurückkehrt, eindeutig der gemeinsame Ursprung der Grundvorstellungen über den Anfang des Menschen und der Anbetung, die in den verschiedenen Religionen der Welt anzutreffen sind. Diesen fügten sie zwar ihre besonderen Lehren und Gebräuche hinzu, aber die Verbindung ist unverwechselbar.

      41. Woran ist beim Studium der folgenden Kapitel dieses Buches zu denken?

      41 Die folgenden Kapitel werden näher darauf eingehen, wie die Religionen im einzelnen begonnen und wie sie sich fortentwickelt haben. Es wird nicht nur aufschlußreich sein, kennenzulernen, worin sich die Religionen voneinander unterscheiden, sondern auch, worin sie sich ähneln. Ferner wird es möglich sein, festzustellen, wie jede Religion in den zeitlichen Rahmen der Menschheitsgeschichte und der Religionsgeschichte hineinpaßt, in welcher Beziehung ihr heiliges Buch oder ihre heiligen Schriften zu denen der anderen stehen, wie ihr Stifter oder Führer von anderen religiösen Vorstellungen beeinflußt war und wie sie den Lebenswandel der Menschen und die Geschichte beeinflußt hat. Die Wahrheit über die Religion und über religiöse Lehren ist klarer zu erkennen, wenn man beim Studium der langen Suche der Menschheit nach Gott diese Punkte im Sinn behält.

      [Fußnoten]

      a Ein ausführlicher Vergleich der verschiedenen Flutsagen der Völker ist in dem Werk Einsichten über die Heilige Schrift (Band 1, Seite 328) zu finden sowie in dem Werk Hilfe zum Verständnis der Bibel (Seite 1365), herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft.

      b Eine eingehende Erörterung dieses Themas findet der Leser in dem Buch Die Bibel — Gottes oder Menschenwort?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1989.

      [Herausgestellter Text auf Seite 23]

      Mit dem Aufkommen wissenschaftlicher Untersuchungen und der Evolutionstheorie wurden viele veranlaßt, die Religion anzuzweifeln

      [Herausgestellter Text auf Seite 34]

      Es scheint, als stammten die grundlegenden Glaubensansichten aus ein und derselben religiösen Gedankenwelt

      [Kasten auf Seite 28]

      Warum ist der Mensch religiös?

      ▪ John B. Noss weist in seinem Buch Man’s Religions auf folgendes hin: „Alle Religionen sagen auf die eine oder andere Weise, daß der Mensch nicht allein steht und auch nicht allein stehen kann. Er ist mit den externen Kräften in der Natur und der Gesellschaft maßgeblich verbunden und sogar abhängig von ihnen. Er ahnt oder weiß, daß er kein unabhängiges Machtzentrum ist, das abseits von der Welt bestehen kann.“

      Ähnliches sagt das Buch Die Religionen der Welt: „Die Erforschung der Religion offenbart als eines ihrer wesentlichen Charakteristika das Verlangen nach Werten und den Glauben, daß das Leben nicht zufällig oder sinnlos sei. Das Suchen nach dem Sinn führt zum Glauben an eine Macht, die mehr vermag als der Mensch, und schließlich an einen universellen Geist, der dem Menschen die höchsten Lebenswerte zu sichern gewillt ist.“

      Die Religion stillt somit ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, so wie Nahrung den Hunger stillt. Es ist bekannt, daß der Hungerschmerz nachläßt, wenn man irgend etwas ißt, ganz gleich, was; langfristig wäre das jedoch der Gesundheit abträglich. Für ein gesundes Leben benötigt man gesunde, nahrhafte Speise. Ebenso ist gesunde geistige Speise erforderlich, um geistig gesund zu bleiben. Deshalb sagt die Bibel, daß „der Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern von jeder Äußerung des Mundes Jehovas lebt der Mensch tatsächlich“ (5. Mose 8:3).

      [Karte auf Seite 39]

      (Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

      Als sich die Menschen von Mesopotamien aus über die Erde zerstreuten, gingen ihre religiösen Vorstellungen und Erinnerungen mit ihnen

      BABYLON

      LYDIEN

      SYRIEN

      ÄGYPTEN

      ASSYRIEN

      MEDIEN

      ELAM

      PERSIEN

      [Bilder auf Seite 21]

      Männer wie Buddha, Konfuzius und Luther haben Religionssysteme verändert, sie haben keine Religion gestiftet

      [Bild auf Seite 25]

      Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud schrieb die Entstehung der Religion der Furcht vor einer Vaterfigur zu

      [Bild auf Seite 27]

      Da man voraussetzte, daß die Erde das Zentrum des Weltalls sei, gelangte man zu falschen Schlußfolgerungen über die Planetenbewegungen

      [Bilder auf Seite 33]

      Buddhismus und Katholizismus — Warum scheinen sie so vieles gemeinsam zu haben?

      Chinesisch-buddhistische Göttin der Barmherzigkeit mit Kind

      Katholische Gottesmutter Maria mit Jesuskind

      Tibetischer Buddhist mit Gebetsrad und Rosenkranz

      Katholikin betet mit Hilfe des Rosenkranzes

      [Bild auf Seite 36]

      Chinesische Legenden erzählen von einem goldenen Zeitalter während der Herrschaft von Huang-Ti (Gelber Kaiser) in mythischen Zeiten

  • Gemeinsamkeiten in der Mythologie
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 3

      Gemeinsamkeiten in der Mythologie

      1—3. (a) Warum sollten wir uns für Mythen interessieren? (b) Was wird im vorliegenden Kapitel umrissen?

      WARUM sich überhaupt mit Mythen befassen? Sind sie nicht lediglich erfundene Erzählungen aus ferner Vergangenheit? Es stimmt zwar, daß einige frei erfunden sind, anderen hingegen liegen Tatsachen zugrunde. Als Beispiel können die Mythen und Legenden angeführt werden, die man überall auf der Erde antrifft und die ihren Ursprung in der weltweiten Flut haben, die tatsächlich stattgefunden hat und von der die Bibel berichtet.

      2 Es ist von Interesse, Mythen eingehender zu betrachten, weil sie die Grundlage für Glaubensansichten und Riten bilden, die noch heute in vielen Religionen zu finden sind. Der Glaube an eine unsterbliche Seele kann beispielsweise bis auf assyrisch-babylonische Mythen zurückverfolgt werden. Von dort drang er in die ägyptische und dann in die griechische und römische Mythologie ein und setzte sich bis in die Christenheit fort, und in der Christenheit ist dieser Glaube zu einer Grundlehre ihrer Theologie geworden. Mythen zeugen davon, daß die Menschen in alter Zeit nach Göttern und nach einem Sinn im Leben suchten. Im vorliegenden Kapitel werden einige grundlegende Gemeinsamkeiten von Mythen der Hauptkulturen der Welt kurz umrissen. Bei einer näheren Betrachtung dieser Mythen stellt man fest, daß folgendes immer wiederkehrt: eine Schöpfung, eine Flut, falsche Götter, Halbgötter, die Unsterblichkeit der Seele und der Sonnenkult. Wie kommt das?

      3 Sehr oft ist ein wahrer Kern vorhanden, eine geschichtliche Person oder ein geschichtliches Ereignis, das später übertrieben oder verzerrt dargestellt wird, so daß eine Legende entsteht. Eines dieser Ereignisse oder eine dieser historischen Tatsachen ist die Schöpfung, von der in der Bibel berichtet wird.a

      Tatsachen und Märchen über die Schöpfung

      4, 5. Welche Glaubensansichten werden in der griechischen Mythologie vertreten?

      4 Schöpfungsmythen gibt es in Hülle und Fülle, aber kein einziger Mythos weist die einfache Logik des biblischen Schöpfungsberichts auf (1. Mose, Kapitel 1, 2). Der Bericht in der griechischen Mythologie zum Beispiel hört sich sehr barbarisch an. Hesiod war der erste Grieche, der Mythen auf systematische Weise niederschrieb. Im achten Jahrhundert v. u. Z. schrieb er die Theogonie. Darin besingt er den Ursprung der Götter und die Weltentstehung. Er beginnt mit Gäa (Erde), die Uranos (Himmel) hervorbringt. Was dann folgt, erklärt der Gelehrte Jasper Griffin in dem Werk The Oxford History of the Classical World:

      5 „Hesiod erzählt die Geschichte — sie war auch Homer nicht unbekannt —, wie die Götter im Himmel der Reihe nach auftraten. Zuerst war Uranos der Höchste, aber er unterdrückte seine Kinder, und Gäa ermutigte seinen Sohn Kronos, seinen Vater zu entmannen. Kronos verschlang dann seine eigenen Kinder, bis ihm seine Frau Rhea anstelle von Zeus einen Stein zu essen gab. Zeus wurde als Kind auf Kreta aufgezogen und zwang dann seinen Vater, seine Geschwister auszuspeien; mit ihnen zusammen und anderen besiegte er Kronos und die Titanen und warf sie in den Tartarus.“

      6. Wo hat nach den Worten Jasper Griffins ein großer Teil der griechischen Mythologie seinen Ursprung?

      6 Wo hat dieser sonderbare Mythos der Griechen seinen eigentlichen Ursprung? Der oben zitierte Gelehrte gibt darauf folgende Antwort: „Er scheint sumerischen Ursprungs zu sein. In den östlichen Geschichten ist von einer Götterfolge und von Entmannung die Rede sowie von dem Verschlingen eines Steins. All das kehrt zwar auf verschiedene Weise wieder, doch es läßt erkennen, daß die Ähnlichkeit mit dem von Hesiod Erzählten kein Zufall ist.“ Wir müssen den Ursprung vieler Mythen, von denen andere Kulturen durchdrungen sind, in Mesopotamien und im Babylon der alten Zeit suchen.

      7. (a) Warum ist es nicht leicht, etwas über alte chinesische Mythen zu erfahren? (b) Wie erklärt ein chinesischer Mythos die Erschaffung der Erde und des Menschen? (Vergleiche 1. Mose 1:27; 2:7.)

      7 Es ist nicht immer leicht, zu erkennen, was alte Mythen der chinesischen Volksreligion beinhalteten, denn viele schriftliche Aufzeichnungen wurden in der Zeit zwischen 213 und 191 v. u. Z. vernichtet.b Einige Mythen sind jedoch erhalten geblieben, beispielsweise die Erzählung über die Entstehung der Erde. Anthony Christie, Professor für orientalische Kunst, schrieb: „Wir erfahren, daß das Chaos wie das Ei einer Henne war. Es existierten weder Himmel noch Erde. Aus dem Ei wurde Pan-ku geboren, während aus den schweren Elementen die Erde und aus den leichten Elementen der Himmel gebildet wurde. Pan-ku wird als Zwerg dargestellt, der in ein Bärenfell oder einen Umhang aus Blättern gehüllt war. Die Entfernung zwischen Erde und Himmel vergrößerte sich 18 000 Jahre lang täglich um etwa 3 Meter, und Pan-ku wuchs genauso schnell, so daß sein Leib den Zwischenraum ausfüllte. Als er starb, verwandelten sich verschiedene Teile seines Körpers in unterschiedliche Elemente der Natur. ... Aus den Flöhen, die er hatte, entstand die Menschheit.“

      8. Wie wird in der Mythologie der Inkas die Entstehung der Sprachen erklärt?

      8 Eine Legende der Inkas aus Südamerika erklärt, wie ein mythischer Schöpfer jeder Nation ihre Sprache gab. „Er gab jeder Nation die Sprache, die sie sprechen sollte. ... Er gab allen, auch den Männern und den Frauen, Existenz und Seele und gebot jeder Nation, in der Erde zu versinken. Deshalb verschwand jede Nation unter der Erde und erschien an der Stelle wieder, die er bestimmte“ (The Fables and Rites of the Yncas von Cristóbal de Molina von Cuzco, zitiert in South American Mythology). Die Sprachverwirrung in Babel, von der die Bibel berichtet, bildet anscheinend den eigentlichen Kern dieser Legende der Inkas (1. Mose 11:1-9). Richten wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Flut, die in der Bibel in 1. Mose 7:17-24 beschrieben wird.

      Die Sintflut — Tatsache oder Mythos?

      9. (a) Was sagt die Bibel über die Zustände, die vor der Sintflut auf der Erde herrschten? (b) Was mußten Noah und seine Familie tun, um sich vor der Sintflut zu retten?

      9 Die Bibel versetzt uns um rund 4 500 Jahre, etwa in das Jahr 2 500 v. u. Z., zurück, wenn sie davon spricht, daß sich rebellische Geistsöhne Gottes materialisierten und ‘sich dann Frauen nahmen’. Die Nachkommen, die aus diesen unnatürlichen Verbindungen hervorgingen, waren die gewalttätigen Nephilim, „die Starken, die vor alters waren, die Männer von Ruhm“. Ihr gesetzloser Lebenswandel beeinflußte die Welt vor der Sintflut so stark, daß Jehova sagte: „ ‚Ich werde die Menschen, die ich erschaffen habe, von der Oberfläche des Erdbodens wegwischen, ... denn ich bedauere wirklich, daß ich sie gemacht habe.‘ Noah aber fand Gunst in den Augen Jehovas.“ In dem Bericht wird dann gezeigt, daß Noah ganz bestimmte und nützliche Schritte unternehmen mußte, um sich, seine Familie und jeweils mehrere Tiere der verschiedenen Tierarten vor der Sintflut zu retten (1. Mose 6:1-8, 13 bis 8:22; 1. Petrus 3:19, 20; 2. Petrus 2:4; Judas 6).

      10. Warum sollte der biblische Flutbericht nicht als Mythos betrachtet werden?

      10 Der Bericht aus 1. Mose über die Geschehnisse vor der Sintflut wird von heutigen Kritikern als Mythos abgestempelt. Treue Männer wie Jesaja, Hesekiel, Jesus Christus sowie die Apostel Petrus und Paulus nahmen jedoch den Geschichtsbericht über Noah als glaubwürdig an. Seine Wahrhaftigkeit wird auch dadurch gestützt, daß sich sein Inhalt weltweit in vielen Mythen widerspiegelt, im alten Gilgamesch-Epos sowie in der Mythologie Chinas und der Mythologie der Azteken, der Inkas und der Mayas. Während wir den Bibelbericht im Sinn behalten, wollen wir nun die assyrisch-babylonische Mythologie und deren Bezugnahme auf eine Flut betrachtenc (Jesaja 54:9; Hesekiel 14:20; Matthäus 24:37; Hebräer 11:7).

      Die Sintflut und der Gottmensch Gilgamesch

      11. Worauf stützt sich das, was man über das Gilgamesch-Epos weiß, hauptsächlich?

      11 Dreht man das Rad der Geschichte um etwa 4 000 Jahre zurück, stößt man auf einen berühmten akkadischen Mythos, das Gilgamesch-Epos. Das, was man darüber weiß, stützt sich hauptsächlich auf einen Keilschrifttext aus der Bibliothek Assurbanipals im alten Ninive.

      12. Wer war Gilgamesch, und warum war er nicht beliebt? (Vergleiche 1. Mose 6:1, 2.)

      12 Das Epos beschreibt die Heldentaten Gilgameschs, der zu zwei Drittel Gott und einem Drittel Mensch oder ein Halbgott gewesen sein soll. In einer Version des Epos heißt es: „Die Mauer des umfriedeten Uruk ließ er bauen, vom heiligen Eanna, dem reinen Tempel, für Anu, den Gott des Firmaments, und für Ischtar, die Göttin der Liebe ..., unsere Herrin der Liebe und des Krieges.“ (Siehe Kasten, Seite 45, wo assyrisch-babylonische Götter und Göttinnen aufgelistet werden.) Gilgamesch hatte aber nicht gerade eine angenehme Art. Die Einwohner Uruks beklagten sich bei den Göttern und sagten: „Nicht läßt Gilgamesch die Jungfrau zum Geliebten, die Tochter des Helden, die Gemahlin des Mannen.“

      13. (a) Was unternahmen die Götter, und was tat Gilgamesch? (b) Wer war Utnapischtim?

      13 Was unternahmen die Götter daraufhin? Die Göttin Aruru erschuf Enkidu, der der irdische Rivale Gilgameschs sein sollte. Sie waren aber keine Feinde, sondern wurden gute Freunde. Nach einiger Zeit starb Enkidu. Der bestürzte Gilgamesch schrie: „Werd ich nicht, sterbe ich, sein wie auch Enkidu? Harm hielt Einzug in meinem Gemüte, Todesfurcht überkam mich, nun lauf ich hin in die Steppe.“ Er wollte das Geheimnis der Unsterblichkeit lüften und begab sich auf die Suche nach Utnapischtim, dem Überlebenden der Flut, dem zusammen mit den Göttern Unsterblichkeit verliehen worden war.

      14. (a) Welchen Auftrag erhielt Utnapischtim? (Vergleiche 1. Mose 6:13-16.) (b) Wie endete die in dem Epos beschriebene Reise Gilgameschs?

      14 Schließlich fand Gilgamesch Utnapischtim, und dieser erzählte ihm die Geschichte von der Sintflut. Auf der elften Tafel des Keilschrifttextes, die als die Sintfluttafel bekannt ist, berichtet Utnapischtim von den Anweisungen, die ihm hinsichtlich der Sintflut gegeben wurden. Sie lauteten: „Reiß nieder das Haus, baue ein Schiff, laß fahren Reichtum, suche Leben! ... Führe allerlei Lebenssamen in das Schiff hinauf!“ Erinnert das nicht an den Bibelbericht über Noah und die Sintflut? Utnapischtim konnte Gilgamesch aber keine Unsterblichkeit geben. Der enttäuschte Gilgamesch kehrte nach Uruk zurück. Der Bericht endet mit seinem Tod. Die traurige Tatsache, daß der Tod und der Eingang ins Jenseits unabwendbar sind, ist der Hauptgedanke, den das Epos vermittelt. Diese Leute des Altertums fanden nicht den Gott der Wahrheit und der Hoffnung. Es ist aber ganz offensichtlich, daß zwischen dem Epos und dem einfachen Bibelbericht über die vorsintflutliche Zeit eine Verbindung besteht. Doch wenden wir uns nun einmal anderen Flutsagen zu.

      Flutsagen in anderen Kulturen

      15. Warum ist die sumerische Flutsage für uns interessant?

      15 In einem Mythos, der noch älter ist als das Gilgamesch-Epos, einem sumerischen Mythos, erscheint „Ziusudra, das Gegenstück des biblischen Noah, der als frommer und gottesfürchtiger König dargestellt wird und ständig nach göttlichen Offenbarungen in Träumen oder durch Zauberformeln Ausschau hält“ (Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament). In einem anderen Werk sagt derselbe Autor über diesen Mythos, er „sei ein Parallelbericht zu biblischem Stoff, der diesem verblüffend ähnlich sei, ähnlicher als andere ausgegrabene sumerische Schriften“. Die babylonische und die assyrische Zivilisation wurden von der sumerischen beeinflußt.

      16. Aus welcher Quelle könnten die chinesischen Flutsagen stammen?

      16 In dem Buch China—A History in Art heißt es, daß Yü einer der Herrscher des Altertums in China war, „der Sieger über die große Flut. Yü leitete die Wasser der Flut in Flüsse und Seen, damit sein Volk das Land wieder neu besiedeln konnte.“ Joseph Campbell, ein Fachmann auf dem Gebiet der Mythologie, schrieb über die chinesische „Periode der großen zehn“: „In diesem wichtigen Zeitalter, das mit einer Sintflut endete, wurden gemäß dem Mythos über die frühe Chouzeit zehn Herrscher eingesetzt. Anscheinend haben wir es also hier mit einer lokalen Umwandlung der alten sumerischen Königslisten zu tun.“ Campbell führt dann noch Weiteres aus chinesischen Legenden an, das „die Annahme, sie stammten aus sumerischer Quelle, zu stützen“ scheint. Das bringt uns wieder zum gemeinsamen Ursprung vieler Mythen zurück. Auch in Amerika, beispielsweise in Mexiko, begegnet man der Geschichte von der Sintflut; diese Erzählungen stammen aus der Aztekenzeit, aus dem 15. und 16. Jahrhundert u. Z.

      17. Welche Flutsagen hatten die Azteken?

      17 In der Mythologie der Azteken wird von vier früheren Weltaltern gesprochen, und während des ersten sei die Erde von Riesen bewohnt gewesen. (Das erinnert an die Nephilim, die Riesen, von denen die Bibel in 1. Mose 6:4 berichtet.) Es ist darin auch eine urzeitliche Flutsage enthalten, in der es heißt, daß „sich die Wasser, die sich oben befanden, und die unteren Wasser vermischten, wodurch der Horizont verwischt und alles zu einem zeitlosen unermeßlichen Ozean wurde“. Der Gott, der den Regen und das Wasser beherrschte, war Tlaloc. Sein Regen war allerdings nicht ohne Mühe zu bekommen, sondern nur „gegen Blut von geopferten Menschen, durch deren fließende Tränen der Regen nachgeahmt wurde; das löste Regen aus“ (Mythology—An Illustrated Encyclopedia). In einer anderen Sage ist zu lesen, daß das vierte Weltalter Chalchiuhtlicue, die Wassergöttin, beherrschte, deren Universum durch eine Flut zerstört wurde. Die Menschen wurden dadurch gerettet, daß sie zu Fischen wurden.

      18. Welche Erzählungen sind in der südamerikanischen Mythologie vorherrschend? (Vergleiche 1. Mose 6:7, 8; 2. Petrus 2:5.)

      18 Auch die Inkas hatten ihre Flutsagen. Der britische Autor Harold Osborne schrieb: „Die Flutgeschichte ist das Merkmal der südamerikanischen Mythologie, dem man am meisten begegnet ... Sowohl unter den Völkern des Hochlandes als auch unter den Stämmen des tropischen Tieflandes sind Flutsagen sehr weit verbreitet. Die Sintflut wird im allgemeinen mit der Schöpfung und mit einer Epiphanie [Erscheinung] des Schöpfergottes in Verbindung gebracht. ... Manchmal wird die Flut als ein göttliches Strafgericht angesehen, bei dem die bestehende Menschheit ausgelöscht wurde, was den Weg für das Erscheinen eines neuen Geschlechts bahnte.“

      19. Beschreibe die Flutlegende der Mayas.

      19 Die Mayas in Mexiko und in Mittelamerika hatten ebenfalls ihre Flutlegende, in der von einer universellen Sintflut oder haiyococab — das bedeutet „Wasser über die Erde“ — die Rede ist. Der katholische Bischof Las Casas schrieb, daß die Indianer Guatemalas die Flut „Butic nannten; dieses Wort hat die Bedeutung von ‚Flut vieler Wasser‘, und damit ist das Endgericht gemeint. Sie glauben, daß eine weitere Butic kommen werde, eine andere Flut und ein anderes Gericht, aber nicht eine Flut von Wasser, sondern von Feuer.“ Es gibt auf der ganzen Welt noch viel mehr Flutsagen, aber die wenigen, die hier angeführt worden sind, bestätigen, daß sie alle denselben Kern haben: die historische Tatsache, von der im 1. Buch Mose berichtet wird.

      Der weitverbreitete Glaube an die Unsterblichkeit der Seele

      20. Was glaubten die Menschen der alten assyrisch-babylonischen Kultur bezüglich eines Weiterlebens nach dem Tode?

      20 Allerdings liegen nicht allen Mythen Tatsachen oder die Bibel zugrunde. Der Mensch hat sich auf der Suche nach Gott an einen Strohhalm geklammert und von der Vorstellung der Unsterblichkeit täuschen lassen. Wie das vorliegende Buch zeigen wird, wurde der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele oder Varianten davon durch die Jahrtausende hindurch überliefert. Die Menschen der alten assyrisch-babylonischen Kultur glaubten an ein Weiterleben nach dem Tode. In der New Larousse Encyclopedia of Mythology heißt es: „Unter der Erde, noch unter dem Abgrund des Apsu [der voll frischen Wassers war und die Erde umschloß], lag die Unterwelt, in die die Menschen nach dem Tod gelangten. Sie war das ‚Land ohne Rückkehr‘ ... In diesen Regionen ewiger Dunkelheit herrschte unter den Seelen der Toten — edimmu —, die ‚wie Vögel in Federkleider gehüllt‘ waren, ein wahlloses Durcheinander.“ Nach dem Mythos wurde die Unterwelt von der Göttin Ereschkigal, der „Herrin der großen Erde“, beherrscht.

      21. Was geschah den Glaubensansichten der Ägypter gemäß mit den Toten?

      21 Auch die Ägypter hatten ihre Vorstellungen von der unsterblichen Seele. Ehe die Seele einen Zufluchtsort des Glücks erreichen konnte, mußte sie gegen Maat — die Göttin der Wahrheit und der Gerechtigkeit, die durch die Feder der Wahrheit sinnbildlich dargestellt wurde — abgewogen werden. Entweder half dabei Anubis, der Gott mit dem Schakalkopf, oder Horos, der Falke. Fand die Seele die Anerkennung des Osiris, dann konnte sie an der Glückseligkeit der Götter teilhaben. (Siehe Abbildung, Seite 50.) Wie so oft finden wir auch hier die babylonische Auffassung von einer unsterblichen Seele wieder, die die Religion, das Leben und die Handlungsweise der Menschen stark beeinflußt hat.

      22. Welche Glaubensansichten hatten die Chinesen über die Toten, und was taten sie, um ihnen zu helfen?

      22 In der alten chinesischen Mythologie begegnet man dem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode und an die Notwendigkeit, die Ahnen zufrieden zu stimmen. Gemäß dem Buch Man’s Religions von John B. Noss „stellte man sich [die Ahnen] als lebendige mächtige Geister vor, die sehr um das Wohlergehen ihrer lebenden Nachkommen besorgt waren, aber auch äußerst zornig werden konnten, wenn ihnen etwas mißfiel“. Den Toten mußte jede mögliche Hilfe geleistet werden. Ihnen wurden unter anderem auch Personen mitgegeben, die sie im Tod begleiten sollten. Deshalb „wurden einige Shang-Könige ... mit hundert bis dreihundert Personen, die geopfert wurden, begraben, und diese sollten in der anderen Welt ihre Diener sein. (Dieser Brauch verbindet das alte China mit Ägypten, Afrika, Japan und anderen Ländern, wo Menschen auf ähnliche Weise geopfert wurden.)“ In diesen Fällen führte der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele dazu, daß Menschenopfer dargebracht wurden. (Vergleiche Prediger 9:5, 10; Jesaja 38:18, 19.)

      23. (a) Wer und was war nach der griechischen Mythologie der Hades? (b) Was ist gemäß der Bibel der Hades?

      23 Die Griechen, in deren Mythologie viele Götter vorkommen, waren ebenfalls um ihre Toten und um deren Schicksal besorgt. Den Mythen gemäß wurde der Sohn des Kronos und Bruder des Gottes Zeus und des Poseidon über das düstere Totenreich gesetzt. Sein Name war Hades, und sein Reich wurde nach ihm benannt. Wie gelangten die Seelen der Toten in den Hades?d

      24. (a) Was geschah gemäß der griechischen Mythologie in der Unterwelt? (b) Was hatte die griechische Mythologie mit dem Gilgamesch-Epos gemeinsam?

      24 Die Autorin Ellen Switzer erklärt: „In der Unterwelt gab es ... furchterregende Wesen. Da war Charon, der die Fähre ruderte, auf der diejenigen fuhren, die kurz zuvor im Land der Lebendigen gestorben waren und in die Unterwelt befördert wurden. Charon verlangte [für die Fahrt über den Styx] Fährgeld, und die Griechen legten ihren Toten, wenn sie sie begruben, oft eine Münze unter die Zunge, um sicherzugehen, daß sie passendes Fahrgeld bei sich hatten. Die Seelen der Toten, die nicht bezahlen konnten, blieben auf der falschen Flußseite in einer Art Niemandsland, und es bestand die Möglichkeit, daß sie zurückkehrten und die Lebenden quälten.“e

      25. Wer wurde von der griechischen Denkweise hinsichtlich der Seele beeinflußt?

      25 Danach wurden die Römer in ihrer Vorstellung von der Seele von der griechischen Mythologie beeinflußt, und griechische Philosophen wie Platon (um 427—347 v. u. Z.) übten auch einen starken Einfluß auf frühe christliche Denker aus, die abtrünnig geworden waren; diese übernahmen die Lehre von der unsterblichen Seele und lehrten sie, obwohl sie nicht biblisch begründet ist.

      26, 27. Welche Vorstellung hatten die Azteken, die Inkas und die Mayas vom Tod?

      26 Auch die Azteken, die Inkas und die Mayas glaubten an die Unsterblichkeit der Seele. Der Tod war für sie wie für andere Kulturen ein Geheimnis. Die von ihnen durchgeführten Zeremonien und ihre Glaubensansichten sollten bewirken, daß sie sich mit dem Tod abfinden konnten. Der Archäologe und Historiker Victor W. von Hagen erklärt in dem Werk The Ancient Sun Kingdoms of the Americas: „Die Toten waren in Wirklichkeit lebendig. Sie waren lediglich in ein anderes Stadium hinübergewechselt; sie waren unsichtbar, ungreifbar, unverwundbar. Die Toten ... waren zu unsichtbaren Gliedern der Sippe geworden.“ (Vergleiche Richter 16:30; Hesekiel 18:4, 20.)

      27 In demselben Werk heißt es, daß „die [Inka-]Indianer an die Unsterblichkeit glaubten; ja, sie glaubten, daß man nie sterben würde, ... der tote Leib würde einfach wieder lebendig und würde die Kräfte unsichtbarer Geistermächte annehmen“. Die Mayas glaubten ebenfalls an eine Seele und an 13 Himmel und 9 Höllen. Überall wollten die Menschen also die Realität des Todes leugnen, und die Lehre von der unsterblichen Seele benutzten sie als Krücke, auf die sie sich stützten (Jesaja 38:18; Apostelgeschichte 3:23).

      28. Was sind einige in Afrika verbreitete Glaubensansichten?

      28 Auch afrikanische Mythen spielen auf das Weiterleben der Seele nach dem Tod an. Viele Afrikaner leben in Angst vor den Seelen der Toten. In der New Larousse Encyclopedia of Mythology heißt es diesbezüglich: „Dieser Glaube steht mit einem anderen in Verbindung: mit dem Glauben an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod. Magier können die Seelen anrufen, damit diese ihnen bei der Anwendung ihrer Kräfte helfen. Die Seelen der Toten siedeln oft in Tierleiber über, oder sie werden vielleicht sogar in Form von Pflanzen wiedergeboren.“ Deshalb tötet ein Zulu gewisse Arten von Schlangen nicht, von denen er glaubt, ihnen würden die Geister von Verwandten innewohnen.

      29. Umreiße kurz die Legenden einiger Stämme aus dem südlichen Afrika. (Vergleiche 1. Mose 2:15-17; 3:1-5.)

      29 Die Massai Südostafrikas glauben an einen Schöpfer namens Ngai, der jedem Massai einen Schutzengel gibt. Beim Tod bringt der Engel den Krieger ins Jenseits. Die zuvor zitierte New Larousse Encyclopedia of Mythology enthält eine Totenlegende der Zulus, die von dem ersten Menschen, Unkulunkulu, berichtet, der gemäß diesem Mythos das höchste Wesen wurde. Er schickte das Chamäleon mit folgender Botschaft zur Menschheit: „Die Menschen sollen nicht sterben.“ Das Chamäleon war langsam und wurde unterwegs aufgehalten. Unkulunkulu sandte also eine Eidechse mit einer anderen Botschaft: „Die Menschen sollen sterben.“ Die Eidechse traf zuerst ein, „und seitdem konnte kein Mensch dem Tod entrinnen“. Dieselbe Legende, nur in abgewandelter Form, ist unter den Betschuana, den Basuto und den Baronga zu finden.

      30. Was werden wir beim Lesen dieses Buches in bezug auf die Seele des weiteren erkennen?

      30 Bei unseren weiteren Nachforschungen hinsichtlich der Suche der Menschheit nach Gott werden wir noch besser erkennen, welch große Bedeutung der Mythos von der Unsterblichkeit der Seele für die Menschheit hatte und noch hat.

      Sonnenkult und Menschenopfer

      31. (a) Was glaubten die Ägypter bezüglich des Sonnengottes Ra? (b) Inwiefern steht das im Gegensatz zu dem, was die Bibel sagt? (Psalm 19:4-6).

      31 Die Mythologie Ägyptens kennt eine Vielzahl von Göttern und Göttinnen. Wie viele Nationen des Altertums fühlten sich die Ägypter bei ihrer Suche nach Gott bewogen, das anzubeten, wovon ihr tägliches Leben abhängig war: die Sonne. Unter dem Namen Ra (Amon-Ra) verehrten sie deshalb den souveränen Herrn des Himmels, der jeden Tag mit einem Boot von Osten nach Westen fuhr. Wenn die Nacht hereinbrach, verfolgte er einen gefährlichen Weg durch die Unterwelt.

      32. Beschreibe eines der Feste zu Ehren des Feuergottes Xiuhtecutli (Huehueteotl).

      32 Ein gemeinsames Merkmal des Sonnenkultes der Azteken, der Inkas und der Mayas waren die Menschenopfer. Die Azteken feierten in einem ständigen Zyklus religiöse Feste, bei denen sie ihren verschiedenen Gottheiten, besonders dem Sonnengott Tezcatlipoca, Menschenopfer darbrachten. Und bei dem Fest, das zu Ehren des Feuergottes Xiuhtecutli (Huehueteotl) gefeiert wurde, tanzte man „mit den Gefangenen ... Dann ... schwenkte man sie über einem lodernden Feuer, warf sie in die Glut, holte die halb Bewußtlosen wieder heraus und schnitt ihnen das Herz aus der Brust, das noch zuckend den Göttern dargebracht wurde“ (Sonnenkönigreiche. Azteken, Maya, Inka).

      33. (a) Was schloß die Religion der Inkas ein? (b) Was sagt die Bibel über Menschenopfer? (Vergleiche 2. Könige 23:5, 11; Jeremia 32:35; Hesekiel 8:16.)

      33 Weiter im Süden hatte die Religion der Inkas der alten Zeit ihre eigenen Opfer und Mythen. In Verbindung mit ihrem Kult wurden dem Sonnengott Inti und dem Schöpfergott Viracocha Kinder und Tiere geopfert.

      Mythische Götter und Göttinnen

      34. Aus wem bestand die bekannteste der ägyptischen Göttertriaden, und welche Rolle spielten die drei Gottheiten?

      34 Die bekannteste der ägyptischen Göttertriaden bestand aus Isis, dem Symbol der göttlichen Mutterschaft, Osiris, ihrem Bruder und Gemahl, und Horos, dem Sohn von beiden; er wurde gewöhnlich als Falke dargestellt. Ägyptische Statuen zeigen Isis manchmal als eine Frau, die ihrem Kind die Brust reicht; das erinnert sehr an die erst 2 000 Jahre später geschaffenen Statuen und Gemälde der Christenheit, auf denen die Jungfrau mit dem Kind zu sehen ist. Im Laufe der Zeit wurde Osiris, der Gemahl der Isis, als der Gott der Toten bekannt, denn er stellte den Seelen der Toten ewiges glückliches Leben im Jenseits in Aussicht.

      35. Wer war Hathor, und welches war das bedeutendste Fest, das ihr zu Ehren jedes Jahr gefeiert wurde?

      35 Hathor war die ägyptische Göttin der Liebe, der Freude, der Musik und des Tanzes. Sie wurde die Königin der Toten und half ihnen mit einer Leiter, in den Himmel zu kommen. Wie aus der New Larousse Encyclopedia of Mythology hervorgeht, wurden ihr zu Ehren große Feste gefeiert, „besonders am Neujahrstag, der auch ihr Geburtstag war. Vor Sonnenaufgang brachten die Priesterinnen das Bild Hathors auf die Terrasse, um es den Strahlen der aufgehenden Sonne auszusetzen. Dann brach Jubel aus, worauf ausgelassen gefeiert wurde, und der Tag endete mit Gesang und Trinkgelagen.“ Hat sich bis heute, Tausende von Jahren später, an den Neujahrsfesten viel geändert?

      36. (a) In welch einer religiösen Umgebung befand sich Israel im 16. Jahrhundert v. u. Z.? (b) Von welcher besonderen Bedeutung waren die zehn Plagen?

      36 Die Ägypter beteten auch eine Vielzahl von Göttern und Göttinnen an, die durch Tiere dargestellt wurden, zum Beispiel Apis, den Stier; Chnum, den Widder; die als Frosch dargestellte Heket; Hathor, die Kuh, und Sobek, das Krokodil (Römer 1:21-23). In einer solchen religiösen Umgebung befanden sich die Israeliten im 16. Jahrhundert v. u. Z. in Sklaverei. Um sie aus Pharaos eisernem Griff zu befreien, mußte Jehova, der Gott Israels, zehn verschiedene Plagen über Ägypten bringen (2. Mose 7:14 bis 12:36). Mit diesen Plagen wurde die Absicht verfolgt, die mythischen Götter Ägyptens zu demütigen. (Siehe Kasten, Seite 62.)

      37. (a) Was für Charakterzüge hatten einige der römischen Gottheiten? (b) Wie beeinflußte der Lebenswandel der Götter ihre Verehrer? (c) Was erlebten Paulus und Barnabas in Lystra?

      37 Wenden wir uns nun den Göttern des alten Griechenland und des alten Rom zu. Rom hat von Griechenland viele Götter übernommen, auch ihre Tugenden und Lasterhaftigkeiten. (Siehe Kasten, Seite 43 und 66.) Venus und Flora beispielsweise waren schamlose Prostituierte, Bacchus war ein ausschweifender Trinker, Merkur ein Straßenräuber und Apollon ein Frauenheld. Man sagt, daß Jupiter, der Göttervater, mit etwa 60 Frauen Ehebruch begangen oder Blutschande getrieben habe. (Das erinnert stark an die rebellischen Engel, die vor der Flut mit Frauen intim wurden.) Da die Anbeter gewisser Götter dazu neigen, diese nachzuahmen, braucht man sich nicht zu wundern, daß römische Kaiser wie Tiberius, Nero und Caligula ein ausschweifendes Leben führten und Ehebrecher, Hurer und Mörder waren.

      38. (a) Beschreibe die Anbetung der Römer. (b) Wie beeinflußte die Religion den römischen Soldaten?

      38 Die Römer nahmen in ihre Religion Götter aus vielen Kulturen auf. Sie beteten beispielsweise mit Verzückung Mithras an, den persischen Gott des Lichts, der ihr Sonnengott wurde (siehe Kasten, Seite 60, 61), und die syrische Göttin Atargatis (Ischtar). Die griechische Jagdgöttin Artemis wandelten sie in Diana um, und sie hatten ihre eigenen Variationen der ägyptischen Isis. Sie übernahmen auch die keltischen, in Dreiergruppen auftretenden Fruchtbarkeitsgöttinnen (Apostelgeschichte 19:23-28).

      39. (a) Wem unterstand die Priesterschaft Roms? (b) Beschreibe eine der Kulthandlungen der römischen Religion.

      39 Zur Pflege ihrer öffentlichen Kulte in den Hunderten von Heiligtümern und Tempeln standen eine Anzahl Priester zur Verfügung; diese unterstanden alle „der Autorität des Pontifex maximus [Oberpriesters], der das Oberhaupt der Staatsreligion war“ (Atlas of the Roman World). In dem angeführten Atlas heißt es, daß zu den Kulthandlungen der Römer das Taurobolium gehörte. Dabei „stand der Verehrer in einer Opfergrube und wurde im Blut des über ihm geopferten Stiers gebadet. Durch diesen Ritus wurde er geläutert und von Schuld gereinigt.“

      Christliche Mythen und Legenden?

      40. Wie denken viele Gelehrte über die Geschehnisse in Verbindung mit dem frühen Christentum?

      40 Moderne Kritiker behaupten, auch der christliche Glaube enthalte Mythen und Legenden. Stimmt das aber? Für viele Gelehrte sind Jesu Geburt durch eine Jungfrau, seine Wunder und seine Auferstehung weiter nichts als Legenden. Einige sagen sogar, er habe niemals gelebt, sondern die Legende über ihn sei aus alten Mythen und aus dem Sonnenkult übernommen worden. Joseph Campbell, Experte auf dem Gebiet der Mythologie, schrieb: „Mehrere Gelehrte haben daher zu verstehen gegeben, daß es einen Johannes [den Täufer] und einen Jesus nie gegeben habe, sondern nur einen Wassergott und einen Sonnengott.“ Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß viele dieser Gelehrten Atheisten sind und demnach jeden Glauben an Gott verwerfen.

      41, 42. Was beweist, daß das, was in Verbindung mit dem frühen Christentum geschah, auf Tatsachen beruht?

      41 Diese Skepsis steht in krassem Widerspruch zu den historischen Tatsachen. Der jüdische Historiker Josephus (ca. 37 bis ca. 100 u. Z.) schrieb zum Beispiel: „Manche Juden waren übrigens der Ansicht, der Untergang der Streitmacht des Herodes sei nur dem Zorne Gottes zuzuschreiben, der für die Tötung Joannes’ des Täufers die gerechte Strafe gefordert habe. Den letzteren nämlich hatte Herodes hinrichten lassen, obwohl er ein edler Mann war“ (Markus 1:14; 6:14-29).

      42 Derselbe Historiker bezeugte, daß die Existenz Jesu geschichtlich verbürgt ist, als er schrieb, daß „ein gewisser Jesus lebte, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf ..., den seine Jünger einen Sohn Gottes nannten“. Josephus schrieb weiter: „Pilatus hatte ihn verurteilt ... Und bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der ‚Messianisten‘, die sich nach ihm nennen, fort“f (Markus 15:1-5, 22-26; Apostelgeschichte 11:26).

      43. Welche Grundlage hatte der Apostel Petrus für seinen Glauben an Christus?

      43 Deshalb konnte der christliche Apostel Petrus als Augenzeuge der Umgestaltung Jesu mit fester Überzeugung sagen: „Nein, nicht dadurch, daß wir kunstvoll ersonnenen unwahren Geschichten [griechisch: mýthos] folgten, machten wir euch mit der Macht und Gegenwart unseres Herrn Jesus Christus bekannt, sondern dadurch, daß wir Augenzeugen seiner herrlichen Größe wurden. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit, als von der großartigen Herrlichkeit Worte wie diese an ihn ergingen: ‚Dieser ist mein Sohn, mein geliebter, an dem ich selbst Wohlgefallen gefunden habe.‘ Ja, diese Worte hörten wir vom Himmel her ergehen, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren“ (2. Petrus 1:16-18).g

      44. Welcher biblische Grundsatz sollte bei einem Konflikt zwischen der Meinung von Menschen und dem Wort Gottes angewendet werden?

      44 Dieser Konflikt zwischen dem Standpunkt menschlicher „Experten“ und dem Wort Gottes erfordert die Anwendung des zuvor erwähnten Grundsatzes, der lautet: „Was denn ist der Fall? Wird vielleicht, wenn einige nicht Glauben bekundeten, ihr Unglaube die Treue Gottes unwirksam machen? Das geschehe nie! Sondern Gott werde als wahrhaftig befunden, wenn auch jeder Mensch als Lügner erfunden werde, so wie geschrieben steht: ‚Damit du dich in deinen Worten als gerecht erweist und den Sieg gewinnst, wenn du gerichtet wirst‘ “ (Römer 3:3, 4).

      Gemeinsamkeiten

      45. Was sind einige Gemeinsamkeiten in der Mythologie der Welt?

      45 Dieser kurze Überblick über einige der Mythen der Welt hat gezeigt, daß sie einiges gemeinsam haben, von dem vieles bis nach Babylon (Mesopotamien), der Wiege der meisten Religionen, zurückverfolgt werden kann. Gemeinsamkeiten sind sowohl in den Berichten über die Schöpfung und über die Zeit, als Halbgötter und Riesen das Land bewohnten und die Bösen durch eine Sintflut vernichtet wurden, festzustellen als auch in den religiösen Grundvorstellungen in Verbindung mit dem Sonnenkult und einer unsterblichen Seele.

      46, 47. (a) Wie lassen sich der gemeinsame Ursprung und die Gemeinsamkeiten vieler Mythen anhand der Bibel erklären? (b) Welche weiteren Aspekte der Kulte in alter Zeit werden behandelt werden?

      46 Geht man vom biblischen Standpunkt aus, so kann man diese Gemeinsamkeiten dadurch erklären, daß die Menschheit sich nach der Sintflut vor über 4 200 Jahren auf die Veranlassung Gottes hin von Babel in Mesopotamien ausbreitete. Sie wurde zwar getrennt, und die Menschen bildeten Familien und Stämme mit verschiedenen Sprachen, aber sie begannen mit denselben Ansichten über die vergangene Geschichte und mit denselben religiösen Vorstellungen (1. Mose 11:1-9). Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Ansichten und Vorstellungen in den einzelnen Kulturen entstellt und ausgeschmückt, wodurch die zahlreichen Sagen, Legenden und Mythen entstanden, die wir heute kennen. Diese Mythen, die von der biblischen Wahrheit weit entfernt sind, haben die Menschheit dem wahren Gott nicht näherbringen können.

      47 Die Menschen haben ihre religiöse Gesinnung aber auch auf andere Weise zum Ausdruck gebracht, und zwar durch den Spiritismus, den Schamanismus, die Magie, die Ahnenverehrung usw. Läßt dies etwas über die Suche der Menschheit nach Gott erkennen?

      [Fußnoten]

      a Eine gründliche Erörterung der Schöpfung ist in dem Buch Das Leben — Wie ist es entstanden? Durch Evolution oder durch Schöpfung?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, zu finden.

      b Die Mythologie Chinas aus neuerer Zeit, die das Ergebnis des buddhistischen, taoistischen und konfuzianistischen Einflusses ist, wird in Kapitel 6 und 7 behandelt.

      c Eine erschöpfendere Erörterung der geschichtlichen Beweise für die Sintflut ist in den Werken Einsichten über die Heilige Schrift, Band 1, Seite 327, 328 und Hilfe zum Verständnis der Bibel, Band 7, Seite 1363, 1364 und Band 8, Seite 1365, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, zu finden.

      d Der Ausdruck „Hades“ kommt in den Christlichen Griechischen Schriften zehnmal vor; er steht nicht für eine mythische Person, sondern für das allgemeine Grab der Menschheit. Er ist die griechische Entsprechung für das hebräische Wort scheʼṓl. (Vergleiche Psalm 16:10; Apostelgeschichte 2:27, The Kingdom Interlinear Translation of the Greek Scriptures; siehe Einsichten über die Heilige Schrift, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, Band 1, Seite 1036, 1037.)

      e Interessanterweise hatte Utnapischtim, der Held des Gilgamesch-Epos, einen Schiffer — Ursanabi —, der Gilgamesch über die Wasser des Todes fuhr, um den Überlebenden der Flut zu treffen.

      f Traditional text of Josephus, footnote, page 48 of the Harvard University Press edition, Volume IX.

      g Weiterer Aufschluß über das Christentum ist in Kapitel 10 zu finden.

      [Kasten auf Seite 43]

      Griechische und römische Gottheiten

      Viele Götter und Göttinnen der griechischen Mythologie nahmen in der römischen Mythologie die gleiche Stellung ein. Nachstehend werden einige aufgeführt.

      Griechisch Römisch Stellung

      Aphrodite Venus Göttin der Liebe

      Apollon Apollo Gott des Lichts, der Heilung und

      der Dichtung

      Ares Mars Kriegsgott

      Artemis Diana Göttin der Jagd und der Geburt

      Asklepios Äskulap Gott der Heilkunde

      Athene Minerva Göttin des Handwerks, des Krieges

      und der Weisheit

      Demeter Ceres Landfruchtgöttin

      Dionysos Bacchus Gott des Weines, der Fruchtbarkeit

      und der Ausgelassenheit

      Eros Cupido Liebesgott

      Gäa Terra Symbol für die Erde sowie Mutter

      und Gattin des Uranos

      Hephäst Vulcanus Schmied der Götter sowie der

      Gott des Feuers und der

      Metallbearbeitung

      Hera Juno Beschützerin der Ehe und der Frauen;

      in der griechischen Mythologie

      Schwester und Gemahlin des Zeus;

      in der römischen Mythologie

      Gattin des Jupiters

      Hermes Merkur Götterbote; Gott des Handels

      und der Wissenschaften

      und Beschützer der Reisenden,

      Diebe und Vagabunden

      Hestia Vesta Göttin des Herdfeuers

      Hypnos Somnus Gott des Schlafes

      Kronos Saturnus In der griechischen Mythologie

      Herrscher der Titanen und Vater

      des Zeus; in der römischen

      Mythologie auch der Gott

      des Ackerbaus

      Pluto oder Pluto Gott der Unterwelt Hades

      Poseidon Neptun Gott des Meeres;

      in der griechischen Mythologie

      auch Gott der Erdbeben

      und der Pferde

      Rhea Ops Gemahlin und Schwester des Kronos

      Uranos Uranus Sohn und Gemahl der Gäa

      und Vater der Titanen

      Zeus Jupiter Herr der Götter

      (Quelle: The World Book Encyclopedia, Ausgabe 1987, Band 13.)

      [Kasten auf Seite 45]

      Assyrisch-babylonische Götter und Göttinnen

      Anu — der höchste Gott, der über die Himmel regierte; der Vater Ischtars.

      Assur — der nationale Kriegsgott der Assyrer; auch der Fruchtbarkeitsgott.

      Ea — der Wassergott. Der Vater Marduks. Er warnte Utnapischtim vor der Sintflut.

      Enlil (Bel) — der Herr der Luft; später wird er in der griechischen Mythologie mit Zeus gleichgesetzt. Er ist der Marduk (Bel) der Babylonier.

      Ischtar — die göttliche Personifizierung des Planeten Venus; zu ihrem Kult gehörte die sakrale Prostitution. In Phönizien wurde sie als Astarte und in Syrien als Atargatis verehrt; sie ist die Aschtoret der Bibel (1. Könige 11:5, 33); in Griechenland hieß sie Aphrodite und in Rom Venus.

      Marduk — der oberste der babylonischen Götter; „er wurde mit den anderen Göttern wesensgleich und übernahm alle ihre verschiedenen Funktionen“. Die Israeliten nannten ihn Merodach.

      Schamasch — der Sonnengott sowie der Gott des Tageslichts und des Rechts. Er war der Vorläufer des griechischen Apollons.

      Sin — der Mondgott, er gehörte zu der Triade, die auch Schamasch (die Sonne) und Ischtar (den Planeten Venus) einschloß.

      Tammuz (Dumusi) — der Gott der Vegetation. Ischtars Geliebter.

      (Quelle: New Larousse Encyclopedia of Mythology)

      [Kasten/Bilder auf Seite 60, 61]

      Götter des römischen Soldaten

      Rom war für sein diszipliniertes Heer bekannt. Der Zusammenhalt des Römischen Reiches hing von der Moral und der Tüchtigkeit der Truppen ab. War die Religion dabei von Bedeutung? Ja, und glücklicherweise hinterließen uns die Römer von ihrer Besetzung deutliche Zeugnisse in Form von Straßen, Festungen, Aquädukten, Stadien und Tempeln. In Northumbria (Nordengland) findet man zum Beispiel den berühmten Hadrianswall, der um das Jahr 122 u. Z. gebaut wurde. Was haben Ausgrabungen über die Aktivitäten römischer Garnisonen und über die Rolle, die die Religion bei ihnen spielte, zutage gefördert?

      Im Housesteads-Museum in der Nähe der ausgegrabenen Reste einer römischen Garnison auf dem Hadrianswall war an einem Exponat zu lesen: „Das religiöse Leben eines römischen Soldaten hatte drei Merkmale. Erstens ... der Kult der vergöttlichten Kaiser und die Verehrung der Schutzgottheiten Roms, zum Beispiel Jupiter, Viktoria und Mars. Auf dem Paradeplatz eines jeden Forts wurde jährlich ein Altar dem Jupiter geweiht. Von allen Soldaten erwartete man, daß sie an den Feierlichkeiten teilnahmen, die anläßlich der Geburtstage, der Regierungsantrittstage und der Siege der vergöttlichten Kaiser stattfanden.“ Dies erinnert stark an das, was bei heutigen Soldaten üblich ist, denn Geistliche, Altäre und Fahnen gehören zum Gottesdienst des Heeres.

      Was war aber das zweite Merkmal des Religionslebens eines römischen Soldaten? Es war die Verehrung der Schutzgottheiten und des Schutzengels der Einheit, der er angehörte, „sowie [die Verehrung] der Götter, die er aus seinem Heimatland mitgebracht hatte“.

      „Dann hatte jeder Soldat noch seinen eigenen Kult. Solange er seinen Verpflichtungen gegenüber den offiziellen Kulten nachkam, konnte er alle Götter verehren, die er wollte.“ Das klang sehr nach Religionsfreiheit, aber „eine Ausnahme bildeten jene Religionen, deren Praktiken als unmenschlich galten — beispielsweise die der Druiden —, und die Religionen, deren Loyalität zum Staat angezweifelt wurde — zum Beispiel das Christentum“. (Vergleiche Lukas 20:21-25; 23:1, 2; Apostelgeschichte 10:1, 2, 22.)

      Interessanterweise wurde 1949 in einem in der Nähe des Hadrianwalls gelegenen Sumpf in Carrawburgh ein Mithrastempel entdeckt. (Siehe Foto.) Archäologen nehmen an, daß er um das Jahr 205 u. Z. gebaut wurde. Es wurden darin ein Bildnis von einem Sonnengott, Altäre und eine lateinische Inschrift gefunden. Auf der Inschrift heißt es auszugsweise: „Dem unbesiegbaren Gott Mithras“.

      [Kasten auf Seite 62]

      Die Götter Ägyptens und die zehn Plagen

      Durch zehn Plagen übte Jehova Gericht an den machtlosen Göttern Ägyptens (2. Mose 7:14 bis 12:32).

      Plage Beschreibung

      1 Der Nil und andere Gewässer verwandelten sich in Blut.

      Das brachte dem Nilgott Hapi Schande.

      2 Frösche.

      Die Froschgöttin Heket konnte die Plage nicht verhindern.

      3 Staub wurde zu Stechmücken.

      Thot, der Herr der Magie, konnte den

      ägyptischen Magiern nicht helfen.

      4 Hundsfliegen kamen über ganz Ägypten,

      aber nicht über das von Israel bewohnte Land

      Gosen. Kein Gott war in der Lage, das zu

      verhindern, auch nicht Ptah, der Schöpfer des

      Universums, oder Thot, der Herr der Magie.

      5 Der Viehbestand wurde von der Pest befallen.

      Weder die heilige Kuhgöttin Hathor noch Apis,

      der Stier, konnte diese Plage verhindern.

      6 Beulen.

      Die Gottheiten Thot, Isis und Ptah, die mit

      der Heilung zu tun hatten, konnten nicht helfen.

      7 Donner und Hagel.

      Dadurch wurde die Hilflosigkeit Reschefs,

      des Gebieters über den Blitz, und Thots,

      des Regen- und Donnergottes, bloßgestellt.

      8 Heuschrecken.

      Diese Plage war ein Schlag gegen den

      Fruchtbarkeitsgott Min, den Beschützer der Ernte.

      9 Drei Tage Finsternis.

      Diese Plage machte Ra, dem bedeutendsten

      Sonnengott, und Horos, einem anderen

      Sonnengott, Schande.

      10 Der Tod der Erstgeburt,

      auch des Erstgeborenen Pharaos, der als die

      Verkörperung eines Gottes galt. Ra (Amon-Ra),

      der Sonnengott, der manchmal als Widder dargestellt

      wurde, konnte diese Plage nicht verhindern.

      [Kasten auf Seite 66]

      Mythologie und Christentum

      Als vor fast 2 000 Jahren das Christentum entstand, wurden schon lange die mythischen Götter des alten Griechenland und des alten Rom verehrt. In Kleinasien benutzte man noch die griechischen Götternamen. Als also die Bewohner von Lystra (in der heutigen Türkei) die christlichen Heiler Paulus und Barnabas als „Götter“ bezeichneten, nannten sie Paulus Hermes und Barnabas Zeus; sie gebrauchten nicht die römischen Namen Merkur und Jupiter. Im Bibelbericht heißt es: „Der Priester des Zeus, dessen Tempel sich vor der Stadt befand, brachte Stiere und Kränze an die Tore und wollte mit den Volksmengen Schlachtopfer darbringen“ (Apostelgeschichte 14:8-18). Es gelang Paulus und Barnabas nur mit Mühe, die Volksmenge davon abzuhalten, ihnen Opfer darzubringen. Das veranschaulicht, wie ernst die Leute damals ihre Mythen nahmen.

      [[Bild auf Seite 42]

      Der Olymp (Griechenland), die angebliche Wohnstätte der Götter

      [Bild auf Seite 47]

      Tontafel in Keilschrift mit einem Auszug des Gilgamesch-Epos

      [Bild auf Seite 50]

      Anubis, der Gott mit dem Schakalkopf, wiegt ein Seelenherz (auf der linken Waagschale) gegen Maat, die durch eine Feder dargestellte Göttin der Wahrheit und der Gerechtigkeit, ab; Thot schreibt das Ergebnis auf eine Tafel, das dann Osiris bekanntgegeben wird

      [Bilder auf Seite 55]

      Chalchiuhtlicue, die aztekische Göttin des frischen Wassers; ein eulenförmiges Gefäß mit einer Aushöhlung, in die wahrscheinlich die geopferten Herzen gelegt wurden

      [Bild auf Seite 57]

      Die ägyptische Triade (von links nach rechts): Horos, Osiris und Isis

      [Bilder auf Seite 58]

      Die Inkas pflegten ihren Sonnenkult in Machu Picchu (Peru)

      Intihuatana, ein „Pfosten“, an dem die Sonne „befestigt“ wurde; vielleicht in Verbindung mit dem Sonnenkult in Machu Picchu gebraucht

      [Bilder auf Seite 63]

      Die Darstellung von Horos, dem Falken; Apis, dem Stier, und der als Frosch dargestellten Heket. Die ägyptischen Gottheiten konnten die von Jehova geschickten Plagen nicht verhindern, auch nicht die Verwandlung des Nils in Blut.

      [Bilder auf Seite 64]

      Griechische Gottheiten (von links nach rechts): Aphrodite; Zeus, der Ganymed, den Mundschenken der Götter, trägt, und Artemis

  • Die Suche nach dem Unbekannten durch Magie und Spiritismus
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 4

      Die Suche nach dem Unbekannten durch Magie und Spiritismus

      1. Was sagte Paulus zu den auf dem Areopag versammelten Athenern, und warum?

      „MÄNNER von Athen! Ich sehe, daß ihr in allen Dingen mehr als andere der Furcht vor Gottheiten hingegeben zu sein scheint“ (Apostelgeschichte 17:22). Diese Worte sprach der christliche Apostel Paulus zu einer auf dem Areopag oder Marshügel versammelten Volksmenge im alten Athen. Paulus machte diese Äußerung, weil er vorher gesehen hatte, daß „die Stadt voll Götzen war“ (Apostelgeschichte 17:16). Was hatte er gesehen?

      2. Was zeigte, daß die Athener die Gottheiten fürchteten?

      2 Zweifellos hatte Paulus in der Weltstadt Athen die verschiedensten griechischen und römischen Götter gesehen, und es war offensichtlich, daß die Athener eifrige Verehrer von Göttern waren. Weil sie befürchteten, aus Versehen eine wichtige oder mächtige Gottheit außer acht zu lassen, die deshalb zornig werden könnte, verehrten sie sogar einen „unbekannten Gott“ (Apostelgeschichte 17:23). Das ist ein deutlicher Beweis für ihre Furcht vor Gottheiten.

      3. Beschränkt sich die Furcht vor Gottheiten auf die Athener?

      3 Die Furcht vor Gottheiten, besonders vor unbekannten, beschränkt sich aber nicht auf die Athener des ersten Jahrhunderts. Sie beherrscht seit Jahrtausenden fast die ganze Menschheit. Vielerorts in der Welt steht sozusagen das ganze Leben der Menschen direkt oder indirekt in enger Beziehung zu Gottheiten oder Geistern. Wie aus dem vorhergehenden Kapitel hervorgeht, wurzeln die Mythologien der alten Ägypter, Griechen, Römer, Chinesen und anderer Völker in Vorstellungen von Göttern und Geistern, die im Leben des einzelnen und des ganzen Volkes eine wichtige Rolle spielten. Im Mittelalter kursierten zahllose Geschichten über Alchimisten, Zauberer und Hexen im ganzen Gebiet der Christenheit. Und heute ist es nicht viel anders.

      Riten und abergläubische Vorstellungen heute

      4. Welches sind einige der volkstümlichen Gebräuche, die offenbar mit Gottheiten oder Geistern zu tun haben?

      4 Vieles, was die Leute tun — bewußt oder unbewußt —, steht mit abergläubischen Gebräuchen oder Vorstellungen in Verbindung, einige davon haben sogar mit Gottheiten oder Geistern zu tun. Wußtest du zum Beispiel, daß die Geburtstagsfeier ihren Ursprung in der Astrologie hat, die dem genauen Geburtsdatum große Bedeutung beimißt? Wie steht es mit dem Geburtstagskuchen? Der Brauch geht offenbar auf die griechische Göttin Artemis zurück, deren Geburtstag mit mondförmigen Honigkuchen, die mit Kerzen besteckt waren, gefeiert wurde. Oder wußtest du, daß das Tragen schwarzer Trauerkleidung bei Begräbnissen ursprünglich ein Trick war, um der Aufmerksamkeit böser Geister zu entgehen, die bei solchen Anlässen angeblich auf der Lauer lagen. Manche schwarze Afrikaner bemalen sich mit weißer Farbe, und Trauernde in anderen Ländern tragen ungewöhnliche Farben, um zu verhindern, daß die Geister sie erkennen.

      5. Welches sind einige der dir bekannten abergläubischen Bräuche?

      5 Die Menschen halten sich aber nicht nur an diese volkstümlichen Bräuche, sondern sie werden auch überall von abergläubischen Vorstellungen und Ängsten beherrscht. In westlichen Ländern denkt man, daß es Unglück bringt, wenn man einen Spiegel zerbricht, einer schwarzen Katze begegnet oder unter einer Leiter durchgeht, und — je nachdem wo man wohnt — gilt der Dienstag oder Freitag, der 13., als ein Unglückstag. In östlichen Ländern, z. B. in Japan, tragen die Leute ihren Kimono, indem sie ihn vorn von links nach rechts übereinanderschlagen, denn umgekehrt macht man es bei Leichen. Ihre Häuser haben auf der Nordostseite niemals Fenster oder Türen, damit die Dämonen, die aus jener Himmelsrichtung kommen sollen, keinen Eingang finden. Auf den Philippinen ziehen die Leute den Toten, bevor sie sie begraben, die Schuhe aus und stellen sie neben die Beine, damit „Sankt Petrus“ sie willkommen heißt. Die älteren Leute sagen den Kindern, daß sie artig sein sollen, denn der Mann im Mond sei „Sankt Michael“, der alles, was sie tun würden, beobachte und aufschreibe.

      6. In welchem Maße beschäftigen sich die Menschen heute mit Spiritismus?

      6 Der Geister- und Götterglaube beschränkt sich jedoch nicht auf anscheinend harmlose Sitten und abergläubische Vorstellungen. Sowohl in „primitiven“ als auch in modernen Gesellschaften wendet man die verschiedensten Mittel an, um die furchteinflößenden Geister zu beherrschen oder zu besänftigen und die wohlwollenden günstig zu stimmen. Natürlich denken wir vielleicht zuerst an die Menschen in den abgelegenen Dschungelgebieten und den Bergen, die Geistermedien, Medizinmänner und Schamanen (Zauberpriester) befragen, wenn sie krank oder in großer Not sind. Aber auch die Bewohner der Groß- und Kleinstädte suchen Astrologen, Chiromanten, Wahrsagerinnen und Wahrsager auf, um sich über ihr Schicksal zu erkundigen oder um Hilfe zu bekommen, wenn sie vor einer wichtigen Entscheidung stehen. Manche tun das mit Begeisterung, obwohl sie der einen oder andern Religionsgemeinschaft angehören. Viele weitere haben Spiritismus, Schwarze Magie und andere okkulte Praktiken zu ihrer Religion gemacht.

      7. Welche Fragen müssen wir erwägen?

      7 Woher stammen alle diese Gebräuche und abergläubischen Vorstellungen? Sind es nur verschiedene Wege, sich Gott zu nahen? Und was am wichtigsten ist: Was bewirken sie für die, die diese Gebräuche praktizieren oder solche Vorstellungen haben? Um die Antwort auf diese Fragen zu erhalten, müssen wir das Rad der Geschichte des Menschen zurückdrehen und Einblick in die Anfänge seines religiösen Verhaltens nehmen.

      Das Streben nach dem Unbekannten

      8. Welche einzigartige Fähigkeit unterscheidet den Menschen vom Tier?

      8 Im Gegensatz zu dem, was die Evolutionisten behaupten, hat der Mensch eine geistig-religiöse Dimension, durch die er sich vom Tier unterscheidet und ihm überlegen ist. Er hat den angeborenen Drang, das Unbekannte zu erforschen. Ihn beschäftigen stets Fragen wie: Was ist der Sinn des Lebens? Was geschieht nach dem Tod? In welcher Beziehung steht der Mensch zur materiellen Welt oder zum ganzen Universum? Ferner strebt er nach etwas, was höher oder mächtiger ist als er selbst, um eine gewisse Herrschaft über seine Umwelt und sein Leben zu erlangen (Psalm 8:3, 4; Prediger 3:11; Apostelgeschichte 17:26-28).

      9. Wie beschreibt ein Gelehrter die „Geistigkeit“ oder „Spiritualität“?

      9 Ivar Lissner drückt dies in seinem Buch Aber Gott war da wie folgt aus: „Mit einer geradezu erstaunlichen Kraft suchte das eigentümliche Wesen, das wir als Mensch bezeichnen ..., zu allen Zeiten über sich hinaus zu wachsen. Nie waren seine Anstrengungen nur auf das gerichtet, was er gerade zum Leben brauchte. Er suchte, er tastete, er griff über sich hinaus, er strebte zum Unerreichbaren. Dieses merkwürdige, dem Menschen innewohnende Streben, das ist seine Geistigkeit.“

      10. Was zeigt, daß der Mensch einen angeborenen Drang hat, Gott zu suchen?

      10 Menschen, die nicht an Gott glauben, sehen die Sache natürlich etwas anders. Sie schreiben diesen menschlichen Zug, wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, psychischen oder anderen Bedürfnissen des Menschen zu. Ist jedoch nicht allgemein zu beobachten, daß die Menschen, wenn sie in Gefahr oder in einer verzweifelten Lage sind, als erstes Gott oder irgendeine höhere Macht um Hilfe anrufen? Das war früher so, und das ist heute noch so. Lissner fährt daher fort: „Jeder, der bei den ältesten Naturvölkern forschte, wird ein Erlebnis nie vergessen: Das Wissen dieser Menschen von Gott, ihre ganz lebendige Erinnerung an ein höchstes Wesen.“

      11. Wozu haben die Bemühungen des Menschen geführt, nach dem Unbekannten zu streben? (Vergleiche Römer 1:19-23.)

      11 Eine ganz andere Sache ist es, in welcher Weise sich der Mensch bemühte, dieses angeborene Verlangen, nach dem Unbekannten zu streben, zu befriedigen. Die nomadisierenden Jäger und Viehzüchter zitterten vor der Kraft der wilden Tiere. Die Bauern mußten sich besonders auf das Wetter und die Jahreszeiten einstellen. Die Dschungelbewohner reagierten ganz anders als die Wüsten- und Bergbewohner. Angesichts der verschiedenen Ängste und Bedürfnisse entwickelten die Menschen eine verwirrende Vielfalt religiöser Gebräuche, durch die sie hofften, bei wohlwollenden Göttern Gehör zu finden und die furchterregenden zu besänftigen.

      12. Welche Gemeinsamkeiten kann man in den religiösen Praktiken der Menschen überall erkennen?

      12 In diesen religiösen Gebräuchen kann man gewisse Gemeinsamkeiten erkennen, obschon die Vielfalt groß ist. Da sind zum Beispiel die Verehrung von heiligen Geistern und übernatürlichen Gewalten und die Furcht vor ihnen, der Gebrauch von Magie, das Prophezeien der Zukunft aus Zeichen und Omen, die Astrologie und verschiedene andere Methoden der Weissagung. Wenn wir diesen Dingen nachgehen, werden wir feststellen, daß sie eine wichtige Rolle bei der Formung des religiösen Denkens der Menschen über die Jahrhunderte hinweg und überall in der Welt gespielt haben und auch heute noch spielen.

      Heilige Geister und übernatürliche Mächte

      13. Was konnten die Menschen in früheren Zeiten vermutlich nicht verstehen?

      13 In alter Zeit scheint das Leben der Menschen voller Geheimnisse gewesen zu sein. Unerklärliches und Verwirrendes ereignete sich um sie her. Zum Beispiel konnten sie nicht verstehen, warum eine kraftstrotzende Person plötzlich krank wurde; warum es nicht regnete, wenn es regnen sollte, oder warum ein kahler, scheinbar abgestorbener Baum zu einer bestimmten Zeit im Jahr wieder grünte und blühte. Selbst der eigene Schatten, Herzschlag und Atem waren Geheimnisse.

      14, 15. Wem schrieb der Mensch, weil ihm die richtige Anleitung und das richtige Verständnis fehlten, das Unerklärliche zu? (Vergleiche 1. Samuel 28:3-7.)

      14 Da der Mensch eine angeborene Neigung zum Spirituellen hat, war es nur natürlich, daß er diese geheimnisvollen Dinge und Geschehnisse einer übernatürlichen Macht zuschrieb. Weil ihm jedoch die richtige Anleitung und das richtige Verständnis fehlte, wurde seine Welt bald mit Seelen, Geistern und Dämonen bevölkert. Die Algonkin zum Beispiel, ein Indianerstamm in Nordamerika, bezeichnen die Seele eines Menschen als otahchuk, was „sein Schatten“ bedeutet, und die Malaien Südostasiens glauben, wenn der Mensch sterbe, entweiche seine Seele durch die Nase. Heute ist der Glaube an Geister und abgeschiedene Seelen — und Bemühungen, mit ihnen in irgendeiner Weise in Verbindung zu treten — fast überall verbreitet.

      15 Auch andere Dinge in der Umwelt des Menschen — Sonne, Mond, Sterne, Meere, Flüsse, Berge — schienen zu leben und sich unmittelbar auf das Tun des Menschen auszuwirken. Da diese Dinge einer eigenen Welt anzugehören schienen, wurden sie als Geister und Gottheiten personifiziert, einige als wohlwollend und hilfswillig, andere als böse und schadenstiftend. Die Verehrung von geschaffenen Dingen begann in fast allen Religionen eine wichtige Rolle zu spielen.

      16. Wie kam die Verehrung von Geistern, Gottheiten und heiligen Gegenständen zum Ausdruck?

      16 Solche Glaubensansichten trifft man in der Religion fast aller alten Kulturen. Die Babylonier und die Ägypter verehrten ihre Sonnengottheit, ihre Mondgottheit und die Götter der Sternbilder. Ebenfalls verehrt wurden von ihnen Haustiere und wildlebende Tiere. Die Inder sind bekannt für ihre Götter, deren Zahl in die Millionen geht. Die Chinesen hatten stets ihre heiligen Berge und ihre Flußgötter und brachten ihre kindliche Pietät durch die Ahnenverehrung zum Ausdruck. Den alten Druiden der Britischen Inseln war die Eiche heilig, und sie verehrten besonders die auf einer Eiche gewachsenen Misteln. Später kam auch das Glaubensgut der Griechen und Römer dazu; und der Glaube an Geister, Gottheiten, Seelen, Dämonen und alle möglichen Gegenstände, die man als heilig betrachtete, wurde fest verwurzelt.

      17. Woran sieht man, daß auch heute noch die geschaffenen Dinge verehrt werden?

      17 Obwohl solche Anschauungen heute oft für Aberglauben gehalten werden, sind sie immer noch in den religiösen Gebräuchen vieler Leute überall vorhanden. Manche glauben immer noch, daß bestimmte Berge heilig sind sowie Flüsse, merkwürdig geformte Felsen, alte Bäume und vieles andere, und sie verehren sie. Sie bauen an diesen Orten Altäre, Heiligtümer und Tempel. Der Ganges ist zum Beispiel den Hindus heilig, und es ist ihr sehnlichster Wunsch, darin zu baden und daß man nach ihrem Tod ihre Asche hineinstreue. Die Buddhisten erachten es als ein außergewöhnliches Erlebnis, im Heiligtum in Bodh Gaya (Indien) ihre Andacht zu verrichten, wo Buddha unter einem Feigenbaum erleuchtet worden sein soll. Katholiken rutschen auf den Knien zur Basilika Unserer Lieben Frau von Guadalupe in Mexiko oder baden in dem „heiligen“ Wasser im Wallfahrtsort Lourdes (Frankreich), um auf übernatürliche Weise geheilt zu werden. Heute ist es immer noch allgemein üblich, nicht den Schöpfer zu verehren, sondern das, was er geschaffen hat. (Römer 1:25.)

      Das Aufkommen der Magie

      18. Wozu hat der Glaube an Geister und Gottheiten geführt?

      18 Nachdem der Glaube, daß die unbelebte Welt voller guter und böser Geister war, Fuß gefaßt hatte, kam der nächste Schritt: Bemühungen, mit den guten Geistern Verbindung aufzunehmen, um sich von ihnen leiten zu lassen und gesegnet zu werden, und die bösen zu besänftigen. Das führte zur Ausübung von Magie, die sozusagen in allen Völkern heimisch war und es auch heute noch ist (1. Mose 41:8; 2. Mose 7:11, 12; 5. Mose 18:9-11, 14; Jesaja 47:12-15; Apostelgeschichte 8:5, 9-13; 13:6-11; 19:18, 19).

      19. (a) Was ist Magie? (b) Warum erscheint die Magie vielen glaubwürdig?

      19 Eigentlich ist die Magie das Bemühen, die Naturkräfte und die übernatürlichen Mächte zu beherrschen oder sie dazu zu bringen, das zu tun, was der Mensch sie zu tun heißt. Da sich die Menschen in den früheren Gesellschaften vieles, was ihnen tagtäglich widerfuhr, nicht erklären konnten, glaubten sie, daß das Wiederholen gewisser Zauberworte oder Zauberformeln oder das Ausführen gewisser Rituale die gewünschte Wirkung hätte. Da gewisse dieser Rituale tatsächlich eine Wirkung zeigten, glaubten die Menschen an diese Art von Magie. Von den Medizinmännern — im wesentlichen Magier oder Zauberer — auf den westlich von Sumatra gelegenen Mentawaiinseln wird zum Beispiel berichtet, daß sie Diarrhöe überraschend gut heilen konnten. Ihre Zauberformel bestand darin, daß die Kranken sich am Rand einer Klippe auf den Bauch legen und von Zeit zu Zeit am Boden lecken mußten. Wieso funktionierte das? Der Boden der Klippe enthielt Kaolin, weißen Ton, der auch heute allgemein in Arzneimitteln gegen Diarrhöe enthalten ist.

      20. Wie kam es, daß die Magie das Leben der Menschen beherrschte?

      20 Ein paar solche Erfolge ließen alle Mißerfolge vergessen und trugen den Magiern einen guten Ruf ein. Bald wurden sie mit ehrfürchtiger Scheu und großem Respekt behandelt — Priester, Häuptlinge, Schamanen, Medizinmänner, Zauberer, Geistermedien. Die Leute gingen mit ihren Problemen zu ihnen, zum Beispiel, wenn sie krank waren oder um einer Krankheit vorzubeugen, wenn sie etwas verloren hatten oder um einen Dieb zu identifizieren, um einen bösen Einfluß abzuwehren oder um Vergeltung an jemand zu üben. Schließlich entwickelten die Menschen bezüglich dieser Dinge sowie besonderer Ereignisse im Leben wie Geburt, Volljährigkeit, Verlobung, Heirat, Tod und Begräbnis eine Menge abergläubischer Praktiken und Rituale. Macht und Geheimnis der Magie beherrschten bald jeden Aspekt des Lebens der Menschen.

      Regentänze und -zauber

      21, 22. Was ist unter „analogischer“ oder „imitativer Magie“ zu verstehen? Veranschauliche es.

      21 Trotz der unglaublichen Vielfalt der Zauberpraktiken unter den Völkern bleibt doch die Grundidee davon erstaunlich ähnlich. Als erstes sei die Auffassung erwähnt, daß Ähnliches Ähnliches erzeuge, daß eine gewünschte Wirkung durch Nachahmung erreicht werde. Das wird gelegentlich analogische oder imitative Magie genannt. Wenn zum Beispiel bei den Omaha, einem Indianerstamm Nordamerikas, Regenmangel herrschte und die Ernte in Gefahr war, tanzten sie um ein großes Gefäß mit Wasser. Dann trank einer von dem Wasser und spritzte es in einem feinen Sprühregen in die Luft, um Nebel oder feinen Regen nachzuahmen. Oder diejenigen, die auf Bärenjagd gingen, wälzten sich wie ein verwundeter Bär am Boden, um sich das Jagdglück zu sichern.

      22 Andere Völker hatten kompliziertere Rituale, zu denen auch eintönige Gesänge und Opfer gehörten. Die Chinesen verfertigten einen großen Drachen aus Papier oder Holz, der den Regengott darstellen sollte, und trugen ihn in einer Prozession umher, oder sie holten das Bild ihrer Gottheit aus dem Tempel und stellten es in die Sonne, damit es die Hitze spüren konnte und vielleicht Regen sandte. Bei einem Ritual der Ngoni Ostafrikas wird unter anderem Bier in einen Topf gegossen, den man in den Boden eines Regentempels eingräbt. Dabei beten sie: „Meister Chauta, du hast dein Herz gegen uns verhärtet. Was willst du, daß wir tun sollen? Wir müssen in der Tat umkommen. Gib deinen Kindern den Regen. Hier ist das Bier, das wir dir geschenkt haben.“ Dann trinken alle von dem übriggebliebenen Bier. Darauf singen und tanzen sie, tauchen Zweige ins Wasser und schwenken sie umher.

      23. Wie haben sich Hexerei und das Verhexen entwickelt? (Vergleiche 3. Mose 19:31; 20:6, 27; 5. Mose 18:10-13.)

      23 Ein anderer Gedanke hinter den magischen Praktiken ist der, daß Dinge einer Person diese noch beeinflussen, wenn sie von ihr getrennt sind. Das führte zu der Praktik, Personen zu behexen, indem auf das, was ihnen gehört hatte, Zauber angewandt wurde. Selbst im England und auf dem europäischen Festland des 16. und 17. Jahrhunderts glaubte man, daß Hexen und Hexenmeister den Menschen durch diese Macht Schaden zufügen könnten. Eine der Methoden bestand darin, von einer Person ein Bild aus Wachs anzufertigen und es dann mit Stecknadeln zu durchlöchern, ihren Namen auf ein Stück Papier zu schreiben und dieses dann zu verbrennen, ein Stück von ihrer Kleidung zu vergraben oder etwas anderes mit ihrem Haar, ihren abgeschnittenen Fingernägeln, ihrem Schweiß oder sogar mit ihren Exkrementen zu machen. Das Ausmaß dieser und anderer Praktiken geht aus der Tatsache hervor, daß das englische Parlament im Jahre 1542, 1563 und 1604 Gesetze erließ, nach denen Hexerei ein Kapitalverbrechen war. Diese Form von Magie ist von den Angehörigen fast jeden Volkes im Laufe der Jahrhunderte in der einen oder anderen Weise geübt worden.

      Die Zukunft in Zeichen und Omen

      24. (a) Was sind Weissagungskünste oder Divination? (b) Wie haben die Babylonier Wahrsagung praktiziert?

      24 Magie wird häufig angewandt, um Geheimnisse aufzudecken oder die Zukunft aus Zeichen und Omen zu deuten. Man bezeichnet das als Weissagungskünste oder Divination, und die Babylonier waren besonders kundig darin. So heißt es in dem Buch Das Weltreich der Magie: „Diese Priester waren Meister der Wahrsagung; sie prophezeiten die Zukunft aus der Leber und anderen Eingeweiden geschlachteter Tiere, aus Feuer und Rauch und aus dem Glanze der Edelsteine und weissagten künftige Ereignisse aus dem Gemurmel der Quellen und aus den Formen der Pflanzen. ... Naturerscheinungen — Regen, Wolken, Wind und Blitz — wurden als Zeichen verstanden, und auch das Knarren von Möbeln und Holztafeln zeigte künftige Ereignisse an. ... Auch Fliegen und andere Insekten sowie Hunde waren die Träger geheimer Botschaften.“

      25. Was haben Hesekiel und Daniel über die Wahrsagungskünste der alten Babylonier gesagt?

      25 In dem Bibelbuch Hesekiel wird berichtet, daß der König von Babylon auf einem seiner Feldzüge „am Kreuzweg“ stehenblieb, „am Eingang der beiden Wege, um zu Wahrsagung Zuflucht zu nehmen. Er hat die Pfeile geschüttelt. Er hat mit Hilfe der Teraphim gefragt; er hat die Leber beschaut“ (Hesekiel 21:21). Am babylonischen Königshof hielten sich auch immer Beschwörer, Zauberer und Magie treibende Priester auf (Daniel 2:1-3, 27, 28).

      26. Welche Weissagungskünste waren bei den Griechen populär?

      26 Andere Völker, östliche und westliche, befaßten sich ebenfalls mit vielerlei Weissagungskünsten. Die Griechen befragten ihre Orakel über große politische Ereignisse sowie über Privates wie Heirat, Reisen und Kinder. Das berühmteste Orakel war das in Delphi. Antworten, angeblich von Apollon, erhielt man von der Priesterin oder Pythia in unverständlichen Lauten, die die Priester in schwerverständliche Verse umsetzten. Ein klassisches Beispiel war die Antwort, die Krösus, der König von Lydien, erhielt. Sie lautete: „Wenn Kroisos den Halys überquert, wird er ein mächtiges Reich zerstören.“ Er zerstörte eines — aber es war sein eigenes. Krösus wurde von Cyrus, dem Perser, geschlagen, als er den Halys überquerte, um in Kappadokien einzufallen.

      27. In welchem Maße haben sich die Römer mit Weissagungskünsten beschäftigt?

      27 Im Westen blühten die Weissagungskünste besonders unter den Römern, die sich bei fast allem, was sie taten, nach Omen oder Vorzeichen richteten. Angehörige aller Gesellschaftsschichten vertrauten der Astrologie, der Zauberei, Talismanen, der Wahrsagerei und vielen anderen Weissagungskünsten. Edward Gibbon, eine Autorität auf dem Gebiet der römischen Geschichte, schreibt: „Die verschiedenen Religionen, welche in der römischen Welt herrschten, wurden sämmtlich von dem Volk als gleich wahr ... angesehen.“ Der berühmte Staatsmann und Redner Cicero verstand sich ausgezeichnet darauf, Omen aus dem Vogelflug zu lesen. Der römische Schriftsteller Petronius schrieb, nach der Menge der Religionen und Kulte in einigen römischen Städten zu urteilen, müßte es in ihnen mehr Götter als Einwohner geben.

      28. Wie praktizierten die alten Chinesen Wahrsagung?

      28 In China hat man über 100 000 Orakelknochen und -muscheln aus dem 2. Jahrtausend v. u. Z. (Shangdynastie) ausgegraben. Sie wurden von den Shangpriestern gebraucht, um den göttlichen Willen in bezug auf alles, angefangen vom Wetter bis zu den Truppenbewegungen, zu erforschen. Die Priester ritzten Fragen in einer alten Schrift in diese Knochen ein. Darauf erhitzten sie sie und untersuchten dann die Sprünge, mit denen die Knochen überzogen worden waren, und ritzten die Antworten auf dieselben Knochen ein. Einige Gelehrte glauben, daß sich aus diesen alten Schriftzeichen die chinesische Schrift entwickelt habe.

      29. Welches Wahrsagungsprinzip wird im I-ching dargelegt?

      29 Das bekannteste alte chinesische Orakelbuch heißt I-ching (Das Buch der Wandlungen). Es soll von den ersten beiden Chouherrschern Wen Wang und Chou Kung im 12. Jahrhundert v. u. Z. verfaßt worden sein. Das Buch enthält genaue Erklärungen über die Wechselwirkung der beiden gegensätzlichen Kräfte Yin und Yang (dunkel — hell; negativ — positiv; weiblich — männlich; Mond — Sonne; Erde — Himmel usw.), und viele Chinesen sind immer noch davon überzeugt, daß dies die beherrschenden Prinzipien hinter allen Angelegenheiten des Lebens sind. Es wird das Bild vermittelt, daß sich alles ewig verändere, daß nichts von Dauer sei. Um bei einem Unternehmen erfolgreich sein zu können, müsse man sich all der Wandlungen des Augenblicks bewußt sein und im Einklang damit handeln. Die Leute stellen daher Fragen oder werfen das Los und wenden sich dann an den I-ching, um eine Antwort zu erhalten. Der I-ching ist in China jahrhundertelang die Grundlage für alle möglichen Weissagungskünste wie Geomantik gewesen.

      Von der Astronomie zur Astrologie

      30. Beschreibe die Entwicklung der alten Astronomie.

      30 Die geordnete und regelmäßige Bewegung von Sonne, Mond und Sternen hat die Menschen schon immer fasziniert. In Mesopotamien hat man Sternkataloge aus der Zeit von 1800 v. u. Z. gefunden. Aufgrund solcher Informationen konnten die Babylonier astronomische Ereignisse wie Mondfinsternisse, den Aufgang und Untergang der Sternbilder sowie bestimmte Planetenbewegungen voraussagen. Die Ägypter, Assyrer, Chinesen, Inder, Griechen und Römer sowie andere alte Völker beobachteten ebenfalls den Himmel und führten genaue Aufzeichnungen über ihre Beobachtungen. Diese Aufzeichnungen dienten ihnen dazu, ihre Kalender zu erstellen und ihre jährlich wiederkehrenden Arbeiten zu ordnen.

      31. Wie entwickelte sich die Astrologie aus der Astronomie?

      31 Bei ihren astronomischen Beobachtungen fiel ihnen auf, daß gewisse Ereignisse auf der Erde anscheinend mit gewissen Ereignissen am Himmel zusammentrafen. Zum Beispiel ändern sich die Jahreszeiten entsprechend der Bewegung der Sonne, bei den Gezeiten ist Ebbe und Flut phasengleich mit dem Mond, die alljährliche Nilüberschwemmung folgt immer auf das Sichtbarwerden des Sirius, des hellsten Sterns. Man kam natürlich zu dem Schluß, daß die Himmelskörper eine bedeutende Rolle beim Hervorrufen dieser und anderer Ereignisse auf der Erde spielen. Die Ägypter nannten sogar den Sirius den Nilbringer. Von der Auffassung, daß die Sterne Ereignisse auf der Erde beeinflussen, war es nicht mehr weit zu dem Gedanken, daß man aus den Himmelskörpern die Zukunft lesen könne. So entstand aus der Astronomie die Astrologie. Bald hielten sich Könige und Kaiser Hofastrologen, die die Sterne über wichtige Angelegenheiten des Staates befragen mußten. Auch das gewöhnliche Volk schaute nach den Sternen, um sein Schicksal zu erkunden.

      32. Wie praktizierten die Babylonier Astrologie?

      32 Hier kommen wir wieder auf die Babylonier zurück. Sie sahen in den Sternen den himmlischen Aufenthaltsort der Götter, so wie sie die Tempel als deren irdischen Aufenthaltsort betrachteten. Das führte dazu, daß man die Sterne zu Sternbildern gruppierte und daß man glaubte, Himmelserscheinungen wie Finsternisse oder das Auftauchen eines gewissen hellen Sterns oder Kometen bedeute Unglück und Krieg für die Erde. In Mesopotamien hat man unter den ausgegrabenen Artefakten Hunderte von Astrologenberichten für Könige gefunden. In einigen dieser Berichte hieß es beispielsweise, eine bevorstehende Mondfinsternis zeige an, daß ein gewisser Feind geschlagen werde, oder die Erscheinung eines bestimmten Planeten in einem gewissen Sternbild bedeute für die Erde „großen Zorn“.

      33. Was sagte Jesaja über die babylonischen „Sternebeschauer“?

      33 Wie sehr sich die Babylonier auf diese Form der Wahrsagung verließen, geht aus den spöttischen Worten hervor, die der Prophet Jesaja an sie richtete, als er die Vernichtung Babylons voraussagte: „Stell dich nun hin mit deinen Bannsprüchen und mit der Menge deiner Zaubereien, mit denen du dich seit deiner Jugend abgemüht hast ... Laß sie nun aufstehen und dich retten, die Anbeter der Himmel, die Sternebeschauer, diejenigen, die an den Neumonden Kenntnis vermitteln von den Dingen, die über dich kommen werden“ (Jesaja 47:​12, 13).

      34. Wer waren die „Magier“, die zum Jesuskind kamen?

      34 Von Babylon aus verbreitete sich die Astrologie nach Ägypten, Assyrien, Persien, Griechenland, Rom und Arabien. Auch die Inder und die Chinesen hatten ihre kunstvollen Systeme der Sterndeutung. Die „Magier“, die nach dem Bericht des Evangelisten Matthäus zum Jesuskind kamen, waren „Astrologen aus östlichen Gegenden“ (Matthäus 2:1, 2). Einige Gelehrte sind der Ansicht, dies seien vielleicht Astrologen der chaldäischen und medo-persischen Schule für Astrologie aus Parthien gewesen, einer persischen Provinz, aus der später das unabhängige Partherreich hervorging.

      35. Was kam auf dem Gebiet der Astrologie zur Zeit der Griechen auf?

      35 Es waren indessen die Griechen, die der Astrologie die Form gaben, in der sie noch heute praktiziert wird. Im 2. Jahrhundert u. Z. trug Claudius Ptolemäus, ein griechischer Astronom, der in Alexandria (Ägypten) wirkte, alle vorhandenen astrologischen Kenntnisse zusammen und veröffentlichte sie in vier Büchern, dem Tetrabiblos, und dieser hat der Astrologie bis jetzt als Regelwerk gedient. Daraus entwickelte sich die sogenannte Geburtsastrologie, ein Verfahren, die Zukunft eines Menschen vorherzusagen, indem sein Kosmogramm oder Horoskop aufgestellt wird — eine Aufzeichnung der Stern- und Planetenkonstellation zum Zeitpunkt seiner Geburt.

      36. Was beweist, daß die Astrologie einen guten Ruf erlangte?

      36 Im 14. und 15. Jahrhundert war die Astrologie auch im Abendland weit verbreitet. Auf den Universitäten, die ausreichende Kenntnisse in Sprachen und Mathematik verlangten, gab es Lehrstühle dafür. Astrologen galten als Gelehrte. Die Werke Shakespeares sind voll von Anspielungen auf astrologische Einflüsse auf die Angelegenheiten der Menschen. Jeder König und viele Adelige hielten sich ihren Astrologen, damit er ihnen jederzeit zur Verfügung stand. Kaum etwas wurde begonnen — sei es ein Kriegszug, ein Hausbau, ein Geschäft oder eine Reise —, ohne erst die Sterne zu befragen. Die Astrologie hatte einen guten Ruf erlangt.

      37. Wie hat der wissenschaftliche Fortschritt die Astrologie beeinflußt?

      37 Obschon durch die Arbeit von Astronomen wie Kopernikus und Galilei sowie durch den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung die Astrologie immer mehr als Pseudowissenschaft entlarvt wurde, hat sie bis auf den heutigen Tag überlebt. (Siehe Kasten, Seite 85.) Diese geheimnisvolle Kunst, aufgebracht von den Babyloniern, entwickelt von den Griechen und weiter ausgebaut von den Arabern, übt immer noch einen großen Einfluß auf Staatsoberhäupter sowie auf den Mann auf der Straße in Industrienationen und in abgelegenen Dörfern von Entwicklungsländern aus.

      Geschick in Gesicht und Hand geschrieben

      38. Was führte zu weiteren Weissagungskünsten in Verbindung mit der menschlichen Hand und dem menschlichen Gesicht?

      38 Wem das Erforschen der Zukunft durch das Beobachten von Zeichen und Omen am Himmel zu weitab erschien, der konnte sich anderen, unmittelbareren und leichter erreichbaren Möglichkeiten zuwenden, wenn er sich in Weissagungskünsten versuchen wollte. Der Sohar oder Sefer ha-sohar (hebräisch: Buch des Glanzes), ein Text der jüdischen Geheimlehre aus dem 13. Jahrhundert, erklärt: „Am Firmament, das das Universum umhüllt, sehen wir viele von den Sternen und Planeten gebildete Figuren. Sie offenbaren uns verborgene Dinge und tiefe Mysterien. Ebenso gibt es auf der Haut, die den menschlichen Körper umhüllt, Formen und Zeichen; sie sind die Sterne unseres Leibes.“ Diese Philosophie führte zu weiteren Weissagungskünsten, indem Gesichtszüge und Handlinien auf prophetische Zeichen untersucht wurden. In östlichen und in westlichen Ländern sind diese Praktiken immer noch weit verbreitet. Es ist jedoch klar, daß sie in der Astrologie und der Magie wurzeln.

      39. Was versteht man unter Physiognomik, und wie wurde sie angewandt?

      39 Die Physiognomik liest das Schicksal eines Menschen aus dessen Gesicht, z. B. aus der Form der Augen, der Nase, der Zähne und der Ohren. 1531 veröffentlichte Johannes de Indagine (oder Jäger) in Straßburg ein Buch über dieses Thema. Es enthielt Bilder von Gesichtern mit verschieden geformten Augen, Nasen, Ohren usw. zusammen mit seiner Deutung. Interessanterweise zitierte er die Worte Jesu Christi aus Matthäus 6:22: „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“ als Grundlage für seine Behauptung, daß große, glänzende und runde Augen auf Rechtschaffenheit und Gesundheit hindeuten würden, während eingefallene und kleine Augen ein Zeichen von Neid, Bosheit und Mißtrauen seien. 1533 veröffentlichte jedoch Bartolommeo Coclè (oder della Rocca) sein Kompendium der Physiognomik, in dem er behauptete, daß große, runde Augen auf eine wankelmütige und faule Person schließen ließen.

      40. (a) Was ist Chiromantie? (b) Wie versuchte man, die Chiromantie mit der Bibel zu stützen?

      40 Gemäß den Wahrsagern spiegelt außer dem Kopf die Hand die Kräfte von oben besser wider als die übrigen Körperteile. Das Lesen der Handlinien, um den Charakter und das Schicksal einer Person zu erforschen, ist eine weitere volkstümliche Form der Wahrsagung — die Chiromantie, gewöhnlich Handlesekunst genannt. Die Chiromanten des Mittelalters durchsuchten die Bibel nach Texten, die ihre Kunst bestätigen konnten. Sie führten Texte an, wie: „Aller Menschen Hand hält er verschlossen, daß die Leute lernen, was er tun kann“ und: „Langes Leben ist zu ihrer rechten Hand; zu ihrer Linken ist Reichtum und Ehre“ (Hiob 37:7; Sprüche 3:16, Lu, 1914). Auch die sogenannten „Berge“ auf der Hand waren für den Chiromanten wichtig, denn man nahm an, daß sie die Planeten darstellten und daher etwas über den Charakter und das Schicksal des Menschen verrieten.

      41. Wie praktizieren die Menschen im Orient Wahrsagung?

      41 Wahrsagen durch das Erforschen des Gesichts und der Hand ist im Orient außerordentlich populär. Außer den Physiognomen und Chiromanten, die ihre Dienste anbieten, gibt es zahllose Amateure, weil überall Bücher und andere Veröffentlichungen jeglichen Niveaus erhältlich sind. Die Leute vergnügen sich oft mit Handlesen, viele nehmen die Sache jedoch ernst. Im allgemeinen begnügt man sich selten mit nur einer Methode der Weissagung. Bei großen Problemen oder wichtigen Entscheidungen suchen Buddhisten, Taoisten, Schintoisten und andere ihren Tempel auf, um die Götter zu befragen, darauf gehen sie zu einem Astrologen, um zu erfahren, was die Sterne sagen, dann zu einem Wahrsager, der aus der Hand liest und ihr Gesicht beurteilt, und nach alldem gehen sie nach Hause und befragen ihre verstorbenen Ahnen. Sie hoffen, irgendwo eine Antwort zu erhalten, die ihnen passend erscheint.

      Nur harmloser Spaß?

      42. Wozu hat das natürliche Verlangen der Menschen, die Zukunft zu kennen, geführt?

      42 Es ist nur natürlich, daß jeder gern wissen möchte, was die Zukunft bringt. Jedermann hat den Wunsch, ein glückliches Geschick zu haben und Unglück abzuwehren. Deshalb waren die Menschen durch die Jahrhunderte hindurch bestrebt, von Geistern und Gottheiten geleitet zu werden. Dabei wurden sie in Spiritismus, Magie, Astrologie und andere abergläubische Praktiken verstrickt. Früher trugen die Leute Amulette und Talismane, die sie schützen sollten, und sie wandten sich an Medizinmänner und Schamanen, um sich von ihnen heilen zu lassen. Heute trägt man Christophorus-Medaillen oder „Glücksbringer“ und hat seine Séancen, Alphabettafeln, Kristallkugeln, Horoskope und Tarockkarten. In bezug auf Spiritismus und Aberglauben hat sich die Menschheit offenbar wenig verändert.

      43. (a) Wie denken viele über Spiritismus, Magie und Weissagungskünste? (b) Welche Fragen über abergläubische Praktiken erfordern eine Antwort?

      43 Viele Menschen sehen ein, daß das alles purer Aberglaube ist und daß es dafür keine echte Grundlage gibt. Und sie mögen erklären, daß sie das nur aus Spaß an der Sache tun. Andere behaupten, daß Magie und Weissagungskünste nützlich seien, weil dadurch Leute, die sich sonst durch die Probleme des Lebens einschüchtern ließen, Selbstvertrauen erlangten. Ist alles jedoch nur harmloser Spaß oder eine psychologische Spritze? Wo haben die spiritistischen und magischen Praktiken, von denen in diesem Kapitel die Rede ist, und auch die Praktiken, die unerwähnt geblieben sind, ihre Wurzel?

      44. Worauf beruhen alle diese Praktiken?

      44 Bei der Betrachtung der verschiedenen Aspekte des Spiritismus, der Magie und der Wahrsagerei fällt auf, daß sie eng mit dem Seelenglauben und dem Geisterglauben — dem Glauben an gute und böse Geister — verbunden sind. Somit beruht der Glaube an Geister, Magie und Weissagungskünste im Grunde auf einer Form des Polytheismus, der wiederum in der Lehre von der Unsterblichkeit der Menschenseele wurzelt. Ist das eine gute Grundlage, auf der man seine Religion aufbauen kann? Ist eine Religion, die diese Grundlage hat, annehmbar?

      45. Vor welcher Frage standen die Christen des ersten Jahrhunderts in Verbindung mit Speisen, die Götzen geopfert wurden?

      45 Die Christen des ersten Jahrhunderts wurden mit denselben Fragen konfrontiert. Sie lebten inmitten von Griechen und Römern mit ihren vielen Göttern und Gottheiten sowie ihren abergläubischen Ritualen. Ein Ritual bestand darin, den Götzen Speisen zu opfern und diese anschließend zu essen. Durfte jemand, der den wahren Gott liebte und ihm gefallen wollte, sich an solchen Ritualen beteiligen? Man beachte, wie der Apostel Paulus diese Frage beantwortet.

      46. Was glaubten Paulus und die ersten Christen in bezug auf Gott?

      46 „Was nun das Essen von Speisen betrifft, die Götzen dargebracht worden sind, so wissen wir, daß ein Götze nichts ist in der Welt und daß es keinen GOTT gibt außer e i n e m. Denn wenn es auch solche gibt, die ‚Götter‘ genannt werden, ob im Himmel oder auf der Erde, wie es ja viele ‚Götter‘ und viele ‚Herren‘ gibt, so gibt es für uns tatsächlich e i n e n GOTT, den Vater, aus dem alle Dinge sind und wir für ihn“ (1. Korinther 8:4-6). Für Paulus und die anderen Christen des ersten Jahrhunderts bestand die wahre Religion nicht in der Verehrung vieler Götter, nicht im Polytheismus, sondern in der Verehrung nur ‘eines Gottes, des Vaters’, dessen Name die Bibel offenbart, wenn sie sagt: „Damit man erkenne, daß du, dessen Name Jehova ist, du allein, der Höchste bist über die ganze Erde“ (Psalm 83:18).

      47. Wie zeigte Paulus, wer die ‘Götter und Herren im Himmel und auf der Erde’ in Wirklichkeit sind?

      47 Es gilt jedoch zu beachten, daß Paulus, obschon er sagte, ‘ein Götze sei nichts’, nicht sagte, daß es die „Götter“ und „Herren“, an die sich die Menschen mit ihrer Magie, ihren Weissagungskünsten und Opfern wenden, nicht gebe. Was ist denn der springende Punkt? Paulus machte dies in dem gleichen Brief klar, als er schrieb: „Sondern ich sage, daß die Dinge, die die Nationen opfern, sie Dämonen opfern und nicht Gott“ (1. Korinther 10:20). Jawohl, durch ihre Götter und ihre Herren beteten die Nationen in Wirklichkeit die Dämonen an — Engel oder Geistgeschöpfe, die sich gegen den wahren Gott aufgelehnt und sich ihrem Anführer, Satan, dem Teufel, angeschlossen hatten (2. Petrus 2:4; Judas 6; Offenbarung 12:7-9).

      48. Welche Gefahr ist noch heute mit dem Okkulten verbunden, und wie kann man sie meiden?

      48 Häufig werden die „primitiven“ Völker bemitleidet, die von Aberglauben und Furcht versklavt waren. Man sagt, ihre blutigen Opfer und barbarischen Riten seien abstoßend gewesen. Und das stimmt. Aber noch heute hört man von Wodu, Satanskulten, ja sogar von Menschenopfern. Obschon das Extremfälle sein mögen, zeigt es doch, daß das Interesse am Okkulten immer noch recht lebendig ist. Es mag als harmloser Spaß beginnen, oder Neugierde mag die Triebfeder sein; oft endet es aber tragisch und mit dem Tod. Wie weise ist es, die Warnung der Bibel zu beherzigen: „Bleibt besonnen, seid wachsam. Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht jemand zu verschlingen.“ (1. Petrus 5:8; Jesaja 8:19, 20)!

      49. Welche Themen werden in den nachfolgenden Kapiteln dieses Buches behandelt werden?

      49 Nach der Besprechung der Frage, wie die Religion ihren Anfang nahm, und der Behandlung der verschiedenen alten Mythologien und unterschiedlichen Formen von Spiritismus, Magie und Aberglauben soll nun die Aufmerksamkeit den Weltreligionen gelten — dem Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus, Schintoismus, Judaismus, den Kirchen der Christenheit und dem Islam. Was ist ihr Ursprung? Was lehren sie? Welchen Einfluß haben sie auf ihre Gläubigen? Diese und weitere Fragen werden in den folgenden Kapiteln besprochen.

      [Herausgestellter Text auf Seite 76]

      Eine gewisse Magie war anscheinend erfolgreich

      [Kasten auf Seite 85]

      Ist die Astrologie wissenschaftlich?

      Die Astrologen behaupten, daß Sonne, Mond, Sterne und Planeten die Angelegenheiten auf der Erde beeinflussen könnten und daß die Stellung dieser Himmelskörper zum Zeitpunkt der Geburt eines Menschen für sein Schicksal entscheidend sei. Wissenschaftliche Entdeckungen haben indessen die Astrologie in schwere Bedrängnis gebracht:

      ▪ Die Arbeiten von Astronomen wie Kopernikus, Galilei und Kepler haben deutlich gezeigt, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Ferner weiß man heute, daß die Sterne, die scheinbar zu einem Sternbild gehören, oft nicht in einer Gruppe vereinigt sind. Einige von ihnen sind vielleicht tief im Weltall, andere dagegen relativ nahe. Somit ist die den verschiedenen Tierkreiszeichen zugeschriebene Wirkung ein reines Phantasieprodukt.

      ▪ Die alten Astrologen kannten die Planeten Uranus, Neptun und Pluto nicht, weil man sie erst nach der Erfindung des Fernrohrs entdeckte. Wie wurde denn ihr „Einfluß“ bei den astrologischen Tafeln, die Jahrhunderte früher angefertigt wurden, mit einberechnet? Warum sollte ferner der „Einfluß“ des einen Planeten „gut“ sein und der eines anderen „schlecht“, da man heute doch weiß, daß alle aus leblosem Gestein oder aus Gasen bestehen, die durch den Weltraum fliegen?

      ▪ Gemäß der Vererbungslehre werden unsere Persönlichkeitsmerkmale nicht bei der Geburt bestimmt, sondern bei der Empfängnis, bei der sich eine der Millionen Samenzellen des Vaters mit einer Eizelle der Mutter vereinigt. Doch der Astrologe richtet das Horoskop nach dem Zeitpunkt der Geburt eines Menschen aus. Dieser Unterschied von etwa neun Monaten würde diesen astrologisch gesehen zu einer völlig anderen Persönlichkeit machen.

      ▪ Die Bewegung der Sonne durch die Sternbilder, wie sie von dem irdischen Beobachter gesehen wird, „hinkt“ etwa um einen Monat hinter dem her, was vor 2 000 Jahren zu sehen war, als die astrologischen Karten und Tabellen erstellt wurden. So würden die Astrologen jemanden, der Ende Juni oder Anfang Juli geboren wurde, als Krebs einordnen — sehr sensibel, launisch und reserviert —, weil nach ihren Tafeln die Sonne zu dieser Zeit im Krebs steht. Doch in Wirklichkeit steht die Sonne in der Konstellation Zwillinge, so daß der Betreffende eigentlich „kontaktfreudig, geistreich und gesprächig“ sein müßte.

      Das zeigt deutlich, daß die Astrologie weder eine vernünftige noch eine wissenschaftliche Basis hat.

      [Bilder auf Seite 71]

      Das Zerbrechen eines Spiegels, schwarze Katzen und gewisse Zahlen sind mit abergläubischen Vorstellungen verbunden. Das chinesische Schriftzeichen für „vier“ klingt, wenn es auf chinesisch oder japanisch ausgesprochen wird, wie „Tod“.

      [Bilder auf Seite 74]

      Links: Basilika Unserer Lieben Frau von Guadalupe (Mexiko), wo Katholiken um Heilung beten

      Rechts: Stonehenge (England), wo die alten Druiden den Sonnenkult gepflegt haben sollen

      [Bild auf Seite 80]

      Manche Menschen befragen Schamanen und Medizinmänner

      [Bilder auf Seite 81]

      Andere haben ihre Séancen, Alphabettafeln, Kristallkugeln, Tarockkarten oder gehen zu Wahrsagern

      [Bilder auf Seite 82]

      In östlichen Ländern haben die Weissagungskünste, der Gebrauch von Zeichnungen auf dem Rückenschild von Schildkröten und das Yin- und Yang-Prinzip eine lange Geschichte

      [Bilder auf Seite 87]

      Viele Leute lassen sich das Horoskop stellen, weil sie glauben, daß sich die Stellung der Sonne, des Mondes, der Planeten und der Sterne zur Zeit ihrer Geburt auf ihr Schicksal auswirkt

      [Bilder auf Seite 90]

      Aus einem Behältnis wird ein Stab geschüttelt, und der Ratsuchende erhält eine Botschaft und eine Auslegung

  • Hinduismus — Die Suche nach Befreiung
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 5

      Hinduismus — Die Suche nach Befreiung

      „In der hinduistischen Gesellschaft ist es ein religiöser Brauch, daß man jeden Morgen als erstes in einem Fluß in der Nähe der Wohnung badet oder auch zu Hause, wenn es in der näheren Umgebung keinen Fluß oder Bach gibt. Die Menschen glauben, daß sie dadurch heilig werden. Dann gehen sie, noch ohne gefrühstückt zu haben, in den Tempel an ihrem Wohnort und opfern dem Lokalgott Blumen oder Speisen. Einige waschen den Götzen und verschönern ihn mit rotem und gelbem Puder.

      Sozusagen in jedem Privathaus gibt es eine Ecke oder gar ein Zimmer für die Verehrung des Lieblingsgottes der Familie. An einigen Orten ist Ganescha, der elefantenköpfige Gott, besonders beliebt. Die Leute beten zu ihm um Erfolg, weil er als Beseitiger aller Hindernisse gilt. In anderen Gegenden wird in erster Linie Krischna, Rama, Schiwa, Durga oder eine andere Gottheit verehrt“ (Tara C., Katmandu [Nepal]).

      1. (a) Beschreibe einige Bräuche der Hindus. (b) Welche Unterschiede bestehen zwischen den Ansichten eines Hindus und denen eines westlichen Menschen?

      WAS versteht man unter Hinduismus? Sind seine Merkmale nur die Tierverehrung, das Baden im Ganges und das Kastenwesen, wie man im Westen grob vereinfacht denkt? Oder gehört mehr dazu? Die Antwort: Es gehört sehr viel mehr dazu. Der Hindu versteht das Leben ganz anders als der westliche Mensch, dessen Werte ihm völlig fremd sind. Der westliche Mensch sieht das Leben als eine chronologische Reihe geschichtlicher Ereignisse. Hindus sehen das Leben als einen ewigen Kreislauf an, bei dem die Geschichte von geringer Bedeutung ist.

      2, 3. (a) Warum ist es schwierig, den Hinduismus zu definieren? (b) Was schreibt ein indischer Schriftsteller über den Hinduismus und über Polytheismus?

      2 Es ist keine leichte Aufgabe, den Hinduismus zu definieren, denn er hat keine einheitliche Lehre und keine priesterliche oder zentrale Hierarchie. Allerdings hat er Swamis (Lehrer) und Gurus (Meister, religiöse Lehrer). Eine allgemeine Definition des Hinduismus, die in einem Geschichtswerk zu lesen ist, lautet wie folgt: „Der ganze Komplex von Glaubensanschauungen und Institutionen, die sich seit der Abfassung ihrer alten (heiligen) Schriften, der Weden, bis jetzt entwickelt haben.“ Eine andere Definition lautet: „Hinduismus [bedeutet] den Kult der Götter Wischnu oder Schiwa oder der Göttin Schakti beziehungsweise einen Kult ihrer Inkarnationen, verschiedenen Aspekte, Ehegatten oder Nachkommen.“ Das würde auch den Kult des Rama und des Krischna (Inkarnationen des Wischnu) einschließen sowie der Durga, des Skanda und des Ganescha (Gattin bzw. Söhne des Schiwa). Es heißt, daß es im Hinduismus 330 Millionen Götter gibt, dennoch soll der Hinduismus nicht polytheistisch sein. Wie ist das möglich?

      3 Der indische Schriftsteller A. Parthasarathy schreibt: „Die Hindus sind nicht polytheistisch. Der Hinduismus spricht nur von einem Gott ... Die verschiedenen Götter und Göttinnen des hinduistischen Pantheons stellen lediglich die Kräfte und die Aufgaben des einen höchsten Gottes in der manifesten Welt dar.“

      4. Was umfaßt der Ausdruck „Hinduismus“?

      4 Die Hindus sprechen häufig von ihrem Glauben als dem Sanatana-Dharma, was „das ewige Gesetz“ bedeutet. Das Wort „Hinduismus“a ist eigentlich ein ungenauer Ausdruck für die zahlreichen religiösen Gruppen oder Sekten (Sampradayas), die im Laufe der Jahrtausende unter dem Schirm der komplexen alten hinduistischen Mythologie entstanden sind und floriert haben. Diese Mythologie ist so verwickelt, daß das Werk New Larousse Encyclopedia of Mythology schreibt: „Die indische Mythologie ist ein undurchdringlicher dichter Dschungel. Wenn man ihn betritt, sieht man das Tageslicht nicht mehr und verliert die Orientierung.“ Dennoch werden in diesem Kapitel einige Merkmale und Lehren dieser Religion behandelt werden.

      Die Wurzeln des Hinduismus

      5. Wie weit verbreitet ist der Hinduismus?

      5 Der Hinduismus ist zwar nicht so weit verbreitet wie einige andere Religionen, dennoch beträgt die Zahl der Anhänger jetzt, im Jahre 1990, fast 700 Millionen, das heißt, daß etwa jeder achte Erdbewohner (13 %) ein Hindu ist. Die Mehrzahl der Hindus lebt in Indien. Es ist daher nur natürlich, daß man sich fragt: Wie kommt es, daß sich der Hinduismus gerade in Indien ausgebreitet hat?

      6, 7. (a) Wie gelangte gemäß einigen Historikern der Hinduismus nach Indien? (b) Wie wird im Hinduismus die Flutsage erzählt? (c) Welche Religion wurde gemäß dem Archäologen John Marshall im Industal vor der Ankunft der Arier praktiziert?

      6 Einige Historiker sagen, der Hinduismus sei vor 3 500 Jahren entstanden, als hellhäutige Arier aus dem Nordwesten in das Industal eingewandert seien, das jetzt hauptsächlich zu Pakistan und (ein kleiner Teil) zu Indien gehört. Von dort breiteten sie sich in den Ebenen des Ganges und in ganz Indien aus. Einige Experten sagen, altiranische und babylonische Lehren hätten den religiösen Anschauungen der Einwanderer zugrunde gelegen. Der Hinduismus kennt auch die Flutsage, die in vielen Kulturen verbreitet ist. (Siehe Kasten, Seite 120.)

      7 Welche Religion pflegten die Bewohner des Industales, ehe die Arier kamen? Der Archäologe Sir John Marshall schreibt: „Da wäre zuerst einmal die ‚Große Mutter‘, schwangere weibliche Figurinen, die meisten nackt, mit hohem Kragen und Kopfputz. ... Dann gibt es den ‚männlichen Gott‘, der unmittelbar als Prototyp des späteren Shiva erkennbar ist: Er sitzt die Fußsohlen gegeneinandergestellt (eine Yoga-Haltung), mit erigiertem Phallus (was an den Lingakult erinnert) und ist von Tieren umgeben (Shiva als ‚Herr der Tiere‘). Darstellungen aus Stein von Phallus und Vulva kommen zahlreich vor ..., was auf den Linga- und Yoni(Mutterschoß)-Kult von Shiva und seiner Gemahlin deutet“ (Geoffrey Parrinder, Die Religionen der Welt). Auch heute noch wird Schiwa als Fruchtbarkeitsgott, als Gott des Lingas oder Phallus, verehrt. Sein Reittier ist der Stier Nandi.

      8, 9. (a) In welcher Weise widerspricht ein indischer Gelehrter Marshalls Theorie? (b) Was wird den „Christen“ in Verbindung mit den von den Hindus verehrten Gegenständen vorgeworfen? (c) Was liegt den heiligen Schriften der Hindus zugrunde?

      8 Der indische Gelehrte Swami Sankarananda widerspricht Marshalls Interpretation und sagt, daß ursprünglich die verehrten Steine — einige sind als Schiwalinga bekannt — Symbole „des Feuers des Himmels oder der Sonne und des Feuers der Sonne, ihrer Strahlen, waren“ (The Rigvedic Culture of the Pre-Historic Indus). Er begründet das wie folgt: „Der Geschlechtskult ... entstand nicht als ein religiöser Kult. Er entwickelte sich später. Er ist eine Entartung des ursprünglichen Kultes. Die Menschen ziehen das Ideal, das zu hoch ist, als daß sie es begreifen könnten, auf ihr eigenes Niveau herab.“ Als Argument gegen die abendländische Kritik am Hinduismus sagt er, daß die Christen, die das Kreuz verehren — bei den Heiden ein phallisches Symbol — „Anhänger eines Geschlechtskults“ seien.

      9 Im Laufe der Zeit wurden die indischen Glaubensanschauungen, Mythen und Sagen schriftlich festgehalten, und heute bilden sie die heiligen Schriften des Hinduismus. Diese heiligen Schriften sind zwar umfangreich, doch sie enthalten keine einheitliche Lehre.

      Die heiligen Schriften des Hinduismus

      10. Wie heißen einige der ältesten Schriften des Hinduismus?

      10 Die ältesten Schriften sind die Weden, eine Sammlung von Gebeten und Hymnen, die als Rigweda, Samaweda, Jadschurweda und als Atharwaweda bekannt sind. Sie entstanden im Laufe mehrerer Jahrhunderte und wurden um 900 v. u. Z. vollendet. Die Weden wurden später durch andere Schriften ergänzt, einschließlich der Brahmanas und der Upanischaden.

      11. (a) Wie unterscheiden sich die Brahmanas von den Upanischaden? (b) Welche Lehren enthalten die Upanischaden?

      11 Die Brahmanas geben Anweisungen zur Ausführung von Ritualen und Opfern, sowohl privater als öffentlicher Art, und erklären bis ins einzelne deren tiefen Sinn. Sie wurden um 300 v. u. Z. oder später abgefaßt. Die Upanischaden (wörtlich: „das Sich-in-der-Nähe-Niedersetzen [bei einem Lehrer]“) sind auch als der Wedanta bekannt und wurden etwa 600—300 v. u. Z. verfaßt. Es sind Abhandlungen, die gemäß der hinduistischen Philosophie den Grund für alle Gedanken und Handlungen angeben. Diese Schriften enthalten die Lehre vom Samsara (endloser Kreislauf von Tod und Wiedergeburt) und vom Karma (der Glaube, daß die in einem früheren Leben vollbrachten Taten den Status im gegenwärtigen Leben bestimmen).

      12. Wer war Rama, und in welchen Schriften wird sein Leben geschildert?

      12 Weitere Schriften sind die Puranas, lange allegorische Erzählungen, die viele hinduistische Mythen über Götter und Göttinnen sowie Helden enthalten. Diese umfassende Bibliothek schließt auch die Epen Ramajana und Mahabharata ein. Im Ramajana wird das Leben des „Herrn Rama“ erzählt, den A. Parthasarathy „die herrlichste aller Gestalten der religiösen Literatur“ nennt. Das Ramajana gehört zu den beliebtesten Werken der Hindus und stammt ungefähr aus dem 4. Jahrhundert v. u. Z. Es beschreibt die Taten des Heroen Rama oder Ramatschandra, den die Hindus als einen Mustersohn, -bruder und -gatten betrachten. Er gilt als die siebte Inkarnation (Awatara) Wischnus, und man benutzt seinen Namen häufig als Gruß.

      13, 14. (a) Wie beschreibt ein hinduistisches Werk die Bhagawadgita? (b) Was bedeuten die Wörter „Schruti“ und „Smriti“, und was ist die Manusmriti?

      13 Über die Bhagawadgita (Bestandteil des Mahabharata) schreibt Bhaktivedanta Swami Prabhupāda, Gründer der Internationalen Gesellschaft für Krischna-Bewußtsein: „Die Bhagavad-gītā ist die höchste Unterweisung, was Moral betrifft ... Die Anweisungen der Bhagavad-gītā sind gleichzeitig höchste Religion und höchste Moral. ... die letzte Unterweisung der Gītā ist zugleich das letzte Wort aller Moral und Religion: Hingabe zu Kṛṣṇa“ (BG).

      14 Die Bhagawadgita (Gesang des Erhabenen), die von einigen als „das Kleinod Indiens religiöser Weisheit“ angesehen wird, ist ein Gespräch auf dem Schlachtfeld „zwischen dem Herrn Srī Kṛṣṇa [Krischna], dem Höchsten Persönlichen Gott, und Arjuna, seinem Geweihten und Freund, den er in der Kunst der Selbstverwirklichung belehrt“. Die Bhagawadgita stellt nur einen Teil der umfangreichen heiligen Schriften der Hindus dar. Einige dieser Schriften (Weden, Brahmanas und Upanischaden) gelten als „Schruti“ oder „Gehörtes“ und werden deshalb als direkt geoffenbarte heilige Schriften angesehen. Andere, wie zum Beispiel die Epen und die Puranas, sind „Smriti“ oder „Erinnerung“ und wurden von menschlichen Autoren verfaßt, obwohl ihnen auch eine Offenbarung zugrunde liegt. Ein Beispiel ist die Manusmriti, in der die religiösen und sozialen Gesetze der Hindus dargelegt sind; ferner wird darin der Grund für das Kastenwesen erklärt. Was sind einige der Glaubensanschauungen, die auf der Grundlage dieser Schriften entstanden sind?

      Lehren und Wandel — Ahimsa und Warna

      15. (a) Definiere die Ahimsa, und erkläre, wie die Dschaina sie anwenden. (b) Wie betrachtete Gandhi die Ahimsa? (c) Wie unterscheiden sich die Sikhs von den Hindus und den Dschaina?

      15 Im Hinduismus gibt es wie in anderen Religionen gewisse Grundregeln, die das Denken und Handeln beeinflussen. Eine ganz wichtige ist die der Ahimsa, Nichtverletzung (Nichtschädigung) bzw. Gewaltlosigkeit, für die Mohandas Gandhi (1869—1948) — bekannt als der Mahatma — eingetreten ist. (Siehe Kasten, Seite 113.) Diese Grundregel besagt, daß der Hindu kein Geschöpf töten oder ihm Gewalt antun darf. Das ist einer der Gründe, warum die Hindus gewisse Tiere verehren, wie zum Beispiel die Kuh, die Schlange und den Affen. Die strengsten Verfechter der Ahimsa-Lehre und der Achtung vor dem Leben sind die Dschaina (der Dschainismus entstand im 6. Jahrhundert v. u. Z.), die barfuß gehen und sogar ein Mundtuch tragen, um nicht aus Versehen ein Insekt zu verschlucken. (Siehe Kasten, Seite 104 und Foto, Seite 108.) Die Sikhs dagegen sind wegen ihrer kriegerischen Tradition bekannt, und Singh, ein verbreiteter Nachname unter ihnen, bedeutet Löwe. (Siehe Kasten, Seite 100, 101.)

      16. (a) Wie betrachten die meisten Hindus das Kastenwesen? (b) Was sagte Gandhi über das Kastenwesen? (Siehe Kasten, Seite 113.)

      16 Ein allgemein bekannter Aspekt des Hinduismus ist das Kastenwesen (Warna), das die Menschen streng in verschiedene Klassen aufteilt. (Siehe Kasten, Seite 113.) Es ist zu beobachten, daß die hinduistische Gesellschaft immer noch die Aufteilung durch dieses System aufweist. Die Buddhisten und die Dschaina lehnen es allerdings ab. Doch geradeso, wie in den Vereinigten Staaten und anderswo die Rassendiskriminierung weiterbesteht, so ist auch das Kastenwesen in der indischen Psyche fest verwurzelt. Es ist ein Klassenbewußtsein, das auch heute noch in abgeschwächter Form in der britischen Gesellschaft sowie in der Gesellschaft anderer Länder vorhanden ist (Jakobus 2:1-9). In Indien wird man in ein strenges Kastenwesen hineingeboren, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Aber der Hindu im allgemeinen sucht auch gar nicht, daraus zu entrinnen. Er sieht darin sein vorherbestimmtes, unausweichliches Schicksal, das Ergebnis seines Tuns im vorigen Leben oder Karma. Wie ist das Kastenwesen entstanden? Die hinduistische Mythologie gibt uns die Antwort.

      17, 18. Wie entstanden gemäß der hinduistischen Mythologie die Kasten?

      17 Gemäß dieser Mythologie hat es ursprünglich vier große Kasten gegeben, die aus den Körperteilen des Puruscha, des Urvaters der Menschheit, entstanden sind. In einer Hymne des Rigweda heißt es:

      „In wie viel Teile ward er umgewandelt, Als sie zerstückelten den Puruscha?

      Was ward sein Mund, was wurden seine Arme, Was seine Schenkel, seine Füße da?

      Zum Brahmanen [oberste Kaste] ist da sein Mund geworden, Die Arme zum Râjanya [oder Kschatrija] (Krieger) sind gemacht,

      Der Vaishya [Waischja] (Handwerker) aus den Schenkeln, aus den Füßen Der Shûdra [Schudra] (Diener) damals ward hervorgebracht“ (L. Renou, Die großen Religionen der Welt, S. 73).

      18 Die Brahmanen, die Priesterkaste, sollen also aus dem Mund Puruschas, dem obersten seiner Körperteile, entstanden sein. Die Krieger oder Regenten (Kschatrija oder Radschanja) entstammten seinen Armen. Die Handwerker- und Händlerkaste, die Waischjas, wurden aus seinen Schenkeln. Eine niedrigere Kaste, die Schudras oder Diener, wurden aus den untersten Körperteilen, den Füßen, hervorgebracht.

      19. Welche weiteren Kasten entstanden noch?

      19 Im Laufe der Jahrhunderte entstanden noch niedrigere Kasten, z. B. die Parias oder Unberührbaren oder, wie Mahatma Gandhi sie liebevoll nannte, die Harijans (Personen des Gottes Wischnu). Obschon die Diskriminierung der Unberührbaren in Indien seit dem Jahre 1948 verboten ist, haben sie doch noch immer ein schweres Los.

      20. Welche weiteren Aspekte des Kastenwesens gibt es?

      20 Im Laufe der Zeit mehrten sich die Kasten, so daß fast jeder Beruf in der indischen Gesellschaft eine Kaste bildete. Das alte Kastenwesen, das jeden an seinem gesellschaftlichen Platz festhält, ist in Wirklichkeit auch rassisch gegliedert und „umfaßt bestimmte Rassentypen, angefangen von den [hellhäutigen] Ariern bis hin zu den [dunkelhäutigen] vorwedischen Völkern“. Warna (Kaste) bedeutet „Farbe“. „Die ersten drei Kasten waren Arier, die hellhäutigsten Menschen; die vierte Kaste, die die dunkelhäutige Urbevölkerung umfaßte, waren Nichtarier“ (Donald A. Mackenzie, Myths and Legends Series—India). Das Kastenwesen, verstärkt durch die religiöse Karma-Lehre, hat bewirkt, daß in Indien Millionen Menschen ihr Leben lang arm und benachteiligt waren.

      Der frustrierende Geburtenkreislauf

      21. Wie beeinflußt das Karma gemäß dem Garudapurana das Leben eines Menschen?

      21 Eine weitere wichtige Glaubenslehre, die die Ethik und das Verhalten des Hindus beeinflußt, ist die Karma-Lehre. Nach dieser Lehre hat jede Tat ihre Konsequenzen, positive oder negative; das Karma bestimmt Rang und Art der Wiedergeburt. Im Garudapurana wird erklärt:

      „Der Mensch ist der Schöpfer seines eigenen Schicksals, und selbst in seinem Leben als Fetus wird er von der Dynamik der Werke seines früheren Lebens beeinflußt. Ob in der Enge einer Bergfeste oder ruhend am Busen des Meeres, ob sicher auf dem Schoß der Mutter oder ob er hoch über ihrem Kopf gehalten wird, ein Mensch kann den Wirkungen seiner eigenen früheren Taten nicht entfliehen. ... Was immer einem Menschen in einem bestimmten Alter oder zu einer bestimmten Zeit zustoßen soll, wird ihn dann und zu jener Stunde heimsuchen.“

      Im Garudapurana heißt es weiter:

      „Erkenntnis, die ein Mensch in seinem früheren Leben erworben hat, Reichtum, den er in seinem vorigen Dasein den Armen gegeben hat, und Werke, die er in einer vorigen Inkarnation getan hat, gehen seiner Seele auf ihrer Reise voraus.“

      22. (a) Wie unterscheidet sich die Ansicht, die der Hindu von der Seele hat, von der Lehre der Christenheit? (b) Was lehrt die Bibel über die Seele?

      22 Was liegt dieser Glaubensauffassung zugrunde? Die unsterbliche Seele ist unerläßlich für die Karma-Lehre, und das Karma bewirkt, daß der Hindu eine andere Ansicht von der Seele hat als die Christenheit. Der Hindu glaubt, daß jede individuelle Seele, jīva oder prān,b viele Reinkarnationen durchwandert, möglicherweise auch die „Hölle“. Die Seele muß danach trachten, sich mit dem „absoluten Sein“, auch Brahman genannt (nicht zu verwechseln mit dem hinduistischen Gott Brahma), zu vereinen. Die Lehren der Christenheit dagegen bieten der Seele — je nach dem religiösen Bekenntnis — die Möglichkeit, in den Himmel, die Hölle, das Fegfeuer oder den Limbus zu kommen (Prediger 9:5, 6, 10; Psalm 146:4).

      23. Wie beeinflußt die Karma-Lehre die Ansicht, die ein Hindu vom Leben hat? (Vergleiche Galater 6:7-10.)

      23 Der Hindu neigt als Folge des Karmas zum Fatalismus. Er glaubt, seine gegenwärtigen Lebensverhältnisse rührten von einem früheren Leben her und er habe sie demnach verdient, seien sie gut oder schlecht. Er kann sich bemühen, einen besseren Lebenswandel zu führen, so daß das nächste Leben vielleicht erträglicher wird. Deshalb gibt er sich mit seinem Los eher zufrieden als ein westlicher Mensch. Der Hindu betrachtet alles als eine Folge des Gesetzes von Ursache und Wirkung in Beziehung zu seinem früheren Leben. Es ist der Grundsatz, daß man erntet, was man in seinem angeblichen früheren Leben gesät hat. Das alles beruht natürlich auf der Annahme, daß der Mensch eine unsterbliche Seele habe, die sich wieder als Mensch, Tier oder Pflanze verkörpere.

      24. Was ist Mokscha, und wie glaubt der Hindu Mokscha zu erlangen?

      24 Was ist somit das höchste Ziel des hinduistischen Glaubens? Mokscha zu erlangen, was Befreiung von der leidvollen Wiedergeburtenkette und immer neuen Existenzen bedeutet. Es ist also Befreiung von der körperlichen Existenz, nicht für den Körper, sondern für die „Seele“. „Da Mokscha oder Befreiung aus der langen Reihe von Wiedergeburten von jedem Hindu angestrebt wird, ist das größte Ereignis in seinem Leben der Tod“, schreibt ein Kommentator. Man erlangt Mokscha auf verschiedenen Wegen oder Margas. (Siehe Kasten, Seite 110.) Wie sehr doch diese religiöse Lehre von der alten babylonischen Vorstellung von einer unsterblichen Seele abhängt!

      25. Worin unterscheidet sich die Auffassung, die der Hindu vom Leben hat, von dem, was die Bibel darüber sagt?

      25 Nach der Bibel steht dieses Verachten und Geringschätzen des materiellen Lebens in krassem Widerspruch zu Jehovas ursprünglichem Vorsatz in Verbindung mit den Menschen. Als er die ersten beiden Menschen erschuf, bestimmte er für sie, daß sie froh und glücklich auf der Erde leben sollten. Der Bibelbericht lautet:

      „Und Gott ging daran, den Menschen in seinem Bilde zu erschaffen, im Bilde Gottes erschuf er ihn; männlich und weiblich erschuf er sie. Auch segnete Gott sie, und Gott sprach zu ihnen: ‚Seid fruchtbar, und werdet viele, und füllt die Erde, und unterwerft sie euch, und haltet euch die Fische des Meeres und die fliegenden Geschöpfe der Himmel untertan und jedes lebende Geschöpf, das sich auf der Erde regt.‘ ... Nach diesem sah Gott alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (1. Mose 1:27-31).

      Die Bibel sagt voraus, daß der Erde eine Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit nahe bevorsteht, eine Zeit, in der jede Familie ihr eigenes schönes Heim haben wird, auch wird den Menschen vollkommene Gesundheit und ewiges Leben zuteil werden (Jesaja 65:17-25; 2. Petrus 3:13; Offenbarung 21:1-4).

      26. Welche Frage bedarf einer Antwort?

      26 Die nächste Frage, die einer Antwort bedarf, lautet: Wer sind die Götter, die ein Hindu zufriedenstellen muß, um ein gutes Karma zu erlangen?

      Das hinduistische Pantheon

      27, 28. (a) Welche Götter bilden die hinduistische Trimurti? (b) Wie heißen die Gattinnen? (c) Zähle einige andere hinduistische Götter und Göttinnen auf.

      27 Der Hinduismus kennt zwar Millionen Götter, von seinen verschiedenen Sekten werden aber in der Praxis nur gewisse bevorzugte Gottheiten verehrt. Drei der wichtigsten Götter sind in der Trimurti oder Göttertriade zusammengefaßt. (Weitere Götter der Hindus sind im Kasten auf Seite 116, 117 aufgeführt.)

      28 Die Triade setzt sich aus Brahma, dem Schöpfer, Wischnu, dem Erhalter, und Schiwa, dem Zerstörer, zusammen. Und jeder hat wenigstens eine Gattin. Brahma ist mit Saraswati verheiratet, der Göttin der Gelehrsamkeit. Wischnus Gattin ist Lakschmi, während Schiwas erste Gattin Sati hieß. Sie beging Selbstmord. Sati warf sich ins Opferfeuer, und so wurde sie die erste „Sati“ (treue Frau). Dem mythologischen Vorbild folgten im Laufe der Jahrhunderte Tausende von hinduistischen Witwen, indem sie sich mit dem Leichnam ihres Mannes verbrennen ließen. Die Witwenverbrennung ist heute allerdings verboten. Schiwa hat auch eine andere Frau, die mehrere Namen und Titel trägt. In ihrer milden und freundlichen Gestalt ist sie Parwati, Uma und Gauri (die Weißliche). Als Durga oder Kali ist sie eine furchterregende Göttin.

      29. Wie betrachten die Hindus Brahma? (Vergleiche Apostelgeschichte 17:22-31.)

      29 Obschon Brahma im Mittelpunkt der hinduistischen Mythologie steht, wird er vom gewöhnlichen Hindu nicht eifrig verehrt, ja sehr wenige Tempel sind ihm geweiht, obgleich er Brahma, der Schöpfer, genannt wird. Doch hat nach der hinduistischen Mythologie das Brahman, ein absolutes Sein oder das Urprinzip alles Seins, das mit der heiligen Silbe Om (Aum) identifiziert wird, das materielle Weltall erschaffen. Alle drei Gestalten der Triade gelten als Teil jenes „Seins“, und alle anderen Götter werden als verschiedene Manifestationen betrachtet. Der Gott, der dann als höchster verehrt wird, gilt als allumfassend. Während die Hindus also Millionen Götter verehren, bekennen sich die meisten doch nur zu einem wahren Gott, der jedoch viele Formen annehmen kann: eine männliche, eine weibliche oder gar die eines Tieres. Daher sind die hinduistischen Gelehrten schnell dabei zu sagen, der Hinduismus sei nicht polytheistisch, sondern monotheistisch. Späteres wedisches Denken beseitigt jedoch den Begriff eines höchsten Wesens und ersetzt ihn durch ein unpersönliches göttliches Prinzip oder Sein.

      30. Was sind einige der Awataras Wischnus?

      30 Wischnu, eine gütige, von der Sonne abstammende kosmische Gottheit, wird von den Anhängern des Wischnuismus als höchster Gott verehrt. Er erscheint in zehn Awataras oder Inkarnationen auf der Erde, zum Beispiel als Rama, Krischna und Buddha.c Ein anderer Awatara ist Wischnu-Narajana. „Er wird als Mensch dargestellt, der auf der Schlange Ananta oder Schescha, die auf den Urwassern treibt, schläft; seine Gemahlin, die Göttin Lakschmi, sitzt ihm zu Füßen, während aus Wischnus Nabel eine Lotosblume wächst, die den Gott Brahma trägt“ (The Encyclopedia of World Faiths).

      31. Was für ein Gott ist Schiwa?

      31 Schiwa, der allgemein auch Mahescha (höchster Herr) und Mahadewa (großer Gott) genannt wird, ist der zweithöchste Gott des Hinduismus, und die ihm dargebrachte Verehrung heißt Schiwaismus. Schiwa wird als „der große Asket beschrieben, der vorbildliche Jogin, der, in tiefe Meditation versunken, auf den Hängen des Himalajas sitzt, sein Körper mit Asche eingeschmiert und sein Haupt mit verfilztem Haar bedeckt“. Er ist auch „für seinen Erotizismus bekannt, als der Bringer der Fruchtbarkeit und der höchste Herr der Schöpfung, Mahadewa“ (The Encyclopedia of World Faiths). Schiwa wird unter dem phallischen Symbol des Lingas verehrt. (Siehe Fotos, Seite 99.)

      32. (a) In welchen verschiedenen Formen ist die Göttin Kali bekannt? (b) Wer waren die Thags?

      32 Wie viele andere Weltreligionen, so hat auch der Hinduismus seine höchste Göttin, die anziehend oder furchtbar sein kann. In ihrer angenehmeren Form ist sie als Parwati und Uma bekannt. Ihr furchterregender Charakter kommt als Durga oder Kali zum Ausdruck, eine blutrünstige Göttin, die an blutigen Opfern Gefallen findet. Als Muttergöttin Kalikamata (schwarze Erdmutter) ist sie die Hauptgottheit für die Schaktas. Die Bilder zeigen sie nackt bis zu den Hüften und mit Leichen, Schlangen und Schädeln geschmückt. Früher opferten ihr ihre Verehrer, die Thags, erdrosselte Menschen.

      Der Hinduismus und der Ganges

      33. Warum ist der Ganges den Hindus heilig?

      33 Wenn man vom hinduistischen Pantheon spricht, muß man auch den heiligen Ganges erwähnen. Ein großer Teil der hinduistischen Mythologie bezieht sich auf den Ganges oder die Ganga Ma (Mutter Ganga), wie die frommen Hindus den Fluß nennen. (Siehe die Karte auf Seite 123.) Sie sprechen Gebete, in denen 108 verschiedene Namen für den Fluß vorkommen. Warum wird der Ganges von aufrichtigen Hindus so verehrt? Weil er eng mit ihrem Überleben und ihrer alten Mythologie verbunden ist. Sie glauben, er sei als die Milchstraße im Himmel gewesen. Wie kam es, daß daraus ein Fluß wurde?

      34. Wie ist der Ganges gemäß der hinduistischen Mythologie entstanden?

      34 Mit geringen Abweichungen würden die meisten Hindus es wie folgt erklären: Maharadscha Sagara hatte 60 000 Söhne, die durch das Feuer des Kapila, einer Manifestation Wischnus, getötet wurden. Ihre Seelen waren zur Hölle verdammt, es sei denn, die Göttin Ganga käme vom Himmel herab, um sie zu reinigen und von dem Fluch zu befreien. Bhagīratha, ein Urenkel Sagaras, bat Brahma, der heiligen Ganga zu gestatten, auf die Erde herabzukommen. In einer Erzählung heißt es weiter: „Ganga antwortete: ‚Ich bin ein solch mächtiger Strom, daß ich die Grundfesten der Erde zerschmettern würde.‘ Daher ging ... [Bhagīratha], nachdem er tausend Jahre Buße getan hatte, zu dem Gott Schiwa, dem größten aller Asketen, und überredete ihn, sich hoch über der Erde inmitten der Felsen und des Eises des Himalajas hinzustellen. Schiwa hatte verfilztes Haar auf dem Kopf, und er gestattete Ganga, vom Himmel auf seine Locken herabzudonnern, die den für die Erde bedrohlichen Aufprall auffingen. Ganga rieselte darauf sanft auf die Erde, floß die Berge hinunter und durch die Ebenen und versorgte so die trockene Erde mit Wasser und demzufolge auch mit Leben“ (Sir Edmund Hillary, From the Ocean to the Sky).

      35. Wie erklären die Waischnawas die Entstehung des Stromes?

      35 Die Anhänger Wischnus, die Waischnawas, erklären die Entstehung des Ganges etwas anders. Ein alter Text, das Wischnupurana, gibt folgende Erklärung:

      „Der Ganges, der alle Sünden beseitigt, strömt aus dieser Region [dem heiligen Sitz des Wischnu] hervor ... Er fließt aus dem Nagel der großen Zehe des linken Fußes Wischnus hervor.“

      Wischnuanhänger sagen auf Sanskrit: „Visnu-padabja-​sambhuta“, was bedeutet: „Geboren aus dem lotosähnlichen Fuß Wischnus.“

      36. Was glauben die Hindus bezüglich der Macht, die das Gangeswasser hat?

      36 Die Hindus glauben, daß der Ganges die Gläubigen zu befreien, zu reinigen und zu heilen vermag. Im Wischnupurana heißt es:

      „Die Heiligen, die durch Baden im Wasser dieses Stromes gereinigt worden sind und deren Sinn Kesawa [Wischnu] ergeben ist, erlangen die schließliche Befreiung. Wenn man von dem heiligen Strom hört, ihn ersehnt, ihn sieht, ihn berührt, darin badet oder ihn besingt, reinigt er Tag für Tag alle Wesen. Und selbst solche, die entfernt davon wohnen ... und die ‚Ganga und Ganga‘ ausrufen, werden von den Sünden befreit, die sie in den drei vorhergehenden Leben begangen haben.“

      Im Brahmandapurana heißt es:

      „Wer einmal in Frömmigkeit in den reinen Fluten der Ganga badet, dessen Angehörige werden vor Hunderttausenden von Gefahren geschützt. Übel, die sich im Laufe von Generationen angesammelt haben, werden vernichtet. Allein durch das Baden in der Ganga wird man sofort rein.“

      37, 38. Warum strömen Millionen Hindus zum Ganges?

      37 Die Hindus kommen in Scharen an den Strom, um die Rituale der Pudscha (Verehrung) zu verrichten. Sie opfern Blumen, rezitieren Gebete und erhalten von einem Priester den Tschitraka (Tilaka), das heißt den roten oder gelben Punkt, an die Stirn. Darauf steigen sie in das Wasser, um zu baden. Viele trinken auch von dem Wasser, obwohl es durch Abwasser, Chemikalien und Tierleichen stark verschmutzt ist. Die religiöse Anziehungskraft des Ganges ist so groß, daß Millionen Inder keinen sehnlicheren Wunsch haben, als wenigstens einmal in dem „heiligen Strom“ zu baden — verschmutzt oder nicht verschmutzt.

      38 Andere bringen die Leiche eines Angehörigen, damit sie am Ufer des Stromes auf einem Scheiterhaufen verbrannt werde, worauf die Asche in den Strom gestreut wird. Der Hindu glaubt, daß das der Seele des Verstorbenen ewige Glückseligkeit gewährt. Die Armen, die kein Geld haben, um ihre Toten zu verbrennen, schieben die in ein Tuch gehüllte Leiche einfach in den Fluß, wo Aasvögel sich darauf stürzen oder wo sie sich einfach zersetzt. Nun entsteht die Frage: Was außer dem, was wir bereits besprochen haben, lehrt der Hinduismus noch über das Leben nach dem Tod?

      Der Hinduismus und die Seele

      39, 40. Was schreibt ein hinduistischer Kommentator über die Seele?

      39 Die Bhagawadgita beantwortet die Frage wie folgt:

      „Wie die verkörperte Seele fortwährend in diesem Körper von Kindheit zu Jugend und zu Alter wandert, so geht sie auch beim Tode in einen anderen Körper ein“ (2. Kapitel, Vers 13).

      40 Der Kommentar eines Hindus zu diesem Text lautet: „Da jedes Lebewesen eine individuelle Seele ist, wechselt es seinen Körper in jedem Augenblick und manifestiert sich manchmal als Kind, manchmal als Jugendlicher und manchmal als alter Mann. Dennoch ist die gleiche Seele vorhanden, denn sie ist keinem Wandel unterworfen. Diese individuelle Seele wechselt den Körper zum Zeitpunkt des Todes endgültig und geht in einen anderen Körper ein. Da sie mit Sicherheit bei der nächsten Geburt einen anderen Körper erhält — entweder einen materiellen oder einen spirituellen —, gab es für Arjuna keinen Grund, den Tod zu beklagen.“

      41. Welchen Unterschied muß man gemäß der Bibel in bezug auf die Seele machen?

      41 Man beachte, daß es in dem Kommentar heißt, „jedes Lebewesen [ist] eine individuelle Seele“. Diese Erklärung stimmt mit dem überein, was die Bibel in 1. Mose 2:7 sagt:

      „Und Jehova Gott ging daran, den Menschen aus Staub vom Erdboden zu bilden und in seine Nase den Odem des Lebens zu blasen, und der Mensch wurde eine lebende Seele.“

      Es besteht indessen ein wichtiger Unterschied: Ist der Mensch mit all seinen Funktionen und Fähigkeiten eine lebende Seele, oder hat er unabhängig von seinen Körperfunktionen eine Seele? Ist der Mensch eine Seele, oder hat er eine Seele? Das folgende Zitat erläutert den hinduistischen Begriff.

      42. Welcher Unterschied besteht zwischen der Seelenlehre der Bibel und der Seelenlehre des Hinduismus?

      42 In Kapitel 2, Vers 17 der Bhagawadgita heißt es:

      „Das, was den gesamten Körper durchdringt, ist unzerstörbar. Niemand kann die unvergängliche Seele töten.“

      Darauf wird dieser Text wie folgt erklärt:

      „Daher ist jeder einzelne Körper die Verkörperung einer individuellen Seele, und das Symptom für die Anwesenheit der Seele wird als individuelles Bewußtsein erfahren.“

      Somit lehrt der Hinduismus, daß der Mensch eine Seele hat, während die Bibel sagt, daß der Mensch eine Seele ist. Zwischen diesen beiden Auffassungen besteht ein gewaltiger Unterschied, der sich entscheidend auf die Lehren auswirkt, die eine Folge dieser Anschauungen sind (3. Mose 24:17, 18).

      43. (a) Woher stammt die Lehre von der unsterblichen Seele? (b) Welches sind die Konsequenzen dieser Lehre?

      43 Die Lehre von der unsterblichen Seele stammt eigentlich aus dem abgestandenen religiösen Gedankengut Babylons. Sie führt logischerweise zu den Auffassungen, die mit dem Leben nach dem Tod verbunden sind, wie Seelenwanderung, Himmel, Hölle, Fegfeuer, Limbus usw., Lehren, die in vielen Religionen gelehrt werden. Der Hindu glaubt, daß die Seele im Himmel oder in der Hölle warten muß, bis sie sich wieder verkörpern kann. Besonders interessant ist die hinduistische Auffassung von der Hölle.

      Die hinduistische Höllenlehre

      44. Woher wissen wir, daß der Hinduismus eine Hölle lehrt, in der die Sünder leiden?

      44 In der Bhagawadgita heißt es:

      „O Janārdana, ... ich habe ... gehört, daß diejenigen, die die Familienbräuche zerstören, ... in der Hölle leiden müssen“ (Kapitel 1, Vers 43).

      Ein Kommentar dazu lautet: „Wer ständig sündigt, muß diesen Reinigungsvorgang ... nutzen. Wenn man diese Gelegenheit nicht wahrnimmt, wird man mit Sicherheit zu höllischen Planeten gebracht, um als Ergebnis seiner sündigen Handlungen ein erbärmliches Dasein zu erleiden.“ Es besteht indessen ein kleiner Unterschied zwischen dieser Lehre und der Höllenlehre der Christenheit. Nach der hinduistischen Lehre ist „diese Strafe ... nicht ewig“. Was ist demnach die Hölle der Hindus eigentlich?

      45. Wie werden die Qualen der hinduistischen Hölle beschrieben?

      45 Folgendes ist eine Schilderung des Geschicks eines Sünders aus dem Markhandejapurana:

      „Darauf binden ihn die Boten Jamas [Gott des Totenreiches] rasch mit schrecklichen Schlingen und schleppen ihn nach Süden, zitternd vom Schlag der Rute. Darauf wird er von den Boten Jamas, die schreckliche, unheildrohende Schreie ausstoßen, über Boden geschleppt, der mit Kusa [einer Pflanze], Dornen, Ameisenhügeln, Nadeln und Steinen übersät ist, wo an einigen Stellen Flammen lodern, der voller Gruben ist, von der Hitze der Sonne glüht und brennend heiß ist von ihren Strahlen. Von den schrecklichen Boten geschleppt und von Hunderten von Schakalen angefressen, gelangt der sündige Mensch durch einen furchtbaren Durchgang in Jamas Haus. ...

      Wenn sein Körper verbrannt wird, empfindet er ein starkes Brennen; und wenn sein Körper geschlagen wird und ihm Schnittwunden beigebracht werden, empfindet er großen Schmerz.

      Ein Geschöpf, dessen Körper auf diese Weise vernichtet wird, erleidet, obschon es in einen anderen Körper eingeht, ewige Trübsal wegen seiner schlechten Taten. ...

      Ein Sünder wird, damit seine Sünden abgewaschen werden, in eine andere dieser Höllen geführt. Nachdem er all diese Höllen durchlaufen hat, beginnt er ein widerliches Leben. Er wird ein Wurm, ... eine Fliege, ein Raubtier, eine Mücke, ein Elefant, ein Baum, ein Pferd, eine Kuh und geht noch durch weitere sündige und elende Leben, und wenn er zum Menschengeschlecht kommt, wird er ein Buckliger oder eine häßliche Person oder ein Zwerg oder ein Candala [der niedrigste der Sterblichen].“

      46, 47. Was sagt die Bibel über den Zustand der Toten, und welche Schlußfolgerungen können wir ziehen?

      46 Man vergleiche das mit den Aussagen der Bibel über die Toten:

      „Denn die Lebenden sind sich bewußt, daß sie sterben werden; was aber die Toten betrifft, sie sind sich nicht des geringsten bewußt, auch haben sie keinen Lohn mehr, denn die Erinnerung an sie ist vergessen. Auch ihre Liebe und ihr Haß und ihre Eifersucht sind bereits vergangen, und sie haben auf unabsehbare Zeit keinen Anteil mehr an irgend etwas, was unter der Sonne zu tun ist. Alles, was deine Hand zu tun findet, das tu mit all deiner Kraft, denn es gibt weder Wirken noch Planen, noch Erkenntnis, noch Weisheit in dem Scheol, dem Ort, wohin du gehst“ (Prediger 9:5, 6, 10).

      47 Wenn der Mensch keine Seele hat, sondern, wie die Bibel sagt, eine Seele ist, dann gibt es natürlich kein Weiterleben nach dem Tod. Es gibt keine Seligkeit und keine Leiden. Damit entfallen all die unlogischen Ideen über ein Jenseits.d

      Der Rivale des Hinduismus

      48, 49. (a) Nenne rückblickend einige der hinduistischen Lehren. (b) Warum haben einige die Richtigkeit des Hinduismus angezweifelt? (c) Wer erhob sich als Herausforderer des hinduistischen Gedankengutes?

      48 Diese kurze Besprechung des Hinduismus hat gezeigt, daß sich der Polytheismus dieser Religion auf den Monotheismus stützt — den Glauben an das Brahman, das absolute Sein, das Urprinzip alles Seins, symbolisiert durch die Silbe Om oder Aum, mit vielen Facetten oder Manifestationen. Der Hinduismus ist außerdem eine Religion, die Toleranz sowie Liebe zu den Tieren lehrt.

      49 Andererseits haben gewisse Lehren des Hinduismus wie das Karma und die Ungerechtigkeiten des Kastenwesens sowie der Götzendienst und die Konflikte in den Mythen einige denkende Menschen veranlaßt, die Richtigkeit dieses Glaubens anzuzweifeln. Ein solcher Zweifler wurde um das Jahr 560 v. u. Z. im Nordosten Indiens geboren. Es war Siddhārtha Gautama. Er begründete einen neuen Glauben, der jedoch in Indien nicht gedieh, dagegen anderswo, wie das nächste Kapitel zeigen wird. Der neue Glaube war der Buddhismus.

      [Fußnoten]

      a Die Bezeichnung Hinduismus ist eine europäische Erfindung.

      b Als Übersetzung für das Wort „Seele“ wird in Sanskrit oft das Wort Atma oder Atman genommen. Dieses ist hingegen die genauere Übersetzung für das Wort „Geist“. (Siehe A Dictionary of Hinduism—Its Mythology, Folklore and Development 1500 B.C.-A.D. 1500, Seite 31 und die Broschüre Kann der Tod besiegt werden?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1987.)

      c Kalki, der zehnte Awatara Wischnus, wird noch erwartet. „Er wird als edler Jüngling dargestellt, auf einem großen weißen Pferd reitend, mit einem feurigen Schwert in der Hand, das nach allen Seiten Tod und Verderben verbreitet.“ „Durch sein Kommen wird auf der Erde wieder Gerechtigkeit einkehren, und erneut wird ein Zeitalter der Reinheit und Unschuld beginnen“ (Religions of India; A Dictionary of Hinduism). (Vergleiche Offenbarung 19:11-16.)

      d Die biblische Lehre von der Auferstehung der Toten hat keine Beziehung zur Lehre von einer unsterblichen Seele. Siehe Kapitel 10.

      [Kasten/Bilder auf Seite 100, 101]

      Sikhismus — eine Reformreligion

      Sikhismus, symbolisiert durch drei Schwerter und einen Kreis, ist die Religion von über 17 Millionen Menschen. Die meisten davon leben im Pandschab. Der Goldene Tempel der Sikhs, der inmitten eines künstlichen Sees steht, befindet sich in Amritsar, der heiligen Stadt der Sikhs. Die männlichen Sikhs erkennt man leicht an ihren blauen, weißen oder schwarzen Turbanen. Es gehört zu ihren religiösen Bräuchen, diese zu tragen sowie ihr Haar lang wachsen zu lassen.

      Das Sanskritwort Sikh bedeutet „Jünger“. Die Sikhs sind Jünger ihres Gründers Guru Nanak und Anhänger der Lehren der zehn Gurus (Nanak und neun Nachfolger), deren Schriften das heilige Buch der Sikhs, den Adigrantha, bilden. Diese Religion ist zu Anfang des 16. Jahrhunderts entstanden, als Guru Nanak das Beste des Hinduismus mit dem Besten des Islam zu einer Religion verschmelzen wollte.

      Nanaks Mission kann in einem Satz ausgedrückt werden: „Da es nur einen Gott gibt und er unser Vater ist, müssen wir alle Brüder sein.“ Die Sikhs glauben wie die Muslime, daß es nur einen Gott gibt, und verbieten den Gebrauch von Götzenbildern (Psalm 115:4-9; Matthäus 23:8, 9). Sie glauben an die hinduistischen Lehren von einer unsterblichen Seele, einer Wiedergeburt und vom Karma. Die Anbetungsstätte der Sikhs wird Gurdwara genannt. (Vergleiche Psalm 103:12, 13; Apostelgeschichte 24:15.)

      Eines der großen Gebote des Guru Nanak lautete: „Denke stets an Gott, wiederhole seinen Namen.“ Von Gott wird gesagt, er sei der „wahre Gott“, doch wird kein Name genannt (Psalm 83:16-18). Ein anderes Gebot lautete: „Teile, was du verdienst, mit dem, der weniger glücklich ist.“ Demzufolge gibt es in jedem Sikhtempel eine Langar, eine Gemeindeküche, wo alle Arten von Menschen mit kostenlosem Essen versorgt werden. Es gibt sogar unentgeltliche Schlafgelegenheiten, wo Besucher die Nacht zubringen können (Jakobus 2:14-17).

      Der letzte Guru, Gobind Singh (1666—1708), gründete die Khalsa, eine Sikh-Bruderschaft, die sich an die „fünf K“ hält. Diese sind: Kesch, ungeschnittenes Haar, was Spiritualität versinnbildet; Kangha, ein Kamm im Haar, der Ordnung und Disziplin darstellt; Kirpan, ein Schwert, das Würde, Mut und Selbstaufopferung bedeutet; Kara, ein stählernes Armband, das Einheit mit Gott symbolisiert; Kachh, kurze Hose, die als Unterkleidung getragen wurde; sie deutet Bescheidenheit an und wird getragen, um moralische Zucht zu symbolisieren. (Siehe The Encyclopedia of World Faiths, Seite 269.)

      [Bild]

      Goldener Tempel der Sikhs in Amritsar (Pandschab, Indien)

      [Bilder]

      Der blaue Turban kennzeichnet einen Sinn, der so umfassend ist wie der Himmel, ohne Raum für Vorurteil

      Der weiße Turban weist auf eine fromme Person hin, die ein vorbildliches Leben führt

      Der schwarze Turban erinnert an die britische Verfolgung der Sikhs im Jahre 1919

      Andere Farben sind eine Frage des Geschmacks

      [Bild]

      In zeremoniellem Prunk erzählt ein geistlicher Lehrer die Geschichte von den heiligen Waffen

      [Kasten/Bilder auf Seite 104]

      Dschainismus — Selbstverleugnung und Gewaltlosigkeit

      Diese Religion mit dem altindischen Hakenkreuzsymbol wurde im 6. Jahrhundert v. u. Z. von dem reichen indischen Fürsten Nataputta Wardhamana, besser als Wardhamana Mahawira bekannt (ein Titel, der „großer Mann“ oder „großer Held“ bedeutet), gegründet. Er begann ein Leben der Selbstverleugnung und der Askese. Auf der Suche nach Erkenntnis durchwanderte er nackt „die Dörfer und Ebenen Zentralindiens, um Befreiung vom Kreislauf der Geburt, des Todes und der Wiedergeburt zu finden“ (John B. Noss, Man’s Religions). Er glaubte, daß die Erlösung der Seele nur durch extreme Selbstverleugnung und Selbstdisziplin und eine strenge Anwendung der Ahimsa (Nichtverletzen, Gewaltlosigkeit) auf alle Geschöpfe erreichbar sei. Er vertrat die Ahimsa so extrem, daß er einen weichen Besen mitführte, mit dem er sanft jedes Insekt wegwischen konnte, das ihm in den Weg kam. Sein Respekt vor dem Leben schloß auch den Schutz der Reinheit und Integrität seiner eigenen Seele ein.

      Heute führen seine Anhänger in dem Bemühen, ihr Karma zu verbessern, ein ähnliches Leben der Selbstverleugnung und des Respektes vor allen anderen Geschöpfen. Wir sehen wiederum die große Wirkung, die der Glaube an die Unsterblichkeit der Menschenseele auf das menschliche Leben hat.

      Heute gibt es knapp vier Millionen Anhänger dieses Glaubens, und die meisten leben in den Gebieten von Bombay und Gujarat (Indien).

      [Bild]

      Ein Dschaina verrichtet seine Andacht zu den Füßen der 17 m hohen Statue des Heiligen Gomateswara in Karnataka (Indien)

      [Kasten/Bilder auf Seite 106, 107]

      Die Bedeutung einiger hinduistischer Wörter

      Ahimsa — Nichtverletzung, Nichtschädigung, Gewaltlosigkeit; kein Lebewesen verletzen oder töten, weshalb die Hindus Vegetarier sind und die Tiere respektieren

      Aschram — ein Heiligtum oder Ort, wo ein Guru (religiöser Lehrer) unterweist

      Atman — Geist; das unvergängliche Geistige im Menschen. Häufig irrigerweise mit Seele wiedergegeben (Siehe Jiva)

      Awatara — Manifestation oder Inkarnation einer hinduistischen Gottheit

      Bhakti — Hingabe an eine Gottheit, die zur Erlösung führt

      Bindi — roter Punkt, den verheiratete Frauen an der Stirn tragen

      Brahman — das absolute Sein (Siehe Seite 116)

      Brahmanen — Angehörige der obersten Kaste des Hinduismus, ursprünglich ausschließlich Priester

      Dharma — das Grundgesetz aller Dinge; es entscheidet, was rechte und unrechte Taten sind

      Ghat — Ufertreppe an einem Fluß

      Guru — religiöser Lehrer

      Harijan — Bezeichnung für die Unberührbaren; bedeutet „Personen Gottes“, von Mahatma Gandhi geprägte mitleidsvolle Bezeichnung

      Japa — murmelndes Hersagen von Gottes Namen; eine Mala oder Gebetsschnur aus 108 Perlen hilft beim Zählen

      Jiva (oder prān, prāni) — persönliche Seele oder Lebewesen

      Joga — von der Wurzel yuj, was anfügen oder anschirren bedeutet; Anfügen eines Individuums an das universale göttliche Wesen. Allgemein ist es ein Meditationssystem, bei dem körperliche Übungen und die Beherrschung des Atems eine Rolle spielen. Der Hinduismus anerkennt wenigstens vier Schulrichtungen oder Wege (Siehe Seite 110)

      Karma — die Lehre, daß jede gute oder böse Tat des Menschen sein Schicksal im künftigen Leben bestimmt

      Kschatrija — Kaste der Herrschenden, des Adels und der Krieger; die zweithöchste Kaste

      Mahant — Heiliger, Lehrer (Vorsteher)

      Mahatma — hinduistischer Heiliger, von maha, hoch oder groß, und ātman, Geist

      Maja — die Welt als eine Illusion

      Mantra — heilige Formel, die Zauberkraft haben soll; wird bei der Aufnahme in eine Sekte verwendet und in Gebeten und Beschwörungen wiederholt

      Mokscha oder Mukti — Befreiung aus dem Kreislauf der Geburten; das Ende der Wanderung der Seele. Auch als Nirwana bekannt, die Vereinigung der individuellen Seele mit dem absoluten Sein, dem Brahman

      Om, Aum — heilige Silbe, die das Brahman bedeutet und für die Meditation gebraucht wird; dem Om-Laut wird die mystische Vibration zugeschrieben; verwendet als heiliges Mantra

      Paramatman — Weltgeist, Welt-Atman oder Brahman

      Pudscha — Verehrung

      Sadhu — Heiliger; Asket oder Jogi

      Samsara — Wanderung einer ewigen, unvergänglichen Seele

      Schakti — weibliche Kraft oder Gattin eines Gottes, besonders Schiwas Gemahlin

      Schudra — Diener, Angehöriger der untersten der vier Hauptkasten

      Sraddha — wichtige Riten, die zu Ehren der Ahnen durchgeführt werden und die den abgeschiedenen Seelen die Erlangung von Mokscha ermöglichen sollen

      Swami — Lehrer oder höherer Grad des geistlichen Führers

      Trimurti — indische Triade mit Brahma, Wischnu und Schiwa

      Tschitraka (Tilaka) — Sektenzeichen auf der Stirn, das die Erinnerung an den Herrn (Gott) und all sein Tun symbolisiert

      Upanischaden — alte poetische heilige Schriften des Hinduismus. Auch als Wedanta, das Ende der Weden, bekannt

      Waischja — Klasse der Händler und Bauern; dritte Gruppe im Kastensystem

      Weden — die ältesten heiligen poetischen Schriften des Hinduismus

      [Bilder]

      Von links nach rechts: hinduistischer Mahant, meditierender Sadhu, Guru aus Nepal

      [Kasten auf Seite 110]

      Vier Wege zu Mokscha

      Der hinduistische Glaube kennt wenigstens vier Wege zur Erreichung von Mokscha oder der Befreiung der Seele. Diese werden Jogas oder Margas genannt — Wege zu Mokscha.

      1. Karmajoga — „Der Weg der Taten oder Karmajoga, die Disziplin der Taten. Grundlegend bedeutet Karmamarga, daß ein Mensch gemäß seiner Stellung im Leben sein Dharma erfüllt. Die Erfüllung gewisser Pflichten wird von allen Menschen gefordert, so zum Beispiel die Ahimsa und das Meiden von Alkohol und Fleisch; aber das besondere Dharma jedes einzelnen hängt von dessen Kaste und Stufe im Leben ab“ (Great Asian Religions).

      Dieses Karma wird streng innerhalb der Grenzen der Kaste ausgeführt. Die Reinheit der Kaste wird dadurch bewahrt, daß man keinen von einer anderen Kaste heiratet und auch mit niemandem von einer anderen Kaste ißt. Die Zugehörigkeit zur Kaste wird durch das Karma des vorhergehenden Lebens bestimmt. Deshalb wird die Zugehörigkeit zur Kaste nicht als eine Ungerechtigkeit empfunden, sondern als ein Erbe einer früheren Inkarnation. Gemäß der hinduistischen Philosophie sind Mann und Frau nicht gleichberechtigt. Die Hindus werden durch Kaste, Geschlecht und Hautfarbe getrennt. Je heller die Haut, desto höher die Kaste.

      2. Jnanajoga — „Der Weg der Erkenntnis oder Jnanajoga, die Disziplin der Erkenntnis. Im Gegensatz zu dem Weg der Tat, Karmamarga, mit seinen vorgeschriebenen Pflichten für jeden Anlaß im Leben ist Jnanamarga ein philosophischer und psychologischer Weg, das Selbst und das All zu erkennen. Sein, nicht Tun ist der Schlüssel zum Jnanamarga. [Kursivschrift von uns.] Vor allem aber ermöglicht dieser Weg den Praktizierenden schon in diesem Leben Mokscha“ (Great Asian Religions). Dabei geht es um introspektiven Joga, Zurückziehen aus der Welt und Askese. Er ist Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung.

      3. Bhaktijoga — „Heute die verbreitetste Form der hinduistischen Tradition. Es ist der Weg der Hingabe, der Bhaktimarga. Im Gegensatz zum Karmamarga ... ist dieser Weg leichter, spontaner, und Personen jeder Kaste, beiderlei Geschlechts und jeden Alters können ihn gehen. ... [Er] erlaubt, menschlichen Gefühlen und Wünschen freien Lauf zu lassen, anstatt von einer Joga-Askese bezwungen zu werden, ... [er] besteht ausschließlich aus Hingabe an göttliche Wesen.“ Und nach der Tradition gibt es davon 330 Millionen, die man verehren kann. Gemäß dieser Tradition bedeutet zu wissen zu lieben. Bhakti heißt „gefühlsmäßige Anhänglichkeit an den erwählten Gott“ (Great Asian Religions).

      4. Rajajoga — eine Methode „besonderer Körperhaltungen, Atemübungen und rhythmischer Wiederholung der richtigen Gedankenformeln“ (Man’s Religions). Er hat acht Glieder.

      [Kasten/Bilder auf Seite 113]

      Mahatma Gandhi und das Kastenwesen

      „Gewaltlosigkeit ist das A und das O meines Glaubens“ (Mahatma Gandhi, 23. März 1922).

      Mahatma Gandhi, berühmt wegen der Gewaltlosigkeit, mit der er für Indiens Unabhängigkeit von Großbritannien (1947 gewährt) kämpfte, setzte sich auch für die Verbesserung des Loses von Millionen Hindus ein. Der indische Professor M. P. Rege erklärt: „Er verkündete die Ahimsa (Gewaltlosigkeit) als höchsten sittlichen Wert und interpretierte sie als Sorge um die Würde und das Wohl jedes einzelnen Menschen. Die Autorität der hinduistischen Schriften lehnte er ab, wenn ihre Lehren der Ahimsa widersprachen; er kämpfte mutig für die Abschaffung der Unberührbarkeit und des hierarchischen Kastenwesens und förderte die Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen.“

      Wie dachte Gandhi über das Los der Unberührbaren? In einem Brief an Jawaharlal Nehru vom 2. Mai 1933 schrieb er: „Die Größe der Harijan-Bewegung erfordert mehr als nur intellektuelle Anstrengungen. Es gibt in der Welt nichts Schlechteres. Und doch kann ich mich von der Religion, also dem Hinduismus, nicht abwenden. Mein Leben wäre für mich eine Last, wenn der Hinduismus mich enttäuschte. Durch den Hinduismus liebe ich das Christentum, den Islam und viele weitere Religionen. ... Aber seine Unberührbarkeit kann ich nicht dulden“ (The Essential Gandhi).

      [Bild]

      Mahatma Gandhi (1869—1948), geehrter Hindu-Führer und Verfechter der Ahimsa

      [Kasten/Bilder auf Seite 116, 117]

      Hinduismus — einige Götter und Göttinnen

      Aditi — Göttermutter; Himmelsgottheit; die Unendlichkeit

      Agni — Feuergott

      Brahma — Weltschöpfer, das Schöpfungsprinzip im Kosmos. Einer der Götter der Trimurti (Triade)

      Brahman — das absolute Sein, das umfassende All-Eine, durch den Om- oder Aum-Laut dargestellt. (Siehe obiges Symbol.) Wird auch als Atman bezeichnet. Manche Hindus sehen im Brahman ein unpersönliches göttliches Prinzip oder den Urgrund alles Daseins

      Buddha — Gautama, Begründer des Buddhismus; die Hindus sehen in ihm eine Inkarnation (Awatara) Wischnus

      Durga — Gattin oder Schakti Schiwas; wird mit Kali identifiziert

      Ganescha — der elefantenköpfige Gott und Sohn Schiwas, Beseitiger von Hindernissen, Gott des Erfolges. Wird auch Ganapatjas und Gadschanana genannt

      Ganga — Göttin, eine der Gattinnen Schiwas und Personifikation des Ganges

      Hanuman — Affengott und Bundesgenosse Ramas

      Himalaja — Schneewohnung, Vater Parwatis

      Kali — Schiwas schwarze Gattin (Schakti) und blutrünstige Göttin der Zerstörung. Häufig mit großer roter heraushängender Zunge dargestellt

      Krischna — achte Inkarnation Wischnus und Gottheit der Bhagawadgita. Seine Gefährtinnen bei Liebesspielen sind die Gopis oder Hirtinnen

      Lakschmi — Göttin der Schönheit und des Glücks; Gattin Wischnus

      Manasa — Schlangengöttin

      Manu — Stammvater des Menschengeschlechts; von einem großen Fisch aus der Sintflut gerettet

      Mitra — Gott des Lichts. Den Römern als Mithras bekannt

      Nandi — Stier, Schiwas Reittier

      Nataradscha — Schiwa als Tänzer, umgeben von einem Flammenring

      Parwati oder Uma — Göttin und Gemahlin Schiwas. Sie nimmt auch die Gestalt der Göttin Durga oder Kali an

      Pradschapati — Weltschöpfer, Herr der Geschöpfe, Vater der Götter, Dämonen und aller anderen Geschöpfe. Später als Brahma bekannt

      Puruscha — Urwesen. Die vier wichtigsten Kasten entstanden aus Körperteilen von ihm

      Radha — Gefährtin Krischnas

      Rama, Ramatschandra — siebte Inkarnation des Gottes Wischnu. Im Epos Ramajana wird das Leben des Rama und seiner Frau Sita erzählt

      Saraswati — Göttin der Gelehrsamkeit und Gattin Brahmas, des Schöpfers

      Sasthi — Göttin und Beschützerin von Mutter und Kind bei der Geburt

      Schiwa — Gott der Fruchtbarkeit, des Todes und der Zerstörung; eine Gestalt der Trimurti. Seine Symbole sind Dreizack und Linga

      Soma — ein Gott und eine Droge; das Lebenswasser

      Wischnu — Gott, Erhalter des Lebens; dritte Gestalt der Trimurti

      [Nachweis]

      (Nach Angaben in Mythology—An Illustrated Encyclopedia)

      [Bilder]

      Von oben links im Uhrzeigersinn: Nataradscha (tanzender Schiwa), Saraswati, Krischna, Durga (Kali)

      [Kasten auf Seite 120]

      Die Flutsage der Hindus

      „Dem Manu [Stammvater der Menschheit und erster Gesetzgeber] brachten sie (seine Diener) früh Waschwasser, ... als er sich wusch, kam ihm ein Fisch [Wischnu in seiner Inkarnation als Matsja] in die Hände.

      Der sprach zu ihm: ‚Pflege mich, ich will dich retten.‘ — ‚Wovor willst du mich retten?‘ — ‚Eine Flut wird alle diese Geschöpfe fortführen, davor will ich dich retten.‘ — ‚Wie soll ich dich pflegen?‘ “

      Der Fisch wies Manu an, wie er das tun sollte. „Da (sprach er): ‚Das und das Jahr wird die Flut kommen, dann magst du ein Schiff zimmern und zu mir dich wenden (im Geiste): wenn die Flut sich erhebt, magst du das Schiff besteigen, dann will ich dich retten.‘ “

      Manu tat, wie ihm der Fisch geboten hatte, und während der Flut zog der Fisch das Schiff über einen „nördlichen Berg. Er sprach: ‚Ich habe dich gerettet: binde das Schiff an einen Baum, damit dich nicht, ob du auch auf dem Berge bist, das Wasser fortspült: wenn das Wasser allmählich fallen mag, dann magst du auch allmählich hinabsteigen‘ “ (Schatapatha-Brahmana, übersetzt von Albrecht Weber; vergleiche 1. Mose 6:9 bis 8:22).

      [Karte/Bilder auf Seite 123]

      (Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

      Der Ganges, der im Himalaja entspringt und bei Kalkutta sowie in einem Delta in Bangladesch ins Meer mündet, hat eine Länge von über 2 400 km

      INDIEN

      Kalkutta

      Ganges

      [Bilder]

      Ganga Ma stürzt auf Schiwas Haupt und wirbelt durch sein Haar

      Fromme Hindus in Varanasi, früher Benares, baden an einer Ufertreppe im Ganges

      [Bild auf Seite 96]

      Ganescha, der elefantenköpfige hinduistische Gott des Erfolges, Sohn Schiwas und Parwatis

      [Bilder auf Seite 99]

      Lingas (phallische Symbole), verehrt von Hindus; Schiwa (Gott der Fruchtbarkeit) im Innern eines Lingas; vier Köpfe Schiwas rings um ein Linga

      [Bild auf Seite 108]

      Dschain-Nonnen tragen das mukha-vastrika oder Mundtuch, welches das Einatmen von Insekten, die dabei getötet würden, verhindern soll

      [Bild auf Seite 115]

      Schlangenverehrung, vorwiegend in Bengalen gepflegt; die Schlangengöttin heißt Manasa

      [Bild auf Seite 118]

      Wischnu mit seiner Gemahlin Lakschmi auf der Weltschlange Ananta mit dem vierköpfigen Brahma auf einem Lotos, der aus dem Nabel Wischnus gewachsen ist

  • Der Buddhismus — Die Suche nach Erleuchtung ohne Gott
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 6

      Der Buddhismus — Die Suche nach Erleuchtung ohne Gott

      1. (a) Wie tritt der Buddhismus in der westlichen Gesellschaft in Erscheinung? (b) Welche Gründe für diese Entwicklung in der westlichen Welt können angegeben werden?

      DER Buddhismus — um die Jahrhundertwende außerhalb Asiens noch kaum bekannt — ist heute eine Weltreligion. Ja, im Westen stellen viele Leute überrascht fest, daß der Buddhismus direkt in ihrer Nachbarschaft blüht und gedeiht. Zum großen Teil ist das die Folge der internationalen Flüchtlingsbewegung. Viele Asiaten haben sich in Westeuropa, Nordamerika, Australien und in anderen Teilen der Erde niedergelassen. Immer mehr Immigranten schlagen in ihrem neuen Land Wurzeln und bringen natürlich auch ihre Religion mit. Auf diese Weise kommen zum ersten Mal mehr Menschen des Westens mit dem Buddhismus direkt in Berührung. Aus diesem Grund und wegen der in den traditionellen Kirchen geübten Toleranz und auch wegen des Verfalls auf religiösem Gebiet haben sich einige Leute zu dieser „neuen“ Religion bekehrt (2. Timotheus 3:1, 5).

      2. Wo überall gibt es heute Anhänger des Buddhismus?

      2 Gemäß dem Werk 1989 Britannica Book of the Year hat der Buddhismus weltweit etwa 300 Millionen Anhänger, ungefähr je 200 000 in Westeuropa und Nordamerika, 500 000 in Lateinamerika und 300 000 in der Sowjetunion. Doch die meisten Anhänger des Buddhismus sind noch immer in asiatischen Ländern wie Sri Lanka, Myanmar (Birma), Thailand, Japan, Korea und China zu finden. Wer war aber Buddha? Wie begann der Buddhismus? Was sind seine Lehren und Bräuche?

      Das Problem zuverlässiger Quellen

      3. Welches Quellenmaterial ist über Buddhas Leben vorhanden?

      3 „Was über Buddhas Leben bekannt ist, stammt größtenteils aus den kanonischen Texten, von denen die meisten in Pali, einer Sprache des alten Indien, geschrieben sind“, heißt es in dem Buch Die Religionen der Welt — Eine illustrierte Religionsgeschichte. Das bedeutet, daß aus der Zeit Buddhas kein Quellenmaterial vorhanden ist, das über Siddhārtha Gautama, den Stifter der Religion — er lebte im 6. Jahrhundert v. u. Z. in Nordindien —, Aufschluß gibt. Das stellt natürlich ein Problem dar. Doch noch bedeutsamer ist die Frage, wann und wie die „kanonischen Texte“ entstanden sind.

      4. Wie wurde die authentische Lehre Buddhas anfangs überliefert?

      4 Nach buddhistischer Tradition wurde bald nach dem Tod Gautamas ein Konzil von 500 Mönchen einberufen, um festzulegen, welches die authentische Lehre des Meisters sei. Ob ein solches Konzil tatsächlich stattgefunden hat, ist von buddhistischen Gelehrten und Historikern oft diskutiert worden. Es ist jedoch wichtig, zu beachten, daß sogar in buddhistischen Texten zugegeben wird, die festgelegte authentische Lehre sei nicht schriftlich niedergelegt worden, sondern die Jünger Buddhas hätten sie sich eingeprägt. Es verging noch eine lange Zeit, bis die buddhistischen heiligen Texte dann tatsächlich aufgezeichnet wurden.

      5. Wann wurden die Pali-Texte niedergeschrieben?

      5 Nach srilankischen Chroniken aus dem 4. und 6. Jahrhundert u. Z. wurden die frühesten Aufzeichnungen dieser „kanonischen Texte“ in Pali während der Herrschaft von König Wattagamani Abhaja im 1. Jahrhundert v. u. Z. gemacht. Andere Berichte über das Leben Buddhas faßte man vielleicht nicht vor dem 1. oder sogar nicht vor dem 5. Jahrhundert u. Z. ab, also fast 1 000 Jahre nach seiner Zeit.

      6. Welche Kritik wird an den „kanonischen Texten“ geübt? (Vergleiche 2. Timotheus 3:16, 17.)

      6 In dem Abingdon Dictionary of Living Religions heißt es daher: „Die ‚Biographien‘ wurden erst spät geschrieben und sind voller Legenden und Mythen, und die ältesten kanonischen Texte sind das Ergebnis eines langen Prozesses der mündlichen Überlieferung; während dieser Zeit wurde vieles verbessert und hinzugefügt.“ Ein Gelehrter „behauptete [sogar], daß nicht ein einziges Wort der niedergeschriebenen Lehre mit absoluter Sicherheit Gautama zugeschrieben werden kann“. Ist eine solche Kritik berechtigt?

      Buddhas Empfängnis und Geburt

      7. Wie soll laut buddhistischen Texten die Empfängnis Buddhas stattgefunden haben?

      7 Greifen wir z. B. die folgenden Auszüge aus Jātakam, einem Teil des Pali-Kanons, heraus und aus Buddhacarita, einem aus dem 2. Jahrhundert u. Z. stammenden Text in Sanskrit über das Leben Buddhas. Zuerst sei der Bericht erwähnt, der davon handelt, wie Buddhas Mutter, Königin Māyā, ihn in einem Traum empfing.

      „Die vier Großkönige hoben sie samt ihrem Bett auf und brachten sie nach dem Himālaya ... Darauf kamen ihre Gattinnen und brachten Māyā nach dem Anotatta-See; hier badeten sie sie, um sie von der menschlichen Unreinheit zu befreien ... Nicht weit von dort ist der Silberberg, dessen Spitze ein goldenes Haus ist; da machten sie ein nach Osten gerichtetes Lager zurecht und legten Māyā darauf nieder. Hierauf stieg der Bodhisattva ... als ein herrlicher weißer Elefant ... von da herab, stieg den Silberberg hinan ..., umschritt dreimal von rechts das Lager seiner Mutter, berührte ihre rechte Seite und ging so gleichsam in ihren Leib ein. So nahm er am letzten Tage des Asālha-Nakkhatta seine Wiedergeburt.“

      8. Was wurde über Buddhas Zukunft vorausgesagt?

      8 Als die Königin den Traum ihrem Mann, dem König, erzählte, ließ er 64 ausgezeichnete Hindupriester rufen, gab ihnen zu essen und kleidete sie ein; daraufhin bat er um die Deutung. Sie erklärten:

      „Sei unbesorgt, o Großkönig! ... Einen Sohn wirst du erhalten. Wenn dieser das häusliche Leben wählen wird, wird er ein König werden, ein Weltherrscher; wenn er aber das Haus verlassen und die Weltflucht betätigen wird, wird er ein Buddha werden, der in der Welt alles Dunkel vertreibt.“

      9. Welche ungewöhnlichen Ereignisse sollen stattgefunden haben, nachdem Buddhas Zukunft vorhergesagt worden war?

      9 Danach sollen sich 32 Wunder ereignet haben:

      „Da wankten, erzitterten und erbebten wie mit einem Schlage alle zehntausend Welten ... In allen Höllen erlosch das Feuer, ... bei allen Wesen verschwand die Krankheit, ... alle Instrumente ertönten, wiewohl nicht berührt, von selbst, ... in dem großen Weltmeer war süßes Wasser, ... das ganze System der zehntausend Welten drehte sich und war zusammengedrückt ... wie ein Bündel zusammengebundener Kränze ... voll höchster Herrlichkeit.“

      10. Wie wird in buddhistischen heiligen Texten die Geburt Buddhas beschrieben?

      10 Dann nahte die ungewöhnliche Geburt Buddhas in einem Garten mit Sālabäumen, Lumbini-Wald genannt. Als die Königin einen Sālazweig ergreifen wollte, bog er sich herab und kam ihrer Hand nahe. Sie hielt ihn fest, und stehend gebar sie ihren Sohn.

      „Dieser ging, wie ein Prediger vom Lehrstuhl oder wie ein Mann von der Leiter herabsteigt, aus dem Mutterleibe hervor, indem er beide Hände und Füße ausstreckte und dastand, ohne infolge seines Aufenthaltes im Mutterleibe durch eine Unreinheit befleckt zu sein ...“

      „Sobald er [der zukünftige Buddha] geboren war, stellte er sich mit beiden Beinen fest auf die Erde, machte sieben Schritte nach Norden — dabei wurde über ihm ein weißer Baldachin getragen — und schaute nach allen Himmelsrichtungen; dabei rief er mit unvergleichlicher Stimme: In der ganzen Welt bin ich der Erste, der Beste und der Herausragendste; das war meine letzte Geburt; nie mehr werde ich wiedergeboren!“

      11. Welche Schlußfolgerung haben einige Gelehrte hinsichtlich der in den buddhistischen heiligen Texten aufgezeichneten Berichte über Buddhas Leben gezogen?

      11 Genauso ausführliche Erzählungen gibt es über seine Kindheit, seine Begegnungen mit jungen Verehrerinnen, sein Umherwandern, ja über fast jede Begebenheit seines Lebens. Es überrascht vielleicht nicht, daß die meisten Gelehrten alle diese Berichte als Legenden und Mythen abtun. Ein Beamter am Britischen Museum vertritt sogar den Standpunkt, daß es wegen „der vielen Legenden und Wundererzählungen unmöglich ist, ... einen geschichtlichen Lebensbericht zusammenzustellen“.

      12, 13. (a) Was ist die traditionelle Weise, wie Buddhas Leben geschildert wird? (b) Welches Geburtsjahr Buddhas wird allgemein anerkannt? (Vergleiche Lukas 1:1-4.)

      12 Dessenungeachtet ist ein traditioneller Bericht über Buddhas Leben weit verbreitet. Ein moderner, in Colombo (Sri Lanka) veröffentlichter Text, A Manual of Buddhism, enthält folgende vereinfachte Fassung:

      „An einem Vollmondtag im Mai des Jahres 623 v. Chr. wurde in Nepal ein indischer Schakja-Prinz namens Siddhattha Gotamaa geboren. Sein Vater war König Suddhodana und seine Mutter Königin Majadewi. Sie starb wenige Tage nach der Geburt des Kindes, und so wurde Mahapradschapati Gautami seine Pflegemutter.

      Mit 16 Jahren heiratete er seine Kusine, die schöne Prinzessin Jaschodhara.

      Nach seiner Heirat führte er fast 13 Jahre ein luxuriöses Leben in seliger Unwissenheit über die Schicksalsschläge, die die Menschen außerhalb der Palasttore zu erdulden hatten.

      Im Laufe der Zeit wurde ihm die Realität immer mehr bewußt. In seinem 29. Lebensjahr, einem Wendepunkt in seiner Laufbahn, wurde sein Sohn Rahula geboren. Diesen betrachtete er als Hindernis, denn er erkannte, daß alle, die geboren werden, ohne Ausnahme der Krankheit und dem Tod preisgegeben sind. Es wurde ihm also klar, daß das Leid allgegenwärtig ist, und er entschloß sich, für die universelle Krankheit der Menschheit ein Allheilmittel zu finden.

      Er gab die königlichen Freuden auf und verließ eines Nachts sein Zuhause, ... schnitt sich das Haar ab, zog sich ein einfaches Gewand eines Asketen an und ging auf die Suche nach der Wahrheit.“

      13 Diese in seiner Biographie enthaltenen wenigen Einzelheiten stehen natürlich in krassem Gegensatz zu den auf Phantasie beruhenden Erzählungen in den „kanonischen Texten“. Und mit Ausnahme seines Geburtsjahres werden sie allgemein anerkannt.

      Die Erleuchtung — Wodurch kam sie?

      14. Wodurch trat in Gautamas Leben eine Wende ein?

      14 Was war der zuvor erwähnte „Wendepunkt in seiner Laufbahn“? Die Wende trat ein, als Siddhārtha zum ersten Mal in seinem Leben einen Kranken, einen Greis und einen Toten sah. Diese Erfahrung ließ in ihm eine quälende Frage über den Sinn des Lebens aufsteigen: Wird der Mensch nur geboren, um zu leiden, alt zu werden und zu sterben? Dann soll Siddhārtha einem heiligen Mann begegnet sein, der auf der Suche nach Wahrheit den Freuden der Welt entsagt hatte. Das gab ihm den Anstoß, seine Familie, seinen Besitz und seinen königlichen Namen aufzugeben. Die folgenden sechs Jahre brachte er bei Lehrern des Hinduismus und bei Gurus zu, von denen er sich eine Antwort erhoffte, jedoch ohne Erfolg. In den Erzählungen heißt es, daß er sich der Meditation hingab, fastete, Joga betrieb und sich in strengster Askese übte. Trotzdem fand er keinen inneren Frieden und erlangte keine Erleuchtung.

      15. Wie gelangte Gautama schließlich zu der angeblichen Erleuchtung?

      15 Schließlich kam er zu der Erkenntnis, daß strenge Askese ebenso nutzlos war wie das von ihm zuvor geführte Leben in Überfluß. Jetzt verfolgte er den „mittleren Weg“, wie er ihn nannte, und mied sowohl die eine als auch die andere extreme Lebensweise. Er war überzeugt, daß es eine Antwort auf seine Frage gab, daß er sie aber nur durch Meditation finden konnte. Deshalb ließ er sich unter einem Pipalbaum, einem indischen Feigenbaum, nieder und gab sich der Meditation hin. Er widerstand allen Angriffen und Versuchungen des Teufels Mara und setzte seine Meditation vier Wochen (einige sagen sieben Wochen) beharrlich fort, bis er angeblich alle Erkenntnis und alles Verständnis überschritten hatte. Dann gelangte er zur Erleuchtung.

      16. (a) Was wurde Gautama? (b) Welche unterschiedlichen Ansichten werden über Buddha vertreten?

      16 Auf diese Weise wurde Gautama gemäß buddhistischer Terminologie zum Buddha — zum Erwachten oder Erleuchteten. Er hatte das endgültige Ziel, das Nirwana, erreicht, einen Zustand vollkommenen Friedens und der Erleuchtung, frei von Begierde und Leiden. Er wurde auch als der Sākyamuni (der Weise der Sākya [des Schakja-Stammes]) bekannt, und oft redete er von sich als dem Tathagata (der so [zum Lehren] Gegangene). Die verschiedenen buddhistischen Sekten sind darüber jedoch unterschiedlicher Ansicht. Einige sehen in ihm nur einen Menschen, der für sich selbst den Weg zur Erleuchtung fand und ihn dann seine Nachfolger lehrte. Andere betrachten ihn als den letzten einer Reihe von Buddhas, die in die Welt gekommen seien, um dharma (Pali: dhamma), die Lehre oder den Weg Buddhas, zu verkünden oder wiederzubeleben. Wieder andere sehen ihn als einen Bodhisattwa an, einen, der Erleuchtung erlangt hatte, aber das Eingehen ins Nirwana hinausschob, um anderen bei ihrer Suche nach Erleuchtung zu helfen. Wie dem auch sei, dieses Ereignis, die Erleuchtung, nimmt in allen buddhistischen Schulen einen äußerst wichtigen Platz ein.

      Die Erleuchtung — Was ist damit gemeint?

      17. (a) Wo und vor wem hielt Buddha seine erste Predigt? (b) Umreiße kurz die „vier edlen Wahrheiten“.

      17 Nach seiner Erleuchtung begann Buddha nach anfänglichem Zögern, andere seine neugefundene Wahrheit, dharma, zu lehren. In einem Hirschpark bei Benares hielt er vor fünf Bhikkhus — Jüngern oder Mönchen — seine erste und wahrscheinlich auch seine bedeutendste Predigt. Darin lehrte er, daß man, um Erlösung zu finden, den Weg des sinnlichen Vergnügens sowie den Weg der Askese meiden und den „mittleren Weg“ gehen müsse. Außerdem müsse man die „vier edlen Wahrheiten“ verstehen und beachten (siehe den Kasten auf der gegenüberliegenden Seite), die auf folgende Weise kurz zusammengefaßt werden können:

      1. Alle Existenz ist von Leiden gekennzeichnet.

      2. Leiden entstehen aus einem Verlangen oder einer Gier.

      3. Die Aufhebung der Gier hebt das Leiden auf.

      4. Der Weg zur Aufhebung des Leidens ist der „achtfache Pfad“, durch den das Verhalten, das Denken und das Glauben geregelt wird.

      18. Was sagte Buddha über die Quelle seiner Erleuchtung? (Vergleiche Hiob 28:20, 21, 28; Psalm 111:10.)

      18 Diese Predigt über den „mittleren Weg“ und über die „vier edlen Wahrheiten“ stellt das Wesentliche der Erleuchtung Buddhas dar und bildet den Inhalt der gesamten Lehren Buddhas. (Im Gegensatz dazu vergleiche Matthäus 6:25-34; 1. Timotheus 6:17-19; Jakobus 4:1-3; 1. Johannes 2:15-17.) Gautama behauptete nicht, daß er für seine Predigt von Gott inspiriert worden sei, aber mit den Worten „hat der Tathāgata die Kenntnis ... gewonnen“ gibt er sich selbst die Ehre. Es heißt, daß Buddha auf seinem Sterbebett zu seinen Jüngern sagte, sie sollten „zur Wahrheit stehen ... als zu ... [ihrer] Richtschnur ... und zu niemandem Zuflucht suchen ... außer zu sich selbst“. Nach den Worten Buddhas kommt also die Erleuchtung nicht von Gott, sondern dadurch, daß man sich persönlich bemüht, richtiges Denken zu entwickeln und gute Taten zu vollbringen.

      19. Warum wurde die Botschaft Buddhas damals gern angenommen?

      19 Es ist leicht, zu erkennen, warum diese Lehre von der damaligen indischen Gesellschaft gern angenommen wurde. Durch diese Lehre wurden einerseits die Habgier und die korrupten religiösen Bräuche der Brahmanen oder der Priesterkaste des Hinduismus und andererseits die strenge Askese der Anhänger des Dschainismus sowie anderer mystischer Kulte verurteilt. Buddhas Lehre machte auch den Opfergaben und Riten, den Myriaden von Göttern und Göttinnen und dem bedrückenden Kastensystem, das jeden Lebensbereich des Volkes beherrschte und es versklavte, ein Ende. Kurz gesagt, diese Lehre verhieß Freiheit für alle, die dem Weg Buddhas folgten.

      Der Einfluß des Buddhismus wächst

      20. (a) Was sind die „drei Kleinode“ des Buddhismus? (b) Wie weit dehnte Buddha seinen Predigtfeldzug aus?

      20 Die fünf Bhikkhus nahmen die Lehre Buddhas an, wodurch der erste Sangha oder Mönchsorden gegründet wurde. Nun waren die „drei Kleinode“ (Tri-ratna) des Buddhismus vollständig: der Buddha, das Dharma und der Sangha. Diese sollten den Menschen helfen, auf den Weg der Erleuchtung zu gelangen. Gautama, der Buddha, startete nun, so vorbereitet, einen Predigtfeldzug durch das ganze Gangestal. Leute aus allen sozialen Schichten und Stellungen hörten ihm zu und wurden seine Jünger. Bis zu seinem Tod mit 80 Jahren war er sehr bekannt geworden und hatte sich die Achtung anderer erworben. Seine letzten Worte an seine Jünger sollen gewesen sein: „Vergänglich ist alles, was da geworden ist. Strebt nach eurem Heil!“

      21. (a) Wer spielte bei der Ausbreitung des Buddhismus eine wichtige Rolle? (b) Wie wirkten sich seine Bemühungen aus?

      21 Im 3. Jahrhundert v. u. Z., etwa 200 Jahre nach Buddhas Tod, regierte der größte Förderer des Buddhismus, Kaiser Aschoka, und brachte den größten Teil Indiens unter seine Herrschaft. Das durch seine Eroberungen verursachte Gemetzel und die Umwälzungen betrübten ihn, und so nahm er den Buddhismus an und gewährte ihm staatliche Unterstützung. Er errichtete religiöse Monumente, berief Konzile ein und ermahnte die Leute, den Lehren Buddhas gemäß zu leben. Aschoka schickte auch buddhistische Missionare in alle Teile Indiens sowie nach Sri Lanka, Syrien, Ägypten und Griechenland. Der Buddhismus, einst eine indische Sekte, wurde hauptsächlich zufolge der Bemühungen Aschokas zu einer Weltreligion. Zu Recht wird dieser von einigen als der zweite Stifter des Buddhismus angesehen.

      22. Wie faßte der Buddhismus in ganz Asien festen Fuß?

      22 Von Sri Lanka breitete sich der Buddhismus ostwärts nach Myanmar (Birma) und Thailand sowie in verschiedene Teile Indochinas aus. Im Norden erreichte er Kaschmir und Zentralasien. Von diesen Gebieten aus überquerten buddhistische Mönche schon im 1. Jahrhundert u. Z. die gefährlichen Berge und durchreisten öde Gebiete, um ihre Religion nach China zu bringen. Von China war es für den Buddhismus nur ein kleiner Schritt nach Korea und Japan. Er gelangte auch nach Tibet, dem nördlichen Nachbarn Indiens, und wurde mit den dortigen Glaubensansichten vermischt, wodurch der Lamaismus entstand; dieser beherrschte dort das religiöse und das politische Leben. Bis zum 6. oder 7. Jahrhundert u. Z. hatte der Buddhismus in ganz Südostasien und im Fernen Osten festen Fuß gefaßt. Doch was geschah in Indien?

      23. Was geschah in Indien mit dem Buddhismus?

      23 Während der Buddhismus in anderen Ländern immer mehr an Einfluß gewann, geriet er in Indien nach und nach in Verfall. Die Mönche waren so sehr mit Philosophie und Metaphysik beschäftigt, daß sie den Kontakt mit den Laienanhängern verloren. Auch der Verlust der königlichen Schirmherrschaft sowie die Annahme hinduistischen Gedankenguts und hinduistischer Bräuche beschleunigten den Niedergang des Buddhismus in Indien. Sogar buddhistische heilige Stätten wie Lumbini, wo Gautama geboren wurde, und Bodh Gaya, wo er „Erleuchtung“ erlangte, verfielen. Bis zum 13. Jahrhundert war der Buddhismus aus Indien, seinem Ursprungsland, so gut wie verschwunden.

      24, 25. Welche weiteren Entwicklungen im Buddhismus waren im 20. Jahrhundert zu beobachten?

      24 Im 20. Jahrhundert veränderte sich das Gesicht des Buddhismus erneut. Politische Unruhen in China, in der Mongolei, in Tibet und in Ländern Südostasiens versetzten ihm einen vernichtenden Stoß. Tausende von Klöstern und Tempeln wurden zerstört, und Hunderttausende von Mönchen und Nonnen wurden fortgetrieben, eingesperrt oder sogar getötet. Trotzdem ist der buddhistische Einfluß auf die Denkweise und die Bräuche der Menschen in diesen Ländern deutlich zu erkennen.

      25 In Europa und in Nordamerika scheint die buddhistische Auffassung davon, daß man in sich selbst die „Wahrheit“ suchen muß, großen Anklang zu finden, und mit Meditationsübungen will man der Hektik des Lebens in der westlichen Welt entfliehen. Interessanterweise schrieb der im Exil lebende Dalai-Lama von Tibet, Tenzin Gyatso, im Vorwort des Buches Living Buddhism: „Vielleicht spielt heute der Buddhismus eine Rolle dabei, daß die Menschen der westlichen Welt an die geistige Dimension ihres Lebens erinnert werden.“

      Die verschiedenen Richtungen des Buddhismus

      26. In was hat sich der Buddhismus aufgespalten?

      26 Man spricht zwar vom Buddhismus allgemein als von einer einzigen Religion, aber in Wirklichkeit hat er sich in mehrere Schulen aufgespalten. Da die Natur Buddhas und seine Lehren verschieden ausgelegt werden, hat jede Schule ihre eigenen Lehren, Bräuche und Schriften. Die Schulen sind wiederum in zahllose Gruppen und Sekten unterteilt, von denen viele von den lokalen Kulturen und Traditionen stark beeinflußt worden sind.

      27, 28. Beschreibe den Therawada-Buddhismus. (Vergleiche Philipper 2:12; Johannes 17:15, 16.)

      27 Der Therawada („Schule der Alten“) oder Hinajana („kleines Fahrzeug“), eine Schulrichtung des Buddhismus, fand in Sri Lanka, Myanmar (Birma), Thailand, Kamputschea (Kambodscha) und Laos Verbreitung. Einige sehen diese Richtung als die konservative Schule an. Sie hebt hervor, daß man sich, wenn man Weisheit erlangen und für sein eigenes Heil sorgen wolle, von der Welt lossagen und als Mönch leben, d. h. sich in einem Kloster der Meditation und dem Studium hingeben müsse.

      28 In einigen der erwähnten Länder ist es nicht ungewöhnlich, Gruppen junger Männer zu begegnen, die mit geschorenem Kopf in safrangelbem Gewand barfuß umhergehen und Almosengefäße tragen, damit sie darin von den Laien, deren Aufgabe es ist, sie zu unterstützen, das Lebensnotwendige empfangen können. Normalerweise verbringen Männer zumindest einen Teil ihres Lebens in einem Kloster. Das Endziel des Klosterlebens besteht darin, daß man ein Arhat wird, d. h. jemand, der geistige Vollkommenheit und Erlösung von dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten erlangt hat. Buddha hat den Weg gezeigt; es liegt bei jedem selbst, ihn zu gehen oder nicht.

      29. Was sind die Merkmale des Mahajana-Buddhismus? (Vergleiche 1. Timotheus 2:3, 4; Johannes 3:16.)

      29 Der Mahajana („großes Fahrzeug“) ist eine buddhistische Schulrichtung, die in China, Korea, Japan und Vietnam verbreitet ist. Die Bezeichnung wurde dieser Schulrichtung gegeben, weil sie die Lehre Buddhas hervorhebt, die besagt: „Die Wahrheit und der Heilsweg sind etwas für alle, ob jemand nun in einer Höhle, in einem Kloster oder in einem Haus lebt ... Sie sind nicht nur etwas für diejenigen, die sich von der Welt losgesagt haben.“ Die Leitidee des Mahajana-Buddhismus ist: Die Liebe und das Mitleid Buddhas sind so groß, daß er niemandem das Heil vorenthalten würde. Diese Schulrichtung lehrt, daß jeder in der Lage sei, ein Buddha, ein Erleuchteter, oder ein Bodhisattwa zu werden, weil allen Menschen die Buddha-Natur zu eigen sei. Erleuchtung werde nicht durch strenge Selbstdisziplin erlangt, sondern dadurch, daß man an Buddha glaube und allen Lebewesen gegenüber Mitgefühl bekunde. Das spricht natürlich die praktisch denkende breite Masse an. Aber wegen dieser liberaleren Gesinnung sind zahllose Gruppen und Sekten entstanden.

      30. Welches Ziel suchen Anhänger der „Schule des reinen Landes“ zu erreichen? (Vergleiche Matthäus 6:7, 8; 1. Könige 18:26, 29.)

      30 Zu den vielen Mahajana-Sekten, die sich in China und in Japan entwickelt haben, gehören die Schule des reinen Landes und der Zen-Buddhismus. Den Mittelpunkt in der erstgenannten Sekte bildet der Glaube an die rettende Macht des Amida-Buddha, der seinen Nachfolgern eine Wiedergeburt im „reinen Land“ oder „Paradies des Westens“ verspricht, einem von Göttern und Menschen bewohnten Land der Wonne und Freude. Von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Nirwana. Durch das Wiederholen der Formel „Anbetung dem Amida-Buddha“ — manchmal täglich Tausende von Malen — reinigen sich die Gläubigen, und so erlangen sie Erleuchtung und werden ins „Paradies des Westens“ hineingeboren.

      31. Was sind die Merkmale des Zen-Buddhismus? (Vergleiche Philipper 4:8.)

      31 Der Zen-Buddhismus (in China die Ch’an-Schule) führt seinen Namen auf das Meditieren zurück. Die Wörter ch’an (chinesisch) und zen (japanisch) entsprechen dem sanskritischen Ausdruck dhyana, der „Meditation“ bedeutet. Diese Schule lehrt, daß Studium, gute Werke und Zeremonien wenig Nutzen bringen. Man kann Erleuchtung erlangen, indem man einfach über unlösbare Rätsel nachsinnt, wie z. B.: „Wie klingt es, wenn man mit nur einer Hand klatscht?“ oder: „Was findet man dort, wo nichts ist?“ Die mystische Natur des Zen-Buddhismus kommt in der hochentwickelten Kunst des Arrangierens von Blumen, des Schönschreibens, der Tuschmalerei, der Dichtung, des Gartenbaus usw. zum Ausdruck, und diese Künste haben im Westen eine große Resonanz gefunden. Heute gibt es in vielen westlichen Ländern Meditationszentren.

      32. Wie wird der tibetische Buddhismus praktiziert?

      32 Zum Schluß sei noch der tibetische Buddhismus oder Lamaismus erwähnt. Diese Form des Buddhismus wird manchmal Mantrajana (Mantra-Fahrzeug) genannt, denn ein hervorstechendes Merkmal ist das Vortragen von mantras, einer Reihe von Silben mit oder ohne Bedeutung. Im Lamaismus wird kein Nachdruck auf Weisheit und Barmherzigkeit gelegt, sondern auf Zeremonien, Gebete, Magie und Spiritismus. Mit Hilfe von Gebetsschnüren und Gebetsmühlen werden Gebete täglich Tausende Male wiederholt. Die Durchführung der komplizierten Zeremonien kann nur durch die mündliche Unterweisung der Lamas oder Mönchsführer erlernt werden, von denen die bekanntesten der Dalai-Lama und der Pantschen-Lama sind. Wenn einer dieser beiden Lamas stirbt, geht man auf die Suche nach einem Kind, von dem man meint, der Lama habe sich in ihm inkarniert, und es wird der nächste geistliche Führer. Der Ausdruck Lama wird außerdem ganz allgemein auf alle Mönche angewandt, und es gab eine Zeit, wo sie schätzungsweise ein Fünftel der gesamten Bevölkerung Tibets ausmachten. Lamas waren auch Lehrer, Ärzte, Grundbesitzer und Politiker.

      33. Inwiefern ist der Buddhismus auf ähnliche Weise zersplittert wie die Christenheit? (Vergleiche 1. Korinther 1:10.)

      33 Diese Hauptrichtungen des Buddhismus haben sich wiederum in viele Gruppen oder Sekten aufgespalten. Einige verehren einen bestimmten Führer, z. B. Nitschiren in Japan, der lehrte, daß nur das Lotos-Sutra des Mahajana die festgelegten Lehren Buddhas enthalte, und Nun Ch’in-Hai in Taiwan, der zahlreiche Anhänger hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Buddhismus nicht viel von der in zahllose Glaubensgemeinschaften und Sekten zersplitterten Christenheit. Ja, nicht selten beteiligen sich Leute, die vorgeben, Buddhisten zu sein, an Bräuchen des Taoismus, des Schintoismus, des Ahnenkults und sogar der Christenheit.b Alle buddhistischen Sekten behaupten, ihre Dogmen und Bräuche würden sich auf die Lehren Buddhas stützen.

      Die drei Körbe und andere buddhistische Schriften

      34. Was muß bei der Betrachtung der Lehren des Buddhismus im Sinn behalten werden?

      34 Die dem Buddha zugeschriebenen Lehren wurden mündlich überliefert und erst Jahrhunderte nach seinem Tod niedergeschrieben. Die Schriften können also bestenfalls das enthalten, was er nach der Meinung seiner Nachfolger aus späteren Generationen sagte und tat. Das Problem wird dadurch noch größer, daß sich der Buddhismus bis dahin schon in viele Schulen aufgespalten hatte. Deshalb stellen verschiedene Texte den Buddhismus ganz unterschiedlich dar.

      35. Welches sind die frühesten heiligen Texte des Buddhismus?

      35 Die frühesten buddhistischen Texte wurden um das 1. Jahrhundert v. u. Z. in Pali, der angeblichen Muttersprache Buddhas, niedergeschrieben. Die Therawada-Schule erkennt sie als die authentischen Texte an. Sie bestehen aus 31 Büchern, die in drei Schriftensammlungen eingeteilt sind, und werden Tipitaka (Sanskrit: Tripitaka) genannt, was „drei Körbe“ oder „drei Sammlungen“ bedeutet. Das Winaja-Pitaka (Korb der Ordensdisziplinen) behandelt hauptsächlich Vorschriften und Regeln für Mönche und Nonnen. Das Sutta-Pitaka (Korb der Lehrreden) enthält Predigten, Gleichnisse und Sprüche Buddhas und seiner bedeutendsten Schüler. Und das Abhidhamma-Pitaka (Korb der höheren Lehrbegriffe) schließt Kommentare zur buddhistischen Lehre ein.

      36. Was kennzeichnet die Schriften des Mahajana-Buddhismus?

      36 Die Schriften der Mahajana-Schule gibt es meistens nur in Sanskrit, Chinesisch und Tibetisch, und sie sind sehr umfangreich. Allein der chinesische Text umfaßt über 5 000 Bände. Sie enthalten vieles, was in den frühen Schriften nicht zu finden ist, z. B. Berichte über Buddhas, die so zahlreich gewesen sein sollen, wie es Sandkörner im Ganges gibt, und die angeblich unzählige Millionen Jahre lebten und von denen jeder seiner eigenen Buddhawelt vorstand. Es ist keine Übertreibung, wenn ein Schriftsteller erklärt, charakteristisch für diese Texte seien „die Abweichungen voneinander, die blühende Phantasie, die Erwähnung interessanter Persönlichkeiten und die vielen Wiederholungen“.

      37. Welche Probleme entstanden durch die Schriften des Mahajana? (Vergleiche Philipper 2:2, 3.)

      37 Natürlich können nur wenige die rein theoretischen Abhandlungen verstehen. Folglich ist das, was sich aus dem Buddhismus später entwickelte, weit entfernt von dem, was Buddha ursprünglich beabsichtigte. Gemäß dem Winaja-Pitaka wollte er, daß seine Lehren nicht nur von der gebildeten Klasse verstanden wurden, sondern von allen Arten von Menschen. Deshalb bestand er darauf, daß seine Vorstellungen in der Sprache des allgemeinen Volkes und nicht in der heiligen toten Sprache des Hinduismus verbreitet wurden. Auf den Einwand der Therawada-Buddhisten, die Bücher des Mahajana seien nicht kanonisch, entgegneten dessen Anhänger, Gautama, der Buddha, habe zuerst das einfache und ungebildete Volk belehrt, aber den Gebildeten und Weisen später seine Lehren in den Büchern des Mahajana offenbart.

      Der Kreislauf des Karmas und des Samsara

      38. (a) Wie lassen sich buddhistische und hinduistische Lehren miteinander vergleichen? (b) Was ist die buddhistische Vorstellung von der Seele in der Theorie und in der Praxis?

      38 Der Buddhismus befreite zwar das Volk bis zu einem gewissen Grad von den Fesseln des Hinduismus, aber die grundlegenden Vorstellungen des Buddhismus sind dennoch ein Erbe der hinduistischen Lehren vom Karma und vom Samsara. Der Buddhismus, wie er ursprünglich von Buddha gelehrt wurde, unterscheidet sich dadurch vom Hinduismus, daß er die Existenz einer unsterblichen Seele leugnet und von dem Menschen als von „einer Verbindung physischer und geistiger Kräfte“ spricht.c Aber trotzdem drehen sich seine Lehren um die Vorstellung, daß alle Menschen durch unzählige Wiedergeburten von einem Leben zum andern wandern (Samsara) und unter den Folgen vergangener und gegenwärtiger Taten zu leiden haben (Karma). Obwohl die Botschaft von der Erleuchtung und von der Erlösung aus diesem Kreislauf faszinierend zu sein scheint, mag sich mancher fragen: Wie fest ist ihre Grundlage? Welchen Beweis gibt es, daß jemandes Leiden die Folge seiner Taten in einem früheren Leben sind? Und kann man überhaupt beweisen, daß es so etwas wie ein früheres Leben gibt?

      39. Wie erklärt ein buddhistischer Text das Karma-Gesetz?

      39 Eine Erklärung zum Karma-Gesetz lautet:

      „Kamma [die Entsprechung für Karma in Pali] ist selbst ein Gesetz. Daraus folgt aber nicht, daß ein Gesetzgeber vorhanden sein muß. Die gewöhnlichen Naturgesetze wie das Gesetz der Schwerkraft setzen keinen Gesetzgeber voraus. Dasselbe trifft auf das Kamma-Gesetz zu. Es ist in seinem Bereich wirksam ohne die Einmischung einer äußeren unabhängigen herrschenden Kraft“ (A Manual of Buddhism).

      40. (a) Was ist daraus zu schließen, daß Naturgesetze vorhanden sind? (b) Was sagt die Bibel über Ursache und Wirkung?

      40 Ist das eine logische Schlußfolgerung? Setzen die Naturgesetze wirklich keinen Gesetzgeber voraus? Der Raketenexperte Dr. Wernher von Braun sagte einmal: „Die im Universum geltenden Naturgesetze sind so präzise, daß wir ohne Schwierigkeit ein Raumschiff bauen können, das auf den Mond fliegt und dessen Flugzeit wir auf den Bruchteil einer Sekunde genau berechnen können. Diese Gesetze müssen von jemandem festgelegt worden sein.“ Die Bibel erwähnt ebenfalls das Gesetz von Ursache und Wirkung, wenn sie sagt: „Gott läßt sich nicht verspotten. Denn was immer ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Galater 6:7). Statt daß gesagt wird, dieses Gesetz setze keinen Gesetzgeber voraus, wird darauf hingewiesen, daß ‘sich Gott nicht verspotten läßt’, woraus zu schließen ist, daß dieses Gesetz von seinem Schöpfer, Jehova, in Kraft gesetzt wurde.

      41. (a) Welchen Vergleich kann man zwischen dem Karma-Gesetz und dem Gesetz, das bei Gericht angewendet wird, ziehen? (b) Stelle Karma der Verheißung der Bibel gegenüber.

      41 Außerdem heißt es in der Bibel: „Der Lohn, den die Sünde zahlt, ist der Tod“ und: „Wer gestorben ist, ist von seiner Sünde freigesprochen.“ Selbst Gerichte erkennen an, daß eine Person wegen derselben Straftat nicht zweimal bestraft werden darf. Warum sollte also jemand, der seine Sünden schon mit dem Leben bezahlt hat, wiedergeboren werden, nur um erneut unter den Folgen seiner vergangenen Taten zu leiden? Und wie kann er bereuen und sich verbessern, wenn er nicht weiß, für welche in der Vergangenheit begangenen Taten er bestraft wird? Wäre das gerecht? Wäre dies mit der Barmherzigkeit vereinbar, die Buddhas hervorstechendste Eigenschaft gewesen sein soll? Demgegenüber heißt es in der Bibel nach der Erklärung „Der Lohn, den die Sünde zahlt, ist der Tod“ weiter: „Die Gabe aber, die Gott gibt, ist ewiges Leben durch Christus Jesus, unseren Herrn.“ Ja, die Bibel enthält die Verheißung, daß Gott alle Verderbtheit sowie die Sünde und den Tod beseitigen und die Menschheit befreien und zur Vollkommenheit bringen wird (Römer 6:7, 23; 8:21; Jesaja 25:8).

      42. Wie erklärt ein buddhistischer Gelehrter die Wiedergeburt?

      42 Der buddhistische Gelehrte Dr. Walpola Rahula erklärt die Wiedergeburt wie folgt:

      „Ein Wesen ist nichts als eine Verbindung von physischen und geistigen Kräften. Was als Tod bezeichnet wird, ist das völlige Aufhören der Funktionen des physischen Leibes. Sind aber mit dem Aufhören der Funktionen des Leibes auch alle anderen Kräfte lahmgelegt? Der Buddhismus antwortet: ‚Nein.‘ Der Wille, die Entschlossenheit, das Begehren und der Durst zu existieren, das Leben zu erhalten und sich zu vermehren, ist eine gewaltige Kraft, eine Kraft, die alle Lebewesen, alles, was existiert, ja die ganze Welt antreibt. Es ist die größte Kraft in der Welt. Gemäß dem Buddhismus verliert diese Kraft mit dem Aufhören der Funktionen des Leibes — beim Tod — nicht ihre Wirkung, sondern kommt immer wieder in einer anderen Form zum Ausdruck, wodurch eine neue Existenz entsteht, was Wiedergeburt genannt wird.“

      43. (a) Wie wird aus biologischer Sicht jemandes Erbgut festgelegt? (b) Welche „Beweise“ werden manchmal für die Wiedergeburt angeführt? (c) Entsprechen diese „Beweise“ aber den Erfahrungstatsachen?

      43 Zum Zeitpunkt der Zeugung eines Kindes werden von jedem Elternteil 50 Prozent der Erbfaktoren weitergegeben. Das Kind kann also unmöglich eine 100prozentige Entsprechung von jemand aus einer früheren Existenz sein. Es gibt kein bekanntes Naturgesetz, mit dem der Vorgang der Wiedergeburt belegt werden kann. Des öfteren führen diejenigen, die an die Lehre von der Wiedergeburt glauben, als Beweis die Erlebnisse von Personen an, die sich angeblich an Gesichter, Ereignisse und Orte erinnern können, die sie vorher nicht kannten. Ist das logisch? Wenn man behauptet, jemand, der Dinge aus der Vergangenheit bis ins einzelne berichten könne, müsse in jener Zeit gelebt haben, dann müßte man auch sagen, jemand, der die Zukunft vorhersagen könne — und es gibt viele, die vorgeben, dazu befähigt zu sein —, müsse in der Zukunft gelebt haben. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall.

      44. Stelle das, was die Bibel über den „Geist“ sagt, der buddhistischen Lehre von der Wiedergeburt gegenüber.

      44 Mehr als 400 Jahre vor der Zeit Buddhas sprach die Bibel von einer Lebenskraft. Über das, was beim Tod eines Menschen geschieht, wird gesagt: „Dann kehrt der Staub zur Erde zurück, so wie er gewesen ist, und der Geist selbst kehrt zu dem wahren Gott zurück, der ihn gegeben hat“ (Prediger 12:7). Das Wort „Geist“ ist die Übersetzung des hebräischen Ausdrucks rúach, der die Lebenskraft bezeichnet, die alle menschlichen und tierischen Lebewesen antreibt (Prediger 3:18-22). Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, daß rúach eine unpersönliche Kraft ist; sie hat keinen eigenen Willen und behält auch nicht die Persönlichkeit oder die Charaktermerkmale des Verstorbenen. Sie geht beim Tod nicht von einer Person in eine andere über, sondern „kehrt zu dem wahren Gott zurück, der ... [sie] gegeben hat“. In anderen Worten, die Hoffnung auf künftiges Leben — die Hoffnung auf eine Auferstehung — hängt ganz von Gott ab (Johannes 5:28, 29; Apostelgeschichte 17:31).

      Nirwana — das Unerreichbare erreichen?

      45. Welche Auffassung haben die Buddhisten vom Nirwana?

      45 Nun kommen wir zu Buddhas Lehre von der Erleuchtung und vom Heil. Im Buddhismus besteht die Grundvorstellung des Heils in der Befreiung vom Karma- und Samsara-Gesetz und im Erreichen des Nirwanas. Und was ist das Nirwana? Laut buddhistischen Texten kann man es unmöglich beschreiben oder erklären, man kann es nur erleben. Es ist kein Himmel, wohin man nach dem Tod gelangt, sondern es ist ein Zustand, der von allen schon zu Lebzeiten erreicht werden kann. Das Wort selbst soll „Auswehen, Aushauchen, Erlöschen“ bedeuten. Einige definieren also das Nirwana als das Aufhören aller Leidenschaft und Begierde; die Freiheit von allen Gefühlen, z. B. von Schmerz, Furcht, Begehren, Liebe oder Haß; ein Zustand des ewigen Friedens, der Ruhe und der Unveränderlichkeit. Kurz gesagt, es soll das Aufhören der individuellen Existenz sein.

      46, 47. (a) Was ist nach der buddhistischen Lehre die Quelle des Heils? (b) Wieso widerspricht die buddhistische Auffassung von der Quelle des Heils dem, was die Erfahrung lehrt?

      46 Buddha lehrte, daß man nicht mit Hilfe eines Gottes oder einer äußeren Kraft die Erleuchtung und das Heil — das vollkommene Nirwana — erlangt, sondern daß man von innen heraus durch eigene Anstrengungen, durch rechtes Tun und rechtes Denken, dieses Ziel erreicht. Dadurch entsteht die Frage: Kann etwas Unvollkommenes etwas Vollkommenes hervorbringen? Haben wir nicht alle die gleiche Erfahrung gemacht wie der hebräische Prophet Jeremia, der sagte, „daß nicht beim Erdenmenschen sein Weg steht. Es steht nicht bei dem Mann, der da wandelt, auch nur seinen Schritt zu richten.“ (Jeremia 10:23)? Ist es logisch, zu glauben, jemand könne das ewige Heil selbst, ohne fremde Hilfe, erlangen, wenn doch schon in kleinen alltäglichen Angelegenheiten kein Mensch seine Handlungsweise völlig unter Kontrolle haben kann? (Psalm 146:3, 4).

      47 So, wie jemand, der in Treibsand einsinkt, sich höchstwahrscheinlich nicht selbst daraus befreien kann, ist die von Sünde und Tod gefangengehaltene Menschheit nicht in der Lage, sich selbst aus dieser Gefangenschaft zu befreien (Römer 5:12). Buddha lehrte jedoch, daß das Heil nur durch eigene Anstrengungen erlangt werden kann. Zum Abschied ermahnte er seine Jünger, sie sollten sich selbst Zuflucht sein, keine äußere Zuflucht suchen, sondern zur Wahrheit stehen als zu ihrer Richtschnur und zu niemandem Zuflucht suchen außer zu sich selbst.

      Erleuchtung oder Enttäuschung?

      48. (a) Wie beschreibt ein Buch die Auswirkung, die die komplizierten buddhistischen Anschauungen haben, beispielsweise die vom Nirwana? (b) Was ist die Folge davon, daß man sich in der Neuzeit in einigen Gegenden für buddhistische Lehren interessiert?

      48 Wie wirkt sich eine solche Lehre aus? Verhilft sie ihren Anhängern zu echtem Glauben und echter Frömmigkeit? In dem Buch Living Buddhism wird berichtet, daß selbst „Mönche wenig über die Erhabenheit ihrer Religion nachdenken. Viele meinen, daß es ein hoffnungsloses, unrealistisches Unterfangen sei, das Nirwana anzustreben, und nur selten geben sie sich der Meditation hin. Abgesehen davon, daß sie sich dem ziellosen Studium des Tipitaka widmen, sind sie darauf bedacht, in der Gesellschaft eine wohlwollende Gesinnung zu fördern und sie zum Frieden zu beeinflussen.“ Und in einem Kommentar zu dem Wiederaufleben des Interesses an den Lehren Buddhas in der Neuzeit heißt es in der World Encyclopedia (japanisch): „Je mehr man sich bei der Betrachtung des Buddhismus auf eine bestimmte Richtung konzentriert, desto weniger erfüllt er seinen eigentlichen Zweck: den Menschen eine Anleitung zu geben. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, bedeutet der neuzeitliche Trend, den Buddhismus genau zu untersuchen, nicht unbedingt die Erneuerung eines lebendigen Glaubens. Man stellt vielmehr fest, daß eine Religion, wenn sie zum Gegenstand komplizierter metaphysischer Studien wird, ihre Kraft als lebendiger Glaube verliert.“

      49. Wie betrachten viele den Buddhismus?

      49 Die grundlegende Auffassung des Buddhismus ist, daß Erkenntnis und Verständnis zur Erleuchtung und zum Heil führen. Aber die komplizierten Lehren der verschiedenen Schulen des Buddhismus ließen nur die obenerwähnte „hoffnungslose“ Situation entstehen, und die meisten Gläubigen können die Lehren nicht verstehen. In ihren Augen gehört zum Buddhismus nichts weiter, als daß man Gutes tut sowie einige Riten ausübt und ein paar einfache Gebote befolgt. Er setzt sich nicht mit komplizierten Lebensfragen auseinander, Fragen wie: Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Wie sieht die Zukunft des Menschen und der Erde aus?

      50. Welche Frage steigt in Anbetracht der Erfahrungen, die einige aufrichtige Buddhisten gemacht haben, auf? (Vergleiche Kolosser 2:8.)

      50 Einige aufrichtige Buddhisten haben erkannt, wie verwirrend die komplizierten Lehren und die heute durchgeführten belastenden Riten des Buddhismus sind und daß sie nur zur Enttäuschung führen. Die humanitären Bemühungen buddhistischer Gruppen und Gemeinschaften in einigen Ländern haben das Leid und die Not vieler Menschen gelindert. Hat der Buddhismus aber sein Versprechen, daß durch ihn alle Erleuchtung und Freiheit erlangen, erfüllt?

      Erleuchtung ohne Gott?

      51. (a) Was wird in einer Erzählung über Buddhas Lehren gesagt? (b) Was ließ Buddha in seinen Lehren aus? (Vergleiche 2. Chronika 16:9; Psalm 46:1; 145:18.)

      51 In Berichten über das Leben Buddhas heißt es, daß er mit seinen Jüngern einmal in einem Wald war. Er hob eine Handvoll Blätter auf und sagte zu seinen Jüngern: „Was ich euch gelehrt habe, ist mit den Blättern in meiner Hand zu vergleichen; was ich euch nicht gelehrt habe, ist mit den Blättern des ganzen Waldes zu vergleichen.“ Buddha wollte damit natürlich sagen, daß er ihnen nur einen Bruchteil von dem beigebracht hatte, was er wußte. Gautama, der Buddha, ließ aber etwas Wichtiges aus: Er sagte fast nichts über Gott; andererseits behauptete er auch nie, selbst Gott zu sein. Er soll sogar zu seinen Jüngern gesagt haben: „Wenn es tatsächlich einen Gott gibt, dann kann ich mir nicht vorstellen, daß er sich um meine alltäglichen Angelegenheiten kümmert“ und: „Es gibt keine Götter, die dem Menschen helfen oder ihm helfen können.“

      52. (a) Welche Auffassung hat der frühe Buddhismus von Gott? (b) Was verwirft der Buddhismus?

      52 Von diesem Gesichtspunkt aus spielt der Buddhismus bei der Suche der Menschheit nach dem wahren Gott nur eine geringe Rolle. In dem Werk The Encyclopedia of World Faiths heißt es diesbezüglich: „Der frühe Buddhismus hat anscheinend die Frage nach Gott nicht in Betracht gezogen und mit Sicherheit weder einen Glauben an Gott gelehrt noch diesen Glauben gefordert.“ Da er betont, daß jeder sein Heil selbst suchen müsse, indem der Betreffende sich in sich selbst versenke, um zur Erleuchtung zu gelangen, vertritt der Buddhismus eine agnostizistische, wenn nicht sogar eine atheistische Auffassung. (Siehe Kasten, Seite 145.) In dem Versuch, die hinduistischen Fesseln des Aberglaubens und der verwirrenden Vielzahl mythischer Gottheiten abzuwerfen, ist der Buddhismus ins andere Extrem gefallen. Er verwirft die grundlegende Konzeption von einem höchsten Wesen, durch dessen Willen alles existiert und funktioniert (Apostelgeschichte 17:24, 25).

      53. Was kann über die Suche nach Erleuchtung ohne Gott gesagt werden? (Vergleiche Sprüche 9:10; Jeremia 8:9.)

      53 Das Ergebnis dieser egozentrischen und unabhängigen Denkweise ist ein wahrhaftes Labyrinth von Legenden, Traditionen, komplizierten Lehren und Auslegungen, die im Laufe der Jahrhunderte von den vielen Schulen und Sekten entwickelt wurden. Was eine einfache Lösung für die vielschichtigen Probleme des Lebens sein sollte, wurde zu einem religiösen, philosophischen System, das viel zu kompliziert ist, als daß es von den meisten Leuten verstanden werden kann. Statt dessen begnügt sich der Durchschnittsbuddhist mit der Verehrung von Götzen und Reliquien, Göttern und Dämonen, Geistern und Ahnen, und er übt viele Riten und Bräuche aus, die wenig mit dem zu tun haben, was Gautama, der Buddha, gelehrt hat. Offensichtlich führt also die Suche nach Erleuchtung ohne Gott nicht zum Erfolg.

      54. Nenne zwei andere religiöse Denker des Ostens, deren Lehren als nächstes behandelt werden.

      54 Ungefähr zur gleichen Zeit, als Gautama den Weg zur Erleuchtung suchte, lebten in einem anderen Teil Asiens zwei Philosophen, von deren Vorstellungen Millionen Menschen beeinflußt wurden. Es waren Laotse und Konfuzius, zwei Weise, die seit Jahrhunderten von Chinesen und anderen verehrt werden. Was lehrten sie, und wie haben sie die Suche der Menschheit nach Gott beeinflußt? Das wird im folgenden Kapitel behandelt.

      [Fußnoten]

      a Das ist die Transkription seines Namens in Pali. In Sanskrit ist die Transkription Siddhārtha Gautama. Die Angaben über sein Geburtsjahr variieren jedoch; es werden unter anderem die Jahre 560, 563 und 567 v. u. Z. genannt. Die meisten Experten legen seine Geburt in das Jahr 560 oder zumindest in das 6. Jahrhundert v. u. Z.

      b Viele Buddhisten in Japan feiern in aufwendiger Weise „Weihnachten“.

      c Buddhistische Lehren wie die Lehre vom Anatta (Nichtselbst) verneinen die Existenz einer unwandelbaren oder dauernden Seele. Heute glauben allerdings die meisten Buddhisten, besonders diejenigen des Fernen Ostens, an die Wanderung einer unvergänglichen Seele. Das geht deutlich daraus hervor, daß sie ihre Ahnen verehren und an Qualen nach dem Tod in einer Hölle glauben.

      [Kasten auf Seite 139]

      Die „vier edlen Wahrheiten“ Buddhas

      Buddha erläuterte seine grundlegende Lehre durch die sogenannten „vier edlen Wahrheiten“. Es folgt ein Zitat aus dem dhamma-cakka-ppavattna-sutta (G. J. Bellinger, Der große Religionsführer, München 1986, S. 68):

      ▪ „Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden; mit Unlieben vereint sein ist Leiden. Von Lieben getrennt sein ist Leiden. Nicht erlangen, was man begehrt, ist Leiden. ...

      ▪ Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: es ist der die Wiedergeburt erzeugende Durst, begleitet von Wohlgefallen und Begier, der hier und dort seine Freude findet: nämlich der Durst nach Lust, der Durst nach Werden und Dasein ...

      ▪ Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Die Aufhebung dieses Durstes durch restlose Vernichtung des Begehrens, ihn fahren lassen, sich seiner entäußern, sich von ihm lösen, ihm keine Stätte gewähren.

      ▪ Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von dem Weg, der hinführt zur Aufhebung des Leidens: Es ist dies der edle ,achtfache Pfad‘, der da heißt: rechtes Glauben, rechtes Denken, rechtes Sprechen, rechtes Tun, rechtes Leben, rechtes Streben, rechte Konzentration, rechtes Sichversenken.“

      [Kasten auf Seite 145]

      Der Buddhismus und Gott

      „Der Buddhismus lehrt den Weg zur vollkommenen Rechtschaffenheit und Weisheit ohne einen persönlichen Gott; zur höchsten Kenntnis ohne eine ‚Offenbarung‘; ... zur Möglichkeit der Erlösung ohne einen Erlöser, zum Heil, das sich jeder selbst bringen kann“ (The Message of Buddhism von dem Bhikkhu Subhadra nach einem Zitat aus dem Buch What Is Buddhism?).

      Sind Buddhisten also Atheisten? In dem Buch What Is Buddhism?, herausgegeben von der Buddhist Lodge, London, wird dazu gesagt: „Wenn mit einem Atheisten jemand gemeint ist, der die Auffassung von einem persönlichen Gott verwirft, sind wir Atheisten.“ Dann heißt es weiter: „Der Gedanke an ein Universum, das einem unveränderlichen Gesetz untersteht, ist genauso leicht geistig zu bewältigen wie die Vorstellung von einer weit entfernten Person, die vielleicht nie gesehen wird, von der man nicht weiß, wo sie sich aufhält, und die irgendwann einmal aus dem Nichts ein Universum erschaffen hat, das von Feindschaft, Ungerechtigkeit und Chancenungleichheit sowie von endlosem Leid und von Streit durchdrungen ist.“

      Demnach tritt der Buddhismus theoretisch nicht für den Glauben an einen Gott oder Schöpfer ein. Aber in fast allen Ländern, wo heute der Buddhismus praktiziert wird, gibt es buddhistische Tempel und Stupas, und vor Bildnissen und Reliquien von Buddhas und Bodhisattwas sprechen fromme Buddhisten Gebete, bringen Opfergaben dar und bringen ihre Verehrung zum Ausdruck. Buddha, der nie behauptet hat, Gott zu sein, ist im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Gott geworden.

      [Karte auf Seite 142]

      (Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

      Bis zum 7. Jahrhundert u. Z. hatte sich der Buddhismus von Indien aus in allen Teilen Ostasiens verbreitet

      INDIEN

      Benares

      Bodh Gaya

      3. JAHRHUNDERT v. u. Z. SRI LANKA

      1. JAHRHUNDERT v. u. Z. KASCHMIR

      ZENTRAL-ASIEN

      1. JAHRHUNDERT u. Z. CHINA

      MYANMAR

      THAILAND

      KAMPUTSCHEA

      JAVA

      4. JAHRHUNDERT u. Z. KOREA

      6. JAHRHUNDERT u. Z. JAPAN

      7. JAHRHUNDERT u. Z. TIBET

      [Bilder auf Seite 131]

      Der Baustil buddhistischer Tempel variiert weltweit

      Chengteh (Nordchina)

      Kofu (Japan)

      New York (USA)

      Chiang Mai (Thailand)

      [Bild auf Seite 133]

      Steinrelief: In dem Traum, den Māyā in Gandhara (Pakistan) hatte, wird der zukünftige Buddha als ein mit einem Heiligenschein umgebener weißer Elefant dargestellt, der in die rechte Seite Königin Māyās eingeht und sie schwanger macht

      [Bilder auf Seite 134]

      Buddhistische Mönche und Gläubige in einem Tempel in New York

      [Bilder auf Seite 141]

      Bildnisse von Buddha mit stilisierten Gesten

      Er geht ins Nirwana ein

      lehrt

      meditiert

      widersteht Versuchungen

      [Bild auf Seite 147]

      Eine Prozession in Tokio (Japan) an Buddhas Geburtstag. Der weiße Elefant im Hintergrund stellt Buddha dar.

      [Bilder auf Seite 150]

      Seiten des Lotos-Sutra (10. Jahrhundert) in Chinesisch, auf denen beschrieben wird, daß der Bodhisattwa Kuan-yin die Macht hat, jemanden oder etwas vor dem Feuer oder der Flut zu bewahren. Der Bodhisattwa Ksitigarbha (rechts) war im 14. Jahrhundert in Korea populär.

      [Bild auf Seite 155]

      Eine buddhistische Schriftrolle aus Kioto (Japan), die die „Höllen“qualen darstellt

      [Bilder auf Seite 157]

      Heutige Buddhisten verehren (von oben links im Uhrzeigersinn) in Bangkok (Thailand) ein Linga, in Kandy (Sri Lanka) eine Reliquie, einen Zahn Buddhas, sowie in Singapur und New York Buddhastatuen

      [Bilder auf Seite 158]

      Eine Buddhistin, die vor dem Familienaltar betet, und Kinder, die sich am Dienst im Tempel beteiligen

  • Taoismus und Konfuzianismus — Die Suche nach dem Weg des Himmels
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 7

      Taoismus und Konfuzianismus — Die Suche nach dem Weg des Himmels

      Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus bilden die drei Hauptreligionen Chinas und des Fernen Ostens. Doch im Unterschied zum Buddhismus, der zu einer Weltreligion geworden ist, sind der Taoismus und der Konfuzianismus im wesentlichen auf China und die Gebiete beschränkt geblieben, in denen sich der Einfluß der chinesischen Kultur behauptet hat. Über die gegenwärtige Zahl ihrer Anhänger in China liegen zwar keine offiziellen Angaben vor, doch der Taoismus und der Konfuzianismus zusammen haben in den letzten 2 000 Jahren das religiöse Leben von nahezu einem Viertel der Weltbevölkerung beherrscht.

      1. (Einleitung inbegriffen.) (a) Wo werden der Taoismus und der Konfuzianismus ausgeübt, und wie weit verbreitet sind sie? (b) Welchem Zeitabschnitt wenden wir uns nun zu, um ihre Lehren zu untersuchen?

      „LASST hundert Blumen blühen; laßt hundert Schulen streiten.“ Diese berühmt gewordenen Worte, die Mao Tse-tung von der Volksrepublik China im Jahre 1956 in einer Rede äußerte, waren in Wirklichkeit eine Umschreibung der Redewendung, mit der chinesische Gelehrte Chinas Epoche zwischen dem fünften und dritten Jahrhundert v. u. Z. — die sogenannte „Zeit der Streitenden Reiche“ — zu bezeichnen pflegten. Zu jener Zeit hatte sich die mächtige Choudynastie (ca. 1122—256 v. u. Z.) in einen losen Verbund von Feudalstaaten aufgelöst, die zum Leidwesen des einfachen Volkes ständig Krieg führten.

      2. (a) Was führte zur Entstehung der „Hundert Schulen“? (b) Was ist davon übriggeblieben?

      2 Die durch die Kriege verursachten Wirren und Nöte schwächten den Einfluß der traditionellen Herrscherklasse erheblich. Das gewöhnliche Volk war nicht mehr geneigt, sich den Schrullen und Launen der Adeligen zu fügen und die Konsequenzen stillschweigend hinzunehmen. Das hatte zur Folge, daß Ideen und Bestrebungen, die lange unterdrückt worden waren, plötzlich wie „hundert Blumen“ emporschossen. Verschiedene Geistesrichtungen unterbreiteten ihre Ideen in bezug auf Staatswesen, Gesetz, Gesellschaftsordnung, Verhalten und Ethik sowie in bezug auf Landwirtschaft, Musik und Literatur, durch deren Verwirklichung sie das Leben wieder zu normalisieren hofften. Sie wurden als die „Hundert Schulen“ bekannt. Die meisten hatten aber auf die Dauer keinen Erfolg. Zwei dieser Schulen erlangten jedoch solch große Bedeutung, daß sie das Leben in China über 2 000 Jahre beeinflußten. Es handelt sich dabei um die, die schließlich als Taoismus und Konfuzianismus bekannt wurden.

      Tao — Was ist das?

      3. (a) Was verstehen die Chinesen unter dem Begriff Tao? (b) Was betrachteten die Chinesen anstelle eines Schöpfers als Ursache aller Dinge? (Vergleiche Hebräer 3:4.)

      3 Um zu verstehen, wie es kam, daß der Taoismus und der Konfuzianismus einen solch starken und bleibenden Einfluß auf die Bevölkerung Chinas, Japans, Koreas und umliegender Länder ausüben konnten, muß man einiges über den fundamentalen chinesischen Begriff Tao wissen. Das Wort selbst bedeutet „Weg, Straße oder Pfad“. Im erweiterten Sinn kann es auch „Methode, Prinzip oder Lehre“ bedeuten. Für die Chinesen waren die Harmonie und die Ordnung, die sie im Universum beobachteten, Manifestationen des Tao — einer Art göttlichen Willens oder göttlicher Gesetzgebung, die im Universum vorhanden ist und es lenkt. Anders ausgedrückt, statt an einen Schöpfergott zu glauben, der das Universum beherrscht, glaubten sie an eine Vorsehung, einen Willen des Himmels oder einfach an den Himmel selbst als die Ursache aller Dinge.

      4. Wie wandten die Chinesen das Tao auf menschliche Angelegenheiten an? (Vergleiche Sprüche 3:5, 6.)

      4 Auf menschliche Angelegenheiten bezogen, dachten die Chinesen, daß der Begriff des Tao der natürliche, rechte Weg ist, alles zu tun, und daß alles und jeder einzelne seinen bestimmten Platz und seine bestimmte Aufgabe hat. Sie glaubten zum Beispiel, daß das Land Frieden und Wohlstand genieße, wenn der Herrscher seine Pflicht erfülle, indem er das Volk gerecht behandle und die dem Himmel zustehenden Opferriten durchführe. In ähnlicher Weise würde, sofern die Menschen bereit wären, den Weg (das Tao) herauszufinden und ihm zu folgen, alles harmonisch, friedlich und erfolgreich sein. Würden sie ihm aber zuwiderhandeln oder sich ihm widersetzen, so wären Chaos und Unheil die Folge.

      5. (a) Wie betrachtet der Taoismus das Tao? (b) Von welchem Standpunkt aus betrachtet der Konfuzianismus das Tao? (c) Welche Fragen erfordern eine Antwort?

      5 Die Idee, sich dem Tao anzugleichen und es in seinem Fluß nicht zu stören, ist ein zentrales Element des philosophischen und religiösen Denkens der Chinesen. Der Taoismus und der Konfuzianismus sind sozusagen zwei verschiedene Ausdrucksformen desselben Begriffs. Der Taoismus geht von einer mystischen Betrachtungsweise aus und befürwortet in seiner ursprünglichen Form Untätigkeit, Quietismus und Passivität, Abwendung von der Gesellschaft und Rückkehr zur Natur. Seine Grundidee besteht darin, daß alles gut ausgeht, wenn man die Hände in den Schoß legt, nichts tut, und die Natur ihren Lauf nehmen läßt. Der Konfuzianismus dagegen ist eine pragmatische Betrachtungsweise. Er lehrt, daß zur Erhaltung der sozialen Ordnung jeder die ihm zugedachte Rolle spielen und seine Aufgabe erfüllen muß. Zu diesem Zweck sind alle menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen kodifiziert, z. B. Herr — Diener, Vater — Sohn, Gatte — Gattin usw., und für alle sind bestimmte Richtlinien gegeben. Das gibt zwangsläufig zu folgenden Fragen Anlaß: Wie sind diese beiden Systeme entstanden? Von wem wurden sie gegründet? Wie werden ihre Lehren heute befolgt, und was haben sie in bezug auf die Suche des Menschen nach Gott getan?

      Der Taoismus — anfänglich eine Philosophie

      6. (a) Was ist über den Gründer des Taoismus bekannt? (b) Wieso wurde der Gründer des Taoismus unter dem Namen Laotse bekannt?

      6 Der Taoismus war in seinem Anfangsstadium eher eine Philosophie als eine Religion. Sein Gründer, Laotse oder Lao-tzu, hatte die Wirren und das Chaos der damaligen Zeit satt und suchte Erleichterung, indem er sich von der Gesellschaft abwandte und zur Natur zurückkehrte. Viel ist über diesen Menschen, der im sechsten Jahrhundert v. u. Z. gelebt haben soll (und selbst das ist ungewiß), nicht bekannt. Er wurde allgemein Laotse, „alter Meister“ oder „Alter“, genannt, weil nach der Legende seine Mutter so lange mit ihm schwanger ging, daß er bei seiner Geburt bereits weißes Haar hatte.

      7. Was erfahren wir über Laotse aus dem Werk „Geschichtliche Aufzeichnungen“?

      7 Der einzige offizielle Bericht über Laotse ist in dem Werk Shih-chi (Geschichtliche Aufzeichnungen) von Ssu-ma Ch’ien, einem namhaften Reichsgeschichtsschreiber des zweiten und ersten Jahrhunderts v. u. Z., zu finden. Gemäß dieser Quelle war Laotses richtiger Name Li Erl. Er diente als kaiserlicher Archivar in Loyang (Zentralchina). Doch von größerer Bedeutung ist, was in diesem Werk weiter über Laotse gesagt wird:

      „Laotse verbrachte den größten Teil seines Lebens in Chou. Als er den Verfall der Stadt vorhersah, verließ er sie und kam an die Grenze. Der Grenzwächter Yin-Hi sagte: ‚Der Herr will sich zurückziehen, darf ich den Herrn bitten, mir ein Buch zu schreiben.‘ Darauf schrieb Laotse ein Buch in zwei Teilen, das etwas mehr als 5 000 Worte enthielt und in dem er die Begriffe ‚der Weg‘ [Tao] und ‚die Kraft‘ [Te] behandelte. Dann entfernte er sich. Niemand weiß, wo er gestorben ist.“

      8. (a) Welches Buch wird Laotse zugeschrieben? (b) Warum wird dieses Buch so unterschiedlich interpretiert?

      8 Viele Gelehrte bezweifeln zwar diese Erzählung. Jedenfalls ist das Buch, das entstanden ist, als Taoteking (u. a. übersetzt: „Führung und Kraft aus der Ewigkeit“) bekannt geworden und gilt als die bedeutendste Schrift des Taoismus. Es ist in kurzen schwerverständlichen Versen geschrieben, von denen einige nur drei oder vier Worte umfassen. Aus diesem Grund und weil sich die Bedeutung einiger Buchstaben seit der Zeit Laotses beträchtlich geändert hat, wird das Buch sehr unterschiedlich interpretiert.

      Kurzer Einblick in das „Taoteking“

      9. Wie beschrieb Laotse das Tao im Taoteking?

      9 Im Taoteking erläutert Laotse das Tao, den höchsten Weg der Natur, und wendet es auf jede Stufe menschlicher Tätigkeit an. Um einen kurzen Einblick in das Taoteking zu vermitteln, zitieren wir im nachstehenden aus der Übersetzung von Gerolf Coudenhove (1956). Über das Tao wird darin folgendes gesagt:

      „Ehe Himmel und Erde bestanden,

      War etwas Nebelhaftes ...

      Würdig, die Mutter aller Dinge zu sein“ (Kapitel 25).

      „Das Tao gebiert sie,

      Das Teh ... hegt sie.

      Die Stoffwelt gibt ihnen Form.

      Die Umstände des Augenblicks vollenden sie.

      Darum verehren alle Dinge des Alls das Tao

      und schätzen das Teh [die Tugend]“ (Kapitel 51).

      10. (a) Worin besteht das Ziel des Taoismus? (b) Wie wird diese taoistische Ansicht auf das menschliche Verhalten angewandt?

      10 Was können wir aus diesen rätselhaften Worten schließen? Daß das Tao für Taoisten eine geheimnisvolle kosmische Kraft ist, die das stoffliche Universum hervorgebracht hat. Ziel des Taoismus ist, das Tao herauszufinden, die Welt hinter sich zu lassen und eins zu werden mit der Natur. Das zeigt sich auch in der taoistischen Ansicht über das menschliche Verhalten. Im Taoteking wird dieses Ideal wie folgt dargelegt:

      „Spanne (den Bogen) bis aufs äußerste

      Und du wirst wünschen, rechtzeitig

      Eingehalten zu haben.

      Schmiede (eine Schwertschneide) überscharf

      Und die Schneide wird nicht lange halten.

      Wenn Gold und Edelsteine deine Halle füllen,

      Wirst du sie nicht sicher aufbewahren können.

      Auf Reichtum und Ehre stolz sein,

      Heißt den Samen für den eigenen Untergang säen.

      Sich zurückziehen, wenn das Werk vollbracht ist,

      Das ist des Himmels Weg“ (Kapitel 9).

      11. Wie läßt sich das taoistische Ideal beschreiben?

      11 Diese wenigen Beispiele zeigen, daß der Taoismus zumindest anfänglich eine philosophische Schule war. Um der Ungerechtigkeit, der Not, der Verwüstung und der Sinnlosigkeit entgegenzuwirken, die durch die bedrückende Herrschaft des damaligen Feudalsystems hervorgerufen worden waren, suchten die Taoisten Frieden und Harmonie zu finden, indem sie zur Tradition der Alten zurückkehrten, die gelebt hatten, bevor Könige und Minister über das gewöhnliche Volk herrschten. Das Ideal, nach dem sie strebten, war ein ruhiges, ländliches Leben im Einklang mit der Natur (Sprüche 28:15; 29:2).

      Der zweite Weise des Taoismus

      12. (a) Wer war Chuang Chou? (b) Was fügte er den ursprünglichen Lehren Laotses hinzu?

      12 Chuang Chou (Chuang Tzu), das heißt „Meister Chuang“ (369—286 v. u. Z.), der als der bedeutendste Nachfolger Laotses galt, entwickelte dessen Philosophie noch einen Schritt weiter. In seinem Buch Chuang Chou erläuterte er nicht nur den Begriff Tao, sondern auch die Begriffe Yin und Yang, die zuerst im I-ching dargelegt wurden. (Siehe Seite 83.) Seiner Ansicht nach ist nichts wirklich unvergänglich oder absolut, sondern alles befindet sich in einem Zustand des Wechsels zwischen zwei Gegensätzen. Im Kapitel „Herbstfluten“ schrieb er:

      „Der SINN [das Tao] kennt nicht Ende noch Anfang, nur für die Einzelwesen gibt’s Geburt und Tod. ... Das Dasein aller Dinge eilt dahin wie ein rennendes Pferd. Keine Bewegung, ohne daß sich etwas wandelte; keine Zeit, ohne daß sich etwas änderte. Was du da tun sollst, was nicht tun? Einfach der Wandlung ihren Lauf lassen!“

      13. (a) Worin besteht nach Chuang Chous Philosophie die taoistische Lebensanschauung? (b) Durch welchen Traum ist Chuang Chou beim Volk am besten in Erinnerung geblieben?

      13 Aufgrund dieser Philosophie der Trägheit hat es nach taoistischer Ansicht keinen Zweck, irgendwie in das, was die Natur in Gang gesetzt hat, eingreifen zu wollen. Früher oder später wird alles wieder zu seinem Gegensatz zurückkehren. Eine Situation mag noch so unerträglich sein, sie wird bald besser werden. Eine Situation kann noch so angenehm sein, sie wird bald vorübergehen. (Siehe im Gegensatz dazu Prediger 5:18, 19.) Ein typisches Beispiel dieser philosophischen Lebensanschauung ist ein Traum Chuang Chous, durch den er beim einfachen Volk am besten in Erinnerung geblieben ist:

      „Einst träumte Dschuang Dschou [Chuang Chou], daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei.“

      14. Auf welchen Gebieten ist der taoistische Einfluß zu erkennen?

      14 Der Einfluß dieser Philosophie ist im Stil der Dichtkunst und der Malerei chinesischer Künstler späterer Generationen zu erkennen. (Siehe Seite 171.) Der Taoismus sollte aber nicht lange eine passive Philosophie bleiben.

      Von der Philosophie zur Religion

      15. (a) Zu welcher Ansicht kamen die Taoisten zufolge der Faszination, die die Natur auf sie ausübte? (b) Welche Passagen im Taoteking unterstützten diese Ansicht?

      15 In dem Versuch, mit der Natur eins zu sein, wurden die Taoisten von der Zeitlosigkeit der Natur und der Rückkehr aller Dinge zu ihrem Ursprung völlig beherrscht. Sie spekulierten, daß man vielleicht durch ein Leben im Einklang mit dem Tao oder dem Weg der Natur irgendwie in die Geheimnisse der Natur vordringen und gegen physischen Schaden, gegen Krankheiten, ja sogar gegen den Tod immun werden könne. Laotse machte daraus zwar keine Streitfrage, aber gewisse Passagen im Taoteking scheinen diesen Gedanken nahezulegen. Im Kapitel 16 heißt es zum Beispiel: „Wer das Tao erlangt, ist ewig. Er wird nicht untergehen, wenn auch sein Körper zerfällt.“a

      16. Inwiefern trugen die Schriften des Chuang Chou zu den Spekulationen des Taoismus bei?

      16 Chuang Chou trug ebenfalls zu solchen Spekulationen bei. In einem Dialog in dem Werk Chuang Chou fragt zum Beispiel ein mystisches Wesen ein anderes: „Du bist schon hochbetagt, und doch siehst du aus wie ein Kind. Wie kommt das?“ Die Antwort lautet: „Ich habe Tao erfahren.“ Über einen anderen taoistischen Philosophen schrieb Chuang Chou: „Nun konnte Lieh-tzu auf dem Wind reiten. In der kühlen Brise glücklich segelnd, war er fünfzehn Tage unterwegs, bevor er zurückkehrte. Unter den Sterblichen, die die Glückseligkeit erlangen, gibt es selten einen solchen Menschen.“

      17. Welche taoistischen Praktiken waren auf frühere Spekulationen zurückzuführen, und was hatte dies zur Folge? (Vergleiche Römer 6:23; 8:6, 13.)

      17 Geschichten wie diese beflügelten die Phantasie der Taoisten, und sie begannen, mit Meditation, Ernährungsregeln und Atemübungen zu experimentieren, durch die der körperliche Verfall und der Tod angeblich hinausgeschoben werden konnten. Bald kamen Legenden auf über Unsterbliche, die auf Wolken fliegen und beliebig erscheinen und verschwinden konnten, die unzählige Jahre auf heiligen Bergen oder fernen Inseln wohnten und vom Tau oder von Zauberfrüchten lebten. Die chinesische Geschichte berichtet, daß Shih Huang Ti, Kaiser der Ch’indynastie, im Jahre 219 v. u. Z. eine Flotte mit 3 000 Jungen und Mädchen aussandte, die die legendäre Insel P’eng-lai, den Aufenthaltsort der Seligen, entdecken sollten, um das Unsterblichkeitselixier zurückzubringen. Es erübrigt sich zu sagen, daß sie nicht mit dem Elixier zurückkehrten; doch nach der Tradition sollen sie die Inseln bevölkert haben, die heute als Japan bekannt sind.

      18. (a) Was erhofften sich die Taoisten von den „Unsterblichkeitspillen“? (b) Welche anderen magischen Praktiken entwickelte der Taoismus?

      18 Während der Handynastie (206 v. u. Z. bis 220 u. Z.) erlebten die magischen Praktiken des Taoismus eine neue Blüte. Kaiser Wu Ti, der zwar den Konfuzianismus als Staatslehre förderte, soll von der taoistischen Idee der leiblichen Unsterblichkeit sehr eingenommen gewesen sein. Er beschäftigte sich mit Hilfe der Alchimie besonders mit der Erfindung von „Unsterblichkeitspillen“. Nach taoistischer Ansicht entsteht Leben durch die Verbindung der gegensätzlichen Kräfte Yin und Yang (weiblich und männlich). Durch die Verschmelzung von Blei (dunkel oder Yin) und Quecksilber (hell oder Yang) ahmten die Alchimisten den Naturvorgang nach und glaubten, auf diese Weise eine Unsterblichkeitspille zu erzeugen. Die Taoisten entwickelten auch jogaähnliche Übungen, Atemtechniken, Ernährungsregeln und sexuelle Praktiken, durch die die Lebenskraft gestärkt und das Leben verlängert werden sollte. Zu ihren Utensilien gehörten Zauberamulette, von denen gesagt wurde, sie würden ihren Besitzer für Waffen unsichtbar machen und ihm Unverletzlichkeit verleihen oder ihn befähigen, auf dem Wasser zu gehen oder durch das Weltall zu fliegen. Sie hatten auch magische Siegel, die gewöhnlich mit dem Yin-Yang-Symbol versehen waren und an Gebäuden und über Toreingängen angebracht wurden, um böse Geister und wilde Tiere abzuwehren.

      19. Wie wurde der Taoismus organisiert?

      19 Ungefähr im zweiten Jahrhundert u. Z. wurde der Taoismus organisiert. Ein gewisser Chang Tao-ling, der magische Heilungen vollbrachte und sich mit Alchimie befaßte, gründete einen Geheimbund in Westchina. Da von jedem Mitglied eine Aufnahmegebühr von fünf Scheffel Reis erhoben wurde, erhielt seine Bewegung den Namen Fünf-Scheffel-Reis-Bewegung (wu-tou-mi tao). Chang, der behauptete, von Laotse persönlich eine Offenbarung erhalten zu haben, wurde der erste „Himmelsmeister“. Schließlich soll er es fertiggebracht haben, das Lebenselixier herzustellen, und soll, auf einem Tiger reitend, vom Berg Lung-hu (Drachen-Tiger-Berg) in der Provinz Kiangsi lebendig in den Himmel aufgefahren sein. Mit Chang Tao-ling begann eine Jahrhunderte dauernde Folge taoistischer „Himmelsmeister“, von denen jeder einzelne eine Reinkarnation Changs gewesen sein soll.

      Der Herausforderung des Buddhismus begegnen

      20. Wie versuchte der Taoismus, dem buddhistischen Einfluß entgegenzutreten?

      20 Im siebten Jahrhundert, während der T’angdynastie (618—907 u. Z.), drang der Buddhismus in das religiöse Leben Chinas ein. Um ihm entgegenzutreten, berief sich der Taoismus darauf, eine Religion chinesischen Ursprungs zu sein. Laotse wurde zum Gott erhoben, und die taoistischen Schriften wurden kanonisiert. Tempel, Mönchs- und Nonnenklöster wurden gebaut und Mönchs- und Nonnenorden gegründet, so ungefähr nach buddhistischem Muster. Außerdem nahm der Taoismus viele Götter, Göttinnen, Feen und Unsterbliche aus der chinesischen Folklore in sein Pantheon auf, beispielsweise die „Acht Unsterblichen“ (Pa Hsien), den Gott des Herdes (Tsao Shen), Stadtgötter (Ch’eng Huang) und Türwächter (Men Shen). Das Ergebnis war eine Mischung aus buddhistischen Elementen, abergläubischen Traditionen, Spiritismus und Ahnenverehrung (1. Korinther 8:5).

      21. Was ist schließlich aus dem Taoismus geworden, und wie geschah dies?

      21 Mit der Zeit sank der Taoismus allmählich zu einem System des Götzenkults und des Aberglaubens herab. Jeder einzelne verehrte in den Ortstempeln seine Lieblingsgötter und -göttinnen, betete zu ihnen um Schutz vor Bösem und um Hilfe beim Erlangen irdischen Glücks. Gegen Bezahlung hielten die Priester Begräbnisfeierlichkeiten ab, suchten günstige Grundstücke aus für Gräber, Häuser und Geschäfte, verkehrten mit den Toten, vertrieben böse Geister und Gespenster, hatten ihre Feste und führten verschiedene Rituale durch. Aus der anfänglichen Schule mystischer Philosophie war eine Religion geworden, die sich durch den Glauben an unsterbliche Geister, an ein Höllenfeuer und an Halbgötter — alles Ideen, die aus den schalen Wassern der falschen Religion des alten Babylon geschöpft worden waren — besudelt hatte.

      Chinas anderer berühmter Weiser

      22. Welche Schule wurde in China vorherrschend, und welche Fragen sollen jetzt geklärt werden?

      22 Nun haben wir die Spuren des Ursprungs, der Entwicklung und des Verfalls des Taoismus verfolgt. Vergessen wir jedoch nicht, daß dies nur eine der „Hundert Schulen“ war, die in der „Zeit der Streitenden Reiche“ in China florierten. Eine andere Schule, die schließlich in den Vordergrund trat, ja sogar vorherrschend wurde, war der Konfuzianismus. Doch wieso gelangte der Konfuzianismus zu solcher Bedeutung? Von allen chinesischen Weisen ist Konfuzius zweifellos der bekannteste außerhalb Chinas. Doch wer war Konfuzius, und was lehrte er?

      23. Welche Einzelheiten über Konfuzius erfahren wir aus dem Werk „Geschichtliche Aufzeichnungen“?

      23 Um Näheres über ihn zu erfahren, wenden wir uns wiederum dem Werk Shih-chi (Geschichtliche Aufzeichnungen) von Ssu-ma Ch’ien zu. Im Unterschied zu der kurzen Abhandlung über Laotse enthält es eine ausführliche Lebensbeschreibung des Konfuzius. Hier folgen einige Einzelheiten über seine Person, aus einer Übersetzung des chinesischen Gelehrten Lin Yutang zitiert:

      „Konfuzius wurde in Tschou, einer kleinen Provinzstadt der Grafschaft Ch’angping im Staat Lu, geboren. ... [Seine Mutter] betete auf dem Berg Ni Kiu und empfing daraufhin Konfuzius im zweiundzwanzigsten Jahr des Grafen Hsiang von Lu (551 v. Chr.). Bei seiner Geburt war auf seinem Kopf eine auffallende Erhebung, weshalb man ihn ‚Kiu‘ („Hügel“) nannte. Sein Beiname war Dschung-ni und sein Familienname K’ung.“b

      24. Was geschah früh im Leben des Konfuzius?

      24 Kurz nach seiner Geburt starb sein Vater, aber seine Mutter ließ ihm, obwohl sie arm war, eine gute Bildung zukommen. Der Junge entwickelte ein großes Interesse an Geschichte, Dichtung und Musik. Gemäß den Analekten, einem der konfuzianischen Vier Bücher, widmete er sich schon mit 15 Jahren wissenschaftlichen Studien. Als Siebzehnjähriger erhielt er eine bescheidene Verwalterstelle bei der Regierung seines Heimatstaates Lu.

      25. Wie berührte der Tod seiner Mutter Konfuzius? (Vergleiche Prediger 9:5, 6; Johannes 11:33, 35.)

      25 Seine finanzielle Lage verbesserte sich anscheinend so weit, daß er mit 19 Jahren heiraten konnte, und im darauffolgenden Jahr bekam er einen Sohn. Als er Mitte 20 war, starb jedoch seine Mutter. Das traf ihn offensichtlich sehr. Da er sich peinlich genau an die alten Traditionen hielt, zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück und trauerte 27 Monate um seine Mutter an ihrem Grab. Auf diese Weise gab er den Chinesen ein klassisches Beispiel der Sohnesliebe.

      Konfuzius, der Lehrer

      26. Welche Tätigkeit nahm Konfuzius nach dem Tod seiner Mutter auf?

      26 Danach verließ er seine Familie und begann sich als Wanderlehrer zu betätigen. Er lehrte unter anderem Musik, Poesie, Literatur, Staatsbürgerkunde und Ethik sowie Naturwissenschaft, das heißt das, was man damals darüber wußte. Er muß ziemlich gut bekannt geworden sein, denn die Zahl seiner Schüler wird einmal mit 3 000 angegeben.

      27. Was ist über Konfuzius, den Lehrer, bekannt? (Vergleiche Matthäus 6:26, 28; 9:16, 17; Lukas 12:54-57; Johannes 4:35-38.)

      27 Im Orient wird Konfuzius hauptsächlich als Meisterlehrer verehrt. In einer Inschrift auf der Gedenktafel seines Grabes in Küfu (Provinz Schantung) wird er schlicht und einfach „alter, allerheiligster Lehrer“ genannt. Ein westlicher Schriftsteller beschreibt Konfuzius’ Lehrmethode folgendermaßen: „Er wanderte von ‚Ort zu Ort, begleitet von denen, die sich seine Lebensanschauungen zu eigen gemacht hatten‘. Unternahmen sie eine größere Reise, so fuhr er mit einem Ochsenkarren. Der langsame Schritt des Tieres ermöglichte es seinen Schülern, zu Fuß zu folgen, und offensichtlich gaben die Ereignisse, die sich unterwegs abspielten, häufig Anlaß zu den Themen seiner Vorträge.“ Interessanterweise benutzte Jesus später — unabhängig davon — eine ähnliche Methode.

      28. Was machte Konfuzius gemäß dem chinesischen Schriftsteller Lin Yutang zu einem besonders geehrten Lehrer?

      28 Was Konfuzius zu einem besonders geehrten Lehrer unter den Orientalen machte, war sein Eifer, mit dem er sich selbst dem Studium widmete, besonders dem Studium der Geschichte und der Ethik. „Die Menschen waren nicht deswegen so sehr von Konfuzius eingenommen, weil er der weiseste Gelehrte war, sondern weil er damals der einzige war, der sie über die Bücher und die Gelehrsamkeit der Alten belehren konnte“, schrieb Lin Yutang. Er wies darauf hin, daß diese Liebe zur Gelehrsamkeit vielleicht der Hauptgrund war, weshalb der Konfuzianismus erfolgreicher war als andere Geistesrichtungen, und faßte die Sache wie folgt zusammen: „Die konfuzianischen Lehrer hatten etwas Bestimmtes, was sie lehren konnten, und die konfuzianischen Schüler hatten etwas Bestimmtes, was sie lernen konnten: historisches Wissen; wogegen die anderen Schulen nichts anderes zu bieten hatten als ihre eigenen Meinungen.“

      „Wer mich kennt, das ist Gott“

      29. (a) Welches Ziel strebte Konfuzius in Wirklichkeit an? (b) Wie versuchte er, sein Ziel zu erreichen, und was war das Ergebnis?

      29 Trotz seines Erfolges als Lehrer betrachtete Konfuzius die Lehrtätigkeit nicht als seine Lebensaufgabe. Er glaubte, seine ethischen und moralischen Vorstellungen könnten die damalige unruhige Welt nur dann retten, wenn die Regierenden sie in die Tat umsetzten, indem sie ihn oder seine Schüler in ihrer Regierung beschäftigten. Deshalb verließ er mit einer kleinen Schar seiner engsten Jünger seinen Heimatstaat Lu und zog von Staat zu Staat in dem Bemühen, den weisen Herrscher zu finden, der seine Ideen von Regierung und Gesellschaftsordnung annehmen würde. Was war das Ergebnis? Shih-chi erklärt: „Schließlich verließ er Lu, wurde in Ch’i im Stich gelassen, aus Sung und Wei wurde er vertrieben, und unterwegs von Tschen nach Tsai war er Entbehrungen ausgesetzt.“ Nach 14jähriger Wanderschaft kehrte er enttäuscht, aber nicht gebrochen nach Lu zurück.

      30. Welche literarischen Werke bilden die Grundlage des Konfuzianismus?

      30 Während der restlichen Tage seines Lebens widmete er sich literarischen Arbeiten und dem Lehren. (Siehe Kasten, Seite 177.) Obwohl er bestimmt bedauerte, daß er nicht mehr beachtet wurde, sagte er: „Ich murre nicht wider Gott und grolle nicht den Menschen. Ich forsche hier unten, aber ich erschaue, was droben ist. Wer mich kennt, das ist Gott.“ Im Jahre 479 v. u. Z. starb er schließlich im Alter von 73 Jahren.

      Der Kern der konfuzianischen Ideen

      31. Was war nach der Lehre des Konfuzius die einzige Möglichkeit, die soziale Ordnung wiederherzustellen?

      31 Konfuzius war zwar ein hervorragender Gelehrter und Lehrer, doch sein Einfluß beschränkte sich keineswegs auf die Gelehrtenkreise. Er war nicht nur darauf bedacht, Verhaltens- oder Sittenregeln zu lehren, sondern er wollte auch den Frieden und die Ordnung der damals durch die ständigen Kriege der Feudalherren völlig zerrissenen Gesellschaft wiederherstellen. Um dieses Ziel zu erreichen, lehrte Konfuzius, daß jedermann, vom Kaiser bis zum Mann auf der Straße, lernen müsse, die ihm zugedachte Rolle in der Gesellschaft zu spielen und entsprechend zu leben.

      32, 33. (a) Was ist unter dem konfuzianischen Begriff li zu verstehen? (b) Was würde gemäß Konfuzius erreicht, wenn li ausgeübt würde?

      32 Im Konfuzianismus ist dieser Begriff als li bekannt, und man versteht darunter Anstand, Höflichkeit, Ordnung und im erweiterten Sinn Riten und Zeremonien sowie Ehrerbietung. Als Antwort auf die Frage: „Was ist dieses große li?“, gab Konfuzius folgende Erklärung:

      „Von allem, wonach die Menschen leben, ist li das größte. Ohne li wissen wir nicht, wie wir die Geister des Universums gebührend verehren, Könige und Minister, Regierende und Regierte sowie Alte und Junge richtig einstufen sollen oder wie wir die moralischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Brüdern festlegen oder die verschiedenen Verwandtschaftsgrade unterscheiden sollen. Aus diesem Grund hält ein Edler li so hoch in Ehren.“

      33 li ist daher das rechte Verhalten, das ein Edler (chün-tse, manchmal mit „vornehmer Mensch“ übersetzt) in all seinen gesellschaftlichen Beziehungen bekundet. Wenn sich jeder bemüht, das zu tun, „kommt alles in Ordnung, und zwar in der Familie, im Staat und in der Welt“, sagte Konfuzius, und das ist der Fall, wenn nach dem Tao (dem Weg des Himmels) gehandelt wird. Doch wie äußert sich li? Das bringt uns zu einem anderen Zentralbegriff des Konfuzianismus — jen: Menschlichkeit oder Menschengüte.

      34. Was ist unter dem konfuzianischen Begriff jen zu verstehen, und inwiefern könnten dadurch soziale Mißstände beseitigt werden?

      34 li betont Enthaltsamkeit mit Hilfe äußerer Regeln, wogegen jen mit der menschlichen Natur oder der inneren Person zu tun hat. Nach der konfuzianischen Vorstellung — wie sie besonders von Meng Tzu (Mencius), dem bedeutendsten Schüler des Konfuzius, vertreten wurde — ist die menschliche Natur grundlegend gut. Folglich könnten alle sozialen Mißstände durch Selbsterziehung beseitigt werden, und damit beginnt man durch Bildung und Wissen. Im Hauptkapitel des Ta-hsüeh — Große Lehre heißt es:

      „Wenn wir der Erkenntniss höchsten Grad erreicht haben, dann sind unsere Intentionen (innersten Gedanken) wahr und lauter. ... Wenn das Herz bieder und rechtschaffen ist, dann wird man sich selbst, sein ganzes Ich vervollkommnen und veredeln. Wer sich selbst vervollkommnet und veredelt hat, der wird dann auch seiner Familie vollendete Harmonie zu geben wissen. Wer seiner Familie vollkommene Harmonie zu geben versteht, der wird dann auch (event.) eine weise Regierung in seinem Lande führen. Wenn eine weise Regierung im Lande geführt wird, so wird dann auch im Weltenreiche der ewige Frieden (Tugend und Glückseligkeit) herrschen. ... Vom Kaiser bis hinab zum geringsten Unterthan ist aber das Vervollkommnen seines Selbst das für alle gemeinsame und darum das die wesentliche Grundlage bildende Erforderniss“ (Ta-Hio — Die erhabene Wissenschaft [aus dem Chinesischen von Reinhold von Plaenckner, 1875]).

      35. (a) Wie können die Grundsätze li und jen zusammengefaßt werden? (b) Wie spiegelt sich das alles in der chinesischen Lebensanschauung wider?

      35 Wir sehen also, daß nach Konfuzius das Beachten des li die Menschen befähigt, sich in jeder Situation richtig zu verhalten, und die Pflege des jen wird bewirken, daß sie zu allen anderen gut sind. Das Ergebnis ist dann theoretisch Frieden und Harmonie in der Gesellschaft. Das konfuzianische Ideal, das auf den Grundsätzen li und jen beruht, kann folgendermaßen zusammengefaßt werden:

      „Daß der Vater mild ist und der Sohn ehrfürchtig, der ältere Bruder freundlich und der jüngere fügsam, der Gatte gerecht und die Gattin gehorsam, das Alter gütig und die Jugend folgsam, der Herrscher liebevoll und der Diener gewissenhaft.“

      All das erklärt zum Teil, warum die meisten Chinesen und auch andere Orientalen so großen Nachdruck auf die Familienbande legen sowie auf Fleiß, Bildung und darauf, daß jeder einzelne seinen Platz kennt und entsprechend handelt. „Komme, was kommen mag“ — diese konfuzianische Auffassung ist dem chinesischen Bewußtsein im Laufe der Jahrhunderte tief eingeprägt worden.

      Der Konfuzianismus wird Staatskult

      36. Wie wurde der Konfuzianismus zum Staatskult?

      36 Mit dem Aufkommen des Konfuzianismus endete die Periode der „Hundert Schulen“. Die Kaiser der Handynastie fanden in der konfuzianischen Lehre von der Loyalität gegenüber dem Herrscher genau die Formel, die sie benötigten, um die Macht ihres Thrones zu festigen. Unter Kaiser Wu Ti, den wir bereits in Verbindung mit dem Taoismus erwähnt haben, wurde der Konfuzianismus zum Staatskult erhoben. Nur wer in den konfuzianischen Klassikern bewandert war, wurde als Regierungsbeamter ausgewählt, und wer sich eine Einstellung in den Staatsdienst erhoffte, mußte im ganzen Land Prüfungen bestehen, denen die konfuzianischen Klassiker zugrunde lagen. Konfuzianische Bräuche und Rituale wurden zur Religion des Herrscherhauses.

      37. (a) Wie wurde der Konfuzianismus eine Religion? (b) Warum ist der Konfuzianismus in Wirklichkeit mehr als nur eine Philosophie?

      37 Dieser Wechsel trug viel dazu bei, daß Konfuzius in der chinesischen Gesellschaft zu einer höheren Stellung aufrückte. Die Kaiser der Handynastie begannen mit der Tradition, am Grab des Konfuzius Opfer darzubringen. Man verlieh ihm Ehrentitel. Im Jahre 630 u. Z. ordnete dann T’ai Tsung, der Kaiser der T’angdynastie, an, daß in ganz China, in jeder Provinz und jedem Fürstentum, ein Staatstempel zu Ehren des Konfuzius errichtet werden sollte und ihm regelmäßig Opfer dargebracht werden müßten. Für jeden nützlichen Zweck wurde Konfuzius in den Rang eines Gottes erhoben, und der Konfuzianismus wurde eine Religion, die vom Taoismus und vom Buddhismus kaum noch zu unterscheiden war. (Siehe Kasten, Seite 175.)

      Das Vermächtnis der Weisheit des Ostens

      38. (a) Was ist mit dem Taoismus und dem Konfuzianismus seit 1911 geschehen? (b) Doch was trifft auf die grundlegenden Vorstellungen dieser Religionen immer noch zu?

      38 Seit dem Ende der dynastischen Herrschaft in China im Jahre 1911 sind der Konfuzianismus und der Taoismus schon heftiger Kritik, ja sogar Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Der Taoismus ist wegen seines magischen und abergläubischen Brauchtums in Mißkredit geraten, dem Konfuzianismus sind feudalistische Tendenzen vorgeworfen worden und die Förderung einer sklavischen Gesinnung, die die Menschen, vor allem die Frauen, unterwürfig hält. Doch trotz dieser offiziellen Kritik sind die grundlegenden Vorstellungen dieser Religionen im Geist der Chinesen so tief verankert, daß immer noch viele davon beherrscht werden.

      39. Was berichtete eine Zeitung über abergläubische religiöse Bräuche in China?

      39 Die kanadische Zeitung Globe and Mail berichtete zum Beispiel im Jahre 1987 unter der Überschrift „Chinesische Riten in Beijing selten; in Küstengebieten aber noch florierend“, daß nach fast 40jähriger atheistischer Herrschaft in China Begräbnisfeierlichkeiten, Tempeldienste und viele abergläubische Bräuche in Landgebieten immer noch gang und gäbe sind. „In den meisten Dörfern gibt es einen feng-schui — gewöhnlich ein älterer Einwohner —, der die Kräfte des Windes (feng) und des Wassers (schui) zu deuten weiß, um die günstigsten örtlichen Bedingungen für irgend etwas — vom Ahnengrab bis zu einem neuen Haus oder einer Wohnzimmereinrichtung — zu erkunden“, hieß es in dem Bericht.

      40. Welche religiösen Bräuche sind auf Taiwan zu finden?

      40 Wo immer die traditionelle chinesische Kultur erhalten geblieben ist, sind der Taoismus und der Konfuzianismus zu finden. Auf Taiwan amtiert ein Mann, der ein Nachkomme Chang Tao-lings zu sein behauptet, als „Himmelsmeister“, der ermächtigt ist, taoistische Priester (tao shi) zu ordinieren. Die als „Heilige Himmelsmutter“ bekannte Göttin Matsu wird als Schutzherrin der Insel sowie der Seeleute und Fischer verehrt. Das einfache Volk ist vorwiegend damit beschäftigt, den Geistern der Flüsse, Berge und Sterne, den Schutzgöttern aller Berufsgruppen sowie den Göttern der Gesundheit, des Glücks und des Reichtums Opfer darzubringen.c

      41. Wie wird der Konfuzianismus als Religion heute noch praktiziert?

      41 Und wie verhält es sich mit dem Konfuzianismus? Als Religion spielt er höchstens noch die Rolle eines Nationaldenkmals. In China unterhält der Staat in Küfu, dem Geburtsort des Konfuzius, den Konfuziustempel und den Grundbesitz seiner Familie als Touristenattraktion. Dort werden laut der Zeitschrift China Reconstructs „Neuinszenierungen eines Ritus zur Verehrung des Konfuzius“ vorgeführt, und in Singapur, Taiwan, Hongkong und an anderen Orten in Ostasien feiert man immer noch den Geburtstag des Konfuzius.

      42. Wieso sind der Taoismus und der Konfuzianismus keine Hilfe auf der Suche nach dem wahren Gott?

      42 Der Konfuzianismus und der Taoismus sind Beispiele, die zeigen, daß ein auf menschlicher Weisheit und menschlichen Überlegungen beruhendes System — ganz gleich, wie vernünftig und wie gut gemeint es ist — letztendlich keine Hilfe ist auf der Suche nach dem wahren Gott. Warum nicht? Weil ein wichtiges Element außer acht gelassen wird: der Wille und die Anforderungen eines persönlichen Gottes. Der Konfuzianismus wendet sich an die menschliche Natur als motivierende Kraft, Gutes zu tun, und der Taoismus wendet sich an die Natur selbst. Doch das ist ein unangebrachtes Vertrauen, weil es lediglich zur Verehrung erschaffener Dinge führt, nicht aber zur Anbetung des Schöpfers (Psalm 62:9; 146:3, 4; Jeremia 17:5).

      43. Inwiefern sind die religiösen Traditionen der Chinesen für sie als Gesamtheit ein Hindernis auf der Suche nach dem wahren Gott?

      43 Andererseits sind die Traditionen des Ahnenkults und der Götterverehrung, die Ehrfurcht vor einem kosmischen Himmel und die Verehrung von Naturgeistern sowie die damit verbundenen Bräuche und Rituale in der Denkweise der Chinesen so tief eingewurzelt, daß sie als die unausgesprochene Wahrheit anerkannt werden. Oft ist es sehr schwierig, mit einem Chinesen über einen persönlichen Gott oder Schöpfer zu sprechen, weil ihm der Begriff völlig fremd ist (Römer 1:20-25).

      44. (a) Wie reagieren denkende Menschen auf die Wunder, die sie in der Natur sehen? (b) Wozu werden wir aufgefordert?

      44 Niemand wird bestreiten wollen, daß die Natur voller großartiger Wunder ist und von erstaunlicher Weisheit zeugt, ja daß wir Menschen mit wunderbaren Fähigkeiten, wie dem Verstand und dem Gewissen, ausgerüstet sind. Wie aber in dem Kapitel über den Buddhismus gezeigt wurde, haben die Wunder, die wir in der Natur sehen, denkende Menschen zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß es einen Bildner oder Schöpfer geben muß. (Siehe Seite 151.) Wäre es angesichts dessen nicht vernünftig, herausfinden zu wollen, wer der Schöpfer ist? Der Schöpfer fordert uns sogar dazu auf mit den Worten: „Hebt eure Augen in die Höhe und seht. Wer hat diese Dinge erschaffen? Er ist es, der ihr Heer selbst der Zahl nach herausführt, der sie alle sogar mit Namen ruft“ (Jesaja 40:26). Wenn wir dieser Aufforderung nachkommen, werden wir nicht nur erfahren, wer der Schöpfer ist, nämlich Jehova Gott, sondern auch, was er für unsere Zukunft bereithält.

      45. Welche andere östliche Religion werden wir als nächstes behandeln?

      45 Neben dem Buddhismus, dem Konfuzianismus und dem Taoismus, die im religiösen Leben der Orientalen eine solch wichtige Rolle spielen, gibt es aber noch eine andere Religion: den Schintoismus, die Religion Japans. Wodurch unterscheidet sich diese Religion? Woher stammt sie? Hat sie die Menschen zum wahren Gott geführt? Diese Fragen werden im nächsten Kapitel behandelt.

      [Fußnoten]

      a Lin Yutangs Übersetzung dieser Passage lautet: „Da er im Einklang mit dem Tao ist, ist er ewig, und sein ganzes Leben ist von Unheil bewahrt.“

      b Das Wort „Konfuzius“ ist die latinisierte Form des chinesischen Wortes K’ung Fu Tzu, „Meister K’ung“. Jesuitenpriester, die im 16. Jahrhundert nach China kamen, prägten den latinisierten Namen, als sie dem Papst von Rom empfahlen, Konfuzius zu einem „Heiligen“ der römisch-katholischen Kirche zu erklären.

      c Eine taoistische Gruppe auf Taiwan, T’ien Tao (Himmlischer Weg) genannt, behauptet, eine Verschmelzung von fünf Weltreligionen zu sein — von Taoismus, Konfuzianismus, Buddhismus, Christentum und Islam.

      [Kasten auf Seite 175]

      Konfuzianismus — Philosophie oder Religion?

      Da Konfuzius Gott nicht oft erwähnte, betrachten viele den Konfuzianismus lediglich als eine Philosophie, nicht als eine Religion. Doch das, was Konfuzius sagte und tat, ließ erkennen, daß er religiös war. Das zeigte sich in zweifacher Hinsicht: Erstens hatte er eine ehrfurchtsvolle Scheu vor einer höchsten, kosmischen geistigen Kraft — von den Chinesen T’ien oder Himmel genannt —, die er für die Quelle aller Tugend und moralischen Güte hielt und deren Wille nach seiner Auffassung alles lenkt. Zweitens legte er großen Wert auf die peinlich genaue Einhaltung der Riten und Zeremonien in Verbindung mit der Verehrung des Himmels und der verstorbenen Ahnen.

      Konfuzius hat diese Auffassungen zwar nie als eine Art Religion vertreten, doch sind sie für unzählige Chinesen zu einer Religion geworden.

      [Kasten/Bilder auf Seite 177]

      Konfuzianismus — seine Vier Bücher und Fünf Klassiker

      Die Vier Bücher

      1. Große Lehre (Ta-hsüeh), die Grundlage für die Erziehung eines Edlen, das erste von den Schülern im alten China benutzte Lehrbuch

      2. Rechte Mitte (Chung-yung), eine Abhandlung über die Bildung des menschlichen Charakters durch Maßhalten

      3. Analekten (Lun-yü), eine Sammlung von Aussprüchen des Konfuzius, die Hauptquelle konfuzianischen Gedankenguts

      4. Mencius (Meng Tzu), Schriften und Aussprüche Meng Tzus (Mencius), des bedeutendsten Schülers des Konfuzius

      Die Fünf Klassiker

      1. Buch der Lieder (Shi-ching), 305 Gedichte, die ein Bild des täglichen Lebens zu Beginn der Choudynastie vermitteln (1000—600 v. u. Z.)

      2. Buch der Geschichten (Shu-ching), behandelt 17 Jahrhunderte chinesische Geschichte, beginnend mit der Shangdynastie (1766—1122 v. u. Z.)

      3. Buch der Wandlungen (I-ching), ein Wahrsagebuch, das auf Interpretationen der 64 möglichen Kombinationen von sechs vollständigen oder unvollständigen Zeilen zurückgeht

      4. Buch der Sitte (Li-chi), eine Sammlung von Regeln der Zeremonien und Riten

      5. Frühlings- und Herbst-Annalen (Ch’un-ch’iu), eine Chronik des Staates Lu, der Heimat des Konfuzius, die die Zeit von 721—478 v. u. Z. umfaßt

      [Bilder]

      Oben: Die Fünf Klassiker Links: Ausschnitt aus der Großen Lehre, einem der Vier Bücher, das auf Seite 180, 181 angeführt wird

      [Bild auf Seite 163]

      Tao, „der Weg“, den der Mensch gehen sollte

      [Bild auf Seite 165]

      Laotse, der Philosoph des Taoismus, auf dem Rücken eines Büffels

      [Bild auf Seite 166]

      Taoistischer Tempel der Matsu, der „Heiligen Himmelsmutter“, auf Taiwan

      [Bild auf Seite 171]

      Verschwommene Berge, stille Wasser, sich im Wind wiegende Bäume und zurückgezogen lebende Gelehrte — die beliebten Motive der chinesischen Landschaftsmalerei — spiegeln das taoistische Ideal eines Lebens in Harmonie mit der Natur wider

      [Bilder auf Seite 173]

      Links: Antike taoistische Skulptur des Gottes des langen Lebens mit den „Acht Unsterblichen“

      Rechts: Taoistischer Priester in vollem Ornat bei einer Bestattungszeremonie

      [Bild auf Seite 179]

      Konfuzius, Chinas bedeutendster Weiser, wird als Lehrer der Moral und Ethik verehrt

      [Bild auf Seite 181]

      Feierlichkeiten in Sung Kyun Kwan, einem aus dem 14. Jahrhundert stammenden Bildungszentrum in Seoul (Korea), durch die konfuzianische Riten aufrechterhalten werden

      [Bilder auf Seite 182]

      Der typische Chinese, ob Buddhist, Taoist oder Konfuzianer, huldigt (von links nach rechts) zu Hause den Ahnen, betet den Gott des Reichtums an und bringt an Festtagen in Tempeln Opfer dar

  • Der Schintoismus — Japans Suche nach Gott
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 8

      Der Schintoismus — Japans Suche nach Gott

      „Weil mein Vater ein Schinto-Priester war, mußte ich als Kind jeden Morgen vor dem Frühstück am kamidana [Familienaltar] ein Glas Wasser und eine Schale gekochten Reis opfern. Nach dieser Kulthandlung nahmen wir den Reis herunter und aßen davon. Ich vertraute darauf, daß wir uns durch diese Handlung den Schutz der Götter sicherten.

      Wenn wir ein Haus kaufen wollten, suchten wir einen Schamanen oder Geomanten auf, um zu erfahren, ob die Lage des neuen Hauses im Verhältnis zum alten günstig war. Der Schamane sagte, daß wir uns vor drei Eingängen für die Dämonen in acht nehmen sollten, und wies uns an, die Reinigungsriten zu vollziehen, die mein Vater vorschrieb. Wir reinigten daher die Wohnung jeden Monat einmal mit Salz“ (Mayumi T.).

      1. (Einleitung inbegriffen.) Wo wird der Schintoismus hauptsächlich praktiziert, und was ist für manche Gläubige damit verbunden?

      DER Schintoismus ist im wesentlichen eine japanische Religion. Gemäß dem Werk Nihon Shukyo Jiten (Enzyklopädie der japanischen Religionen) „hat sich der Schintoismus fast gleichzeitig mit der japanischen Kultur entwickelt, und es ist eine religiöse Kultur, die nie unabhängig von diesem Volk bestanden hat“. Heute ist jedoch der Einfluß japanischer Unternehmen und der japanischen Kultur so weitreichend, daß es von Interesse sein dürfte, zu wissen, welche religiösen Faktoren die Geschichte Japans und die japanische Mentalität geprägt haben.

      2. In welchem Maße beeinflußt der Schintoismus das Leben der Japaner?

      2 Der Schintoismus soll nach eigenen Angaben in Japan über 91 000 000 Anhänger haben, was etwa drei Viertel der Bevölkerung entspräche; eine statistische Erhebung hat indes ergeben, daß sich nur 2 000 000 Japaner oder 3 Prozent der Bevölkerung im Erwachsenenalter wirklich zum Schintoismus bekennen. Doch der Schinto-Gelehrte Sugata Masaaki sagt: „Der Schintoismus ist so unentwirrbar mit dem Leben der Japaner verwoben, daß sie sich seiner Existenz kaum bewußt sind. Für sie ist er weniger eine Religion als ein so selbstverständlicher Bestandteil ihrer Umwelt wie die Luft zum Atmen.“ Sogar diejenigen, die behaupten, der Religion gleichgültig gegenüberzustehen, kaufen schintoistische Amulette, die sie im Straßenverkehr schützen sollen, feiern Hochzeit nach schintoistischem Brauch und verjubeln ihr Geld bei den jährlichen Schinto-Festen.

      Wie ist er entstanden?

      3, 4. Warum fing man an, die japanische Religion als „Schinto“ zu bezeichnen?

      3 Die Bezeichnung „Schinto“ ist im 6. Jahrhundert u. Z. aufgetaucht und wurde verwandt, um die einheimische Religion vom Buddhismus zu unterscheiden, der allmählich in Japan Fuß faßte. „Natürlich gab es die Religion der Japaner ..., ehe der Buddhismus eingeführt wurde“, erklärt Sachiya Hiro, der sich mit der Erforschung japanischer Religionen beschäftigt, „aber es war eine Religion, deren man sich nicht bewußt war, eine Religion, bestehend aus Sitten und Bräuchen. Als der Buddhismus eingeführt wurde, erkannte man, daß es sich bei den Sitten um eine japanische Religion handelte, die sich vom Buddhismus, einer ausländischen Religion, unterschied.“ Wie hatte sich diese japanische Religion entwickelt?

      4 Es ist schwierig zu bestimmen, wann der ursprüngliche Schintoismus oder „die Religion der Japaner“ entstanden ist. Sein Ursprung fällt mit dem Aufkommen des Naßreisbaus zusammen. „Der Naßreisbau erforderte gut organisierte und stabile Gemeinden“, heißt es in der Kodansha Encyclopedia of Japan, „und es entstand ein bäuerliches Brauchtum, das später im Schintoismus eine überaus wichtige Rolle spielte.“ Diese alten Stämme ersannen und verehrten zahlreiche Naturgottheiten.

      5. (a) Was glauben die Schintoisten bezüglich der Toten? (b) Welcher Unterschied besteht zwischen dem Glauben der Schintoisten bezüglich der Toten und dem, was die Bibel darüber sagt?

      5 Zu dieser Verehrung kam die Furcht vor den abgeschiedenen Seelen hinzu, die zu Riten führte, durch die sie beschwichtigt werden sollten. Daraus entwickelte sich später der Ahnenkult. Die Schintoisten glauben, daß eine „abgeschiedene“ Seele immer noch ihre Individualität hat und daß sie durch den Tod verunreinigt worden ist. Wenn die Hinterbliebenen Gedächtnisriten durchführen, wird die Seele von jeder Bosheit gereinigt und nimmt einen friedlichen und wohlwollenden Charakter an. Im Laufe der Zeit steigt die Ahnenseele in den Rang einer Ahnen- oder Schutzgottheit auf. Es zeigt sich also, daß auch für diese Religion der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele grundlegend ist und daß er die Einstellung und Handlungsweise der Gläubigen beeinflußt (Psalm 146:4; Prediger 9:5, 6, 10).

      6, 7. (a) Wie betrachteten die Schintoisten ihre Götter? (b) Was sind shintai, und warum sind sie im Schintoismus von Bedeutung? (Vergleiche 2. Mose 20:4, 5; 3. Mose 26:1; 1. Korinther 8:5, 6.)

      6 Natur- und Ahnengötter wurden als Geister betrachtet, die in der Luft „schwebten“ und sie erfüllten. Bei Festen riefen die Leute die Götter an und baten sie, zu den für den Anlaß besonders geheiligten Stätten herabzusteigen. Man glaubte, die Götter würden vorübergehend in shintai — verehrungswürdige Dinge wie zum Beispiel Bäume, Steine, Spiegel und Schwerter — Wohnung nehmen. Schamanen oder Geistermedien leiteten die Riten, durch die die Götter herabgerufen wurden.

      7 Allmählich nahmen die „Landeplätze“ der Götter, die für die Feste vorübergehend gereinigt wurden, eine dauerhaftere Form an. Die Leute bauten für die gütigen Götter, die sie zu segnen schienen, Schreine. Anfangs machte man sich keine Götterbilder, sondern verehrte die shintai, die als Sitz des Geistes der Götter betrachtet wurden. Sogar ein ganzer Berg wie der Fudschijama konnte als shintai dienen. Mit der Zeit gab es so viele Götter, daß die Japaner den Ausdruck yao-yorozu-no-kami einführten, was wörtlich „acht Millionen Götter“ bedeutet („kami“ bedeutet „Götter“ oder „Gottheiten“). Heute wird der Ausdruck für „zahllose Götter“ gebraucht, da die Zahl der Gottheiten im Schintoismus ständig wächst.

      8. (a) Wie wurde gemäß dem Schinto-Mythos Amaterasu Omikami gebildet und gezwungen, Licht zu spenden? (b) Wie wurde Amaterasu Omikami die nationale Gottheit, und welcher Zusammenhang besteht zwischen ihr und dem Kaiser?

      8 Als der Schrein bei den schintoistischen Riten in den Mittelpunkt rückte, baute jede Sippe ihrer Schutzgottheit einen Schrein. Als jedoch im 7. Jahrhundert u. Z. die kaiserliche Familie das Land einte, erhob sie die Sonnengöttin Amaterasu Omikami zur nationalen Gottheit und zur Hauptgottheit des Schintoismus. (Siehe Kasten, Seite 191.) Im Laufe der Zeit kam der Mythos auf, der Kaiser sei ein unmittelbarer Nachkomme der Sonnengöttin. Um ihn als das zu legitimieren, wurden im 8. Jahrhundert u. Z. zwei bedeutende Schinto-Schriften, der Kodschiki und der Nihongi, kodifiziert. Diese Bücher mit ihren Mythen, in denen die göttliche Herkunft des Kaiserhauses dargetan wurde, trugen dazu bei, die Stellung des Kaisers als Staatsoberhaupt zu festigen.

      Eine Religion der Feste und Riten

      9. (a) Warum bezeichnet ein Gelehrter den Schintoismus als eine Religion, der mehreres fehlt? (b) Wie streng ist der Schintoismus in bezug auf Lehren? (Vergleiche Johannes 4:22-24.)

      9 Diese beiden Bücher, die Quellen der schintoistischen Mythologie, galten indes nicht als inspirierte Schriften. Interessanterweise ist kein Stifter des Schintoismus bekannt, auch hat er keine heiligen Schriften. „Der Schintoismus ist eine Religion, der mehreres fehlt“, erklärt der Schinto-Gelehrte Shouichi Saeki. „Er hat keine bestimmten Lehren und keine ausführliche Theologie. Er hat auch fast keine Gebote, die zu beachten wären. ... Ich bin zwar in einer traditionell schintoistischen Familie aufgewachsen, aber ich kann mich nicht erinnern, je ernsthaft religiös unterwiesen worden zu sein.“ (Kursivschrift von uns.) Für den Schintoisten sind Lehren, Gebote und zuweilen auch das, was er anbetet, unwichtig. Ein Schinto-Gelehrter schreibt: „Manchmal wurde sogar in einem Heiligtum der darin verehrte Gott gegen einen anderen ausgetauscht, ohne daß die Menschen, die diese Götter verehrten und zu ihnen beteten, etwas von dem Wechsel merkten.“

      10. Was ist für Schintoisten von großer Wichtigkeit?

      10 Was ist für Schintoisten wirklich wichtig? In einem Buch über die japanische Kultur wird gesagt: „Ursprünglich galten im Schinto-Glauben Taten als ‚gut‘, wenn sie der Harmonie und dem Lebensunterhalt einer Dorfgemeinde förderlich waren, und wenn sie dem entgegenwirkten, als ‚schlecht‘.“ Man betrachtete es als das Wertvollste, in Harmonie mit den Göttern, der Natur und der Dorfgemeinschaft zu sein. Irgend etwas, was den Frieden der Dorfgemeinschaft störte, war schlecht, ganz gleich, welchen sittlichen Wert es hatte.

      11. Welche Rolle spielen Feste im Glaubensleben und im Alltag eines Schintoisten?

      11 Da dem Schintoismus eine klar formulierte Theologie fehlt, wird der Dorffrieden durch Riten und Feste gefördert. „Das allerwichtigste für den Schintoisten ist“, wie die Enzyklopädie Nihon Shukyo Jiten schreibt, „ob Feste gefeiert werden oder nicht.“ (Siehe Kasten, Seite 193.) Das gemeinsame Feiern von Festen zu Ehren der Ahnengottheiten trug zu einem Gemeinschaftsgeist unter den Reisbauern bei. Die größeren Feste hingen und hängen immer noch mit dem Reisbau zusammen. Im Frühling bitten die Dorfbewohner die „Göttin der Reisfelder“, sie möge in ihr Dorf herabsteigen, und sie beten um eine gute Ernte. Im Herbst danken sie ihren Göttern für die Ernte. Bei den Festen tragen sie ihre Götter in einem mikoshi oder tragbaren Schrein umher und pflegen mit ihnen Gemeinschaft, indem sie mit ihnen essen und Reiswein (Sake) trinken.

      12. Welche Art von Reinigungsriten werden im Schintoismus vollzogen, und zu welchem Zweck?

      12 Der Schintoist glaubt, daß er sich, bevor er mit den Göttern in Verbindung treten könne, von aller moralischen Unreinheit und Sünde reinigen müsse. Hier kommen die Riten ins Spiel. Es gibt zwei Formen von Reinigungsriten sowohl für Personen als auch für Gegenstände. Der eine Ritus heißt oharai und der andere misogi. Beim oharai schwenkt ein Schinto-Priester über dem zu reinigenden Gläubigen oder Gegenstand einen Zweig des immergrünen Sakakibaumes, an dessen Spitze Papierstreifen oder Flachsfasern hängen. Beim misogi dagegen dient zur Reinigung Wasser. Diese Reinigungsriten spielen im Schinto-Glauben eine so wichtige Rolle, daß eine japanische Autorität schreibt: „Es darf mit Sicherheit gesagt werden, daß sich der Schintoismus ohne diese Riten nicht [als Religion] behaupten könnte.“

      Die Anpassungsfähigkeit des Schintoismus

      13, 14. Wie hat sich der Schintoismus anderen Religionen angepaßt?

      13 Trotz der Umwandlung, die der Schintoismus im Laufe der Zeit erfahren hat, sind ihm seine Feste und Riten verblieben. Was für eine Umwandlung? Ein Schinto-Gelehrter vergleicht die Veränderungen im Schintoismus mit denen einer Ankleidepuppe. Als der Buddhismus eingeführt wurde, bekleidete er sich mit der buddhistischen Lehre. Als das Volk eine Ethik benötigte, zog er den Konfuzianismus über. Der Schintoismus hat sich als äußerst anpassungsfähig erwiesen.

      14 Schon früh in der Geschichte des Schintoismus kam es zum Synkretismus, einer Verschmelzung mit Elementen anderer Religionen. Zu diesen Religionen gehörten der Konfuzianismus und der Taoismus, in Japan als der „Weg des yin und yang“ bekannt; hauptsächlich vermischte sich der Schintoismus jedoch mit dem Buddhismus.

      15, 16. (a) Wie haben die Schintoisten auf den Buddhismus reagiert? (b) Wie kam es zur Verschmelzung des Schintoismus mit dem Buddhismus?

      15 Als der Buddhismus über China und Korea nach Japan gelangte, fingen die Japaner an, ihre traditionellen religiösen Bräuche als Schintoismus oder als „Weg der Götter“ zu bezeichnen. Das Auftauchen der neuen Religion stellte die Japaner vor die Frage, ob sie den Buddhismus annehmen sollten oder nicht. Die, die für den Buddhismus waren, sagten: „Alle Nachbarländer haben diesen Glauben. Warum sollte Japan anders sein?“ Die gegen den Buddhismus waren, führten ins Feld: „Wenn wir die Götter der Nachbarländer anbeten, reizen wir unsere eigenen Götter zum Zorn.“ Nach jahrzehntelangen Streitereien setzten sich die Befürworter des Buddhismus durch. Als gegen Ende des 6. Jahrhunderts u. Z. Prinz Schotoku Buddhist wurde, faßte die neue Religion festen Fuß.

      16 Sobald sich der Buddhismus auch auf dem Lande ausbreitete, stieß er auf die einheimischen Schinto-Gottheiten, die im Leben der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielten. Die beiden Religionen mußten sich miteinander arrangieren, um nebeneinander bestehen zu können. Einen Beitrag zur Verschmelzung beider Religionen leisteten buddhistische Mönche, die sich in den Bergen asketischen Übungen unterzogen. Da die Schintoisten die Berge als Wohnstätten der Götter betrachteten, trugen die asketischen Praktiken der Mönche in den Bergen zur Vermischung von Buddhismus und Schintoismus bei. Das führte auch zur Errichtung der Jingu-ji oder kombinierten Schinto-Schreine und Buddhatempel.a Nach und nach verschmolzen die beiden Religionen miteinander, der Buddhismus aber tat sich durch die Bildung religiöser Theorien hervor.

      17. (a) Was bedeutet kamikaze? (b) Welche Beziehung besteht zwischen kamikaze und dem Glauben, die Japaner seien eine göttliche Nation?

      17 Nun faßte der Glaube, die Japaner seien eine göttliche Nation, Fuß. Als im 13. Jahrhundert die Mongolen Japan angriffen, kam der Glaube an kamikaze auf, wörtlich: „göttlicher Wind“. Zweimal griffen die Mongolen die Insel Kiuschu mit einer großen Flotte an, und zweimal vereitelten Stürme die Invasion. Die Japaner glaubten, ihre Schinto-Götter (kami) hätten die Stürme oder den Wind (kaze) gesandt, und als Folge wuchs das Ansehen ihrer Götter beträchtlich.

      18. Wie hat der Schintoismus mit anderen Religionen konkurriert?

      18 Das wachsende Vertrauen in die Schinto-Gottheiten hatte auch zur Folge, daß man sie für die ursprünglichen Götter hielt, während Buddhas („Erleuchtete“) und Bodhisattwas (angehende Buddhas, die anderen helfen, erleuchtet zu werden [siehe die Seiten 136, 137, 145, 146]) nur als zeitweilige lokale Manifestationen der Gottheit angesehen wurden. Als Folge dieses Konflikts zwischen Schintoismus und Buddhismus entstanden verschiedene schintoistische Richtungen. Einige legten Nachdruck auf den Buddhismus, andere auf die Schinto-Götter, und wieder andere schmückten ihre Lehre mit einer späteren Form des Konfuzianismus.

      Kaiserkult und Staats-Schinto

      19. (a) Worin bestand das Ziel des Restaurations-Schinto? (b) Wie beeinflußten die Lehren des Norinaga Motoori das japanische Denken? (c) Wozu fordert Gott uns auf?

      19 Nach jahrelanger Symbiose der beiden Religionen erklärten die Schinto-Theologen, ihre Religion sei durch religiöses Gedankengut der Chinesen verunreinigt worden. Sie verlangten daher die Rückkehr zur alten japanischen Religion. Eine neue Richtung des Schintoismus entstand, bekannt als Restaurations-Schinto. Einer seiner Hauptverfechter war Norinaga Motoori (sprich: Moto-ori), ein Gelehrter des 18. Jahrhunderts. Auf der Suche nach dem Ursprung der japanischen Kultur studierte Motoori die Klassiker, besonders die schintoistischen Schriften, die als Kodschiki bezeichnet werden. Er lehrte, daß die Sonnengöttin Amaterasu Omikami die oberste Schinto-Gottheit sei, und für die Naturerscheinungen seien irgendwie die Götter verantwortlich. Außerdem lehrte er, daß die göttliche Vorsehung nicht vorauszusagen sei und daß es unehrerbietig sei von den Menschen, den Versuch zu machen, sie zu ergründen. Nach seinem Dafürhalten sollte man keine Fragen stellen und sich der göttlichen Vorsehung unterwerfen (Jesaja 1:18).

      20, 21. (a) Wie bemühte sich ein Schinto-Theologe, den Schintoismus von „chinesischen“ Einflüssen zu säubern? (b) Welche Bewegung entstand als Folge von Hiratas Philosophie?

      20 Einer seiner Schüler, Atsutane Hirata, erweiterte Norinaga Motooris Ansichten und war bestrebt, die Reinheit des Schintoismus wiederherzustellen und ihn von allen „chinesischen“ Einflüssen zu säubern. Wie ging Hirata vor? Er verschmolz den Schintoismus mit der abtrünnigen „christlichen“ Theologie. Er verglich Ame no Minakanushi no Kami, einen Gott, der im Kodschiki erwähnt wird, mit dem Gott des „Christentums“ und schrieb, daß dieser Gott, der das All beherrsche, zwei untergeordnete Götter habe, „den Hohen hehren Erzeuger (Takamimusubi) und die Göttliche Erzeugerin (Kamimusubi). Diese stellen offenbar das männliche und das weibliche Prinzip dar“ (Religions in Japan). Ja, er übernahm vom Katholizismus die Lehre eines dreieinigen Gottes, wenn sie auch nie eine Hauptlehre des Schintoismus wurde. Doch Hiratas Verschmelzung des sogenannten Christentums mit dem Schintoismus bewirkte schließlich, daß der Monotheismus der Christenheit dem Denken der Schintoisten eingepflanzt wurde (Jesaja 40:25, 26).

      21 Hiratas Theologie wurde die Grundlage für die Kaiserkultbewegung, die zum Sturz der feudalistischen Militärdiktatoren, der Schogune, und zur Wiederherstellung der Kaiserherrschaft im Jahre 1868 führte. Als die Kaiserherrschaft errichtet wurde, setzte man Hiratas Schüler als Regierungskommissare der Schinto-Religion ein, und sie förderten eine Bewegung, die das Ziel hatte, den Schintoismus zur Staatsreligion zu machen. Nach der neuen Verfassung war der Kaiser ein direkter Nachkomme der Sonnengöttin Amaterasu Omikami und galt als „heilig und unantastbar“. Er wurde somit der höchste Gott des Staats-Schinto (Psalm 146:3-5).

      Die „heilige Schrift“ des Schintoismus

      22, 23. (a) Welche zwei Edikte erließ der Kaiser? (b) Warum wurden diese Edikte für heilig gehalten?

      22 Während der Schintoismus seine Mythen, Riten und Gebete im Kodschiki, Nihongi und Engischiki hatte, fehlte dem Staats-Schinto ein heiliges Buch. Im Jahre 1882 erließ Kaiser Meidschi das kaiserliche Edikt an die Soldaten und Seeleute. Da es vom Kaiser kam, betrachteten die Japaner es als heilige Schrift, und es wurde die Grundlage für die täglichen Meditationen der Angehörigen der Streitkräfte. Darin wurde betont, daß die Pflicht, dem göttlichen Kaiser die Schulden zu bezahlen und den Verantwortlichkeiten ihm gegenüber nachzukommen, wichtiger sei als alle Pflichten, die man anderen gegenüber haben könne.

      23 Einen weiteren Teil der Schinto-Bibel bildete das kaiserliche Erziehungsedikt, das am 30. Oktober 1890 herausgegeben wurde. Es „legte nicht nur die Grundsätze für die Schulbildung fest, sondern wurde auch die heilige Schrift des Staats-Schinto“, schreibt Shigeyoshi Murakami, ein Gelehrter auf dem Gebiet des Staats-Schinto. In dem Edikt hieß es, daß die „historische“ Beziehung zwischen den mythischen kaiserlichen Ahnen und ihren Untertanen die Grundlage der Erziehung sei. Wie betrachteten die Japaner diese Edikte?

      24. (a) Führe ein Beispiel dafür an, wie die Leute diese kaiserlichen Edikte betrachteten. (b) Wie führte der Staats-Schinto zum Kaiserkult?

      24 „Als ich noch zur Schule ging, pflegte der Konrektor ein hölzernes Kästchen in Augenhöhe zu halten und es ehrfürchtig auf die Bühne zu tragen“, erinnert sich Asano Koshino. „Der Rektor nahm das Kästchen entgegen und zog eine Rolle heraus, auf der das kaiserliche Erziehungsedikt geschrieben stand. Während das Edikt vorgelesen wurde, durften wir nicht aufschauen, bis wir die abschließenden Worte hörten: ‚der Name Seiner Majestät und Sein Siegel‘. Wir hörten die Worte so oft, daß sie sich uns einprägten.“ Bis 1945 wurde die ganze Nation durch ein auf Mythologie beruhendes Erziehungssystem so gesteuert, daß sie absolut kaisertreu war. Der Staats-Schinto galt als die Religion der Religionen, und die 13 schintoistischen Sekten, die andere Lehren vertraten, galten als Sekten-Schinto.

      Japans religiöse Mission — Welteroberung

      25. Als was betrachteten die Leute den japanischen Kaiser?

      25 Der Staats-Schinto hatte auch seinen Götzen. „Jeden Morgen schlug ich die Hände vor der Sonne, dem Symbol der Göttin Amaterasu Omikami, zusammen, wandte mich ostwärts gegen den Kaiserpalast und brachte dem Kaiser Verehrung dar“, erinnert sich Masato, ein älterer Japaner. Der Kaiser wurde von seinen Untertanen als Gott verehrt. Weil er von der Sonnengöttin abstammte, galt er als politisch und religiös höchstrangig. Ein japanischer Professor erklärte: „Der Kaiser ist in Menschen geoffenbarter Gott. Er ist die manifeste Gottheit.“

      26. Welche Lehre war die Folge des Kaiserkults?

      26 Demzufolge wurde gelehrt, daß „der Mittelpunkt dieser phänomenalen Welt das Land des Mikados [Kaisers] ist. Von diesem Mittelpunkt aus müssen wir diesen Großen Geist in der ganzen Welt verbreiten. ... Die Ausdehnung Groß-Japans über die ganze Welt und die Erhebung der ganzen Welt zum Land der Götter ist die dringliche Aufgabe der Gegenwart, und es ist unser ewiges und unveränderliches Ziel“ (The Political Philosophy of Modern Shinto von D. C. Holtom). Da war keine Spur von einer Trennung zwischen Kirche und Staat.

      27. Wie haben die japanischen Militärs den Kaiserkult ausgenutzt?

      27 In seinem Buch Man’s Religions schreibt John B. Noss: „Die japanischen Militärs schlachteten diese Ansicht flink aus. Sie machten sie zu einem Bestandteil ihrer Kriegsreden — Eroberung ist die heilige Mission Japans. Gewiß sehen wir in diesen Worten die logische Folge eines Nationalismus, der mit allen Werten einer Religion eingeimpft wurde.“ Wieviel Unglück hat dieser Schinto-Mythos von der Göttlichkeit des Kaisers und die Vermischung von Religion und Nationalismus den Japanern und auch anderen Völkern gebracht!

      28. Welche Rolle spielte der Schintoismus in bezug auf den Anteil der Japaner am Krieg?

      28 Solange der Staats-Schinto und sein kaiserliches System bestand, hatte der Japaner im allgemeinen keine andere Wahl, als den Kaiser zu verehren. Norinaga Motooris Lehre „Frag nichts, sondern unterwirf dich der göttlichen Vorsehung“ durchdrang und beherrschte das Denken der Japaner. Im Jahre 1941 hatte das ganze Land unter dem Banner des Staats-Schinto und in Treue zum „lebenden Gottmenschen“ für den Zweiten Weltkrieg mobil gemacht. „Die Japaner sind eine göttliche Nation“, dachte man, „und der kamikaze, der göttliche Wind, wird wehen, wenn es zu einer Krise kommt.“ Die Soldaten und ihre Angehörigen beteten zu ihren Schutzgöttern um Kriegsglück.

      29. Was führte dazu, daß nach dem Zweiten Weltkrieg viele den Glauben verloren?

      29 Als die „göttliche“ Nation im Jahre 1945 kapitulierte, nachdem durch den Abwurf zweier Atombomben Hiroschima völlig und Nagasaki zum größten Teil zerstört waren, geriet der Schintoismus in eine schwere Krise. Über Nacht wurde der angeblich unbesiegbare göttliche Herrscher Hirohito ein einfacher, besiegter menschlicher Kaiser. Der Glaube der Japaner war nur noch ein Scherbenhaufen. kamikaze hatte die Nation im Stich gelassen. Die Enzyklopädie Nihon Shukyo Jiten schreibt: „Einer der Gründe war die Enttäuschung des Volkes, verraten worden zu sein. ... Und was noch schlimmer war, die Schinto-Welt gab keine religiös fortgeschrittene und passende Erklärung für die Zweifel als Folge der Niederlage. Daher nahm die unreife Reaktion in bezug auf Religion überhand: ‚Es gibt weder Gott noch Buddha.‘ “

      Der Weg zu wahrer Harmonie

      30. (a) Was können wir aus der Erfahrung, die der Schintoismus im Zweiten Weltkrieg machte, lernen? (b) Warum ist es wichtig, daß wir in bezug auf unsere Anbetung die Vernunft gebrauchen?

      30 Der Weg des Staats-Schinto zeigt deutlich, wie notwendig es ist, daß jeder die überlieferten Glaubensanschauungen, an denen er bisher festgehalten hat, überprüft. Die Schintoisten mögen einen Weg der Harmonie mit ihren japanischen Mitmenschen angestrebt haben, als sie den Militarismus unterstützten. Natürlich hat das nicht zu einer weltweiten Harmonie beigetragen, und durch den Tod der Väter und Söhne auf dem Schlachtfeld ist auch keine Harmonie in die Familien eingezogen. Ehe wir uns jemandem hingeben, müssen wir uns vergewissern, wem und welcher Sache wir uns opfern. „Daher bitte ich euch inständig“, schrieb ein christlicher Lehrer an Römer, die ehemals den Kaiser verehrt hatten, „eure Leiber als ein lebendiges, heiliges, für Gott annehmbares Schlachtopfer darzustellen, das ist ein heiliger Dienst gemäß eurer Vernunft.“ So, wie die Christen in Rom bei der Wahl, wem sie sich hingeben wollten, ihre Vernunft gebrauchen sollten, so ist es auch heute wichtig, die Vernunft zu gebrauchen, um zu ermitteln, wen wir anbeten sollten (Römer 12:1, 2).

      31. (a) Was genügte den meisten Schintoisten? (b) Welche Frage bedarf einer Antwort?

      31 Die Schintoisten im allgemeinen betrachteten es als unwichtig, welchen besonderen Gott sie anbeteten. „Für das Volk“, schrieb Hidenori Tsuji, Professor für japanische Religionsgeschichte, „spielte es keine Rolle, ob es zu Göttern oder zu Buddhas betete, solange sie die Bitten um eine gute Ernte, um Heilung von einer Krankheit und um das Wohl der Familie erhörten; das genügte dem Volk.“ Hat das aber die Schintoisten zu dem wahren Gott geführt, und sind sie von ihm gesegnet worden? Die Geschichte gibt eine klare Antwort.

      32. Was wird im nächsten Kapitel behandelt?

      32 Auf ihrer Suche nach einem Gott haben die Schintoisten, die ihren Glauben auf Mythologien stützen, lediglich einen Menschen, ihren Kaiser, einen angeblichen Nachkommen der Sonnengöttin Amaterasu Omikami, zu einem Gott gemacht. Jahrtausende vor dem Aufkommen des Schintoismus hat sich der wahre Gott einem gläubigen Semiten in Mesopotamien geoffenbart. In unserem nächsten Kapitel werden wir jenes großartige Ereignis und seine Folgen besprechen.

      [Fußnote]

      a In Japan werden die religiösen Gebäude der Schintoisten als Schreine und die der Buddhisten als Tempel betrachtet.

      [Kasten auf Seite 191]

      Die Sonnengöttin im Schinto-Mythos

      Nach dem Schinto-Mythos hat sich in uralter Zeit der Gott Izanagi „das linke Auge gewaschen, worauf die große Göttin Amaterasu, die Sonnengöttin, entstand“. Später erschreckte der Gott, der die Herrschaft über das Meer hatte, Amaterasu so sehr, daß sie „sich in einer himmlischen Felsenhöhle verbarg und den Eingang mit einem Felsbrocken verschloß. Schwarze Nacht überzog die Welt.“ Daher ersannen die Götter eine List, um Amaterasu aus der Höhle zu locken. Sie versammelten Hähne, die durch ihr Krähen den Tagesanbruch ankündigten, und machten einen großen Spiegel. Sie behängten Sakakibäume mit Perlen und Stoffstreifen. Dann begann die Göttin Ama no Uzume zu tanzen und mit den Füßen auf eine Tonne zu trommeln. Bei ihrem wilden Tanz streifte sie die Kleider ab, worauf die Götter zu lachen anfingen. Das alles machte Amaterasu neugierig, und sie schaute aus der Höhle und sah sich selbst in dem Spiegel. Das Spiegelbild lockte sie aus der Höhle, worauf der Gott der Gewalt sie bei der Hand faßte und ins Freie zog. „Nun wurde die Welt wieder von den Strahlen der Sonnengöttin erhellt“ (New Larousse Encyclopedia of Mythology). (Vergleiche 1. Mose 1:3-5, 14-19; Psalm 74:16, 17; 104:19-23.)

      [Kasten auf Seite 193]

      Schintoismus — eine Religion der Feste

      In Japan gibt es während des Jahres zahllose religiöse Feste oder Matsuri. Es folgen einige der Hauptfeste:

      ▪ Sho-gatsu oder das Neujahrsfest, 1.—3. Januar.

      ▪ Setsubun, Bohnenwerfen innerhalb und außerhalb des Hauses, wobei man ruft: „Teufel raus, Glück rein“; 3. Februar.

      ▪ Hina Matsuri oder Puppenfest für die Mädchen; fällt auf den 3. März. Ein Aufbau mit Puppen, die den alten kaiserlichen Hof darstellen, wird aufgestellt.

      ▪ Knabenfest, 5. Mai; Koi-nobori (Papierkarpfen, die Kraft versinnbilden) werden an Bambusstäben befestigt und flattern gelassen.

      ▪ Tsukimi, das Bewundern des Vollmondes in der Herbstmitte, wobei man kleine runde Reiskuchen und die ersten Früchte opfert.

      ▪ Kanname-sai oder das Darbringen des ersten neuen Reises durch den Kaiser, im Oktober.

      ▪ Niiname-sai wird vom kaiserlichen Hof im November gefeiert, wenn der neue Reis vom Kaiser, der als Hoherpriester des Staats-Schinto die Kulthandlungen ausführt, gekostet wird.

      ▪ Shichi-go-san, was „sieben-fünf-drei“ bedeutet. Das Fest wird von schintoistischen Familien am 15. November gefeiert. Sieben, fünf und drei werden als wichtige Übergangsjahre angesehen; Kinder in bunten Kimonos besuchen den Familienschrein.

      ▪ Es werden auch viele buddhistische Feste gefeiert, z. B. der Geburtstag des Buddha am 8. April und das Obonfest am 15. Juli, das damit endet, daß man laternengeschmückte Bötchen im Fluß oder am Strand davonschwimmen läßt, „um den Ahnengeistern den Weg zurück in die andere Welt zu zeigen“.

      [Bild auf Seite 188]

      Eine Gläubige trägt Schinto-Göttern ihre Bitten vor

      [Bild auf Seite 189]

      Schinto, „Weg der Götter“

      [Bild auf Seite 190]

      Ein ganzer Berg, z. B. der Fudschijama, wird manchmal als shintai oder Gegenstand der Verehrung angesehen

      [Bilder auf Seite 195]

      Schintoisten, die einen mikoshi, einen tragbaren Schrein, mitführen und (oben) beim Aoi-Fest in Kioto Haselwurz-(aoi-)Blätter tragen

      [Bild auf Seite 196]

      Man glaubt, daß das Schwenken des Zweiges eines immergrünen Baumes, an dem Papierstreifen oder Flachsfasern hängen, einen Gegenstand oder einen Menschen reinigt und ihm Schutz vor Unglück gewährt

      [Bilder auf Seite 197]

      Ein Japaner findet es nicht unvereinbar, an einem Schinto-Schrein (links) und an einem buddhistischen Altar zu beten

      [Bild auf Seite 198]

      Kaiser Hirohito (auf dem Podium) wurde als Nachkomme der Sonnengöttin verehrt

      [Bild auf Seite 203]

      Eine junge Frau befestigt an der Wand eines Schreins ein ema oder hölzernes Votivbild, das sie gekauft hat

  • Das Judentum — Die Suche nach Gott mit Hilfe der Bibel und der Tradition
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 9

      Das Judentum — Die Suche nach Gott mit Hilfe der Bibel und der Tradition

      1, 2. (a) Welche namhaften Juden haben einen Einfluß auf Geschichte und Kultur gehabt? (b) Was könnte jemand fragen?

      WAS hatten Moses, Jesus, Mahler, Marx, Freud und Einstein gemeinsam? Sie alle waren Juden, und alle haben auf verschiedene Weise die Geschichte und die Kultur der Menschheit beeinflußt. Es ist ganz offensichtlich, daß die Juden seit Jahrtausenden ein beachtenswertes Volk gewesen sind. Das bestätigt die Bibel selbst.

      2 Im Gegensatz zu anderen alten Religionen und Kulturen wurzelt das Judentum nicht in der Mythologie, sondern in der Geschichte. Dennoch könnte jemand fragen: „Warum sollte ich mich für das Judentum interessieren, die Religion der Juden, einer solch unbedeutenden Minderheit — 18 Millionen in einer Welt von über 5 Milliarden?“

      Warum uns das Judentum interessieren sollte

      3, 4. (a) Woraus bestehen die Hebräischen Schriften? (b) Warum sollten wir uns über die jüdische Religion und ihren Ursprung Gedanken machen?

      3 Ein Grund ist der, daß die Wurzeln der jüdischen Religion etwa 4 000 Jahre in die Vergangenheit zurückreichen und daß andere bedeutende Religionen den heiligen Schriften des Judentums mehr oder weniger zu Dank verpflichtet sind. (Siehe Kasten, Seite 220.) Das Christentum, das von Jesus (hebräisch: Jeschúa‛), einem Juden, der im ersten Jahrhundert lebte, gegründet wurde, wurzelt in den Hebräischen Schriften. Und beim Lesen des Qurʼān wird man feststellen, daß auch der Islam den Schriften des Judentums vieles zu verdanken hat (Qurʼān, Sure 2:49-57; 32:23, 24). Wenn wir also die jüdische Religion prüfen, so prüfen wir auch die Wurzeln von Hunderten anderer Religionen und Sekten.

      4 Ein weiterer wichtiger Grund ist der, daß die jüdische Religion ein wichtiges Glied in der Kette der Suche der Menschheit nach dem wahren Gott bildet. Gemäß den Hebräischen Schriften betete Abram, der Vorvater der Juden, bereits vor nahezu 4 000 Jahren den wahren Gott an.a Die Frage ist daher angebracht: Woher stammen die Juden, und wie hat sich ihr Glaube entwickelt? (1. Mose 17:18).

      Woher stammen die Juden?

      5, 6. Woher stammen, kurz gesagt, die Juden und ihr Name?

      5 Im großen und ganzen sind die Juden Nachkommen eines alten, Hebräisch sprechenden Zweiges der semitischen Rasse (1. Mose 10:1, 21-32; 1. Chronika 1:17-28, 34; 2:1, 2). Vor nahezu 4 000 Jahren wanderte ihr Vorvater Abram aus dem Ur der Chaldäer, einer blühenden Metropole in Sumer, nach Kanaan aus, dem Land, von dem Gott gesagt hatte: „Deinem Samen will ich dieses Land geben“b (1. Mose 11:31 bis 12:7). In 1. Mose 14:13 ist von ihm als „Abram, dem Ebräer“, die Rede; doch später wurde sein Name auf Abraham umgeändert (1. Mose 17:4-6). Von ihm leiten die Juden eine Abstammungslinie ab, die mit seinem Sohn Isaak und seinem Enkel Jakob beginnt, dessen Name auf Israel umgeändert wurde (1. Mose 32:27-29). Israel hatte 12 Söhne, die die Begründer von 12 Stämmen wurden. Einer von ihnen war Juda, von dessen Namen schließlich die Bezeichnung „Jude“ abgeleitet wurde (2. Könige 16:6).

      6 Im Laufe der Zeit wurde die Bezeichnung „Jude“ nicht mehr nur auf einen Nachkommen Judas angewandt, sondern auf alle Israeliten (Esther 3:6; 9:20). Da die jüdischen Geschlechtsregister vernichtet wurden, als die Römer im Jahre 70 u. Z. Jerusalem schleiften, kann heute kein Jude mehr genau feststellen, welchem Stamm seine Vorfahren angehörten. Wie dem auch sei, die alte jüdische Religion hat Jahrtausende überdauert und war Veränderungen unterworfen. Heute wird die jüdische Religion in der Republik Israel und in der Diaspora (der Zerstreuung) von Millionen Juden ausgeübt. Worauf beruht diese Religion?

      Moses, das Gesetz und eine Nation

      7. Welchen Eid schwor Gott Abraham, und warum?

      7 Im Jahre 1943 v. u. Z.c erwählte Gott Abram zu seinem besonderen Diener und schwor ihm später — wegen seiner Treue und seiner Bereitschaft, ihm seinen Sohn Isaak zu opfern — einen feierlichen Eid, obwohl das Opfer nie vollzogen wurde (1. Mose 12:1-3; 22:1-14). In Verbindung mit diesem Eid sagte Gott: „Bei mir habe ich geschworen, ist der Spruch des Ewigen [hebräisch: יהוה, JHWH], daß, weil du solches getan und deinen einzigen Sohn nicht geweigert hast, ich dich segnen will und deinen Samen zahlreich machen gleich den Sternen des Himmels ... Und segnen sollen sich mit deinem Samen alle Völker der Erde, dafür, daß du meiner Stimme gehorcht hast.“ Dieser Eidschwur wurde Abrahams Sohn und seinem Enkel gegenüber wiederholt und blieb dann im Stamm Juda und in der Linie Davids weiter bestehen. Diese streng monotheistische Vorstellung von einem persönlichen Gott, der mit Menschen direkt verkehrte, war in der damaligen Welt etwas Einmaliges, und sie bildete dann die Grundlage der jüdischen Religion (1. Mose 22:15-18; 26:3-5; 28:13-15; Psalm 89:4, 5, 29, 30, 36, 37 [Psalm 89:3, 4, 28, 29, 35, 36, NW]).

      8. Wer war Moses, und welche Rolle spielte er in Israel?

      8 Um die Verheißungen, die er Abraham gegeben hatte, zu erfüllen, schloß Gott mit den Nachkommen Abrahams einen besonderen Bund und schuf so die Grundlage für eine Nation. Dieser Bund wurde durch Moses, den großen hebräischen Führer und den Mittler zwischen Gott und Israel, eingeführt. Wer war Moses, und warum ist er für die Juden so wichtig? Aus dem Bibelbuch 2. Mose geht hervor, daß er in Ägypten geboren wurde (1593 v. u. Z.) und daß seine Eltern Israeliten waren, die wie die übrigen Israeliten in der Sklaverei lebten. Er war es, den „der Ewige erkannte“ und dazu bestimmte, sein Volk in die Freiheit zu führen, nach Kanaan, in das Land der Verheißung (5. Mose 6:23; 34:10). Moses spielte die wichtige Rolle des Mittlers, als Gott mit den Israeliten den Gesetzesbund schloß; außerdem war er ihr Prophet, ihr Richter, ihr Führer und ihr Geschichtsschreiber (2. Mose 2:1 bis 3:22).

      9, 10. (a) Woraus bestand das Gesetz, das durch Moses übermittelt wurde? (b) Welche Lebensbereiche umfassen die Zehn Gebote? (c) Wozu wurde Israel durch den Gesetzesbund verpflichtet?

      9 Das Gesetz, das die Israeliten annahmen, bestand aus den Zehn Worten oder Geboten und über 600 Gesetzen, die einen umfangreichen Kodex von Richtlinien und Satzungen für das tägliche Verhalten bildeten. (Siehe Kasten, Seite 211.) Dieses Gesetz umfaßte Weltliches und Heiliges — Hygienevorschriften und Sittengesetze sowie Anweisungen für die Gottesanbetung.

      10 Durch den Gesetzesbund oder diese religiöse Verfassung wurde der Glaube der Patriarchen formuliert. Demzufolge wurden die Nachkommen Abrahams eine dem Dienst Gottes gewidmete Nation. So begann die jüdische Religion feste Formen anzunehmen, und die Juden wurden eine für die Anbetung und den Dienst ihres Gottes organisierte Nation. Gemäß 2. Mose 19:5, 6 verhieß ihnen Gott: „Wenn ihr nun auf meine Stimme hören und meinen Bund wahren werdet, ... sollt [ihr] mir sein ein Reich von Priestern und ein heilig Volk.“ Die Israeliten sollten also ein „auserwähltes Volk“ sein, das Gottes Vorsätzen diente. Die Erfüllung der Bundesverheißungen war jedoch an die Bedingung geknüpft: „Wenn ihr ... auf meine Stimme hören ... werdet.“ Dieses Volk war nun seinem Gott verpflichtet. Daher konnte Gott später (im achten Jahrhundert v. u. Z.) zu den Juden sagen: „Ihr seid mir Zeugen / ist des Ewgen [hebräisch: יהוה, JHWH] Spruch / und Knecht mein“ (Jesaja 43:10, 12).

      Eine Nation mit Priestern, Propheten und Königen

      11. Wie entstanden das Priestertum und das Königtum?

      11 Als sich das Volk Israel noch in der Wüste auf dem Weg in das Land der Verheißung befand, wurde im Geschlecht Aarons, des Bruders Mose, ein Priestertum gegründet. Eine Stiftshütte, ein großes tragbares Zelt, bildete den Mittelpunkt der Anbetung und des Opferdienstes der Israeliten (2. Mose, Kapitel 26 bis 28). Nach einiger Zeit erreichte die Nation Israel das Land Kanaan, das Land der Verheißung, und nahm es ein, wie Gott es geboten hatte (Josua 1:2-6). Schließlich wurde ein irdisches Königtum gegründet, und im Jahre 1077 v. u. Z. wurde David aus dem Stamm Juda König. Unter seiner Herrschaft wurden Königtum und Priestertum in Jerusalem, einem neuen nationalen Mittelpunkt, fest gegründet (1. Samuel 8:7).

      12. Welche Verheißung hatte Gott David gegeben?

      12 Nach Davids Tod baute sein Sohn Salomo in Jerusalem einen prächtigen Tempel, der die Stiftshütte ersetzte. Da Gott mit David einen Bund geschlossen hatte, wonach das Königtum für immer in Davids Linie bleiben sollte, nahm man an, daß der Messias, ein gesalbter König, eines Tages aus seiner Abstammungslinie hervorgehen werde. Eine Prophezeiung wies darauf hin, daß durch diesen messianischen König oder „Samen“ sowohl Israel als auch alle übrigen Nationen eine vollkommene Regierung erhalten würden (1. Mose 22:18). Diese Erwartung schlug Wurzeln, und der messianische Charakter der jüdischen Religion nahm deutlich feste Formen an (2. Samuel 7:8-16; Psalm 72:1-20; Jesaja 11:1-10; Sacharja 9:9, 10).

      13. Durch wen wies Gott die abtrünnigen Israeliten zurecht? Führe ein Beispiel an.

      13 Die Juden ließen sich aber von der falschen Religion der Kanaaniter und anderer Nachbarvölker beeinflussen. So kam es, daß sie die Bestimmungen ihres Bundes mit Gott übertraten. Um sie zurechtzuweisen und zur Umkehr zu veranlassen, sandte Jehova eine Reihe von Propheten zu ihnen, die ihnen seine Botschaften ausrichteten. Demzufolge wurden Prophezeiungen ein weiteres charakteristisches Merkmal der jüdischen Religion, und ein großer Teil der Hebräischen Schriften besteht aus Prophezeiungen. 18 Bücher der Hebräischen Schriften tragen sogar den Namen von Propheten (Jesaja 1:4-17).

      14. Wie bestätigten die Ereignisse die Worte der Propheten in Israel?

      14 Unter diesen Propheten traten besonders Jesaja, Jeremia und Hesekiel hervor, die alle die Nation vor Jehovas drohender Bestrafung wegen ihres Götzendienstes warnten. Zu dieser Bestrafung kam es im Jahre 607 v. u. Z., als Jehova wegen Israels Abtrünnigkeit zuließ, daß die damalige Weltmacht Babylon Jerusalem samt seinem Tempel zerstörte und das Volk in die Gefangenschaft führte. Das Wort der Propheten hatte sich bewahrheitet, und die 70jährige Gefangenschaft Israels während des größten Teils des sechsten Jahrhunderts v. u. Z. ging in die Geschichte ein (2. Chronika 36:20, 21; Jeremia 25:11, 12; Daniel 9:2).

      15. (a) Wie kam unter den Juden eine neue Form des Gottesdienstes auf? (b) Wie wirkte sich der Synagogengottesdienst auf die Anbetung im Tempel in Jerusalem aus?

      15 Im Jahre 539 v. u. Z. besiegte Cyrus, der Perser, Babylon und gestattete den Juden, ihr Land wieder zu besiedeln und den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen. Ein Überrest nahm diese Gelegenheit zwar wahr, doch die meisten blieben unter dem Einfluß der babylonischen Gesellschaft. Später kamen die Juden unter den Einfluß der persischen Kultur. So entstanden im Nahen Osten und im ganzen Mittelmeerraum jüdische Siedlungen. In jeder Gemeinde kam eine neue Form des Gottesdienstes auf, die mit der Synagoge (dem örtlichen Versammlungszentrum der Juden) verbunden war. Dadurch büßte der wieder erbaute Tempel in Jerusalem natürlich an Bedeutung ein. Die weitverstreuten Juden waren nun im wahrsten Sinne des Wortes eine Diaspora (Esra 2:64, 65).

      Das Judentum taucht in griechischem Gewand auf

      16, 17. (a) Welcher neue Einfluß breitete sich im vierten Jahrhundert v. u. Z. im Mittelmeerraum aus? (b) Durch wen wurde die griechische Kultur verbreitet, und wie? (c) Wie erschien das Judentum danach auf dem Schauplatz der Welt?

      16 Im vierten Jahrhundert v. u. Z. war die jüdische Gemeinschaft stetigen Veränderungen unterworfen und wurde so von den Wellen der nichtjüdischen Kultur überrollt, die damals den Mittelmeerraum und weitere Gebiete überfluteten. Die Flut ging von Griechenland aus, und das Judentum entstieg ihr in hellenistischem Gewand.

      17 Im Jahre 332 v. u. Z. eroberte der griechische Feldherr Alexander der Große den Nahen Osten in einem Blitzfeldzug und wurde von den Juden begrüßt, als er nach Jerusalem kam.d Alexanders Nachfolger setzten die Verwirklichung seines Hellenisierungsplans fort, indem sie im ganzen Reich die griechische Sprache, die griechische Kultur und die griechische Philosophie förderten. So kam es zu einer Verschmelzung der griechischen und der jüdischen Kultur, was überraschende Folgen haben sollte.

      18. (a) Warum wurde die Übersetzung der Hebräischen Schriften ins Griechische (die Septuaginta) notwendig? (b) Von welchem Bereich der griechischen Kultur wurden die Juden besonders beeinflußt?

      18 Die Diasporajuden redeten nicht mehr Hebräisch, sondern begannen, Griechisch zu sprechen. Daher wurde Ende des dritten und Anfang des zweiten Jahrhunderts v. u. Z. die erste Übersetzung der Hebräischen Schriften ins Griechische, Septuaginta genannt, angefertigt. Dadurch lernten viele Nichtjuden die Religion der Juden kennen und respektieren, ja einige konvertierten sogar.e Andererseits wurden Juden mit griechischem Gedankengut vertraut, und einige wandten sich sogar der Philosophie zu — für die Juden etwas völlig Neues. Ein Beispiel ist Philon (Philo) von Alexandria, der im ersten Jahrhundert u. Z. lebte und der das Judentum anhand der griechischen Philosophie so zu erklären suchte, als ob das Judentum und die griechische Philosophie ein und dieselben Grundwahrheiten zum Ausdruck brächten.

      19. Wie beschreibt ein jüdischer Schriftsteller die Zeit der Verschmelzung der griechischen und der jüdischen Kultur?

      19 Der jüdische Schriftsteller Max Dimont faßt dieses ständige Tauziehen zwischen der griechischen und der jüdischen Kultur folgendermaßen zusammen: „Durch platonisches Gedankengut, aristotelische Logik und euklidisches Wissen bereichert, traten jüdische Gelehrte mit neuem Rüstzeug an die Thora heran. ... Sie gingen dazu über, der jüdischen Offenbarung griechische Vernunftschlüsse hinzuzufügen.“ Die Ereignisse, die sich unter der römischen Herrschaft abspielten und durch die das Griechische Reich und später (im Jahre 63 v. u. Z.) auch Jerusalem im Römischen Reich aufgingen, sollten den Weg zu weiteren, noch bedeutenderen Veränderungen ebnen.

      Das Judentum unter römischer Herrschaft

      20. Welche religiöse Situation bestand unter den Juden im ersten Jahrhundert u. Z.?

      20 Im ersten Jahrhundert u. Z. befand sich das Judentum in einer außergewöhnlichen Phase. Max Dimont spricht von einem Schweben zwischen „dem Geist Griechenlands und dem Schwert Roms“. Die politische Bedrückung und die Auslegung messianischer Prophezeiungen — besonders derjenigen Daniels — schraubten die jüdischen Erwartungen in die Höhe. Die Juden waren in verschiedene Parteien aufgespalten. Die Pharisäer legten mehr Nachdruck auf ein mündliches Gesetz (siehe Kasten, Seite 221) als auf Tempelopfer. Die Sadduzäer betonten die Wichtigkeit des Tempels und der Priesterschaft. Außerdem gab es noch die Essener, die Zeloten und die Herodianer. Sie alle hatten gegensätzliche religiöse und philosophische Ansichten. Die Führer der Juden wurden Rabbiner (Meister, Lehrer) genannt, und weil sie gesetzeskundig waren, gelangten sie zu hohem Ansehen und bildeten schließlich eine neue Klasse geistlicher Führer.

      21. Welche Ereignisse hatten für die Juden der ersten zwei Jahrhunderte u. Z. drastische Auswirkungen?

      21 Innere Zwistigkeiten und äußere Auseinandersetzungen erschütterten das Judentum jedoch weiterhin, besonders im Land Israel. Letztendlich kam es zur offenen Empörung gegen Rom, und im Jahre 70 u. Z. belagerten die Römer Jerusalem, machten die Stadt dem Erdboden gleich, brannten ihren Tempel nieder und zerstreuten ihre Bewohner. Schließlich wurde es den Juden untersagt, Jerusalem zu betreten. Ohne Tempel, ohne Land und mit einem über das ganze Römische Reich zerstreuten Volk benötigte das Judentum — sollte es überleben — eine Erneuerung seiner Religion.

      22. (a) Wie wirkte sich der Verlust des Tempels in Jerusalem auf das Judentum aus? (b) Wie unterteilen die Juden die Bibel? (c) Was ist der Talmud, und wie ist er entstanden?

      22 Mit der Zerstörung des Tempels verschwanden die Sadduzäer, und das von den Pharisäern verfochtene mündliche Gesetz wurde zum Kernstück eines neuen, rabbinischen Judentums. Intensiveres Studium, Gebete und Liebeswerke traten an die Stelle der Tempelopfer und Wallfahrten. Nun konnte der jüdische Glaube überall, jederzeit und in jedem Kulturkreis ausgeübt werden. Die Rabbiner legten das mündliche Gesetz schriftlich nieder, fügten Erklärungen darüber hinzu und dann weitere Erklärungen über die Erklärungen. All das zusammen ergab schließlich den Talmud. (Siehe Kasten, Seite 220, 221.)

      23. Welche Veränderung ging unter dem Einfluß griechischen Denkens vor sich?

      23 Wie wirkten sich diese unterschiedlichen Einflüsse aus? Max Dimont schreibt in seinem Buch Jews, God and History, daß die Fackel der jüdischen Ideologie und Religion zwar von den Pharisäern getragen wurde, „die Fackel selbst aber von den griechischen Philosophen entzündet worden war“. Während der Talmud zum großen Teil streng legalistisch war, ließen seine Beispiele und Erklärungen doch eindeutig den Einfluß der griechischen Philosophie erkennen. Zum Beispiel wurden religiöse Vorstellungen der Griechen, wie die Vorstellung von der unsterblichen Seele, in jüdische Begriffe gekleidet. In dieser neuen, rabbinischen Ära brachten die Juden dem Talmud — der inzwischen eine Verschmelzung legalistischer und griechischer Philosophie geworden war — immer größere Verehrung entgegen, so daß er im Mittelalter mehr verehrt wurde als die Bibel.

      Das Judentum im Mittelalter

      24. (a) Welche zwei großen Gemeinschaften traten im Mittelalter unter den Juden in Erscheinung? (b) Wie beeinflußten sie das Judentum?

      24 Im Mittelalter (von 500 bis 1500 u. Z.) traten zwei unterschiedliche jüdische Gemeinschaften in Erscheinung: die Sephardim, die sich unter der muslimischen Herrschaft in Spanien eines ungestörten Lebens erfreuten, und die Aschkenasim in Mittel- und Osteuropa. Aus beiden Gemeinschaften gingen rabbinische Gelehrte hervor, deren Schriften und Gedanken heute noch die Grundlage religiöser jüdischer Auslegung bilden. Interessanterweise gehen viele religiöse Sitten und Bräuche der Juden in Wirklichkeit auf das Mittelalter zurück. (Siehe Kasten, Seite 231.)

      25. Was unternahm die katholische Kirche schließlich gegen die Juden in Europa?

      25 Im 12. Jahrhundert kam es in verschiedenen Ländern zu einer Massenvertreibung der Juden. Abba Eban, ein israelischer Politiker, schreibt in seinem Buch Dies ist mein Volk: „Mit der Ausbreitung des katholischen Glaubens ... brach über eine jüdische Gemeinde nach der anderen das Schicksal der Austreibung oder der Zwangstaufe herein. Ausschluß und Enteignung ...“ Im Jahre 1492 folgte Spanien, das erneut unter katholische Herrschaft gekommen war, diesem Beispiel, indem es die Ausweisung sämtlicher Juden aus seinem Gebiet anordnete. So waren bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die Juden aus fast ganz Westeuropa vertrieben worden und hatten in Osteuropa und in den Ländern um das Mittelmeer Zuflucht gesucht.

      26. (a) Wer erwies sich unter den Juden als Versager? (b) Welche Hauptrichtungen entstanden nun unter den Juden?

      26 In den Jahrhunderten der Bedrückung und Verfolgung traten unter den Juden in verschiedenen Ländern Pseudomessiasse auf, die alle mehr oder weniger anerkannt wurden, die sich aber alle als Versager erwiesen. Im 17. Jahrhundert waren neue Impulse notwendig, um die Juden neu zu beleben und sie aus dieser finsteren Zeit emporzuheben. Mitte des 18. Jahrhunderts schien sich ein Weg aus der hoffnungslosen Lage des jüdischen Volkes abzuzeichnen. Es handelte sich um den Chassidismus (siehe Kasten, Seite 226), eine Mischung von Mystizismus und religiöser Schwärmerei, die in gläubiger Frömmigkeit und täglichen Verrichtungen zum Ausdruck kam. Im Gegensatz dazu wies der Philosoph Moses Mendelssohn, ein deutscher Jude, ungefähr um dieselbe Zeit auf einen anderen Weg hin: die Haskala oder Aufklärung, die später zu dem führte, was in der Geschichte als neuzeitliches Judentum bekannt wurde.

      Von der „Aufklärung“ zum Zionismus

      27. (a) Wie beeinflußte Moses Mendelssohn die Anschauungen der Juden? (b) Warum verwarfen viele von ihnen die Hoffnung auf einen persönlichen Messias?

      27 Moses Mendelssohn (1729—1786) vertrat die Ansicht, daß die Juden anerkannt würden, wenn sie sich von den Einschränkungen des Talmuds lösen und sich der westlichen Kultur anpassen würden. Er wurde damals einer der angesehensten Juden in der nichtjüdischen Welt. Doch im 19. Jahrhundert kam es, besonders im „christlichen“ Rußland, erneut zu gewalttätigen antisemitischen Aktionen, durch die die Hoffnungen der Anhänger seiner Bewegung zerstört wurden, weshalb sich danach viele darauf konzentrierten, einen politischen Zufluchtsort für die Juden zu finden. Sie lehnten die Vorstellung von einem persönlichen Messias ab, der die Juden nach Israel zurückführen würde, und begannen, mit anderen Mitteln an der Gründung eines jüdischen Staates zu arbeiten. Auf diese Weise entstand dann das Konzept des Zionismus — „die Säkularisierung des ... jüdischen Messianismus“, wie es in einem maßgeblichen Werk heißt.

      28. Welche Ereignisse im 20. Jahrhundert beeinflußten die Anschauungen der Juden?

      28 Die Ermordung von ungefähr sechs Millionen europäischen Juden in dem von den Nazis verursachten Holocaust (1935—1945) verlieh dem Zionismus den endgültigen Impuls und rief in der ganzen Welt große Sympathie dafür hervor. Mit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 verwirklichte sich der zionistische Traum, und das bringt uns zu dem heutigen Judentum und zu der Frage: Was glauben die Juden heute?

      Gott ist E i n e r

      29. (a) Was ist unter „Judentum“ zu verstehen? (b) Was ist für die jüdische Religion charakteristisch? (c) Nenne einige jüdische Feste und Bräuche.

      29 Unter „Judentum“ ist sowohl die Gesamtheit der Juden als auch deren Religion zu verstehen. Wer sich daher zum Judentum bekehrt, wird sowohl ein Angehöriger des jüdischen Volkes als auch der jüdischen Religion. Die jüdische Religion ist im strengsten Sinne monotheistisch und lehrt, daß Gott in die Geschichte der Menschheit eingreift, besonders im Zusammenhang mit den Juden. Zum jüdischen Kult gehören mehrere jährliche Feste und verschiedene Bräuche. (Siehe Kasten, Seite 230, 231.) Wenn es auch keine Glaubensbekenntnisse oder Dogmen gibt, die von allen Juden anerkannt werden, so bildet doch das Bekenntnis der Einzigkeit Gottes, das im Schema (einem Gebet, dem 5. Mose 6:4 zugrunde liegt) zum Ausdruck kommt, das Hauptstück des synagogalen Gottesdienstes: „Höre, Jisraël! Der Ewige ist unser Gott; der Ewige ist Einer.“

      30. (a) Welche Vorstellung haben die Juden von Gott? (b) Wieso widerspricht die jüdische Anschauung über Gott der der Christenheit?

      30 Dieser Glaube an einen einzigen Gott wurde an das Christentum und den Islam weitergegeben. Dr. J. H. Hertz, ein Rabbiner, schreibt: „Diese erhabene Verkündigung des reinen Monotheismus bedeutete zugleich eine Kriegserklärung an jeden Polytheismus ... Das Schema schließt ebenso die Dreieinigkeit des christlichen Glaubensbekenntnisses als Verletzung der göttlichen Einheit aus.“f Wenden wir uns nun aber der jüdischen Glaubensansicht über das Leben nach dem Tod zu.

      Tod, Seele und Auferstehung

      31. (a) Wie drang die Lehre von der unsterblichen Seele in die jüdische Religion ein? (b) Welches Dilemma entstand durch die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele?

      31 Nach einer der Grundlehren des heutigen Judentums hat der Mensch eine unsterbliche Seele, die beim Tod des Körpers weiterlebt. Stammt diese Lehre aber aus der Bibel? Die Encyclopaedia Judaica gibt offen zu: „Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele drang wahrscheinlich unter griechischem Einfluß in die jüdische Religion ein.“ Dadurch entstand jedoch ein doktrinäres Dilemma, denn in demselben Werk wird gesagt: „Im Grunde widersprechen sich die Lehre von der Auferstehung und die von der Unsterblichkeit der Seele. Gemäß der einen gibt es am Ende der Tage eine allgemeine Auferstehung, das heißt, daß alle in der Erde Schlafenden hervorkommen werden, während die andere vom Zustand der Seele nach dem Tod des Körpers spricht.“ Wie beseitigte man dieses Dilemma? „Man nahm an, daß die Seele des Verstorbenen nach dem Tod in einem anderen Bereich weiterlebt (wodurch die verschiedenen Ansichten über Himmel und Hölle entstanden), während sein Körper im Grab liegt bis zur leiblichen Auferstehung aller Toten hier auf der Erde.“

      32. Was sagt die Bibel über die Toten?

      32 Privatdozent Arthur Hertzberg schreibt: „In der [hebräischen] Bibel selbst ist der Rahmen, in dem sich das Leben des Menschen abspielt, diese Welt. Es gibt keine Doktrin von Himmel und Hölle, lediglich eine sich verstärkende Vorstellung von einer letztlichen Wiedererweckung der Toten am Ende aller Tage.“ Das ist eine einfache und zutreffende Erklärung dessen, was die Bibel sagt, nämlich, daß „die Toten ... nichts [kennen] ... Denn es gibt nicht Schaffen noch Planen, nicht Kenntnis noch Weisheit in Scheol [dem allgemeinen Grab der Menschheit], dahin du gehst“ (Prediger 9:5, 10; Daniel 12:1, 2; Jesaja 26:19).

      33. Wie betrachteten die Juden die Lehre von der Auferstehung ursprünglich?

      33 In der Encyclopaedia Judaica wird gesagt: „In der rabbinischen Zeit galt die Lehre von der Auferstehung der Toten als eine Zentrallehre des Judentums“, sie „ist vom Glauben an ... die Unsterblichkeit der Seele zu unterscheiden“.g Heute wird die Unsterblichkeit der Menschenseele jedoch von allen Richtungen des Judentums anerkannt, die Auferstehung der Toten dagegen nicht.

      34. Wie beschreibt der Talmud die Seele im Gegensatz zur Bibel? Was sagen spätere Kommentatoren darüber?

      34 Im Gegensatz zur Bibel enthält der Talmud, der unter hellenistischem Einfluß entstanden ist, nicht nur eine Fülle von Erklärungen und Geschichten, sondern sogar Beschreibungen der unsterblichen Seele. Später ist in der Literatur der Kabbala (der jüdischen Geheimlehre) sogar von der Reinkarnation (Seelenwanderung) die Rede, die im wesentlichen eine alte hinduistische Lehre ist. (Siehe Kapitel 5.) Von den Juden in Israel wird diese Lehre heute allgemein akzeptiert, und auch im Glauben und in der Literatur der Chassidim spielt sie eine wichtige Rolle. Martin Buber gibt in seinem Buch Die Erzählungen der Chassidim zum Beispiel folgende Geschichte über die Seele wieder, die aus der Schule Elimelechs, eines Rabbiners von Lezajsk, stammt: „Wenn Rabbi Abraham Jehoschua am Versöhnungstag den Bericht vom Dienst des Hohenpriesters im Allerheiligsten wiederholte und an die Stelle kam, wo es heißt: ‚Und so sprach er‘, sagte er jedesmal nicht diese Worte, sondern er sagte: ‚Und so sprach ich.‘ Denn er hatte die Zeit, da seine Seele in einem Hohenpriester zu Jerusalem war, nicht vergessen.“

      35. (a) Wie ist das Reformjudentum zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele eingestellt? (b) Was lehrt die Bibel klar und deutlich über die Seele?

      35 Das Reformjudentum hat den Glauben an die Auferstehung sogar direkt verworfen. Man hat das Wort aus den reformjüdischen Gebetsbüchern ausgemerzt, was zeigt, daß man nur noch an die unsterbliche Seele glaubt. Wieviel verständlicher ist doch die biblische Ansicht, die in 1. Mose 2:7 zum Ausdruck kommt: „Da bildete der Ewige, Gott, den Menschen aus Staub vom Erdboden und hauchte Lebensodem in sein Antlitz; so ward der Mensch ein lebend Wesen [eine lebende Seele, The Holy Scriptures According to the Masoretic Text, 1917, The Jewish Publication Society of America].“ Die Vereinigung von Seele und Geist (Lebenskraft) ergibt „eine lebende Seele“h (1. Mose 2:7; 7:22; Psalm 146:4). Umgekehrt: Stirbt der menschliche Sünder, so stirbt die Seele (Hesekiel 18:4, 20). Somit hört der Mensch, wenn er stirbt, auf zu existieren und Bewußtsein zu haben. Seine Lebenskraft kehrt zu Gott zurück, der sie gegeben hat (Prediger 3:19; 9:5, 10; 12:7). Die wahrhaft biblische Hoffnung für die Toten ist die Auferstehung (hebräisch: techijáth hammethím, „Wiederbelebung der Toten“).

      36, 37. Wie dachten treue Hebräer in biblischen Zeiten über ein künftiges Leben?

      36 So überraschend diese Schlußfolgerung selbst für viele Juden sein mag, so hofften Anbeter des wahren Gottes doch schon vor Jahrtausenden tatsächlich auf eine Auferstehung. Vor etwa 3 500 Jahren sprach der gottesfürchtige, leidende Hiob von einer künftigen Zeit, zu der Gott ihn aus dem Scheol oder Grab auferwecken werde (Hiob 14:14, 15). Auch dem Propheten Daniel wurde versichert, daß er „am Ende der Tage“ auferstehen werde (Daniel 12:2, 13).

      37 Nichts in der Bibel läßt die Schlußfolgerung zu, daß jene treuen Hebräer glaubten, sie hätten eine unsterbliche Seele, die in einem Jenseits weiterleben würde. Sie hatten offensichtlich Grund genug zu glauben, daß der Souveräne Herr, der die Sterne des Weltalls zählt und ihre Bahnen bestimmt, sich zur Zeit der Auferstehung an sie erinnern würde. Sie waren ihm und seinem Namen treu gewesen, und so würde er auch ihnen treu sein (Psalm 18:26 [25, NW]; 147:4; Jesaja 25:7, 8; 40:25, 26).

      Das Judentum und der Name Gottes

      38. (a) Was geschah im Laufe der Jahrhunderte in bezug auf den Gebrauch des göttlichen Namens? (b) Worauf beruht der Name Gottes?

      38 Nach der jüdischen Lehre existiert der Name Gottes zwar in schriftlicher Form, ist aber so heilig, daß er nicht ausgesprochen werden darf.i Demzufolge ist die richtige Aussprache in den letzten 2 000 Jahren verlorengegangen. Die Juden haben diesen Standpunkt jedoch nicht immer vertreten. Vor ungefähr 3 500 Jahren sagte Gott zu Moses: „So sollst du zu den Kindern Jisraël sprechen: Der Ewige [hebräisch: יהוה, JHWH], der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, Jizhaks und Jaakobs hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für ewig, und dies meine Anrufung für alle Zeit“ (2. Mose 3:15; Psalm 135:13). Was hat es mit diesem Namen und seiner Anrufung auf sich? In dem Werk Pentateuch und Haftaroth von Dr. J. H. Hertz lautet eine Fußnote zu diesem Text: „Die Übersetzung des göttlichen Namens, der durch die vier hebr. Buchstaben J H W H ausgedrückt wird und stets ‚adonaj‘ [‚der Herr‘] ausgesprochen wird ... hat die gleiche hebr. Wurzel (hajah) wie Ehjeh: ‚sein‘.“ Hier haben wir also den heiligen Gottesnamen, das Tetragrammaton, die vier hebräischen Konsonanten JHWH (Jahwe), die in ihrer latinisierten Form im Laufe der Jahrhunderte in Deutsch als JEHOVA bekannt wurden.

      39. (a) Warum ist der Name Gottes von Bedeutung? (b) Warum hörten die Juden auf, den göttlichen Namen auszusprechen?

      39 Die Juden haben dem persönlichen Namen Gottes in ihrer ganzen Geschichte große Bedeutung beigemessen, nur in bezug auf die Verwendung des Namens traten vor längerer Zeit drastische Änderungen ein. Dr. A. Cohen schreibt in Everyman’s Talmud: „Besondere Ehre [wurde] Gottes ‚einzigartigem Namen‘ (Schem hameforasch) zugeschrieben, den er dem Volk Israel geoffenbart hatte, nämlich dem Tetragrammaton, JHVH.“ Der göttliche Name wurde geehrt, weil er die Person Gottes selbst darstellte und charakterisierte. Schließlich hatte Gott selbst seinen Namen bekanntgegeben und seinen Anbetern geboten, ihn zu gebrauchen. Das wird dadurch betont, daß der Name in der hebräischen Bibel 6 828mal vorkommt. Fromme Juden betrachten es jedoch als respektlos, Gottes persönlichen Namen auszusprechen.j

      40. Was haben namhafte Juden über die Verwendung des göttlichen Namens gesagt?

      40 Über das alte rabbinische (nicht biblische) Verbot, den Namen auszusprechen, schreibt der Rabbiner A. Marmorstein in seinem Buch The Old Rabbinic Doctrine of God: „Es gab eine Zeit, da dieses Verbot [den göttlichen Namen zu gebrauchen] unter den Juden völlig unbekannt war ... Weder in Ägypten noch in Babylonien kannten oder befolgten die Juden ein Gesetz, das ihnen den Gebrauch des Gottesnamens, des Tetragrammatons, im täglichen Gespräch oder bei Begrüßungen untersagte. Doch vom dritten Jahrhundert v. Chr. bis zum dritten Jahrhundert n. Chr. bestand ein solches Verbot und wurde teilweise befolgt.“ In früheren Zeiten war die Verwendung des Namens nicht nur gestattet, sondern wie Dr. Cohen sagt, „gab es sogar eine Zeit, wo man es befürwortete, wenn selbst der Laie den Namen frei und ungezwungen gebrauchte ... Man nimmt an, daß dieser Empfehlung der Wunsch zugrunde lag, den Israeliten vom [Nichtjuden] zu unterscheiden.“

      41. Wie kam es nach den Worten eines Rabbiners dazu, daß die Verwendung des göttlichen Namens verboten wurde?

      41 Wie kam es denn, daß die Verwendung des göttlichen Namens verboten wurde? Dr. Marmorsteins Antwort lautet: „Hellenistische [griechisch beeinflußte] Gegner der jüdischen Religion, abgefallene Priester und Vornehme des Volkes waren die ersten, die die Regel festlegten, daß das Tetragrammaton im Heiligtum [im Tempel in Jerusalem] nicht ausgesprochen werden dürfe.“ Um den göttlichen Namen ja nicht unnütz auszusprechen, unterdrückten sie seine Verwendung im Gespräch vollständig und untergruben und schwächten dadurch die Möglichkeit, den wahren Gott zu erkennen. Unter dem vereinten Druck religiöser Gegner und Abtrünniger hörten die Juden auf, den göttlichen Namen zu gebrauchen.

      42. Was geht aus dem Bibelbericht in bezug auf den Gebrauch des göttlichen Namens hervor?

      42 Dr. Cohen erklärt jedoch: „In biblischen Zeiten scheint man keine Bedenken gehabt zu haben, ... [den göttlichen Namen] im täglichen Gespräch zu verwenden.“ Der Patriarch Abraham „rief den Namen des Ewigen an“ (1. Mose 12:8). Die meisten Schreiber der hebräischen Bibel verwendeten den Namen ungezwungen, aber respektvoll, bis hin zum Buch Maleachi, das im fünften Jahrhundert v. u. Z. geschrieben wurde (Ruth 1:8, 9, 17).

      43. (a) Was steht hinsichtlich des jüdischen Gebrauchs des göttlichen Namens einwandfrei fest? (b) Wie wirkte es sich indirekt aus, daß die Juden den göttlichen Namen nicht mehr gebrauchten?

      43 Es steht also einwandfrei fest, daß die alten Hebräer den göttlichen Namen gebrauchten und aussprachen. Über die Änderung, die später eintrat, sagt Marmorstein: „Damals, in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts [v. Chr.], trat in bezug auf die Verwendung des Namens Gottes eine große Änderung ein, die für die Lehre der jüdischen Theologie und Philosophie manche Änderungen mit sich brachte, deren Auswirkungen heute noch zu verspüren sind.“ Der Verlust des Namens bewirkte unter anderem, daß durch die Vorstellung von einem unbekannten Gott ein theologisches Vakuum entstand, in dem sich die Dreieinigkeitslehre der Christenheit leichter entwickeln konntek (2. Mose 15:1-3).

      44. Wie wirkte sich die Unterdrückung des Gottesnamens noch aus?

      44 Der Nichtgebrauch des göttlichen Namens beeinträchtigt die Anbetung des wahren Gottes. Ein Kommentator schrieb: „Die Bezeichnung ‚der Herr‘ für Gott ist zwar richtig, ist aber bedauerlicherweise kühl und farblos ... Man muß bedenken, daß man durch die Wiedergabe von JHWH oder Adonai mit ‚der Herr‘ vielen Textstellen des Alten Testaments eine abstrakte, förmliche und vage Note verleiht, die dem ursprünglichen Text völlig fremd ist“ (The Knowledge of God in Ancient Israel). Wie traurig ist es doch, feststellen zu müssen, daß der erhabene und bedeutsame Name Jahwe oder Jehova in vielen Bibelübersetzungen fehlt, da er doch im ursprünglichen hebräischen Text nachweislich Tausende von Malen vorkommt! (Jesaja 43:10-12).

      Erwarten die Juden den Messias immer noch?

      45. Welche biblische Stütze hat der Glaube an einen Messias?

      45 Die Hebräischen Schriften enthalten viele Prophezeiungen, von denen Juden, die vor über 2 000 Jahren lebten, ihre messianische Hoffnung ableiteten. Aus 2. Samuel 7:11-16 ging hervor, daß der Messias aus dem Geschlecht Davids hervorgehen würde. In Jesaja 11:1-10 wurde vorhergesagt, daß er der ganzen Menschheit Gerechtigkeit und Frieden bringen werde. Anhand von Daniel 9:24-27 konnte errechnet werden, wann der Messias erscheinen sollte und wann er zu Tode gebracht werden würde.

      46, 47. (a) Welche Art von Messias erwarteten die unter römischer Herrschaft lebenden Juden? (b) Inwiefern haben sich die jüdischen Messiaserwartungen geändert?

      46 Gemäß der Encyclopaedia Judaica waren die messianischen Erwartungen der Juden im ersten Jahrhundert besonders hoch. Man erwartete als Messias „einen charismatisch begabten Nachkommen Davids, den, wie die Juden der Römerzeit glaubten, Gott erwecken werde, damit er das Joch der Heiden zerbreche und über ein wiederhergestelltes Königreich Israel regiere“. Der kämpferische Messias, den die Juden erwarteten, erschien jedoch nicht.

      47 Wie die New Encyclopædia Britannica erwähnt, trug die messianische Hoffnung dennoch wesentlich dazu bei, das jüdische Volk in seinen vielen Drangsalen zusammenzuhalten: „Das Judentum verdankt sein Überleben weitgehend seinem unerschütterlichen Glauben an die messianische Verheißung und Zukunft.“ Mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Judentums zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert gaben jedoch viele Juden ihr passives Warten auf den Messias auf. Wegen des von den Nazis verursachten Holocaust verloren letzten Endes viele Geduld und Hoffnung. Sie begannen die Botschaft vom Messias als eine Belastung zu betrachten und sprachen lediglich noch von einem neuen Zeitalter des Wohlstandes und des Friedens. Seither kann von den Juden — abgesehen von einigen Ausnahmen — kaum noch gesagt werden, sie erwarteten einen persönlichen Messias.

      48. Welche Fragen erheben sich logischerweise in bezug auf das Judentum?

      48 Dieser Wechsel zu einer nichtmessianischen Religion gibt zu schwerwiegenden Fragen Anlaß. War es ein Fehler, daß die Juden jahrtausendelang an einen persönlichen Messias glaubten? Welche Form des Judentums wird einem bei der Suche nach Gott eine Hilfe sein? Etwa das antike Judentum mit all seinem Beiwerk aus der griechischen Philosophie? Oder könnte es eine seiner nichtmessianischen Formen sein, die sich in den letzten 200 Jahren entwickelt haben? Oder gibt es noch einen anderen Weg, auf dem uns die messianische Hoffnung unversehrt erhalten geblieben ist?

      49. Wozu werden aufrichtige Juden eingeladen?

      49 Angesichts dieser Fragen empfehlen wir aufrichtigen Juden, das Thema Messias neu zu überdenken und zu prüfen, was von den jüdischen Schreibern der Griechischen Schriften — nicht von der Christenheit — über Jesus von Nazareth gesagt wird. Es besteht nämlich ein großer Unterschied. Die Religionsgemeinschaften der Christenheit haben durch ihre unbiblische Lehre von der Dreieinigkeit dazu beigetragen, daß die Juden Jesus verworfen haben, denn diese Lehre ist für jeden Juden unannehmbar, der die reine Lehre hochhält: „Der Ewige ist unser Gott; der Ewige ist Einer“ (5. Mose 6:4). Es empfiehlt sich daher, das folgende Kapitel unvoreingenommen zu lesen, um den Jesus der Griechischen Schriften kennenzulernen.

      [Fußnoten]

      a Vergleiche 1. Mose 5:22-24, Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift — mit Studienverweisen, zweite Fußnote zu Vers 22.

      b Wenn nicht anders vermerkt, liegt den Zitaten in diesem Kapitel Die Heilige Schrift — Neu ins Deutsche übertragen von N. H. Tur-Sinai (Jerusalem, The Jewish Publishing House Ltd.) zugrunde.

      c Die hier angeführten chronologischen Angaben stützen sich auf die Bibel als Autorität. (Siehe das Buch „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert und nützlich“, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, Lehrstück 3, „Ereignisse in den Strom der Zeit einordnen“.)

      d Der jüdische Geschichtsschreiber Joseph ben Mathitjahu (Flavius Josephus) berichtet, daß die Juden Alexander bei dessen Ankunft in Jerusalem die Tore öffneten und ihm die Prophezeiung aus dem Buch Daniel zeigten, die über 200 Jahre früher aufgezeichnet worden war und in der Alexanders Eroberungsfeldzüge, die er als König der Griechen durchführte, genau beschrieben worden waren (Jüdische Altertümer, 11. Buch, Kapitel 8, Abs. 5; Daniel 8:5-8, 21).

      e In der Zeit der Makkabäer (Hasmonäer, 165 bis 63 v. u. Z.) zwangen jüdische Führer wie Johannes Hyrkanos sogar große Teile der Bevölkerung in den von ihnen eroberten Gebieten, sich zum Judentum zu bekehren. Interessanterweise waren zu Beginn unserer Zeitrechnung 10 Prozent der Bevölkerung im Mittelmeerraum jüdisch. Diese Zahl läßt den Einfluß des jüdischen Proselytismus deutlich erkennen.

      f In der New Encyclopædia Britannica wird gesagt: „Das trinitarische Glaubensbekenntnis der Christenheit ... unterscheidet diese von den beiden anderen klassischen monotheistischen Religionen [Judentum und Islam].“ Die Kirche entwickelte die Trinität, obwohl „die Bibel der Christen keine ausdrücklich trinitarischen Erklärungen über Gott enthält“.

      g Abgesehen von der Bibel, wurde sie als ein Glaubensartikel in der Mischna (Sanhedrin 10:1) gelehrt und war auch im letzten der 13 Glaubensartikel des Maimonides enthalten. Bis zum 20. Jahrhundert galt die Leugnung der Auferstehung als Ketzerei.

      h „Die Bibel sagt nicht, wir hätten eine Seele. ‚Nefesch‘ ist die Person selbst, ihr Nahrungsbedürfnis, das Blut in ihren Adern, ihr Wesen“ (Dr. H. M. Orlinsky, Hebrew Union College).

      i Siehe 2. Mose 6:3, wo in der Tanakh-Übersetzung der Bibel (englisch) an dieser Stelle im englischen Text das Tetragrammaton erscheint. (In der Illustrirten Pracht Bibel für Israeliten von Prof. Dr. Julius Fürst, Leipzig 1874 steht im deutschen Text an dieser Stelle Jehova.)

      j In der Encyclopaedia Judaica heißt es: „Das Aussprechen des Namens JHWH zu vermeiden ist ... auf ein Mißverständnis des dritten Gebots zurückzuführen (2. Mo. 20:7; 5. Mo. 5:11): ‚Du sollst den Namen JHWH, deines Gottes, nicht mißbrauchen‘, während es in Wirklichkeit bedeutet: ‚Du sollst bei dem Namen JHWH, deines Gottes, nicht falsch schwören.‘ “

      k George Howard, außerordentlicher Professor für Religion und Hebraistik an der Universität von Georgia, stellt fest: „Im Laufe der Zeit wurden die beiden Gestalten [Gott und Christus] immer enger miteinander in Verbindung gebracht, bis es oft unmöglich war, sie voneinander zu unterscheiden. Daher könnte die Ausmerzung des Tetragrammatons erheblich zu den späteren christologischen und trinitarischen Debatten beigetragen haben, die der Kirche der ersten Jahrhunderte sehr zu schaffen machten. Wie dem auch sei, die Ausmerzung des Tetragrammatons schuf möglicherweise ein anderes theologisches Klima im Vergleich zu dem, das in der Neuen-Testament-Periode des ersten Jahrhunderts geherrscht hatte“ (Biblical Archaeology Review, März 1978).

      [Herausgestellter Text auf Seite 217]

      Sephardische und aschkenasische Juden bildeten zwei Gemeinschaften

      [Kasten/Bild auf Seite 211]

      Zehn Gebote für Anbetung und Lebenswandel

      Millionen Menschen haben schon von den Zehn Geboten gehört, aber wenige haben sie je gelesen. Deshalb geben wir hier die wichtigsten Passagen ihres Wortlauts wieder.

      ▪ „Du sollst keine anderen Götter haben vor mir!

      ▪ Du sollst dir kein Bildnis machen und keinerlei Gestalt dessen, was im Himmel oben und was auf Erden unten und was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst dich vor ihnen nicht niederwerfen und ihnen nicht dienen ... [Damals, 1513 v. u. Z., war dieses Gebot, das den Götzendienst verwarf, einzigartig.]

      ▪ Du sollst den Namen des Ewigen [hebräisch: יהוה], deines Gottes, nicht zur Unwahrheit aussprechen ...

      ▪ Gedenke des Sabbattages, ihn zu heiligen! ... der Ewige [hat] den Sabbattag gesegnet und ihn geheiligt.

      ▪ Ehre deinen Vater und deine Mutter ...

      ▪ Du sollst nicht morden!

      ▪ Du sollst nicht ehebrechen!

      ▪ Du sollst nicht stehlen!

      ▪ Du sollst nicht aussagen wider deinen Nächsten als falscher Zeuge!

      ▪ Du sollst nicht begehren das Haus deines Nächsten! Du sollst nicht begehren das Weib deines Nächsten, noch seinen Knecht, seine Magd, seinen Ochsen, seinen Esel, noch alles, was deinem Nächsten gehört“ (2. Mose 20:3-14).

      Zwar beziehen sich nur die ersten vier Gebote auf den Glauben und die Anbetung, aber die anderen lassen die Verbindung zwischen einem einwandfreien Lebenswandel und dem richtigen Verhältnis zum Schöpfer erkennen.

      [Bild]

      Trotz des einzigartigen Gesetzes, das die Israeliten von Gott erhalten hatten, ahmten sie den Kälberkult ihrer heidnischen Nachbarn nach (Goldenes Kalb, Byblos)

      [Kasten/Bilder auf Seite 220, 221]

      Die heiligen Schriften der Hebräer

      Die heiligen Schriften der Hebräer begannen mit „Tenach“. Der Name „Tenach“ ist eine Abkürzung aus den Anfangsbuchstaben der Namen der drei Hauptteile, in die die jüdische Bibel zerfällt: Thora (Gesetz), Nebiim (Propheten) und Ketubim (Schriften) = TeNaCh. Diese Bücher wurden zwischen dem 16. und dem 5. Jahrhundert v. u. Z. in Hebräisch und Aramäisch geschrieben.

      Nach jüdischer Auffassung ist der Grad der Inspiration, unter der sie geschrieben wurden, unterschiedlich. Deshalb reihen die Juden sie ihrer Wichtigkeit nach, d. h. dem Grad der Inspiration entsprechend, wie folgt ein:

      Thora — die fünf Bücher Mose, auch Pentateuch (griechisch: fünf Schriftrollen) genannt, das GESETZ, bestehend aus Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Die Bezeichnung „Thora“ kann sich aber sowohl auf die gesamte jüdische Bibel als auch auf das mündliche Gesetz und den Talmud beziehen (siehe nächste Seite).

      Nebiim — die Propheten: von Josua bis zu den Großen Propheten — Jesaja, Jeremia und Hesekiel —; ferner die 12 „Kleinen“ Propheten von Hosea bis Maleachi.

      Ketubim — die Schriften, die aus den poetischen Werken bestehen: Psalmen, Sprüche, Hiob, Hoheslied und Klagelieder. Außerdem gehören Ruth, Prediger, Esther, Daniel, Esra, Nehemia sowie 1. und 2. Chronika dazu.

      Der Talmud

      Vom nichtjüdischen Standpunkt aus ist „Tenach“, d. h. die jüdische Bibel, das wichtigste Werk der jüdischen Literatur. Der jüdische Standpunkt weicht jedoch davon ab. Viele Juden würden folgendem Kommentar des Rabbiners Adin Steinsaltz zustimmen: „Wenn die Bibel der Eckstein des Judentums ist, dann ist der Talmud die Mittelsäule, die sich vom Fundament aus erhebt und das ganze religiöse und intellektuelle Gebäude trägt ... Kein anderes Werk hat die Denk- und Handlungsweise der Juden in gleichem Maße beeinflußt“ (The Essential Talmud). Was ist denn der Talmud?

      Orthodoxe Juden glauben, daß Gott Moses auf dem Berg Sinai nicht nur das geschriebene Gesetz, die Thora, gab, sondern ihm auch bestimmte Erklärungen über die Anwendung dieses Gesetzes enthüllte, die mündlich weitergegeben werden sollten. Diese Erklärungen nannte man das mündliche Gesetz. Der Talmud ist die schriftliche Zusammenfassung dieses mündlichen Gesetzes mit späteren Kommentaren und Erklärungen, von Rabbinern zwischen dem zweiten Jahrhundert u. Z. und dem Mittelalter zusammengestellt.

      Der Talmud wird allgemein in zwei Hauptabschnitte unterteilt:

      Die Mischna: Eine Sammlung von ergänzenden Kommentaren zum biblischen Gesetz, denen die Erklärungen von Rabbinern, Tannaiten (Lehrer) genannt, zugrunde liegen. Sie wurde Ende des zweiten und Anfang des dritten Jahrhunderts u. Z. schriftlich niedergelegt.

      Die Gemara (ursprünglich Talmud genannt): Eine Sammlung von Kommentaren zur Mischna, die von Rabbinern einer späteren Zeit (zwischen dem dritten und sechsten Jahrhundert u. Z.) zusammengestellt wurde.

      Außer diesen beiden Hauptteilen kann der Talmud auch Kommentare zur Gemara enthalten, die von Rabbinern im Mittelalter verfaßt wurden. Besonders bekannt waren Raschi (Salomo Ben Isaak, 1040—1105), der die schwierige Sprache des Talmuds verständlicher machte, und Rambam (Mose Ben Maimon, besser bekannt als Maimonides, 1135—1204), der den Talmud in eine übersichtlich und systematisch aufgebaute Wiedergabe („Mischne Tora“) zusammenfaßte und ihn so allen Juden zugänglich machte.

      [Bilder]

      Unten: Alte Thora aus dem vermeintlichen Grab Esthers, Iran Rechts: Hymne in Hebräisch und Jiddisch, der Bibelverse zugrunde liegen

      [Kasten/Bilder auf Seite 226, 227]

      Das Judentum — eine Religion vieler Stimmen

      Zwischen den verschiedenen Strömungen des Judentums bestehen wesentliche Unterschiede. Von der Tradition her betont das Judentum die Ausübung der Religion. Diskussionen hierüber — weniger über Glaubensansichten — haben unter den Juden ernsthafte Spannungen hervorgerufen und zur Bildung von drei Hauptrichtungen geführt.

      ORTHODOXES JUDENTUM — Diese Gemeinschaft erkennt nicht nur an, daß die Hebräischen Schriften („Tenach“) inspiriert sind, sondern glaubt auch, daß Moses das mündliche Gesetz auf dem Berg Sinai zur gleichen Zeit erhielt wie das geschriebene Gesetz. Die orthodoxen Juden halten sich peinlich genau an die Vorschriften beider Gesetze. Sie glauben, daß der Messias noch kommen und für Israel ein goldenes Zeitalter herbeiführen wird. Meinungsverschiedenheiten innerhalb der orthodoxen Bewegung haben zu verschiedenen Strömungen geführt, beispielsweise zum Chassidismus.

      Chassidim („Fromme“) — Die Chassidim gelten als besonders strenggläubig. Gegründet wurde der Chassidismus Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa von Israel Ben Elieser, genannt Baal Schem Tov („Herr des guten Namens“). Seine Anhänger folgten einer Lehre, verbunden mit Musik und Tanz, die zu ekstatischer Freude führte. Viele ihrer Glaubensansichten, auch die über die Seelenwanderung, wurzeln in der mystischen jüdischen Literatur, bekannt als Kabbala. Heute werden sie von Rebbes (jiddisch für „Rabbis“) oder Zaddikim geleitet, die von ihren Anhängern als äußerst gerecht oder als Heilige betrachtet werden.

      Die Chassidim sind heute hauptsächlich in den Vereinigten Staaten und in Israel zu finden. Sie tragen eine besondere Art osteuropäische Kleidung (meist in Schwarz) aus dem 18. und 19. Jahrhundert, durch die sie vor allem im modernen Stadtbild allgemein auffallen. Heute sind sie in verschiedene Sekten aufgespalten, die verschiedenen berühmten Rebbes folgen. Eine sehr aktive Gruppe sind die Lubavitchers, die sich eifrig bemühen, Anhänger unter den Juden zu finden. Einige Gruppen glauben, daß nur der Messias berechtigt sei, Israel als jüdische Nation wiederherzustellen, weshalb sie gegen den Staat Israel sind.

      REFORMJUDENTUM (auch als „liberal“ und „progressiv“ bekannt) — Diese Bewegung entstand kurz vor Beginn des 19. Jahrhunderts in Westeuropa. Sie fußt auf den Ideen Moses Mendelssohns, eines jüdischen Intellektuellen aus dem 18. Jahrhundert, der der Meinung war, die Juden sollten sich eher der westlichen Kultur anpassen, als sich von den Nichtjuden abzusondern. Die Reformjuden bestreiten, daß die Thora von Gott geoffenbarte Wahrheit ist. Sie betrachten die jüdischen Speisegesetze und die Vorschriften über Reinheit und Kleidung als überholt. Sie glauben an eine sogenannte „messianische Ära einer universellen Bruderschaft“. In den letzten Jahren sind sie wieder mehr zu dem traditionellen Judentum zurückgekehrt.

      KONSERVATIVES JUDENTUM — Eine Bewegung, die 1845 in Deutschland als Nebenzweig des Reformjudentums entstand, weil dieses angeblich zu viele traditionelle jüdische Bräuche ablehnte. Das konservative Judentum glaubt nicht, daß Moses das mündliche Gesetz von Gott empfangen hat, sondern steht auf dem Standpunkt, daß die Rabbiner, die versuchten, das Judentum einer neuen Ära anzupassen, die mündliche Thora ersonnen haben. Die konservativen Juden gehorchen den biblischen Geboten und den rabbinischen Gesetzen, sofern diese „den heutigen Bedingungen des jüdischen Lebens entsprechen“ (The Book of Jewish Knowledge). Sie führen ihre Gottesdienste in Hebräisch und in der Landessprache durch und halten sich streng an bestimmte Speisegesetze (Kaschruth). Männer und Frauen dürfen während des Gottesdienstes zusammensitzen, was bei den Orthodoxen nicht erlaubt ist.

      [Bilder]

      Links: Juden an der Klagemauer in Jerusalem Oben: Betender Jude mit Jerusalem im Hintergrund

      [Kasten/Bilder auf Seite 230, 231]

      Einige wichtige Feste und Bräuche

      Die meisten jüdischen Feste beruhen auf der Bibel und sind wegen ihrer Verbindung mit verschiedenen Ernten jahreszeitlich bedingt oder erinnern an historische Ereignisse.

      ▪ Schabat (Sabbat) — Der siebte Tag der jüdischen Woche (vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag) gilt als der Tag, durch den die Woche geheiligt wird, und die genaue Einhaltung dieses Tages bildet einen wesentlichen Teil der Anbetung. Die Juden besuchen die Synagoge, um Thoralesungen und Gebeten beizuwohnen (2. Mose 20:8-11).

      ▪ Jom Kippur — Versöhnungstag, ein hoher Feiertag, der durch Fasten und Selbstprüfung gekennzeichnet ist. Er bildet den Höhepunkt der zehn Bußtage, die mit Rosch Ha-Schana, dem jüdischen Neujahrstag (der nach dem bürgerlichen Kalender der Juden in den September fällt), beginnen (3. Mose 16:29-31; 23:26-32).

      ▪ Sukkot (oben rechts) — Laubhüttenfest oder Fest der Einsammlung. Es dient als Erntefest am Ende des größten Teils des landwirtschaftlichen Jahres. Es wird im Oktober gefeiert (3. Mose 23:34-43; 4. Mose 29:12-38; 5. Mose 16:13-15).

      ▪ Chanukka — Fest der Einweihung. Ein beliebtes Fest, das im Dezember gefeiert wird und an die durch die Makkabäer herbeigeführte Befreiung der Juden von der syro-griechischen Herrschaft sowie an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im Dezember 165 v. u. Z. erinnert. Charakteristisch dafür ist das Anzünden von Kerzen während acht Tagen.

      ▪ Purim — Losfest. Es wird Ende Februar oder Anfang März gefeiert und erinnert an die Rettung der Juden in Persien (im fünften Jahrhundert v. u. Z.) vor der Vernichtung durch Hamans Komplott (Esther 9:20-28).

      ▪ Pessach — Passahfest. Fest zur Erinnerung an die Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft (1513 v. u. Z.). Das Passahfest ist das höchste und älteste jüdische Fest. Es wird am 14. Nisan (jüdischer Kalender) gefeiert, der gewöhnlich in die zweite Hälfte des März oder in die erste Hälfte des April fällt. Jede jüdische Familie kommt zusammen, um gemeinsam am Passahmahl (Seder) teilzunehmen. Während der folgenden sieben Tage darf kein Sauerteig genossen werden. Diese Zeit wird Fest der ungesäuerten Brote (Matzen) genannt (2. Mose 12:14-20, 24-27).

      Einige jüdische Bräuche

      ▪ Beschneidung — Eine für jüdische Knaben wichtige Zeremonie, die durchgeführt wird, wenn sie acht Tage alt sind. Man spricht davon oft als vom Abraham-Bund, da die Beschneidung das Zeichen des Bundes war, den Gott mit Abraham geschlossen hatte. Männer, die sich zum Judentum bekehren, müssen ebenfalls beschnitten werden (1. Mose 17:9-14).

      ▪ Bar-Mizwa (unten) — Ein weiteres wichtiges Ritual. Bar-Mizwa bedeutet wörtlich „Sohn des Gebots“ und „bezeichnet die religiöse und gesetzliche Mündigkeit, die ein Junge erreicht, sobald er 13 Jahre und 1 Tag alt ist“. Dieser jüdische Brauch kam erst im 15. Jahrhundert u. Z. auf (Encyclopaedia Judaica).

      ▪ Mesusa (oben) — Eine jüdische Wohnung erkennt man gewöhnlich leicht an der Mesusa, einer Rollenkapsel, die auf der rechten Seite des Türpfostens, vom Eintretenden aus gesehen, angebracht ist. Die Mesusa ist eigentlich ein kleiner Pergamentstreifen, der mit den Worten aus 5. Mose 6:4-9 und 11:13-21 beschriftet ist. Er wird zusammengerollt und in eine kleine Kapsel gelegt. Eine solche Kapsel wird an allen Eingängen jedes Wohnraums befestigt.

      ▪ Jarmulke (Käppchen für Männer) — In der Encyclopaedia Judaica heißt es: „Orthodoxe Juden ... betrachten die Kopfbedeckung in und außerhalb der Synagoge als Zeichen der Treue gegenüber der jüdischen Tradition.“ In „Tenach“ wird nichts vom Bedecken des Kopfes während der Anbetung gesagt, weshalb dieser Brauch nach dem Talmud nicht verbindlich ist. Chassidische Jüdinnen tragen entweder ständig eine Kopfbedeckung oder scheren sich den Kopf und tragen eine Perücke.

      [Bild auf Seite 206]

      Abram (Abraham), der Vorvater der Juden, betete vor nahezu 4 000 Jahren Jehova Gott an

      [Bild auf Seite 208]

      Davidsstern — ein nichtbiblisches Symbol Israels und des Judentums

      [Bild auf Seite 215]

      Ein jüdischer Schriftgelehrter, der einen hebräischen Text abschreibt

      [Bild auf Seite 222]

      Chassidische jüdische Familie feiert den Sabbat

      [Bild auf Seite 233]

      Fromme Juden, die am Arm und an der Stirn Phylakterien oder Gebetskapseln tragen

  • Das Christentum — War Jesus der Weg zu Gott?
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 10

      Das Christentum — War Jesus der Weg zu Gott?

      Mit Ausnahme des Kapitels über das Judentum wurden bis jetzt die Hauptreligionen behandelt, die zum großen Teil auf Mythologie fußen. Im folgenden wird eine weitere Religion untersucht, die den Anspruch erhebt, die Menschheit Gott näherzubringen — das Christentum. Worauf stützt sich das Christentum, auf Mythen oder auf historische Tatsachen?

      1. (a) Wieso gibt die Vergangenheit der Christenheit Anlaß zum Mißtrauen gegenüber dem Christentum? (b) Welcher Unterschied wird hier zwischen der Christenheit und dem Christentum gemacht?

      DIE Vergangenheit der Christenheita — ihre Kriege, ihre Inquisition, ihre Kreuzzüge sowie ihre religiöse Heuchelei — hat sich für das Christentum nicht günstig ausgewirkt. Fromme Muslime und andere nennen als Argument, warum sie das Christentum ablehnen, die moralische Verdorbenheit und Entartung der westlichen „christlichen“ Welt. Die sogenannten christlichen Nationen haben ihr moralisches Ruder verloren und haben wegen der Felsen der Untreue, der Habgier und der Zügellosigkeit Schiffbruch erlitten.

      2, 3. (a) Welcher Unterschied besteht zwischen dem Lebenswandel, den die ersten Christen führten, und dem der Angehörigen der heutigen Christenheit? (b) Welche Fragen werden beantwortet werden?

      2 Daß sich die Maßstäbe des Urchristentums von dem heutigen liberalen Sittenkodex unterschieden, bezeugt Professorin Elaine Pagels in ihrem Buch Adam, Eve, and the Serpent. Es heißt darin: „Viele Christen der ersten vier Jahrhunderte waren stolz darauf, daß sie in sexueller Hinsicht Einschränkungen unterworfen waren: Sie lehnten die Vielehe und oft auch die Ehescheidung ab, die nach der jüdischen Tradition erlaubt waren. Und sie verwarfen außereheliche sexuelle Handlungen, die unter ihren heidnischen Zeitgenossen üblich waren; dazu gehörten die Prostitution und die Homosexualität.“

      3 Es entstehen deshalb die berechtigten Fragen: Spiegeln die Geschichte der Christenheit und ihr heutiger Zustand in sittlicher Hinsicht wirklich die Lehren Jesu Christi wider? Was für ein Mensch war Jesus? Half er der Menschheit, Gott näherzukommen? War er der verheißene Messias, von dem in hebräischen Prophezeiungen die Rede ist? Das sind einige der Fragen, die im vorliegenden Kapitel behandelt werden.

      Jesus — Welches sind seine Beglaubigungsmerkmale?

      4. Welchen deutlichen Unterschied stellt man beim Lesen des vorliegenden Buches zwischen dem Christentum (und seinen Anfängen) und den Hauptreligionen der Welt fest?

      4 Aus früheren Kapiteln ist zu erkennen, daß in fast allen großen Religionen der Welt die Mythologie eine wichtige Rolle spielt. Als wir aber im vorangegangenen Kapitel bis auf den Ursprung des Judentums zurückgingen, stießen wir nicht auf einen Mythos, sondern auf eine historische Gestalt, Abraham, sowie auf seine Vorfahren und seine Nachkommen. Die Anfänge des Christentums beruhen ebenfalls nicht auf einem Mythos, und bei seinem Gründer, Jesus, handelt es sich nicht um eine mythische Gestalt, sondern um eine historische Persönlichkeit. (Siehe Kasten, Seite 237.)

      5. (a) Welche drei Beglaubigungsmerkmale Jesu beweisen, daß er der verheißene „Same“ Abrahams war? (b) Wer schrieb die Christlichen Griechischen Schriften nieder?

      5 Der erste Vers der Christlichen Griechischen Schriften, die allgemein als Neues Testament bekannt sind (siehe Kasten, Seite 241), lautet: „Das Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ (Matthäus 1:1). Stellte Matthäus, ein ehemaliger jüdischer Steuereinnehmer und Jünger Jesu, der dessen Lebensbericht niederschrieb, hiermit eine leere Behauptung auf? Keineswegs. In den folgenden 15 Versen ist die Geschlechtslinie von Abraham bis Jakob zu finden, der „der Vater Josephs [wurde], des Mannes der Maria, von der Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird“. Jesus war demnach tatsächlich ein Nachkomme Abrahams, Judas und Davids und wies als solcher drei der Beglaubigungsmerkmale des in 1. Mose 3:15 vorhergesagten „Samens“ und des „Samens“ Abrahams auf (1. Mose 22:18; 49:10; 1. Chronika 17:11).

      6, 7. Warum war der Geburtsort Jesu von Bedeutung?

      6 Ein weiteres Beglaubigungsmerkmal des messianischen Samens war sein Geburtsort. Wo wurde Jesus geboren? Matthäus erklärt, Jesus sei „in Bethlehem in Judäa in den Tagen des Königs Herodes geboren worden“ (Matthäus 2:1). Der Arzt Lukas bestätigt das in seinem Bericht, wenn er darin über den späteren Pflegevater Jesu sagt: „Natürlich ging auch Joseph von Galiläa aus der Stadt Nazareth nach Judäa zur Stadt Davids hinauf, die Bethlehem genannt wird, weil er aus dem Hause und der Familie Davids stammte, um sich mit Maria einschreiben zu lassen, die ihm, wie versprochen, zur Ehe gegeben worden und jetzt hochschwanger war“ (Lukas 2:4, 5).

      7 Warum war es wichtig, daß Jesus weder in Nazareth noch in einer anderen Stadt, sondern in Bethlehem geboren wurde? Weil im 8. Jahrhundert v. u. Z. der hebräische Prophet Micha eine Prophezeiung geäußert hatte, die lautete: „Und du, o Bethlehem-Ephratha, das zu klein ist, um schließlich unter den Tausenden Judas zu sein, aus dir wird mir der hervorgehen, der Herrscher in Israel werden soll, dessen Ursprung aus frühen Zeiten ist, aus den Tagen unabsehbarer Zeit“ (Micha 5:2). Dadurch, daß Jesus in Bethlehem geboren wurde, hatte er ein weiteres Beglaubigungsmerkmal des verheißenen Samens und des Messias (Johannes 7:42).

      8. Führe einige Prophezeiungen an, die sich an Jesus erfüllten.

      8 In Wirklichkeit erfüllten sich an Jesus viele weitere Prophezeiungen der Hebräischen Schriften, was beweist, daß er alle Beglaubigungsmerkmale des verheißenen Messias aufwies. Warum nicht einige Prophezeiungen in der Bibel nachlesen? (Siehe Kasten, Seite 245.)b Jetzt möchten wir aber die Botschaft und den Dienst Jesu kurz untersuchen.

      Jesu Leben weist den Weg

      9. (a) Wie begann Jesus seinen öffentlichen Dienst? (b) Wieso wissen wir, daß Gott an Jesus Wohlgefallen gefunden hatte?

      9 Aus dem Bibelbericht geht hervor, daß Jesus ganz normal, wie alle Kinder seiner Tage, großgezogen wurde, und er besuchte die Synagoge seines Wohnortes und den Tempel in Jerusalem (Lukas 2:41-52). Im Alter von 30 Jahren begann er mit seinem öffentlichen Dienst. Zuerst ging er zu Johannes, seinem Cousin, der Juden zum Zeichen ihrer Reue im Jordan taufte. Im Bericht des Lukas heißt es diesbezüglich: „Als nun alles Volk getauft wurde, wurde auch Jesus getauft, und als er betete, wurde der Himmel geöffnet, und der heilige Geist kam in leiblicher Gestalt wie eine Taube auf ihn herab, und eine Stimme kam aus dem Himmel: ‚Du bist mein Sohn, der geliebte; an dir habe ich Wohlgefallen gefunden‘ “ (Lukas 3:21-23; Johannes 1:32-34).

      10, 11. (a) Wodurch zeichneten sich die Predigt- und Lehrmethoden Jesu aus? (b) Wie machte Jesus die Wichtigkeit des Namens seines Vaters deutlich?

      10 Zur bestimmten Zeit begann Jesus mit seinem Dienst als der gesalbte Sohn Gottes. Er durchreiste ganz Galiläa und Judäa und verkündigte die Botschaft von Gottes Königreich; darüber hinaus wirkte er Wunder, beispielsweise heilte er Kranke. Er tat dies kostenfrei und strebte nicht nach Reichtum; auch wollte er sich nicht selbst erhöhen. Sagte er doch, daß Geben beglückender sei als Empfangen. Außerdem lehrte er seine Jünger, wie man predigt (Matthäus 8:20; 10:7-13; Apostelgeschichte 20:35).

      11 Wenn man die Botschaft und die Methoden Jesu analysiert, stellt man fest, daß zwischen seiner Verfahrensweise und der vieler Prediger der Christenheit ein augenfälliger Unterschied besteht. Er versuchte nicht, die Massen durch Aufwallung der Gefühle zu beeinflussen oder ihnen mit dem Höllenfeuer Angst einzujagen. Jesus benutzte vielmehr einfache Logik sowie Gleichnisse oder Veranschaulichungen aus dem täglichen Leben, um das Herz und den Verstand der Menschen anzusprechen. Die berühmte Bergpredigt ist ein ausgezeichnetes Beispiel für seine Lehrmethoden. Zu dieser Predigt gehört auch Jesu Mustergebet; durch das Gebet zeigt er deutlich, was für einen Christen vorrangig ist: die Heiligung des Namens Gottes (siehe Kasten, Seite 258, 259) (Matthäus 5:1 bis 7:29; 13:3-53; Lukas 6:17-49).

      12. (a) Auf welche Weise brachte Jesus beim Lehren und in seiner Handlungsweise Liebe zum Ausdruck? (b) Inwiefern sähe es in der Welt anders aus, wenn die christliche Liebe wirklich praktiziert würde?

      12 Jesus brachte im Umgang mit seinen Nachfolgern und mit den anderen Menschen Liebe und Mitgefühl zum Ausdruck (Markus 6:30-34). Während er die Botschaft von Gottes Königreich predigte, unterließ er es nicht, Liebe zu üben und Demut zu bekunden. Daher konnte er in den letzten Stunden seines Lebens zu seinen Jüngern sagen: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe, daß auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter euch habt“ (Johannes 13:34, 35). Das Wesentliche am Christentum ist also in Wirklichkeit die aufopfernde Liebe, die auf Grundsätzen beruht (Matthäus 22:37-40). Das bedeutet in der Praxis, daß ein Christ sogar seine Feinde lieben sollte, auch wenn er ihre bösen Werke haßt (Lukas 6:27-31). Denken wir einmal kurz darüber nach. Wie anders sähe es doch in der Welt aus, wenn alle eine solche Liebe bekundeten! (Römer 12:17-21; 13:8-10).

      13. Inwiefern unterschied sich die Lehre Jesu von dem, was Konfuzius, Laotse und Buddha lehrten?

      13 Was Jesus lehrte, war jedoch weit mehr als eine Sittenlehre oder eine Philosophie gleich der des Konfuzius oder des Laotse. Jesus lehrte auch nicht wie Buddha, daß man durch den Weg der Erkenntnis und der Erleuchtung seine Erlösung selbst erwirken könne. Er wies vielmehr auf Gott als den Quell des Heils oder der Errettung hin, wenn er sagte: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einziggezeugten Sohn gab, damit jeder, der Glauben an ihn ausübt, nicht vernichtet werde, sondern ewiges Leben habe. Denn Gott sandte seinen Sohn nicht in die Welt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde“ (Johannes 3:16, 17).

      14. Wieso konnte Jesus sagen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“?

      14 Da sich in Jesu Worten und Taten die Liebe seines Vaters widerspiegelte, brachte er die Menschen Gott näher. Das war ein Grund, warum er sagen konnte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich. ... Wer mich gesehen hat, hat auch den Vater gesehen. Wie kommt es, daß du sagst: ‚Zeige uns den Vater.‘? Glaubst du nicht, daß ich in Gemeinschaft bin mit dem Vater und der Vater in Gemeinschaft ist mit mir? Die Dinge, die ich zu euch spreche, rede ich nicht aus mir selbst; sondern der Vater, der in Gemeinschaft mit mir bleibt, tut seine Werke. ... Ihr habt gehört, daß ich zu euch sagte: Ich gehe weg, und ich komme zu euch zurück. Wenn ihr mich liebtet, würdet ihr euch freuen, daß ich zum Vater hingehe, denn der Vater ist größer als ich“ (Johannes 14:6-28). Ja, Jesus war „der Weg und die Wahrheit und das Leben“, denn er führte die Juden zu seinem Vater, ihrem wahren Gott Jehova, zurück. Die Suche der Menschheit nach Gott erhielt also mit Jesus plötzlich neuen Antrieb, denn Gott sandte in seiner unermeßlichen Liebe Jesus als Licht- und Wahrheitssignal auf die Erde, damit er die Menschen zum Vater führe (Johannes 1:9-14; 6:44; 8:31, 32).

      15. (a) Was müssen wir tun, um Gott zu finden? (b) Worin zeigt sich Gottes Liebe hier auf der Erde?

      15 Wegen des Dienstes und des Beispiels Jesu konnte der Missionar Paulus später zu den Griechen in Athen sagen: „Und er [Gott] hat aus e i n e m Menschen jede Nation der Menschen gemacht, damit sie auf der ganzen Erdoberfläche wohnen, und er verordnete die bestimmten Zeiten und die festgesetzten Wohngrenzen der Menschen, damit sie Gott suchen, ob sie ihn wohl tastend fühlen und wirklich finden mögen, obwohl er tatsächlich einem jeden von uns nicht fern ist. Denn durch ihn haben wir Leben und bewegen uns und existieren“ (Apostelgeschichte 17:26-28). Ja, Gott ist zu finden, wenn man die Mühe nicht scheut, die mit der Suche nach Gott verbunden ist (Matthäus 7:7, 8). Gott hat sich und seine Liebe geoffenbart, indem er die Erde auf eine Weise erschaffen hat, daß scheinbar unendlich viele verschiedene Arten von Lebewesen darauf leben können und alle Menschen mit dem Notwendigen versorgt werden, seien sie nun gerecht oder ungerecht. Er hat der Menschheit auch sein geschriebenes Wort, die Bibel, gegeben und seinen Sohn gesandt, der als Loskaufsopfer dienen sollte.c Darüber hinaus hat Gott die Hilfe gewährt, die notwendig ist, um den Weg zu ihm zu finden (Matthäus 5:43-45; Apostelgeschichte 14:16, 17; Römer 3:23-26).

      16, 17. Wie muß sich die wahre christliche Liebe äußern?

      16 Natürlich darf sich die christliche Liebe nicht nur in Worten äußern, sondern, was viel wichtiger ist, sie muß sich auch in der Handlungsweise zeigen. Aus diesem Grund schrieb der Apostel Paulus: „Die Liebe ist langmütig und gütig. Die Liebe ist nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht, bläht sich nicht auf, benimmt sich nicht unanständig, blickt nicht nach ihren eigenen Interessen aus, läßt sich nicht aufreizen. Sie rechnet das Böse nicht an. Sie freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sondern freut sich mit der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, erduldet alles. Die Liebe versagt nie“ (1. Korinther 13:4-8).

      17 Jesus ließ auch deutlich erkennen, wie wichtig es ist, das Königreich der Himmel — Gottes Regierung über das gehorsame Menschengeschlecht — zu verkündigen (Matthäus 10:7; Markus 13:10).

      Jeder Christ ein Evangelist

      18. (a) Was wurde in Jesu Bergpredigt hervorgehoben? (b) Wozu ist jeder Christ verpflichtet? (c) Wie bereitete Jesus seine Jünger auf ihren Dienst vor, und welche Botschaft sollten sie verkündigen?

      18 In der Bergpredigt führte Jesus der Volksmenge ihre Verpflichtung vor Augen, andere durch ihre Worte und ihre Handlungsweise zu erleuchten. Er sagte: „Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt kann nicht verborgen sein, wenn sie auf einem Berg liegt. Man zündet eine Lampe an und stellt sie nicht unter das Maßgefäß, sondern auf den Leuchter, und sie leuchtet allen, die im Haus sind. Ebenso laßt euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure vortrefflichen Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen“ (Matthäus 5:14-16). Jesus schulte seine Jünger, damit sie auf ihren Missionsreisen predigen und lehren konnten. Und welche Botschaft sollten sie verkündigen? Dieselbe wie Jesus, nämlich daß das Königreich Gottes die Erde in Gerechtigkeit regieren würde. Bei einer Gelegenheit sagte Jesus diesbezüglich: „Auch anderen Städten muß ich die gute Botschaft vom Königreich Gottes verkündigen, denn dazu bin ich ausgesandt worden“ (Lukas 4:43; 8:1; 10:1-12). Und als er davon sprach, was zu dem Zeichen der letzten Tage gehören würde, sagte er: „Diese gute Botschaft vom Königreich wird auf der ganzen bewohnten Erde gepredigt werden, allen Nationen zu einem Zeugnis; und dann wird das Ende kommen“ (Matthäus 24:3-14).

      19, 20. (a) Warum zeichnete sich das wahre Christentum von jeher durch rege Predigttätigkeit aus? (b) Welche grundlegenden Fragen müssen nun beantwortet werden?

      19 Ehe der auferstandene Jesus im Jahre 33 u. Z. in den Himmel auffuhr, wies er seine Jünger an: „Mir ist alle Gewalt im Himmel und auf der Erde gegeben worden. Geht daher hin, und macht Jünger aus Menschen aller Nationen, tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu halten, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Abschluß des Systems der Dinge“ (Matthäus 28:18-20). Unter anderem deshalb war das Christentum von seiner Gründung an eine Religion, deren rege Bekehrungstätigkeit den Ärger und die Eifersucht der Anhänger der damals vorherrschenden griechischen und römischen Religionen erregte, die auf Mythologie beruhten. Das läßt die Verfolgung des Paulus in Ephesus deutlich erkennen (Apostelgeschichte 19:23-41).

      20 Es entstehen nun die Fragen: Was geschieht mit den Toten gemäß der Botschaft von Gottes Königreich? Welche Hoffnung für die Toten verkündete Christus? Stellte er „unsterblichen Seelen“ seiner Gläubigen Erlösung vom „Höllenfeuer“ in Aussicht, oder was versprach er? (Matthäus 4:17).

      Die Hoffnung auf ewiges Leben

      21, 22. (a) Womit verglich Jesus den Zustand, in dem sich der tote Lazarus befand, und warum? (b) Welche Hoffnung hegte Martha in Verbindung mit ihrem toten Bruder?

      21 Den größten Aufschluß über die von Jesus verkündigte Hoffnung erhalten wir vielleicht aus dem, was er sagte und tat, als sein Freund Lazarus starb. Wie betrachtete er dessen Tod? Als Jesus sich mit seinen Jüngern auf den Weg zum Haus des Lazarus machte, sagte er zu ihnen: „Lazarus, unser Freund, ist zur Ruhe gegangen, doch begebe ich mich dorthin, um ihn aus dem Schlaf zu wecken“ (Johannes 11:11). Jesus verglich den Zustand des Todes, in dem sich Lazarus befand, mit dem Schlaf. Wenn man tief schläft, ist man ohne Bewußtsein. Das stimmt mit den Worten aus den Hebräischen Schriften, aus Prediger 9:5, überein, wo es heißt: „Denn die Lebenden sind sich bewußt, daß sie sterben werden; was aber die Toten betrifft, sie sind sich nicht des geringsten bewußt.“

      22 Lazarus war zwar schon vier Tage tot, doch Jesus sagte nichts davon, daß sich seine Seele im Himmel, in der Hölle oder im Fegefeuer befinde. Als Jesus in Bethanien ankam und Martha, die Schwester des Lazarus, ihm entgegenkam, sagte er zu ihr: „Dein Bruder wird auferstehen.“ Was entgegnete sie? Sagte sie, daß er schon im Himmel sei? Martha erwiderte: „Ich weiß, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tag.“ Daraus ist deutlich zu erkennen, daß die Juden damals auf die Auferstehung hofften, auf eine Rückkehr zum Leben hier auf der Erde (Johannes 11:23, 24, 38, 39).

      23. Welches Wunder wirkte Jesus, und wie reagierten diejenigen darauf, die es sahen?

      23 Jesus erwiderte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer Glauben an mich ausübt, wird zum Leben kommen, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und Glauben an mich ausübt, wird überhaupt nie sterben. Glaubst du das?“ (Johannes 11:25, 26). Als Beweis ging Jesus zu der Gruft, in der Lazarus begraben war, und brachte ihn vor den Augen seiner Schwestern Maria und Martha sowie einiger Nachbarn wieder zum Leben. Im Bibelbericht heißt es weiter: „Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was er tat, glaubten daher an ihn ... So legte dann die Volksmenge, die bei ihm war, als er Lazarus aus der Gedächtnisgruft herausrief und ihn von den Toten auferweckte, fortwährend Zeugnis ab“ (Johannes 11:45; 12:17). Sie hatten das Wunder selbst gesehen; deshalb waren sie davon überzeugt, daß es wirklich geschehen war, und sie legten Zeugnis davon ab. Auch die religiösen Gegner Jesu müssen geglaubt haben, daß dieses Ereignis stattgefunden hatte, denn der Bibelbericht zeigt, daß die Oberpriester und die Pharisäer planten, Jesus zu töten, und sie sagten: „Dieser Mensch tut viele Zeichen“ (Johannes 11:30-53).

      24. (a) Wo war Lazarus vier Tage gewesen? (b) Was sagt die Bibel über die Unsterblichkeit?

      24 Wohin war Lazarus während der vier Tage, an denen er tot war, gegangen? Nirgendwohin. Er war ohne Bewußtsein, als würde er im Grab schlafen, und ihn erwartete eine Auferstehung. Jesus segnete ihn, indem er ihn auferweckte. Aber nach dem Bericht des Johannes sagte Lazarus nichts davon, daß er während der vier Tage im Himmel, in der Hölle oder im Fegefeuer gewesen sei. Wieso nicht? Weil er keine unsterbliche Seele hatte, die an solche Orte hätte gelangen könnend (Hiob 36:14; Hesekiel 18:4).

      25. (a) Was ist damit gemeint, wenn in der Bibel vom ewigen Leben die Rede ist? (b) Wovon hängt das Kommen des von Gott verheißenen Königreiches ab?

      25 Wenn also Jesus vom ewigen Leben sprach, meinte er entweder das Leben im Himmel als umgewandelter unsterblicher Mitherrscher mit ihm in seinem Königreich oder das Leben als Mensch auf einer paradiesischen Erde unter dieser Königreichsherrschafte (Lukas 23:43; Johannes 17:3). Es wird sich äußerst segensreich für die Erde auswirken, wenn Gott gemäß seiner Verheißung in sinnbildlicher Weise bei der Menschheit wohnen wird. All das hängt natürlich davon ab, ob Jesus wirklich von Gott gesandt wurde und sein Wohlgefallen fand (Lukas 22:28-30; Titus 1:1, 2; Offenbarung 21:1-4).

      Gottes Wohlgefallen — Wirklichkeit und kein Mythos

      26. Welches außergewöhnliche Erlebnis hatten Petrus, Jakobus und Johannes?

      26 Wieso wissen wir, daß Jesus Gott wohlgefällig war? Als erster Grund kann erwähnt werden, daß bei der Taufe Jesu eine Stimme zu hören war, die aus dem Himmel kam und sagte: „Dieser ist mein Sohn, der geliebte, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Matthäus 3:17). Später wurde diese Aussage vor anderen Zeugen bestätigt. Die Jünger Petrus, Jakobus und Johannes, ehemalige Fischer aus Galiläa, gingen mit Jesus auf einen hohen Berg (wahrscheinlich auf den Hermon, der 2 814 m hoch ist). Dort spielte sich vor ihren Augen etwas Außergewöhnliches ab: „Und er [Jesus] wurde vor ihnen umgestaltet, und sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine äußeren Kleider wurden glänzend wie das Licht. Und siehe, es erschienen ihnen Moses und Elia, die sich mit ihm unterhielten. ... [Es] überschattete sie eine lichte Wolke, und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: ‚Dieser ist mein Sohn, der geliebte, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe; hört auf ihn!‘ Als die Jünger dies hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr“ (Matthäus 17:1-6; Lukas 9:28-36).

      27. (a) Welche Auswirkung hatte die Umgestaltung Jesu auf die Jünger? (b) Wieso wissen wir, daß Jesus keine mythische Gestalt war?

      27 Diese hör- und sichtbare Bestätigung von Gott stärkte den Glauben des Petrus sehr, denn später schrieb er: „Nein, nicht dadurch, daß wir kunstvoll ersonnenen unwahren Geschichten [griechisch: mýthois, Mythen] folgten, machten wir euch mit der Macht und Gegenwart unseres Herrn Jesus Christus bekannt, sondern dadurch, daß wir Augenzeugen seiner herrlichen Größe wurden. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit, als von der großartigen Herrlichkeit Worte wie diese an ihn ergingen: ‚Dieser ist mein Sohn, mein geliebter, an dem ich selbst Wohlgefallen gefunden habe.‘ Ja, diese Worte hörten wir vom Himmel her ergehen, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren“ (2. Petrus 1:16-18). Die jüdischen Jünger Petrus, Jakobus und Johannes sahen tatsächlich das Wunder der Umgestaltung Jesu und hörten vom Himmel her die Stimme Gottes, der mit seinen Worten sein Wohlgefallen zum Ausdruck brachte. Ihr Glaube stützte sich nicht auf Mythologie oder auf „jüdische Fabeln“ (siehe Kasten, Seite 237), sondern auf Tatsachen, auf etwas, was sie selbst gesehen und gehört hatten (Matthäus 17:9; Titus 1:13, 14).f

      Jesu Tod und ein weiteres Wunder

      28. Welche falschen Anschuldigungen brachte man im Jahre 33 u. Z. gegen Jesus vor?

      28 Im Jahre 33 u. Z. wurde Jesus festgenommen und von der geistlichen Obrigkeit der Juden vor Gericht gebracht. Weil er sich als Gottes Sohn bezeichnete, wurde er fälschlicherweise der Gotteslästerung angeklagt (Matthäus 26:3, 4, 59-67). Da die Juden ihn offensichtlich lieber durch die römische Obrigkeit zu Tode bringen lassen wollten, übergaben sie ihn Pilatus und brachten erneut falsche Anschuldigungen gegen ihn vor. Diesmal behaupteten sie, er habe verboten, Cäsar Steuern zu zahlen, und er habe gesagt, er selbst sei ein König (Markus 12:14-17; Lukas 23:1-11; Johannes 18:28-31).

      29. Wie starb Jesus?

      29 Nachdem Jesus von einem Herrscher zum andern gebracht worden war, ging der römische Statthalter Pontius Pilatus auf Drängen des von religiöser Seite aus beeinflußten Pöbels den Weg des geringsten Widerstandes und verurteilte Jesus zum Tode. Demzufolge starb Jesus auf schmähliche Weise an einem Pfahl, und sein Leichnam wurde in eine Gruft gelegt. Aber innerhalb von drei Tagen geschah etwas, was die tieftraurigen Jünger Jesu freudig stimmte, ihren Glauben stärkte und sie anspornte, eifrig die gute Botschaft zu predigen (Johannes 19:16-22; Galater 3:13).

      30. Welche Schritte unternahmen die religiösen Führer, um einen Schwindel zu verhindern?

      30 Die religiösen Führer, die den Verdacht hatten, daß die Jünger vor einem Betrug nicht zurückschrecken würden, wandten sich mit folgender Bitte an Pilatus: „ ‚Herr, wir haben uns daran erinnert, daß jener Betrüger, als er noch lebte, gesagt hat: „Nach drei Tagen werde ich auferweckt werden.“ Daher gebiete, daß das Grab bis zum dritten Tag gesichert werde, damit nicht etwa seine Jünger kommen und ihn stehlen und zum Volk sagen: „Er ist von den Toten auferweckt worden!“ und dieser letzte Betrug schlimmer werde als der erste.‘ Pilatus sagte zu ihnen: ‚Ihr habt eine Wache. Geht und sichert es so, wie ihr es versteht.‘ Da gingen sie hin und sicherten das Grab, indem sie den Stein versiegelten und die Wache hatten“ (Matthäus 27:62-66). Wie sicher waren ihre Maßnahmen?

      31. Was geschah, als gläubige Frauen zu Jesu Gruft kamen?

      31 Am dritten Tag nach Jesu Tod gingen drei Frauen zur Gruft, um den Leichnam mit wohlriechendem Öl einzusalben. Was fanden sie vor? „Und ganz früh am ersten Tag der Woche kamen sie zur Gedächtnisgruft, als die Sonne aufgegangen war. Und sie sagten zueinander: ‚Wer wird uns den Stein von der Türöffnung der Gedächtnisgruft wegwälzen?‘ Als sie aber aufblickten, sahen sie, daß der Stein, obwohl er sehr groß war, weggewälzt war. Als sie in die Gedächtnisgruft eintraten, sahen sie einen jungen Mann, mit einem weißen langen Gewand bekleidet, auf der rechten Seite sitzen, und sie waren bestürzt. Er sprach zu ihnen: ‚Seid nicht so bestürzt. Ihr sucht Jesus, den Nazarener, der an den Pfahl gebracht wurde. Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier. Seht den Ort, wo sie ihn hinlegten! Geht aber hin, sagt seinen Jüngern und Petrus: „Er geht euch nach Galiläa voraus; dort werdet ihr ihn sehen, so wie er es euch sagte“ ‘ “ (Markus 16:1-7; Lukas 24:1-12). Trotz des besonderen Wachtpostens der religiösen Führer war Jesus von seinem Vater auferweckt worden. Ist das ein Mythos oder eine historische Tatsache?

      32. Welche guten Gründe hatte Paulus, an Jesu Auferstehung zu glauben?

      32 Etwa 22 Jahre später erklärte Paulus, ein ehemaliger Christenverfolger, in einem Brief, wie es dazu kam, daß er an die Auferstehung Christi glaubte: „Denn ich habe euch als etwas von den ersten Dingen das übermittelt, was ich auch empfangen habe, nämlich daß Christus gemäß den Schriften für unsere Sünden starb und daß er begraben wurde, ja daß er gemäß den Schriften am dritten Tag auferweckt worden ist und daß er Kephas erschien, dann den Zwölfen. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten bis jetzt am Leben geblieben sind, einige aber sind im Tod entschlafen. Danach erschien er Jakobus, dann allen Aposteln“ (1. Korinther 15:3-7). Ja, Paulus hatte gute Gründe, wenn er um der Sache des auferstandenen Jesus willen sein Leben aufs Spiel setzte, denn etwa 500 Augenzeugen konnten die Auferstehung Jesu bestätigen, weil sie ihn mit eigenen Augen gesehen hatten (Römer 1:1-4). Paulus wußte also, daß Jesus auferstanden war, doch er hatte einen noch zwingenderen Grund, davon überzeugt zu sein. Das geht aus seinen weiteren Worten hervor: „Aber als letztem von allen erschien er auch mir, gleichsam einem vorzeitig Geborenen“ (1. Korinther 15:8, 9; Apostelgeschichte 9:1-19).

      33. Warum waren die ersten Christen bereit, für ihren Glauben als Märtyrer zu sterben?

      33 Die ersten Christen waren bereit, in den römischen Arenen als Märtyrer zu sterben. Warum? Weil sie wußten, daß sich ihr Glaube auf historische Tatsachen stützte und nicht auf Mythen. Es war eine Tatsache, daß Jesus der in den Prophezeiungen verheißene Christus oder Messias war, daß er von Gott zur Erde gesandt worden war, Gottes Wohlgefallen gefunden hatte, als Gottes unbescholtener Sohn an einem Pfahl gestorben und von den Toten auferweckt worden war (1. Petrus 1:3, 4).

      34. Warum ist gemäß den Worten des Apostels Paulus die Auferstehung Jesu für den christlichen Glauben unerläßlich?

      34 Es wäre gut, das ganze 15. Kapitel des ersten Briefes, den Paulus an die Korinther schrieb, zu lesen, damit man weiß, was er hinsichtlich der Auferstehung glaubte und warum sie für den christlichen Glauben unerläßlich ist. Er faßte seine Erklärungen mit folgenden Worten zusammen: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden, der Erstling derer, die im Tod entschlafen sind. Denn da der Tod durch einen Menschen [Adam] gekommen ist, kommt auch die Auferstehung der Toten durch einen Menschen. Denn so, wie in Adam alle sterben, so werden auch in dem Christus alle lebendig gemacht werden“ (1. Korinther 15:20-22).

      35. Welche Segnungen hat Gott für die Erde und für die Menschheit verheißen? (Jesaja 65:17-25).

      35 Die Auferstehung Jesu sollte also mit der Zeit allen Menschen Nutzen bringen.g Außerdem wurde durch sie für Jesus der Weg geöffnet, schließlich auch die verbleibenden messianischen Prophezeiungen zu erfüllen. Seine gerechte Herrschaft von den unsichtbaren Himmeln aus wird sich bald über eine gereinigte Erde erstrecken. Dann wird sich bewahrheiten, was die Bibel über „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ sagt, wo Gott „jede Träne von ihren Augen abwischen [wird], und der Tod wird nicht mehr sein, noch wird Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz mehr sein. Die früheren Dinge sind vergangen“ (Offenbarung 21:1-4).

      Abtrünnigkeit und Verfolgung erwartet

      36. Was trug sich zu Pfingsten 33 u. Z. zu, und was war die Folge?

      36 Kurz nach Jesu Tod und Auferstehung geschah ein weiteres Wunder, das dem Predigtwerk der ersten Christen einen großen Aufschwung gab. Zu Pfingsten des Jahres 33 u. Z. goß Gott vom Himmel seinen heiligen Geist oder seine wirksame Kraft über etwa 120 in Jerusalem versammelte Christen aus. Die Folge: „Und Zungen wie von Feuer wurden ihnen sichtbar und wurden verteilt, und auf jeden von ihnen setzte sich eine, und sie alle wurden mit heiligem Geist erfüllt und fingen an, in verschiedenen Zungen zu reden, so wie der Geist ihnen gewährte, sich zu äußern“ (Apostelgeschichte 2:3, 4). Die fremdsprachigen Juden, die sich damals in Jerusalem aufhielten, waren erstaunt, diese vermeintlich ungebildeten galiläischen Juden in fremden Sprachen sprechen zu hören. Daraufhin wurden viele gläubig. Als die jüdischen Neubekehrten in ihre Heimatländer zurückkehrten, verbreitete sich die christliche Botschaft wie ein Lauffeuer (Apostelgeschichte 2:5-21).

      37. Wie reagierten einige römische Herrscher auf die neue christliche Religion?

      37 Doch schon bald zogen dunkle Wolken am Horizont auf. Die Römer mißtrauten dieser neuen, scheinbar atheistischen Religion, die keine Götzen kannte. Kaiser Nero fing an, die Christen grausam zu verfolgen, und diese Verfolgung dauerte in den ersten drei Jahrhunderten u. Z. an.h Viele Christen wurden verurteilt, in einer Arena zu sterben, damit der Sadismus und die Blutrunst der Kaiser und der Volksmengen befriedigt wurden. Diese strömten herbei, um sich anzusehen, wie die Gefangenen wilden Tieren vorgeworfen wurden.

      38. Wodurch wurde, wie vorhergesagt, in der frühen Christenversammlung Unruhe verursacht?

      38 Es gab zu jener Zeit noch etwas anderes, was Unruhe verursachte, und das war von den Aposteln vorhergesagt worden. Petrus sagte beispielsweise: „Es gab indes auch falsche Propheten unter dem Volk, wie es auch unter euch falsche Lehrer geben wird. Ebendiese werden unauffällig verderbliche Sekten einführen und werden sogar den Besitzer verleugnen, der sie erkauft hat, wodurch sie schnelle Vernichtung über sich bringen“ (2. Petrus 2:1-3). Abtrünnigkeit! Es handelte sich um einen Abfall von der wahren Anbetung. Man machte Zugeständnisse an die allgemein anerkannten religiösen Richtungen der römischen Welt, die von griechischer Philosophie und griechischem Gedankengut durchdrungen waren. Wie kam das? Diese und ähnliche Fragen werden im nächsten Kapitel behandelt (Apostelgeschichte 20:30; 2. Timotheus 2:16-18; 2. Thessalonicher 2:3).

      [Fußnoten]

      a Mit dem Ausdruck „Christenheit“ ist der Bereich sektiererischer Tätigkeit gemeint, der von den Religionsgemeinschaften beherrscht wird, die behaupten, christlich zu sein. Das Wort „Christentum“ bezieht sich auf die ursprüngliche, von Jesus Christus gelehrte Anbetungsform und den Weg zu Gott, auf den Christus hinwies.

      b Siehe auch Hilfe zum Verständnis der Bibel, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1984, 6. Band, Seite 1036—1038, unter „Messias“.

      c Die biblische Lehre vom Lösegeld und seine Bedeutung wird in Kapitel 15 erklärt.

      d An keiner Stelle in der Bibel erscheint der Ausdruck „unsterbliche Seele“. Das griechische Wort, das mit „unsterblich“ und „Unsterblichkeit“ wiedergegeben worden ist, kommt nur dreimal vor und bezieht sich auf einen neuen Geistesleib, den man annimmt oder den man erhält, aber nicht auf etwas Angeborenes. Das Wort ist auf Christus und die gesalbten Christen anwendbar, die Mitherrscher Christi in seinem himmlischen Königreich werden (1. Korinther 15:53, 54; 1. Timotheus 6:16; Römer 8:17; Epheser 3:6; Offenbarung 7:4; 14:1-5).

      e Nähere Einzelheiten über diese Königreichsherrschaft sind im 15. Kapitel zu finden.

      f In der Vision stellen „Moses“ und „Elia“ das Gesetz und die Propheten dar; beides wurde durch Jesus erfüllt. Eine genauere Erklärung der Umgestaltung ist in dem Werk Hilfe zum Verständnis der Bibel, 1987, 8. Band, Seite 1499, 1500 zu finden.

      g Nähere Einzelheiten über die Auferstehung Jesu sind in dem Buch Die Bibel — Gottes oder Menschenwort?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1989, Seite 78—86 zu finden.

      h Der römische Biograph Sueton (um 69 bis 140 u. Z.) schrieb, Bezug nehmend auf die Herrschaft Neros, folgendes: „Todesstrafen trafen die Christianer, eine Sekte mit einem neuen Aberglauben.“

      [Kasten/Bild auf Seite 237]

      War Jesus eine mythische Gestalt?

      „Ist der Bericht vom Leben des Begründers des Christentums nur ein Erzeugnis menschlichen Kummers, menschlicher Einbildungskraft, menschlichen Hoffens — ein Mythos wie die Mythen um Krischna, Osiris, Attis, Adonis, Dionysos und Mithras?“ fragt der Historiker Will Durant. Er gibt zur Antwort: „Auch den eifrigsten heidnischen oder jüdischen Gegnern des werdenden Christentums scheint es nie in den Sinn gekommen zu sein, diese [Christi] Existenz anzuzweifeln“ (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 5: Weltreiche des Glaubens, München 1977, Seite 121, 123).

      Der römische Historiker Sueton (um 69 bis 140 u. Z.) schrieb in seinem Werk Kaiserbiographien über Kaiser Claudius: „Die Juden, welche, aufgehetzt von Chrestus [Christus], fortwährend Unruhen erregten, vertrieb er aus Rom.“ Das geschah um das Jahr 52 u. Z. (Vergleiche Apostelgeschichte 18:1, 2.) Man beachte, daß Sueton die Existenz Christi mit keinem Wort in Frage stellte. Da es für die Christen eine Tatsache war, daß Christus gelebt hatte, verkündigten sie eifrig ihren Glauben trotz der Verfolgung, durch die einige ihr Leben verloren. Es ist kaum anzunehmen, daß sie wegen eines Mythos ihr Leben riskiert hätten. Der Tod und die Auferstehung Jesu hatten zu ihren Lebzeiten stattgefunden, und einige waren Augenzeugen dieser Ereignisse.

      Der Historiker Durant kommt zu folgendem Schluß: „Es wäre ein Wunder, das alle Wunder der Evangelien überträfe, wenn einige einfache Männer im Verlaufe eines Menschenalters eine so machtvolle und faszinierende Persönlichkeit, eine so erhabene Ethik und eine so begeisternde Vision von der Brüderschaft aller Menschen erfunden hätten.“

      [Bild]

      In diesem Gebiet von Galiläa im Palästina der alten Zeit predigte Jesus und wirkte Wunder

      [Kasten/Bild auf Seite 241]

      Wer schrieb die Bibel?

      Die christliche Bibel setzt sich aus den 39 Büchern der Hebräischen Schriften (siehe Kasten, Seite 220) zusammen, die von vielen Altes Testament genannt werden, und aus den 27 Büchern der Christlichen Griechischen Schriften, die oft als Neues Testament bezeichnet werden.i Die Bibel — sie wurde von etwa 40 Männern in einem Zeitraum von 1 600 Jahren (von 1513 v. u. Z. bis 98 u. Z.) geschrieben — ist also eine aus 66 Büchern bestehende kleine Bibliothek.

      Die Griechischen Schriften umfassen vier Evangelien oder Berichte über das Leben Jesu und die von ihm verkündigte gute Botschaft. Zwei Evangelien wurden von direkten Nachfolgern Jesu — von Matthäus, einem Steuereinnehmer, und von Johannes, einem Fischer — niedergeschrieben. Die anderen beiden faßten die frühen Gläubigen Markus und der Arzt Lukas ab (Kolosser 4:14). Auf die Evangelien folgt die Apostelgeschichte, ein von Lukas zusammengestellter Bericht über die Missionstätigkeit der ersten Christen. Dann kommen 14 Briefe des Apostels Paulus, die entweder an einzelne Christen oder an ganze Versammlungen gerichtet waren, gefolgt von den Briefen des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas. Das letzte Buch ist die Offenbarung, die von Johannes geschrieben wurde.

      Daß so viele Personen, obwohl sie unterschiedlicher Herkunft waren und zu verschiedenen Zeiten lebten, ein harmonisches Buch verfassen konnten, ist ein schlagender Beweis dafür, daß die Bibel nicht einfach das Produkt menschlicher Intelligenz ist, sondern von Gott inspiriert wurde. In der Bibel selbst heißt es: „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert [wörtlich: „gottgehaucht“] und nützlich zum Lehren.“ Die Heilige Schrift wurde demnach unter dem Einfluß des heiligen Geistes Gottes oder seiner wirksamen Kraft niedergeschrieben (2. Timotheus 3:16, 17, NW, Stud., Fußn.).

      Bild]

      Diese unvollständige römische Inschrift, in der der Name des Pontius Pilatus in Lateinisch erscheint (zweite Reihe: „IVS PILATVS“), bestätigt, daß er, wie die Bibel es sagt, in Palästina eine einflußreiche Persönlichkeit war

      [Fußnote]

      i In der katholischen Bibel sind noch weitere Bücher enthalten — die Apokryphen —, die von den Juden und den Protestanten nicht als kanonisch angesehen werden.

      [Kasten auf Seite 245]

      Der Messias in biblischer Prophetie

      Prophezeiung Begebenheit Erfüllung

      1. Mo. 49:10 Geboren im Mat. 1:2-16;

      Stamm Juda Luk. 3:23-33

      Ps. 132:11; Aus der Familie Mat. 1:1, 6-16;

      Jes. 9:7 Davids, des 9:27;

      Sohnes Isais Apg. 13:22, 23

      Mi. 5:2 Geboren in Luk. 2:4-11;

      Bethlehem Joh. 7:42

      Jes. 7:14 Geboren von Mat. 1:18-23;

      einer Jungfrau Luk. 1:30-35

      Hos. 11:1 Aus Ägypten Mat. 2:15

      gerufen

      Jes. 61:1, 2 Beauftragt Luk. 4:18-21

      Jes. 53:4 Trug unsere Mat. 8:16, 17

      Krankheiten

      Ps. 69:9 Eifer um Mat. 21:12, 13;

      Jehovas Haus Joh. 2:13-17

      Jes. 53:1 Man glaubte Joh. 12:37, 38;

      nicht an ihn Röm. 10:11, 16

      Sach. 9:9; Als König und Mat. 21:1-9;

      Ps. 118:26 als ein in Mar. 11:7-11

      Jehovas Namen

      Kommender begrüßt

      Jes. 28:16; Verworfen, wurde Mat. 21:42, 45, 46;

      Ps. 118:22, 23 aber Haupteckstein Apg. 3:14; 4:11;

      1. Pet. 2:7

      Ps. 41:9; Ein Apostel Mat. 26:47-50;

      109:8 verriet ihn Joh. 13:18, 26-30

      Sach. 11:12 Für 30 Silber- Mat. 26:15;

      stücke verraten 27:3-10;

      Mar. 14:10, 11

      Jes. 53:8 Verhört und Mat. 26:57-68;

      verurteilt 27:1, 2, 11-26

      Jes. 53:7 Schwieg vor Mat. 27:12-14;

      seinen Anklägern Mar. 14:61;

      15:4, 5

      Ps. 69:4 Ohne Ursache Luk. 23:13-25;

      gehaßt Joh. 15:24, 25

      Jes. 50:6; Geschlagen, Mat. 26:67;

      Mi. 5:1 angespien 27:26, 30;

      Joh. 19:3

      Ps. 22:18 Um Gewänder Mat. 27:35;

      Lose geworfen Joh. 19:23, 24

      Jes. 53:12 Sündern Mat. 26:55, 56;

      zugerechnet 27:38;

      Luk. 22:37

      Ps. 69:21 Man gab ihm Mat. 27:34, 48;

      Essig und Galle Mar. 15:23, 36

      Ps. 22:1 Von Gott verlassen Mat. 27:46;

      Mar. 15:34

      Ps. 34:20; Keine Gebeine Joh. 19:33, 36

      2. Mo. 12:46 gebrochen

      Jes. 53:5; Durchstochen Mat. 27:49;

      Sach. 12:10 Joh. 19:34, 37;

      Offb. 1:7

      Jes. 53:5, 8 Starb Opfertod, Mat. 20:28;

      53:11, 12 um Sünden Joh. 1:29;

      wegzutragen Röm. 3:24; 4:25

      Jes. 53:9 Begraben bei Mat. 27:57-60;

      den Reichen Joh. 19:38-42

      Jona 1:17; Teile von drei Mat. 12:39, 40;

      2:10 Tagen im Grab, 16:21; 17:23;

      dann auferweckt 27:64

      [Kasten/Bild auf Seite 258, 259]

      Jesus und der Name Gottes

      Als Jesus seine Jünger beten lehrte, sagte er: „Ihr sollt daher auf folgende Weise beten: ‚Unser Vater in den Himmeln, dein Name werde geheiligt. Dein Königreich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf der Erde‘ “ (Matthäus 6:9, 10).

      Jesus wußte, daß der Name seines Vaters von großer Bedeutung war, und das hob er auch hervor. Deshalb richtete er an seine religiösen Feinde die Worte: „Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, doch ihr nehmt mich nicht auf; wenn jemand anders in seinem eigenen Namen käme, so würdet ihr diesen aufnehmen. ... Ich habe es euch gesagt, und doch glaubt ihr nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters tue, diese legen Zeugnis über mich ab“ (Johannes 5:43; 10:25; Markus 12:29, 30).

      Als Jesus zu seinem Vater betete, sagte er: „ ‚Vater, verherrliche deinen Namen.‘ Darum kam eine Stimme vom Himmel: ‚Ich habe ihn verherrlicht und will ihn wieder verherrlichen.‘ “

      Bei einer späteren Gelegenheit betete Jesus: „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbar gemacht, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort gehalten. Und ich habe ihnen deinen Namen bekanntgegeben und werde ihn bekanntgeben, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in Gemeinschaft mit ihnen“ (Johannes 12:28; 17:6, 26).

      Als Jude mußte Jesus den Namen seines Vaters, Jehova (oder Jahwe), gewußt haben, denn er kannte den Bibeltext, in dem es heißt: „ ‚Ihr seid meine Zeugen‘, ist der Ausspruch Jehovas, ‚ja mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr erkennt und an mich glaubt und damit ihr versteht, daß ich derselbe bin. Vor mir wurde kein Gott gebildet, und nach mir war weiterhin keiner. ... Und ihr seid meine Zeugen‘, ist der Ausspruch Jehovas, ‚und ich bin Gott‘ “ (Jesaja 43:10, 12).

      Die Juden wurden also als Nation dazu auserwählt, Zeugen für Jehova zu sein. Als Jude war auch Jesus ein Zeuge für Jehova (Offenbarung 3:14).

      Im ersten Jahrhundert sprachen die meisten Juden den geoffenbarten Namen Gottes wahrscheinlich nicht mehr aus. Es gibt jedoch Handschriften, die beweisen, daß die ersten Christen, die die griechische Septuaginta-Übersetzung der Hebräischen Schriften benutzten, das im griechischen Text enthaltene hebräische Tetragrammaton sehen konnten. George Howard, Professor für Religion und Hebraistik, sagte diesbezüglich: „Wo die Septuaginta, die die neutestamentliche Kirche gebrauchte und aus der sie zitierte, die hebräische Form des göttlichen Namens enthielt, verwendeten die neutestamentlichen Schreiber das Tetragrammaton zweifellos in ihren Zitaten. Aber als in der Septuaginta die hebräische Form des göttlichen Namens zugunsten griechischer Ersatzwörter ausgemerzt wurde, wurde sie auch in neutestamentlichen Zitaten aus der Septuaginta ausgemerzt.“

      Deshalb schlußfolgert Professor Howard, daß die ersten Christen Bibelstellen wie Matthäus 22:44, wo Jesus vor seinen Feinden aus den Hebräischen Schriften zitierte, deutlich verstanden haben müssen. Howard sagt: „Die Kirche des ersten Jahrhunderts las wahrscheinlich: ‚JHWH sprach zu meinem Herrn‘ und gebrauchte nicht die spätere Fassung: ‚Der Herr sprach zu meinem Herrn‘, ... die wegen ihrer Ungenauigkeit unklar ist“ (Psalm 110:1).

      Daß Jesus Gottes Namen verwendet haben muß, wird durch die Anklage bestätigt, die mehrere hundert Jahre nach seinem Tod von den Juden vorgebracht wurde. Sie sagten, falls Jesus Wunder wirkte, dann „nur deshalb, weil er sich des ‚geheimen‘ Namens Gottes bemächtigt hatte“ (The Book of Jewish Knowledge).

      Jesus kannte mit Sicherheit Gottes einzigartigen Namen. Zweifellos gebrauchte er diesen Namen trotz der damaligen jüdischen Tradition. Er ließ nicht zu, daß durch Überlieferungen von Menschen das Gesetz Gottes ungültig gemacht wurde (Markus 7:9-13; Johannes 1:1-3, 18; Kolosser 1:15, 16).

      [Bild]

      Ein Papyrusfragment (1. Jahrhundert v. u. Z.), auf dem der hebräische Name Gottes in der griechischen Septuaginta zu sehen ist

      [Bilder auf Seite 238]

      Jesus verwendete beim Lehren viele Veranschaulichungen — das Aussäen von Samen, das Ernten, das Fischen, das Finden einer Perle, gemischte Herden, einen Weingarten und anderes (Matthäus 13:3-47; 25:32)

      [Bild auf Seite 243]

      Durch die Kraft Gottes wirkte Jesus viele Wunder; er sorgte z. B. dafür, daß sich der Sturm legte

      [Bild auf Seite 246]

      Das Tetragrammaton oder die vier Konsonanten JHWH (Jehova)

      [Bild auf Seite 251]

      In dem Bericht über die Auferweckung des Lazarus wird nichts davon erwähnt, nein, nicht einmal angedeutet, daß er eine unsterbliche Seele gehabt habe

      [Bild auf Seite 253]

      Für Petrus, Jakobus und Johannes war es kein Mythos, daß Gott an Jesus Wohlgefallen gefunden hatte — sie hatten es bei der Umgestaltung selbst gehört und gesehen

  • Abtrünnigkeit — Der Weg zu Gott blockiert
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 11

      Abtrünnigkeit — Der Weg zu Gott blockiert

      1, 2. (a) Wieso sind die ersten 400 Jahre der Geschichte der Christenheit wichtig? (b) Welche Wahrheit äußerte Jesus hinsichtlich einer Wahl, die zu treffen ist?

      WIESO sind die ersten 400 Jahre der Geschichte der Christenheit so wichtig? Aus demselben Grund, warum die ersten Lebensjahre eines Kindes wichtig sind. In diesen Jahren wird nämlich die Grundlage für die zukünftige Persönlichkeit des Kindes gelegt. Was offenbaren die ersten Jahrhunderte der Christenheit?

      2 Bevor wir diese Frage beantworten, wollen wir uns die folgende Wahrheit in den Sinn zurückrufen, die Jesus Christus äußerte: „Geht ein durch das enge Tor; denn breit und geräumig ist der Weg, der in die Vernichtung führt, und viele sind es, die auf ihm hineingehen; doch eng ist das Tor und eingeengt der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden.“ Der Weg des Eigennutzes ist breit, doch der Weg der gerechten Grundsätze ist eng (Matthäus 7:13, 14).

      3. Zwischen welchen zwei Wegen mußten sich Christen entscheiden, als sich das Christentum in seinem Anfangsstadium befand?

      3 Als sich das Christentum in seinem Anfangsstadium befand, mußten sich diejenigen, die diesen unpopulären Glauben annahmen, zwischen zwei Wegen entscheiden: entweder kompromißlos an den Lehren und den Grundsätzen Christi und denen der Heiligen Schrift festzuhalten oder sich dem breiten und leichten Weg zuzuwenden und mit der damaligen Welt Kompromisse zu schließen. Wie wir sehen werden, läßt der Geschichtsbericht über die ersten 400 Jahre erkennen, welchen Weg die meisten einschlugen.

      Die Verführung durch die Philosophie

      4. Welchen Einfluß übte gemäß dem Historiker Durant das heidnische Rom auf die junge Kirche aus?

      4 Der Historiker Will Durant erklärt: „Die Kirche [übernahm] einige im vorchristlichen Rom gebräuchliche religiöse Bräuche und Kultformen ...: die Stola und andere Kleidungsstücke heidnischer Priester, den Gebrauch von Weihrauch und Weihwasser bei Reinigungszeremonien, die Kerzen und das Ewige Licht vor dem Altar, den Heiligenkult, die Architektur der Basilika, das römische Recht als Grundlage des kanonischen Rechtes, den Titel des Pontifex Maximus für den Papst und im vierten Jahrhundert die lateinische Sprache ... Bald hatten die Bischöfe, und nicht mehr die römischen Praefecten, in den Städten die Macht inne; die Metropoliten oder Erzbischöfe unterstützten — wenn sie sie nicht ersetzten — die römischen Provinzstatthalter, und die Synode der Bischöfe sollte bald an die Stelle der Provinzversammlungen treten. Die römische Kirche folgte den Fußstapfen des römischen Staates“ (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 5: Weltreiche des Glaubens).

      5. In welchem Gegensatz stand die Bereitschaft, mit der heidnischen römischen Welt Kompromisse zu schließen, zu dem, was einige der ersten Christen niederschrieben?

      5 Diese Bereitschaft, mit der römischen Welt Kompromisse zu schließen, stand in scharfem Gegensatz zu den Lehren Christi und der Apostel. (Siehe Kasten, Seite 262.) Der Apostel Petrus gab folgende Empfehlung: „Geliebte, ... ich [wecke] ... durch Erinnerung euer klares Denkvermögen auf ..., damit ihr der zuvor von den heiligen Propheten geredeten Worte und des durch eure Apostel mitgeteilten Gebotes des Herrn und Retters gedenkt. Ihr daher, Geliebte, die ihr dies im voraus wißt, hütet euch, damit ihr nicht durch den Irrtum derer, die dem Gesetz trotzen, mit ihnen fortgerissen werdet und aus eurem eigenen festen Stand fallt.“ Paulus gab den deutlichen Rat: „Laßt euch nicht in ein ungleiches Joch mit Ungläubigen spannen. Denn welche Gemeinschaft besteht zwischen Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Teilhaberschaft hat Licht mit Finsternis? ... ‚ „Darum geht aus ihrer Mitte hinaus und sondert euch ab“, spricht Jehova, „und hört auf, das Unreine anzurühren“ ‘; ‚ „und ich will euch aufnehmen“ ‘ “ (2. Petrus 3:1, 2, 17; 2. Korinther 6:14-17; Offenbarung 18:2-5).

      6, 7. (a) Inwiefern ließen sich die „Kirchenväter“ der frühen Kirche von der griechischen Philosophie beeinflussen? (b) Bei welchen Lehren war der griechische Einfluß besonders zu erkennen? (c) Welche Warnung gab Paulus in Verbindung mit der Philosophie?

      6 Trotz dieser unmißverständlichen Ermahnung schmückten sich die abtrünnigen Christen des 2. Jahrhunderts mit dem „Putz“ der heidnischen römischen Religion. Sie wandten sich von der reinen biblischen Quelle ab und übernahmen heidnische römische Gewänder und Titel; außerdem wurde das Christentum mit griechischer Philosophie durchsetzt. Professor Wolfson von der Harvarduniversität erklärt gemäß dem Werk The Crucible of Christianity (Der Schmelztiegel des Christentums), daß im 2. Jahrhundert das Christentum einen großen Zustrom hatte von „Heiden, die der Philosophie kundig waren“. Sie bewunderten die Gelehrsamkeit der Griechen und glaubten zwischen der griechischen Philosophie und den Lehren der Bibel Gemeinsamkeiten zu erkennen. Professor Wolfson sagt weiter: „Einige von ihnen äußerten sich manchmal dem Sinne nach dahin gehend, daß die Philosophie ein besonderes Geschenk sei, das Gott den Griechen durch den Verstand gegeben habe, genauso wie er den Juden die Heilige Schrift durch direkte Offenbarung übermittelt habe.“ Dann fährt er fort: „Die Kirchenväter ... ließen sich darauf ein, systematisch zu beweisen, daß sich hinter der einfachen Sprache der Heiligen Schrift die Lehren der Philosophen verbärgen, eingebettet in den unklaren Spezialausdrücken, die in der Akademie, im Lyzeum und in der Stoa [griechischen Philosophenschule] geprägt worden seien.“

      7 Aufgrund dieser Denkweise konnten die Lehren der Christenheit von der griechischen Philosophie und ihrer Terminologie beeinflußt werden; das traf besonders auf die Lehre von der Dreieinigkeit und auf den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zu. Wolfson äußert sich dazu folgendermaßen: „Die [Kirchen]väter begannen, in der Unmenge von philosophischen Fachausdrücken nach zwei speziellen Wörtern zu suchen, von denen das eine Wort ausdrücken sollte, daß jedes Glied der Dreieinigkeit in Wirklichkeit ein von den andern beiden sich unterscheidendes Einzelwesen ist, und das andere Wort, daß alle Glieder eigentlich eine Einheit bilden.“ Sie mußten aber zugeben, daß „die Vorstellung von einem dreieinigen Gott ein Geheimnis ist, das durch menschliche Vernunft nicht gelüftet werden kann“. Doch Paulus hatte die Gefahr einer solchen Verunreinigung und ‘Verdrehung der guten Botschaft’ deutlich erkannt, denn er schrieb an die Christen in Kolossä das Folgende: „Seht zu, daß nicht jemand da sei, der euch als Beute wegführe durch die Philosophie (griechisch: philosophías) und leeren Trug gemäß der Überlieferung der Menschen, gemäß den elementaren Dingen der Welt und nicht gemäß Christus“ (Galater 1:7-9; Kolosser 2:8; 1. Korinther 1:22, 23).

      Die Auferstehungslehre aufgegeben

      8. Welches Rätsel wollte der Mensch schon immer entwirren, und wie haben es die meisten Religionen zu lösen versucht?

      8 Wie aus dem vorangegangenen Teil des Buches zu erkennen ist, wollte der Mensch schon immer das Rätsel seines kurzen und begrenzten, im Tode endenden Daseins entwirren. Gerhard Herm sagt diesbezüglich in seinem Buch Die Kelten. Das Volk, das aus dem Dunkel kam: „Religion ist unter anderem auch der Versuch, Gläubige damit auszusöhnen, daß sie sterben müssen. Das kann dadurch geschehen, daß ihnen ein besseres Dasein jenseits des Grabes versprochen wird oder eine Wiedergeburt oder beides.“ So gut wie jede Religion stützt sich auf den Glauben, daß die Menschenseele unsterblich ist und daß sie nach dem Tode irgendwo weiterlebt oder in ein anderes Geschöpf übersiedelt.

      9. Welche Schlußfolgerung zog der spanische Gelehrte Miguel de Unamuno daraus, daß Jesus an die Auferstehung glaubte?

      9 Heute glauben fast alle Religionsorganisationen der Christenheit an die Unsterblichkeit der Seele. Miguel de Unamuno, ein bekannter spanischer Gelehrter des 20. Jahrhunderts, schrieb über Jesus: „Er glaubte vielleicht wie die Juden an eine Wiederauferstehung des Fleisches [wie sich dies im Fall des Lazarus zeigt (siehe Seite 248—251)] und nicht wie [der Grieche] Plato an die Unsterblichkeit der Seele. ... Beweise dafür könnte man in jedem beliebigen exegetischen Werk aufrichtigen und ehrlichen Charakters finden.“ Der Schriftsteller fährt fort: „Die Unsterblichkeit der Seele ... ist ein Dogma der heidnischen Philosophie“ (Die Agonie des Christentums). Dieses „Dogma der heidnischen Philosophie“ durchsetzte die Lehre der Christenheit, obwohl Christus eine solche Auffassung niemals vertreten hatte (Matthäus 10:28; Johannes 5:28, 29; 11:23, 24).

      10. Was war die Folge davon, daß man an die Unsterblichkeit der Seele glaubte?

      10 Der heimtückische Einfluß der griechischen Philosophie spielte bei der Abtrünnigkeit, die nach dem Tod der Apostel einsetzte, eine entscheidende Rolle. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele machte verschiedene Bestimmungsorte der Seele erforderlich: den Himmel, das Höllenfeuer, das Fegefeuer, das Paradies und den Limbus.a Dadurch, daß eine Klasse von Geistlichen diese Lehren zu ihren Gunsten veränderte, war es für sie leicht, die Gläubigen unterwürfig zu halten, ihnen Angst vor dem Jenseits einzujagen sowie Geschenke und Geldspenden aus ihnen herauszupressen. Daraus ergibt sich die Frage: Wie ist in der Christenheit diese besondere Klasse der Geistlichkeit entstanden? (Johannes 8:44; 1. Timotheus 4:1, 2).

      Wie sich die Klasse der Geistlichkeit entwickelte

      11, 12. (a) Was war ein weiteres Zeichen von Abtrünnigkeit? (b) Welche Funktion hatten die Apostel und die Ältesten in Jerusalem inne?

      11 Ein weiteres Zeichen von Abtrünnigkeit war, daß nicht mehr, wie Jesus und die Apostel es gelehrt hatten, alle Christen Prediger waren, sondern nur noch die Klasse der Geistlichkeit, die sich in der Christenheit entwickelt hatte (Matthäus 5:14-16; Römer 10:13-15; 1. Petrus 3:15). Im 1. Jahrhundert, nach Jesu Tod, erteilten seine Apostel zusammen mit anderen geistig befähigten christlichen Ältesten in Jerusalem der Christenversammlung Rat, und sie hatten die Leitung inne. Niemand von ihnen kam sich besser vor (Galater 2:9).

      12 Im Jahre 49 u. Z. war es erforderlich, daß sie in Jerusalem zusammenkamen, um einige Streitpunkte zu klären, die alle Christen angingen. Aus dem Bibelbericht geht hervor, daß nach einer unvoreingenommenen Besprechung „es die Apostel und die älteren Männer [presbýteroi] zusammen mit der ganzen Versammlung für gut [befanden], Männer aus ihrer Mitte auszuwählen und sie mit Paulus und Barnabas nach Antiochia zu senden, ... und durch ihre Hand schrieben sie: ‚Die Apostel und die älteren Männer, Brüder, den Brüdern in Antiochia und Syrien und Zilizien, die aus den Nationen sind: Grüße!‘ “ Die Apostel und die Ältesten fungierten in den weit verbreiteten Versammlungen von Christen offensichtlich als maßgebendes Verwaltungsorgan (Apostelgeschichte 15:22, 23).

      13. (a) Auf welche Weise wurde jede der frühchristlichen Versammlungen beaufsichtigt? (b) Welchen Erfordernissen mußten die Ältesten einer Versammlung entsprechen?

      13 Diese leitende Gruppe in Jerusalem war zwar die frühchristliche Vorkehrung für die Aufsicht über alle Christen. Doch was für ein Führungssystem hatte jede Ortsversammlung? Aus dem Brief des Paulus an Timotheus geht hervor, daß in den Versammlungen Aufseher (griechisch: epískopos, das Wurzelwort für „episkopal“) dienten, die in geistigem Sinne Älteste (presbýteroi) waren, Männer, die durch ihren Lebenswandel und ihr Geistiggesinntsein bewiesen hatten, daß sie befähigt waren, ihre Glaubensbrüder zu lehren (1. Timotheus 3:1-7; 5:17). Im 1. Jahrhundert bildeten diese Männer keine besondere Klasse, keine Klasse der Geistlichkeit. Sie unterschieden sich nicht von anderen durch ihre Kleidung. Ihr Unterscheidungsmerkmal war ihr Geistiggesinntsein. Und in jeder Versammlung hatte nicht wie in einer Monarchie ein einziger Mann die Leitung inne, sondern eine Ältestenschaft (die Aufseher) (Apostelgeschichte 20:17; Philipper 1:1).

      14. (a) Wie wurden die christlichen Aufseher schließlich durch die Bischöfe der Christenheit ersetzt? (b) Wer von den Bischöfen strebte nach dem Primat?

      14 Erst nach einer gewissen Zeit wurde der Ausdruck epískoposb (Aufseher, Leiter) in „Bischof“ umgewandelt, ein Wort, das einen Geistlichen bezeichnet, der über die anderen Geistlichen seiner Diözese die Oberaufsicht führt. Der spanische Jesuit Bernardino Llorca erklärt: „Anfangs wurde zwischen den Bischöfen und den Presbytern kaum ein Unterschied gemacht, und man schenkte nur der Bedeutung der Wörter Beachtung: Bischof ist die Entsprechung von ‚Aufseher‘; Presbyter ist die Entsprechung von ‚älterer Mann‘. ... Doch nach und nach wurde zwischen beiden immer mehr unterschieden: die bedeutenderen Aufseher, die die höchste priesterliche Gewalt besaßen und die Befugnis hatten, die Hände aufzulegen und das Priesteramt zu übertragen, erhielten die Bezeichnung Bischof“ (Historia de la Iglesia Católica [Die Geschichte der katholischen Kirche]). Ja, die Bischöfe begannen ihr Amt in einer Art monarchischem System auszuüben, und zwar besonders vom Anfang des 4. Jahrhunderts an. Es entstand eine Hierarchie oder eine herrschende Klasse der Geistlichkeit, und mit der Zeit wurde der Bischof von Rom — er beanspruchte, der Nachfolger Petri zu sein — von vielen als der oberste Bischof und Papst anerkannt.

      15. Welche Kluft existiert zwischen der Leitung in der frühen Christenversammlung und der Leitung in der Christenheit?

      15 Heute ist die Stellung eines Bischofs in den verschiedenen Kirchen der Christenheit mit Ansehen und Macht verbunden. Bischöfe werden gut bezahlt und oft mit der Oberschicht, der herrschenden Klasse, einer Nation gleichgesetzt. Aber zwischen den Bischöfen, die auf ihren hohen Rang stolz sind, und den Ältesten oder Aufsehern der frühen Christenversammlung, die Christus unterstellt war, besteht ein gewaltiger Unterschied. Und was ist zu der Kluft zwischen Petrus und seinen sogenannten Nachfolgern zu sagen, die, von Luxus umgeben, im Vatikan geherrscht haben? (Lukas 9:58; 1. Petrus 5:1-3).

      Die Macht und das Ansehen des Papstes

      16, 17. (a) Wieso wissen wir, daß die frühe Christenversammlung in Rom keinem Bischof oder Papst unterstand? (b) Wie kam es zu dem Titel „Papst“?

      16 Zu den ersten Versammlungen, die die Leitung der Apostel und der Ältesten in Jerusalem akzeptierten, gehörte die Versammlung in Rom. Die christliche Wahrheit erreichte diese Stadt wahrscheinlich kurz nach Pfingsten des Jahres 33 u. Z. (Apostelgeschichte 2:10). Wie damals in allen Versammlungen der Christen gab es in der Versammlung in Rom Älteste, die als Körperschaft als Aufseher dienten; niemand führte die Oberaufsicht. Mit Sicherheit wurde kein Aufseher dieser Versammlung von seinen Zeitgenossen als Bischof oder als Papst betrachtet, denn es gab in Rom noch kein monarchisches Episkopat. Der genaue Zeitpunkt, wann sich das monarchische Episkopat — ein Episkopat mit einem Mann an der Spitze — zu entwickeln begann, ist schwer zu bestimmen. Vieles weist jedoch auf das 2. Jahrhundert hin (Römer 16:3-16; Philipper 1:1).

      17 Der Titel „Papst“ (abgeleitet von dem griechischen Wort pápas, Vater) wurde in den ersten zwei Jahrhunderten nicht verwendet. Der ehemalige Jesuit Michael Walsh erklärt: „Der Bischof von Rom wurde anscheinend im 3. Jahrhundert zum erstenmal ‚Papst‘ genannt, und zwar verlieh man Papst Kalixt I. den Titel ... Gegen Ende des 5. Jahrhunderts war gewöhnlich mit dem Ausdruck ‚Papst‘ ausschließlich der Bischof von Rom gemeint. Allerdings erst im 11. Jahrhundert konnte ein Papst den Titel für sich allein beanspruchen“ (An Illustrated History of the Popes).

      18. (a) Wer war einer der ersten Bischöfe von Rom, die ihrer Macht Geltung verschafften? (b) Worauf stützt der Papst seinen Primat? (c) Wie ist Matthäus 16:18, 19 zu verstehen?

      18 Einer der ersten Bischöfe von Rom, die ihrer Macht Geltung verschafften, war Papst Leo I. (Papst von 440 bis 461 u. Z.). Michael Walsh fährt fort: „Leo eignete sich den einst heidnischen Titel Pontifex maximus an, einen Titel, den noch heute die Päpste innehaben und der bis gegen Ende des 4. Jahrhunderts von den römischen Kaisern getragen wurde.“ Leo I. stützte sich dabei auf die katholische Auslegung der Worte Jesu aus Matthäus 16:18, 19. (Siehe Kasten, Seite 268.) Er „erklärte, daß der Kirche des heiligen Petrus eine Vorrangstellung eingeräumt werden sollte, denn der heilige Petrus sei der Erste unter den Aposteln gewesen“ (Man’s Religions). Dadurch machte er deutlich, daß der Kaiser in dem im Osten gelegenen Konstantinopel zwar die weltliche Macht besaß, er aber in dem im Westen befindlichen Rom die geistliche Macht. Diese wurde auch dadurch demonstriert, daß Papst Leo III. im Jahre 800 u. Z. Karl den Großen zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches krönte.

      19, 20. (a) Als was wird der Papst in der heutigen Zeit betrachtet? (b) Wie lauten einige offizielle Titel des Papstes? (c) Welcher Unterschied besteht zwischen dem Verhalten des Papstes und dem Verhalten des Petrus?

      19 Seit 1929 betrachten die weltlichen Regierungen den Papst von Rom als Herrscher eines souveränen Staates, der Vatikanstadt. Die katholische Kirche kann also wie keine andere Religionsorganisation zu allen Staatsregierungen in der Welt diplomatische Vertreter — Nuntien — entsenden (Johannes 18:36). Dem Papst wurden viele Titel verliehen, unter anderem Stellvertreter Christi, Nachfolger des Apostelfürsten, Oberhaupt der allgemeinen Kirche, Patriarch des Abendlandes, Primas von Italien und Souverän des Staates der Vatikanstadt. Er wird mit Pomp und feierlichem Zeremoniell umhergetragen, und man erweist ihm die einem Staatsoberhaupt gebührende Ehre. Man beachte jedoch, wie im Gegensatz dazu Petrus — angeblich der erste Papst und Bischof von Rom — reagierte, als ihm der römische Zenturio Kornelius zu Füßen fiel und ihm huldigte: „Petrus ... hob ihn auf und sprach: ‚Steh auf; ich selbst bin auch ein Mensch‘ “ (Apostelgeschichte 10:25, 26; Matthäus 23:8-12).

      20 Es entsteht nun die Frage: Auf welche Weise gelangte die abtrünnige Kirche der ersten Jahrhunderte zu so großer Macht und zu so großem Ansehen? Wie kam es, daß die Einfachheit und die Demut Christi und die der ersten Christen dem Pomp und dem Stolz der Christenheit wichen?

      Die Grundlage der Christenheit

      21, 22. Welcher große Wechsel soll angeblich im Leben Konstantins eingetreten sein, und wie nutzte er dies aus?

      21 Der Wendepunkt für diese neue Religion des Römischen Reiches trat 313 u. Z. ein, an dem Tag, als Kaiser Konstantin angeblich zum „Christentum“ bekehrt wurde. Wie kam diese Bekehrung zustande? Im Jahre 306 u. Z. folgte Konstantin seinem Vater auf den Thron und wurde nach einiger Zeit im Römischen Reich der Mitregent des Licinius. Er stand unter dem Einfluß seiner Mutter, die eine ergebene Christin war; auch war er davon überzeugt, daß er göttlichen Schutz genoß. Ehe er im Jahre 312 u. Z. in die Schlacht an der Milvischen Brücke nahe bei Rom zog, behauptete er, daß ihm in einem Traum befohlen worden sei, das „christliche“ Monogramm — die griechischen Buchstaben Chi und Rho, die ersten beiden Buchstaben des Namens Christi in Griechisch — auf die Schilde seiner Soldaten zeichnen zu lassen.c Mit diesem „heiligen Talisman“ bezwangen Konstantins Streitkräfte seinen Feind Maxentius.

      22 Kurz nach dem Sieg behauptete Konstantin, daß er gläubig geworden sei (obwohl er erst 24 Jahre später, kurz vor seinem Tod, getauft wurde). Danach verschaffte er sich die Unterstützung derjenigen in seinem Reich, die sich zum Christentum bekannten, indem „er [die griechischen Buchstaben] Chi und Rho [ ] zu seinem Emblem machte ... Die Ligatur [Buchstabenverbindung] Chi-Rho war jedoch schon in christlichen und in heidnischen Texten verwendet worden“ (The Crucible of Christianity [Der Schmelztiegel des Christentums], herausgegeben von Arnold Toynbee).

      23. (a) Wann nahm gemäß den Worten eines Publizisten die Christenheit ihren Anfang? (b) Wieso kann gesagt werden, daß Christus nicht der Gründer der Christenheit war?

      23 Auf diese Weise wurde die Grundlage für die Christenheit gelegt. Der englische Publizist Malcolm Muggeridge schrieb diesbezüglich in seinem Buch The End of Christendom (Das Ende der Christenheit): „Die Christenheit nahm mit Kaiser Konstantin ihren Anfang.“ Er machte aber auch folgende scharfsinnige Bemerkung: „Vielleicht kann man sogar sagen, daß Christus der Christenheit, schon ehe sie begann, eine Absage erteilte, indem er sagte, sein Königreich sei kein Teil der Welt. Das war einer seiner weitreichendsten und bedeutendsten Aussprüche.“ Und diese Äußerung wird von den religiösen und den politischen Führern der Christenheit am wenigsten beachtet (Johannes 18:36).

      24. Welche Änderung trat mit Konstantins „Bekehrung“ in der Kirche ein?

      24 Mit der Unterstützung Konstantins wurde die Religion der Christenheit die offizielle Staatsreligion Roms. Elaine Pagels, Professorin für Religion, erklärt: „Die christlichen Bischöfe — einst Opfer von Festnahmen, Mißhandlungen und Hinrichtungen — wurden nun von der Steuerpflicht befreit, erhielten Geschenke aus dem Staatsschatz, genossen Ansehen und gewannen sogar Einfluß bei Hofe; ihre Kirchen gelangten zu neuem Reichtum und zu Macht, und sie nahmen an Bedeutung zu.“ Sie waren die Freunde des Kaisers geworden, die Freunde der römischen Welt (Jakobus 4:4).

      Konstantin, Ketzerei und Rechtgläubigkeit

      25. (a) Worüber wurden in den Tagen Konstantins heftige Debatten geführt? (b) Welche Auffassung hatte man vor dem 4. Jahrhundert von dem Verhältnis Christi zu seinem Vater?

      25 Warum war die „Bekehrung“ Konstantins von so großer Bedeutung? Weil er als Kaiser auf die Angelegenheiten der lehrmäßig gespaltenen „christlichen“ Kirche einen maßgeblichen Einfluß hatte, und er wollte, daß sein Reich geeint war. Damals führten die griechisch- und die lateinischsprechenden Bischöfe heftige Debatten über „das Verhältnis zwischen dem ‚Wort‘ oder ‚Sohn Gottes‘, verkörpert in Jesus, und ‚Gott‘ selbst, der jetzt als ‚der Vater‘ bezeichnet wurde — sein Name Jahwe war allgemein in Vergessenheit geraten“ (The Columbia History of the World). Einige vertraten den biblisch gestützten Standpunkt, daß Christus, der Lógos, erschaffen worden und deshalb dem Vater unterstellt sei (Matthäus 24:36; Johannes 14:28; 1. Korinther 15:25-28). Zu ihnen gehörte Arius, ein Priester in Alexandria (Ägypten). R. P. C. Hanson, Professor der Theologie, sagte diesbezüglich: „Vor dem Ausbruch des arianischen Streits [im 4. Jahrhundert] gab es in der östlichen und der westlichen Kirche keinen Theologen, der nicht in gewissem Sinne den Sohn als dem Vater untergeordnet betrachtete“ (The Search for the Christian Doctrine of God).

      26. Wie stand es Anfang des 4. Jahrhunderts um die Dreieinigkeitslehre?

      26 Andere sahen diese Ansicht als ketzerisch an und wandten sich mehr der Anbetung Jesu als „Gottmensch“ zu. Professor Hanson sagt aber, daß die betreffende Periode (das 4. Jahrhundert) „keine Zeit war, in der eine allgemein anerkannte, festgelegte Lehre [von der Trinität] gegen die Angriffe der Ketzer [Arianer] geschützt wurde. Hinsichtlich des Punktes, um den es in den Diskussionen hauptsächlich ging, gab es noch keine orthodoxe Lehre.“ Er fährt fort: „Alle Parteien glaubten, daß sie die Heilige Schrift als Grundlage hätten, und jede sagte, die anderen seien nicht rechtgläubig und hielten sich nicht an die Tradition und die Bibel.“ Die religiösen Führer waren sich in dieser theologischen Streitfrage gänzlich uneinig (Johannes 20:17).

      27. (a) Wodurch versuchte Konstantin die Debatte um die Natur Jesu zu beendigen? (b) War die Kirche auf dem Konzil von Nizäa gut vertreten? (c) Waren mit der Formulierung des Nizäischen Glaubensbekenntnisses die Streitigkeiten um die sich entwickelnde Dreieinigkeitslehre zu Ende?

      27 Konstantin wollte, daß in seinem Reich Einheit herrschte. Deshalb berief er im Jahre 325 u. Z. ein Konzil nach Nizäa ein — die Stadt lag im östlichen, griechischsprachigen Teil seines Reiches, von der neuen Stadt Konstantinopel aus auf der anderen Seite des Bosporus. Es heißt, daß zwischen 250 und 318 Bischöfe, nur eine Minderheit, am Konzil teilnahmen und daß die meisten aus dem griechischsprachigen Gebiet kamen. Selbst Papst Silvester I. war nicht anwesend.d Nach heftigen Debatten wurde auf diesem nicht repräsentativen Konzil das Nizäische Glaubensbekenntnis formuliert, das sehr von trinitarischem Gedankengut beeinflußt war. Die Streitigkeiten um die Dreieinigkeitslehre waren aber damit nicht zu Ende. Die Rolle des heiligen Geistes Gottes in dieser Lehre war noch immer nicht klar. Die hitzigen Debatten hielten jahrzehntelang an, und um schließlich in dieser Hinsicht Einigkeit zu erzielen, waren die Einberufung weiterer Konzilien, die Autorität verschiedener Kaiser und die Verbannung als Strafmaßnahme erforderlich. Die Theologie gewann einen Sieg, während diejenigen, die sich an die Bibel hielten, eine Niederlage hinnehmen mußten (Römer 3:3, 4).

      28. (a) Was waren einige Folgen davon, daß die Dreieinigkeit gelehrt wurde? (b) Wieso gibt es für die Verehrung Marias als „Mutter Gottes“ keine biblische Grundlage?

      28 Aufgrund der Dreieinigkeitslehre, die unter anderem besagt, daß Christus Gott sei, geriet der eine wahre Gott, Jehova, im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit.e Da gemäß dieser Theologie Jesus ein Gottmensch war, war die nächste logische Schlußfolgerung, daß Jesu Mutter Maria die „Mutter Gottes“ war. Mit der Zeit führte diese Auffassung dazu, daß Maria auf die verschiedenste Weise verehrt wurde, und das, obwohl ihr in keiner Bibelstelle irgendeine bedeutende Rolle zugewiesen wird, ausgenommen die Rolle der demütigen leiblichen Mutter Jesuf (Lukas 1:26-38, 46-56). Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte die katholische Kirche die Lehre von der Mutter Gottes weiter und schmückte sie aus, und die Folge davon ist, daß die Katholiken Maria viel mehr verehren als Gott.

      Die Spaltungen in der Christenheit

      29. Vor welcher Entwicklung warnte Paulus?

      29 Ein weiteres Merkmal der Abtrünnigkeit ist, daß sie zu Spaltungen und Zersplitterung führt. Der Apostel Paulus hatte folgendes vorhergesagt: „Ich weiß, daß nach meinem Weggang bedrückende Wölfe bei euch eindringen und die Herde nicht schonen werden, und aus eurer eigenen Mitte werden Männer aufstehen und verdrehte Dinge reden, um die Jünger hinter sich her wegzuziehen.“ Paulus hatte den Korinthern deutlichen Rat erteilt, als er zu ihnen sagte: „Nun ermahne ich euch, Brüder, durch den Namen unseres Herrn Jesus Christus, daß ihr alle übereinstimmend redet und daß keine Spaltungen unter euch seien, sondern daß ihr in demselben Sinn und in demselben Gedankengang fest vereint sein mögt.“ Trotz der Ermahnung des Paulus wurzelten sich bald Abtrünnigkeit und Spaltungen ein (Apostelgeschichte 20:29, 30; 1. Korinther 1:10).

      30. Welche Situation entwickelte sich schon bald in der jungen Kirche?

      30 Wenige Jahrzehnte nach dem Tod der Apostel machten sich unter den Christen bereits Spaltungen bemerkbar. Will Durant erklärt: „Celsus [ein Gegner des Christentums aus dem 2. Jahrhundert] selbst hatte die sarkastische Bemerkung gemacht, die Christen seien in unzählige Gruppen aufgespalten, und jeder einzelne wolle seine eigene Partei haben. Um 187 zählte Irenaeus zwanzig Abarten des Christentums auf; um 384 nannte Epiphanius deren achtzig“ (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 5: Weltreiche des Glaubens).

      31. Wie kam es in der katholischen Kirche zu einer größeren Spaltung?

      31 Konstantin bevorzugte die östliche, griechische Seite seines Reiches und ließ deshalb dort, wo heute die Türkei liegt, eine riesige neue Hauptstadt bauen. Diese nannte er Konstantinopel (das heutige Istanbul). Die Folge war, daß sich die katholische Kirche im Laufe der Jahrhunderte sprachlich und geographisch spaltete: in das lateinischsprachige Rom im Westen und das griechischsprachige Konstantinopel im Osten.

      32, 33. (a) Welche weiteren Streitpunkte gab es in der Christenheit? (b) Was sagt die Bibel über den Gebrauch von Bildern bei der Anbetung?

      32 Debatten über die noch nicht vollentwickelte Dreieinigkeitslehre waren der Einheit nicht gerade zuträglich und brachten fortgesetzt Unruhe in die Christenheit. Im Jahre 451 u. Z. tagte ein weiteres Konzil, das Konzil von Chalkedon, wo die Art der „Naturen“ Christi definiert wurde. Während die westliche Kirche das auf diesem Konzil abgefaßte Glaubensbekenntnis annahm, lehnte es die östliche Kirche ab; die Folge davon war die Gründung der koptischen Kirche in Ägypten und Abessinien sowie der Kirchen der „Jakobiten“ in Syrien und Armenien. Die Einheit der katholischen Kirche wurde ständig durch Streitigkeiten um schwerverständliche theologische Fragen bedroht, besonders durch den Streit um die Definition der Dreieinigkeitslehre.

      33 Eine andere Ursache der Uneinigkeit war die Bilderverehrung. Im 8. Jahrhundert empörten sich die Bischöfe des Ostens über den Götzendienst und lösten den sogenannten Bilderstreit aus, der mit der Zerstörung von Bildern einherging. Doch mit der Zeit wurde die Verehrung von Heiligenbildern wiedereingeführt (2. Mose 20:4-6; Jesaja 44:14-18).

      34. (a) Wodurch wurde in der katholischen Kirche eine große Spaltung hervorgerufen? (b) Was war das Endresultat dieser Spaltung?

      34 Als dann die westliche Kirche dem Nizäischen Glaubensbekenntnis das lateinische Wort filioque („und vom Sohn“) hinzufügte, um anzudeuten, daß der heilige Geist sowohl vom Vater als auch vom Sohn ausging, traten weitere Schwierigkeiten auf. Diese im 6. Jahrhundert vorgenommene Korrektur führte zu einer Spaltung. „Im Jahre 876 verurteilte eine Synode [von Bischöfen] in Konstantinopel den Papst, weil er sich politisch betätigte und den Zusatz Filioque nicht für ungültig erklärte. Mit diesem Vorgehen fing etwas an, was dann zur völligen Ablehnung der Behauptung des Papstes, er sei das Oberhaupt der Kirche, führte“ (Man’s Religions). Im Jahre 1054 exkommunizierte der Vertreter des Papstes den Patriarchen von Konstantinopel, der wiederum den Bannfluch auf den Papst schleuderte. Dieser Bruch führte schließlich dazu, daß die östlichen orthodoxen Kirchen entstanden: die griechische, die russische, die rumänische, die bulgarische, die polnische und die serbische Kirche sowie andere eigenständige Kirchen.

      35. Wer waren die Waldenser, und inwiefern unterschieden sich ihre Lehren von denen der katholischen Kirche?

      35 Noch eine andere Bewegung brachte Unruhe in die Kirche. Im 12. Jahrhundert stellte Petrus Valdes aus Lyon (Frankreich) „Gelehrte an, die ihm die Bibel in die langue d’oc [eine regionale Sprache] Südfrankreichs übersetzen mußten. Er studierte die Übersetzung eifrig und kam zu dem Schluß, die Christen müßten wie die Apostel leben, also ohne individuellen Besitz“ (Will Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Band 6: Das frühe Mittelalter). Er rief eine Bewegung von Predigern ins Leben, die als die Waldenser bekannt wurden. Sie verwarfen das katholische Priestertum, den Ablaßhandel, das Fegefeuer, die Transsubstantiation und andere katholische Bräuche und Glaubenslehren. Sie breiteten sich auch in anderen Ländern aus. Um ihr weiteres Wachstum zu verhindern, verbot 1229 das Konzil von Toulouse den Besitz von Bibelbüchern. Nur Stundenbücher waren erlaubt, und zwar ausschließlich in Lateinisch, einer toten Sprache. Doch es standen noch mehr religiöse Spaltungen und Verfolgungswellen bevor.

      Die Verfolgung der Albigenser

      36, 37. (a) Wer waren die Albigenser, und was glaubten sie? (b) Wie wurden die Albigenser unterdrückt?

      36 Eine weitere Bewegung nahm im 12. Jahrhundert in Südfrankreich ihren Anfang: die Albigenser (auch als die Katharer bekannt), deren Name sich von der Stadt Albi ableitet, wo sie besonders zahlreich vertreten waren. Sie hatten ihre eigenen Geistlichen, die nicht heirateten und die erwarteten, daß man sie ehrfurchtsvoll grüßte. Gemäß ihrer Lehre hatte Jesus nur an einen übertragenen Sinn gedacht, als er beim letzten Abendmahl vom Brot sagte: „Das ist mein Leib“ (Matthäus 26:26, EÜ). Sie verwarfen die Lehre von der Dreieinigkeit, der jungfräulichen Geburt, der Hölle und dem Fegefeuer. Also ließen sie sich in eine aktive Kritik an den Lehren Roms ein. Papst Innozenz III. ordnete die Verfolgung der Albigenser an. Seinen Worten gemäß sollte ihnen nötigenfalls mit dem Schwert ein Ende bereitet werden.

      37 Gegen die „Ketzer“ wurde ein Kreuzzug gestartet, und die katholischen Kreuzfahrer erschlugen in Béziers (Frankreich) 20 000 Männer, Frauen und Kinder. Nachdem viel Blut vergossen worden war, wurde 1229 der Frieden wiederhergestellt; die Albigenser waren besiegt worden. Das Konzil von Narbonne „untersagte allen Laien den Besitz jedes Teiles der Bibel“. Die Ursache des Problems bestand für die katholische Kirche offensichtlich darin, daß die Bibel in der Sprache des Volkes vorhanden war.

      38. Was war die Inquisition, und was sollte durch sie bewirkt werden?

      38 Der nächste Schritt der Kirche war die Einsetzung der Inquisition, eines Gerichts, das der Ketzerei ein Ende machen sollte. Das abergläubische Volk war schon von einem Geist der Intoleranz durchdrungen und jederzeit bereit, „Ketzer“ zu lynchen und zu ermorden. Die Zustände im 13. Jahrhundert schufen die besten Voraussetzungen für den Machtmißbrauch der Kirche. Aber „von der Kirche verurteilte Ketzer waren dem ‚weltlichen Arm‘ — den örtlichen Behörden — zu übergeben, um auf dem Scheiterhaufen zu brennen“ (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 6: Das frühe Mittelalter). Dadurch, daß die eigentliche Vollstreckung des Urteils der weltlichen Gewalt überlassen wurde, hatte es den Anschein, als ob die Kirche frei von Blutschuld sei. Die Inquisition leitete eine Zeitspanne der religiösen Verfolgung ein, mit der Mißhandlungen, unberechtigte und anonyme Anzeigen, Mord, Raub, Folterungen und der langsame Tod von Tausenden einhergingen, die es wagten, eine andere Ansicht zu haben als die Kirche. Es war verboten, seine religiöse Meinung frei zu äußern. Gab es für diejenigen, die den wahren Gott suchten, irgendeine Hoffnung? Diese Frage wird in Kapitel 13 beantwortet werden.

      39. Welche religiöse Gemeinschaft wurde im 7. Jahrhundert geformt, und wie?

      39 Abseits von all diesen Geschehnissen in der Christenheit trat im Nahen Osten ein Araber gegen die religiöse Gleichgültigkeit und den Götzendienst seines Volkes auf. Im 7. Jahrhundert formte er eine religiöse Gemeinschaft, die heute von fast einer Milliarde Menschen Gehorsam und Unterwürfigkeit verlangt. Diese Gemeinschaft ist der Islam. Im nächsten Kapitel wird die Geschichte seines Propheten und Stifters behandelt, und es werden einige seiner Lehren und deren Ursprung erklärt.

      [Fußnoten]

      a Die Ausdrücke „unsterbliche Seele“, „Höllenfeuer“, „Fegefeuer“ und „Limbus“ sind im hebräischen und griechischen Urtext der Bibel nicht zu finden. Aber das griechische Wort für „Auferstehung“ (anástasis) kommt 42mal vor.

      b Der griechische Ausdruck epískopos bedeutet wörtlich „der etwas oder jemanden beaufsichtigt, darauf achtgibt“. Die lateinische Entsprechung ist episcopus, woraus im Althochdeutschen biscof und später „Bischof“ wurde.

      c Gemäß einer bekannten Legende sah Konstantin in einer Vision ein Kreuz und die lateinischen Worte „in hoc signo vinces“ (durch dieses Zeichen siege). Einige Historiker vertreten den Standpunkt, daß es sich dabei eher um die griechischen Worte „en tuto nika“ (durch dieses siege) gehandelt habe. Die Legende wird von einigen Gelehrten angezweifelt, da sie Zeitwidrigkeiten enthält.

      d In dem Werk The Oxford Dictionary of Popes wird von Silvester I. gesagt: „Obwohl er während der Herrschaft Konstantins des Großen (306—337), einer Zeit einschneidender Entwicklungen für die Kirche, fast 22 Jahre Papst war, spielte er bei den damaligen bedeutenden Ereignissen anscheinend nur eine Nebenrolle. ... Es gab zweifellos Bischöfe, die Konstantin zu seinen Vertrauten machte und mit denen er seine Kirchenpolitik absprach; doch ... [Silvester] gehörte nicht zu ihnen.“

      e Näheres bezüglich der Debatten über die Dreieinigkeitslehre findet der Leser in der 32seitigen Broschüre Sollte man an die Dreieinigkeit glauben?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1989.

      f Maria, die Mutter Jesu, wird in den vier Evangelien an 24 Stellen und einmal in der Apostelgeschichte namentlich genannt bzw. als Jesu Mutter bezeichnet. Sie wird in keinem der apostolischen Briefe erwähnt.

      [Kasten auf Seite 262]

      Die ersten Christen und das heidnische Rom

      „Das Christentum, das sich im römischen Imperium ausbreitete, verlangte von den Bekehrten aus den Heiden, daß sie ihre Ansichten und ihr Verhalten änderten. Viele Heiden, die aufgrund ihrer Erziehung die Ehe als eine notwendige soziale und wirtschaftliche Einrichtung betrachteten, homosexuelle Beziehungen als etwas, was bei der Erziehung von Knaben dazugehört, die Prostitution — sowohl die männliche wie auch die weibliche — als etwas Normales und Legales und die Scheidung, die Abtreibung, die Empfängnisverhütung sowie die Aussetzung ungewollter Kinder [so daß sie dem Tod preisgegeben waren] als zweckdienlich, nahmen zum Erstaunen ihrer Angehörigen die christliche Botschaft, in der diese Praktiken verurteilt wurden, an“ (Adam, Eve, and the Serpent, von Elaine Pagels).

      [Kasten auf Seite 266]

      Christentum gegen Christenheit

      Porphyrios, ein im 3. Jahrhundert lebender Philosoph aus Tyrus und ein Gegner des Christentums, fragte, „ob nicht die Anhänger Jesu und weniger Jesus selbst für die besondere Form der christlichen Religion verantwortlich seien. Porphyrios (und Julian [im 4. Jahrhundert römischer Kaiser und Gegner des Christentums]) zeigte auf der Grundlage des Neuen Testaments, daß Jesus sich selbst nicht Gott nannte, daß er nicht über sich selbst, sondern über den einen Gott aller Menschen predigte. Seine Anhänger waren es, die seine Lehre aufgaben und eine neue (ihre eigene) Lebensweise einführten, bei der Jesus (nicht der eine Gott) Gegenstand der Gottesverehrung und der Anbetung wurde. ... [Porphyrios] rührte an eine für christliche Denker heikle Frage: Beruht der christliche Glaube auf Jesu Predigt oder auf den in den Generationen nach seinem Tod von den Jüngern entwickelten Ideen?“ (Die frühen Christen: wie die Römer sie sahen).

      [Kasten auf Seite 268]

      Petrus und das Papsttum

      Gemäß Matthäus 16:18 sagte Jesus zum Apostel Petrus: „Und ich sage dir: Du bist Petrus [griechisch: Pétros], und auf diesen Felsen [griechisch: pétra] will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ (Al). Auf diesen Text stützt sich die katholische Kirche, wenn sie behauptet, Jesus habe seine Kirche auf Petrus aufgebaut, der gemäß ihren Worten die ununterbrochene Linie der Bischöfe von Rom, der Nachfolger des Petrus, anführe.

      Wer war der gemäß Matthäus 16:18 von Jesus erwähnte Felsen, Petrus oder Jesus? Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß es in dem Gespräch um die Identifizierung Jesu als der „Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ ging, wie Petrus es selbst sagte (Matthäus 16:16, Al). Demnach wäre logischerweise Jesus selbst die felsengleiche feste Grundlage der Kirche und nicht Petrus, der später Christus dreimal verleugnete (Matthäus 26:33-35, 69-75).

      Wieso wissen wir, daß Christus der Grundstein ist? Petrus selbst bezeugte dies, als er schrieb: „Zu ihm kommend als zu einem lebendigen Stein, von Menschen zwar verworfen, bei Gott aber auserwählt, kostbar ... Denn es ist in der Schrift enthalten: ‚Siehe! Ich lege in Zion einen Stein, auserwählt, einen Grundeckstein, kostbar; und keiner, der Glauben an ihn ausübt, wird irgendwie enttäuscht werden.‘ “ Und Paulus sagte folgendes: „Ihr seid auf der Grundlage der Apostel und Propheten aufgebaut worden, wobei Christus Jesus selbst der Grundeckstein ist“ (1. Petrus 2:4-8; Epheser 2:20).

      Es gibt in der Bibel oder in der Geschichte keinen Hinweis darauf, daß Petrus gegenüber den anderen Aposteln eine vorrangige Stellung innehatte. Ja weder in seinen eigenen Briefen noch in den übrigen drei Evangelien — einschließlich des Evangeliums von Markus, das wahrscheinlich eine Wiedergabe des Berichtes von Petrus ist — werden die an Petrus gerichteten Worte Jesu erwähnt (Lukas 22:24-26; Apostelgeschichte 15:6-22; Galater 2:11-14).

      Es ist nicht einmal eindeutig bewiesen, daß Petrus jemals in Rom war (1. Petrus 5:13). Als Paulus nach Jerusalem kam, unterstützten ihn „Jakobus und Kephas [Petrus] und Johannes, diejenigen, die Säulen zu sein schienen“. Damals war also Petrus eine von mindestens drei Säulen in der Versammlung. Er war kein „Papst“, und er war nicht als solcher oder als oberster „Bischof“ in Jerusalem bekannt (Galater 2:7-9; Apostelgeschichte 28:16, 30, 31).

      [Bild auf Seite 264]

      Das Dreieck, das die geheimnisvolle Dreieinigkeit der Christenheit darstellt

      [Bilder auf Seite 269]

      Der Vatikan (unten seine Flagge) sendet Diplomaten zu anderen Regierungen

      [Bilder auf Seite 275]

      Auf dem Konzil von Nizäa wurde für die spätere Dreieinigkeitslehre die Grundlage gelegt

      [Bilder auf Seite 277]

      Die Verehrung Marias mit dem Kind (Mitte) ist eine Nachahmung der viel älteren Anbetung heidnischer Göttinnen wie Ägyptens Isis mit Horos (links) oder Roms Mater Matuta (rechts)

      [Bilder auf Seite 278]

      Östliche Kirchen: Sveti Nikolaj, Sofia (Bulgarien), und (unten) St. Vladimir, New Jersey (USA)

      [Bild auf Seite 281]

      Die Aufgabe der „christlichen“ Kreuzfahrer bestand nicht nur darin, Jerusalem vom Islam zu befreien, sondern auch, „Ketzer“ wie die Waldenser und die Albigenser hinzuschlachten

      [Bilder auf Seite 283]

      Tomás de Torquemada, ein Dominikanermönch, führte die grausame spanische Inquisition an, bei der mit Hilfe von Folterwerkzeugen Geständnisse erzwungen wurden

  • Der Islam — Der Weg zu Gott durch Unterwerfung
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 12

      Der Islam — Der Weg zu Gott durch Unterwerfung

      [Abbildung: Arabische Schriftzeichen]

      1, 2. (a) Wie lauten die ersten Worte des Qurʼān? (b) Warum sind diese Worte für die Muslime bedeutsam? (c) In welcher Sprache wurde der Qurʼān ursprünglich geschrieben, und was bedeutet das Wort „Qurʼān“?

      „IM Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen.“ Dieser Satz ist eine Übersetzung des obigen arabischen Textes aus dem Qurʼān. Weiter heißt es darin: „Aller Preis gehört Allah, dem Herrn der Welten, dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Meister des Gerichtstages. Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe. Führe uns auf den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, die nicht (Dein) Mißfallen erregt haben und die nicht irregegangen sind“ (Der Qurʼān, Sure 1:1-7, HA)a.

      2 Diese Worte bilden Al-Fāteha („Die Öffnende“), das erste Kapitel oder die erste Sure des heiligen Buches der Muslime, des Heiligen Qurʼān oder Korans. Da mehr als einer von sechs Erdbewohnern ein Muslim ist und fromme Muslime diese Verse mehr als einmal in jedem ihrer fünf täglichen Gebete wiederholen, müssen sie zu den am häufigsten gesprochenen Worten auf der Erde zählen.

      3. Wie verbreitet ist der Islam heute?

      3 Gemäß der Statistik gibt es auf der Welt mehr als 900 Millionen Muslime, was bedeutet, daß nur die römisch-katholische Kirche zahlenmäßig stärker ist. Der Islam ist vielleicht die am schnellsten wachsende Weltreligion, er breitet sich sowohl in Afrika als auch in der westlichen Welt aus.

      4. (a) Was bedeutet die Bezeichnung „Islam“? (b) Was bedeutet das Wort „Muslim“?

      4 Die Bezeichnung Islam ist für den Muslim wichtig, bedeutet sie doch „Unterwerfung“, „Hingabe“ oder „Übergabe“ (an Allah) und drückt, wie ein Historiker schreibt, „die innerste Einstellung derjenigen aus ..., die dem Predigen Mohammeds Gehör schenkten“. „Muslim“ bedeutet „den Islam Ausübender“.

      5. (a) Was glauben die Muslime bezüglich des Islams? (b) Welche Parallelen bestehen zwischen der Bibel und dem Qurʼān?

      5 Die Muslime glauben, daß ihre Religion der Höhepunkt der Offenbarungen ist, die die treuen Hebräer und die ersten Christen erhalten haben. Ihre Lehren weichen jedoch in manchen Punkten von der Bibel ab, obwohl im Qurʼān sowohl aus den Hebräischen als auch aus den Griechischen Schriften zitiert wird.b (Siehe Kasten, Seite 285.) Um den Glauben der Muslime besser zu verstehen, müssen wir wissen, wie, wo und wann diese Religion begann.

      Muḥammads Berufung

      6. (a) Welches war die zentrale Kultstätte für die Araber zur Zeit Muḥammads? (b) Was sagt eine islamische Legende über die Kaaba?

      6 Muḥammadc wurde ca. 570 u. Z. in Mekka (arabisch: Makkah) (Saudi-Arabien) geboren. Sein Vater, Abd Allah, starb, ehe Muḥammad geboren wurde. Seine Mutter Amina starb, als er etwa 6 Jahre alt war. Zu jener Zeit verehrten die Araber Allah. Die zentrale Kultstätte lag im Mekkatal und wurde Kaaba genannt. In dem einfachen würfelförmigen Bauwerk wurde ein schwarzer Meteorit verehrt. Nach einer islamischen Legende „wurde die Kaaba ursprünglich von Adam nach einem himmlischen Prototyp errichtet und nach der Sintflut von Abraham und Ismael wieder erbaut“ (Philip K. Hitti, History of the Arabs). Es wurde ein Heiligtum für 360 Götzenbilder, eines für jeden Tag des Mondjahres.

      7. Welche religiösen Gebräuche beunruhigten Muḥammad?

      7 Als Muḥammad größer wurde, begann er die religiösen Gebräuche seiner Zeit in Frage zu stellen. John Noss schreibt in seinem Buch Man’s Religions: „[Muḥammad] war durch die andauernden Streitereien, bei denen es ausschließlich um die Religion und die Ehre der Koraisch-Stammesführer [Muḥammad gehörte diesem Stamm an] ging, beunruhigt. Noch unzufriedener war er mit den primitiven Überbleibseln der arabischen Religion, dem götzendienerischen Polytheismus und dem Animismus, der Sittenlosigkeit bei religiösen Feiern und bei Märkten, dem üblichen Trinken, Spielen und Tanzen und dem Begraben lebender Säuglinge — unerwünschter Mädchen —, was nicht nur in Mekka, sondern in ganz Arabien praktiziert wurde“ (Sure 6:138, HA).

      8. Unter welchen Umständen fühlte sich Muḥammad zum Propheten berufen?

      8 Muḥammad fühlte sich zum Propheten berufen, als er etwa 40 Jahre alt war. Er hatte die Gewohnheit, allein eine Höhle auf dem nahe gelegenen Berg Hira aufzusuchen, um zu meditieren. Er behauptete, daß er bei einer dieser Gelegenheiten zum Propheten berufen worden sei. Nach muslimischer Tradition gebot ihm ein Engel — später als Gabriel identifiziert —, während er dort war, im Namen Allahs zu rezitieren. Muḥammad reagierte nicht, worauf der Engel ihn packte und ihn so stark drückte, daß er es kaum aushielt. Dann wiederholte der Engel den Befehl. Und wiederum reagierte Muḥammad nicht, worauf der Engel ihn wiederum würgte. Das geschah dreimal, ehe Muḥammad zu rezitieren begann, was später als die erste einer Reihe von Offenbarungen betrachtet wurde, die den Qurʼān bilden. Gemäß einer anderen Überlieferung wurden Muḥammad die göttlichen Eingebungen wie das Geläute einer Glocke geoffenbart (übersetzt aus dem Sahih von Al Buchari).

      Die Offenbarung des Qurʼān

      9. Welches soll Muḥammads erste Offenbarung gewesen sein? (Vergleiche Offenbarung 22:18, 19.)

      9 Welches soll die erste Offenbarung gewesen sein, die Muḥammad erhielt? Die islamischen Autoritäten stimmen im allgemeinen darin überein, daß es die ersten 6 Verse der 96. Sure sind, überschrieben Al-ʼAlaq, „Das geronnene Blut“. Sie lauten:

      „Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen.

      Lies im Namen deines Herrn, Der erschuf,

      Erschuf den Menschen aus einem Klumpen Blut.

      Lies! denn dein Herr ist der Allgütige,

      Der (den Menschen) lehrte durch die Feder,

      Den Menschen lehrte, was er nicht wußte“

      (HA).

      10—12. Wie wurde der Qurʼān überliefert?

      10 Gemäß einer arabischen Quelle antwortete Muḥammad: „Ich kann nicht lesen.“ Daher mußte er sich die Offenbarungen einprägen, damit er sie wiederholen und rezitieren konnte. Die Araber hatten ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und Muḥammad war keine Ausnahme. Wie lange dauerte es, bis er die vollständige Botschaft des Qurʼān empfangen hatte? Man nimmt an, daß er die Offenbarungen im Laufe von 20 bis 23 Jahren erhielt, von ca. 610 u. Z. bis zu seinem Tod im Jahre 632 u. Z.

      11 Nach muslimischen Quellen rezitierte Muḥammad jede Offenbarung sofort, nachdem er sie empfangen hatte, denen, die zufällig in seiner Nähe waren. Diese prägten sie sich ein und rezitierten sie, um sie in Erinnerung zu behalten. Da den Arabern die Papierherstellung unbekannt war, ließ Muḥammad die Offenbarungen von Schreibern auf damals erhältliches Material schreiben, zum Beispiel auf Schulterknochen von Kamelen, auf Palmblätter, auf Holz oder auf Pergament. Aber erst nach dem Tod des Propheten erhielt der Qurʼān seine jetzige Form, und zwar unter der Leitung der Nachfolger und Gefährten Muḥammads. Das geschah während der Herrschaft der ersten drei Kalifen oder muslimischen Oberhäupter.

      12 Der Übersetzer Muhammad Pickthall schreibt: „Alle Suren des Qurʼān hatte man schon vor dem Tod des Propheten schriftlich festgehalten, und viele Muslime konnten den ganzen Qurʼān auswendig. Aber die niedergeschriebenen Suren waren unter dem Volk zerstreut; und als ... viele von denen, die den ganzen Qurʼān auswendig konnten, in einer Schlacht getötet wurden, sammelte man den ganzen Qurʼān und schrieb ihn nieder.“

      13. (a) Wie heißen die drei Quellen der islamischen Belehrung und Wegleitung? (b) Wie betrachten einige islamische Gelehrte die Übersetzung des Qurʼān?

      13 Das Leben eines Muslims wird von drei maßgeblichen Werken geregelt: dem Qurʼān, dem Hadith und der Scharia. (Siehe Kasten, Seite 291.) Die Muslime glauben, daß der Qurʼān in arabischer Sprache die reinste Form der Offenbarung sei, denn diese Sprache habe Gott gebraucht, als er durch Gabriel gesprochen habe. Die Sure 43:1, 2 lautet: „Bei dem deutlichen Buch, siehe, wir machten es zu einem arabischen Koran, auf daß ihr vielleicht begriffet“ (MH). Jede Übersetzung gilt demnach nur als eine Verwässerung, die der Reinheit ermangelt. Es gibt sogar islamische Gelehrte, die es ablehnen, den Qurʼān zu übersetzen. Ihr Standpunkt ist: „Übersetzen bedeutet immer verraten“, und deswegen haben „die Muslime jeden Versuch, ihn in eine andere Sprache zu übersetzen, verachtet und gelegentlich sogar verboten“, schreibt Dr. J. A. Williams, Lehrbeauftragter für islamische Geschichte.

      Ausbreitung des Islams

      14. Welches Ereignis war ein bedeutsamer Meilenstein früh in der Geschichte des Islams?

      14 Muḥammad hatte bei der Stiftung seines neuen Glaubens große Schwierigkeiten zu überwinden. Die Bevölkerung Mekkas, selbst sein eigener Stamm, lehnte ihn ab. Nach 13 Jahren, in denen er verfolgt und gehaßt wurde, verlegte er das Zentrum seiner Tätigkeit nach Jathrib im Norden, das dann als al-Madīnah (Medina) bekannt wurde, die Stadt des Propheten. Diese Auswanderung oder Hedschra im Jahre 622 u. Z. war ein bedeutsamer Meilenstein in der islamischen Geschichte, und das Datum wurde später als der Beginn der islamischen Zeitrechnung genommen.d

      15. Wie wurde Mekka der wichtigste Wallfahrtsort des Islams?

      15 Schließlich konnte Muḥammad im Januar des Jahres 630 u. Z. (8 A. H.) fast kampflos in die Stadt Mekka einziehen, und er wurde ihr Herrscher. Da er nun die weltliche und geistliche Macht ausübte, konnte er die Kaaba von den Götzenbildern säubern und sie zur zentralen Kultstätte der Mekkapilgerfahrt machen, die noch heute ausgeführt wird. (Siehe Seite 289, 303.)

      16. Wie weit verbreitete sich der Islam?

      16 Schon wenige Jahrzehnte nach Muḥammads Tod im Jahre 632 u. Z. hatte sich der Islam bis nach Afghanistan und bis nach Tunesien in Nordafrika ausgebreitet. Im frühen 8. Jahrhundert war der Glaube des Qurʼān bis nach Spanien und bis an die französische Grenze vorgedrungen. Professor Ninian Smart schrieb in seinem Buch Background to the Long Search: „Vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, ist die Leistung eines arabischen Propheten des 6. und 7. Jahrhunderts nach Christus überwältigend. Menschlich gesehen, brachte er eine neue Kultur hervor. Für den Muslim war es natürlich ein göttliches Werk und Allahs Vollbringen.“

      Muḥammads Tod führt zur Spaltung

      17. Welchem großen Problem sah sich der Islam gegenüber, als Muḥammad starb?

      17 Der Tod des Propheten stürzte die Muslime in eine Krise. Er starb ohne einen Sohn und ohne jemand zu seinem Nachfolger bestimmt zu haben. Philip Hitti schreibt: „Das Kalifat [Amt des Kalifen] ist somit das älteste Problem des Islams. Es ist immer noch eine Streitfrage. ... Der muslimische Historiker al-Shahrastāni [1086—1153] schrieb: ‚Nie wurde wegen einer islamischen Streitfrage mehr Blut vergossen als wegen des Kalifats (imāmah).‘ “ Wie wurde das Problem damals, im Jahre 632 u. Z., gelöst? „Abu Bakr ... wurde durch eine Art Wahl, an der sich die in der Hauptstadt al-Madīnah anwesenden Führer beteiligten, zum Nachfolger Muḥammads bestimmt (8. Juni 632)“ (History of the Arabs).

      18, 19. Wegen welcher Frage trennten sich die sunnitischen Moslems von den schiitischen?

      18 Der Nachfolger des Propheten sollte ein Herrscher, ein khalīfah oder Kalif, sein. Die Frage jedoch, wer der wahre Nachfolger Muḥammads sei, bewirkte Spaltungen im Islam. Die Sunniten halten an dem Wahlprinzip fest und lehnen das erbliche Recht ab. Daher glauben sie, daß die ersten drei Kalifen, Abu Bakr (Muḥammads Schwiegervater), Omar (Ratgeber des Propheten) und Othman (Schwiegersohn des Propheten), die legitimen Nachfolger Muḥammads waren.

      19 Dem widersprechen die Schiiten, die sagen, allein die Familie des Propheten habe Anspruch auf die Führung, und zwar durch seinen Vetter und Schwiegersohn, Ali Ibn Abi Talib, den ersten Imam (Führer und Nachfolger), der Muḥammads Lieblingstochter Fatima geheiratet hatte. Aus dieser Ehe gingen Muḥammads Enkel Hasan und Husain hervor. Die Schiiten behaupten auch, daß „Allah und Sein Prophet von Anfang an eindeutig Ali zum einzig legitimen Nachfolger bestimmt haben, daß aber die ersten drei Kalifen ihn um das Amt, das er richtigerweise hätte ausüben sollen, betrogen hätten“ (History of the Arabs). Die Sunniten sehen das natürlich anders.

      20. Was geschah mit Ali, Muḥammads Schwiegersohn?

      20 Was geschah mit Ali? Während seiner Herrschaft als vierter Kalif (656—661 u. Z.) entstand zwischen ihm und dem Statthalter von Syrien, Muawija, der sein Rivale geworden war, ein Streit. Es kam zu einer Schlacht, und dann ließen sie, um weiteres Blutvergießen unter Muslimen zu vermeiden, ihren Streit von einem Schiedsgericht entscheiden. Alis Annahme des Schiedsspruchs schwächte seine Sache und entfremdete ihm viele seiner Anhänger, auch die Charidschiten, die seine Todfeinde wurden. Im Jahre 661 u. Z. wurde Ali von einem charidschitischen Sektierer mit einem vergifteten Säbel ermordet. Die beiden Gruppen, die Sunniten und die Schiiten, lagen miteinander im Streit. Die Sunniten wählten dann einen Führer aus den Omaijaden, reiche Mekkaner, die nicht zur Familie des Propheten gehörten.

      21. Welches sind die schiitischen Standpunkte bezüglich der Nachfolger Muḥammads?

      21 In den Augen der Schiiten war Hasan, Alis Erstgeborener, der Enkel des Propheten, der rechtmäßige Nachfolger. Doch er verzichtete auf die Herrschaft und soll später ermordet worden sein. Sein Bruder Husain wurde der neue Imam, aber auch er wurde getötet, und zwar am 10. Oktober 680 u. Z. von den Truppen der Omaijaden. Sein Tod oder sein Martyrium, wie die Schiiten es betrachten, hat bis auf diesen Tag eine bezeichnende Wirkung auf die Shīʽat ʽAlī, die Ali-Partei, gehabt. Die Schiiten glauben, daß Ali der rechtmäßige Nachfolger Muḥammads war und der erste „Imam [Führer], den Gott vor Irrtum und Sünde bewahrte“. Ali und seine Nachfolger galten bei ihnen als unfehlbare Lehrer, ausgestattet mit „der göttlichen Gabe der Sündenlosigkeit“. Der größte Teil der Schiiten glaubt, daß es nur 12 rechtmäßige Imame gegeben habe, und der letzte von ihnen, Muḥammad Al Muntazar, sei (878 u. Z.) „in der Höhle der Großen Moschee in Samarra verschwunden, ohne Nachkommen zu hinterlassen“. Dadurch „wurde er ‚der verborgene (mustatir)‘ oder ‚der erwartete (muntaẓar) Imam‘. ... Zur bestimmten Zeit wird er als der Mahdi (der göttlich Gelenkte) erscheinen, um den wahren Islam wiederherzustellen, die ganze Welt zu erobern und ein kurzes Millennium herbeizuführen, ehe das Ende aller Dinge kommt“ (History of the Arabs).

      22. Wie gedenken die Schiiten des Martyriums des Husain?

      22 Die Schiiten gedenken alljährlich des Martyriums des Imams Husain. Sie veranstalten Prozessionen, in denen sich einige mit Messern und Schwertern Wunden beibringen oder sich sonstwie Qualen zufügen. In neuerer Zeit ist viel über die Schiiten geschrieben worden wegen ihres Eifers für die Sache des Islams. Sie machen indessen nur etwa 20 Prozent der Muslime der Welt aus, die Mehrheit sind Sunniten. Nun wollen wir uns jedoch mit einigen Lehren des Islams beschäftigen und sehen, wie der islamische Glaube das Leben der Muslime beeinflußt.

      Nicht Jesus, sondern Gott ist der Höchste

      23, 24. Wie betrachteten Muḥammad und die Muslime das Judentum und das Christentum?

      23 Die drei größten monotheistischen Religionen der Welt sind das Judentum, das Christentum und der Islam. Als Muḥammad zu Anfang des 7. Jahrhunderts u. Z. erschien, waren die beiden ersten Religionen nach seiner Meinung vom Weg der Wahrheit abgewichen. Nach einigen islamischen Kommentatoren deutet der Qurʼān an, daß die Juden und die Christen verworfen sind, indem er sagt: „... nicht derer, denen du zürnst, und nicht der Irrenden“ (Sure 1:7, MH). Warum ist das so?

      24 In einem Kommentar zum Qurʼān heißt es: „Das Volk der Schrift ging in die Irre: Die Juden brachen ihren Bund und verleumdeten Maria und Jesus ..., und die Christen erhoben Jesus, den Apostel, auf eine Stufe mit Gott“ durch die Trinitätslehre (Sure 4:153-176, The Holy Qur-an, Abdullah Yusuf Ali [AYA]).

      25. Welche parallelen Gedanken sind im Qurʼān und in der Bibel enthalten?

      25 Die Hauptlehre des Islams ist — ganz einfach ausgedrückt — als Schahada oder Glaubensbekenntnis bekannt, das jeder Muslim auswendig kann: „La ilāh illa Allāh; Muḥammad rasūl Allāh“ (Kein Gott außer Allah; Muḥammad ist der Gesandte Allahs). Das stimmt mit dem Qurʼān-Text überein: „Euer Gott ist ein Einiger Gott; es ist kein Gott außer Ihm, dem Gnädigen, dem Barmherzigen“ (Sure 2:164, HA). Dieser Gedanke wurde schon 2 000 Jahre vorher in der Aufforderung an Israel zum Ausdruck gebracht: „Höre, o Israel: Jehova, unser Gott, ist e i n Jehova“ (5. Mose 6:4). Jesus wiederholte dieses wichtigste der Gebote (Markus 12:29) etwa 600 Jahre vor Muḥammad, und er hat niemals behauptet, Gott zu sein oder gleich groß zu sein wie er (Markus 13:32; Johannes 14:28; 1. Korinther 15:28).

      26. (a) Was halten die Muslime von der Dreieinigkeit? (b) Ist die Dreieinigkeitslehre biblisch?

      26 Über die Einzigartigkeit Gottes heißt es im Qurʼān: „Glaubet also an Allah und Seine Gesandten, und saget nicht: ‚Drei.‘ Lasset ab — ist besser für euch. Allah ist nur ein Einiger Gott“ (Sure 4:172, HA). Zu beachten ist indessen, daß das wahre Christentum keine Dreieinigkeit lehrt. Diese Lehre stammt aus dem Heidentum und wurde nach dem Tod Christi und der Apostel von abgefallenen Christen eingeführt. (Siehe Kapitel 11.)e

      Seele, Auferstehung, Paradies und Höllenfeuer

      27. Was sagt der Qurʼān über die Seele und über die Auferstehung? (Vergleiche dazu 3. Mose 24:17, 18; Prediger 9:5, 10; Johannes 5:28, 29.)

      27 Der Islam lehrt, daß der Mensch eine Seele hat, die in einem Jenseits weiterlebt. Im Qurʼān wird gesagt: „Allah nimmt die Seelen (der Menschen) hin zur Zeit ihres Absterbens und (auch) derer, die nicht gestorben sind, während ihres Schlafs. Dann hält Er die zurück, über die Er den Tod verhängt hat“ (Sure 39:43, HA). Gleichzeitig spricht Sure 75 nur von der „Qiyāmah“ (HA) oder der „Auferstehung“ (MH). Sie lautet auszugsweise: „Ich rufe zum Zeugen den Tag der Auferstehung ... Wähnt der Mensch, daß Wir seine Gebeine nicht sammeln werden? ... Er fragt: ‚Wann wird der Tag der Auferstehung sein?‘ ... Und da sollte Er [Allah] nicht imstande sein, die Toten ins Leben zu rufen?“ (Sure 75:2, 4, 7, 41, HA).

      28. Was sagt der Qurʼān über die Hölle? (Siehe dazu Hiob 14:13; Jeremia 19:5; 32:35; Apostelgeschichte 2:25-27; Römer 6:7, 23.)

      28 Nach dem Qurʼān kann die Seele verschiedene Geschicke haben: Sie kann entweder in einen himmlischen Paradiesesgarten oder zur Strafe in eine Feuerhölle kommen. Im Qurʼān heißt es: „Sie fragen: ‚Wann wird der Tag des Gerichtes sein?‘ Es wird der Tag sein, an dem sie im Feuer gepeinigt werden. ‚Kostet nun eure Pein. Das ist’s, was ihr zu beschleunigen wünschtet‘ “ (Sure 51:13-15, HA). „Für sie [die Sünder] ist eine Strafe im Leben hienieden; und die Strafe des Jenseits ist gewiß härter, und sie werden keinen Beschützer haben vor Allah“ (Sure 13:35, HA). Die Frage wird aufgeworfen: „Und was lehrt dich wissen, was das ist? — Ein rasendes Feuer“ (Sure 101:11, 12, HA). Dieses schreckliche Geschick wird eingehend beschrieben: „Die Unseren Zeichen Glauben versagen, die werden Wir bald ins Feuer stoßen. Sooft ihre Haut verbrannt ist, geben Wir ihnen eine andere Haut, damit sie die Strafe auskosten. Wahrlich, Allah ist allmächtig, allweise“ (Sure 4:57, HA). Eine andere Beschreibung der Hölle lautet: „Wahrlich, die Hölle ist ein Hinterhalt ... die auf endlose Zeit darin bleiben müssen. Sie werden dort weder Erquickung noch Getränk kosten, es sei denn siedendes Wasser und stinkende Flüssigkeit“ (Sure 78:22, 24-26, HA).

      29. Stelle die islamische Lehre über die Seele und ihr Geschick der biblischen Lehre gegenüber.

      29 Die Muslime glauben, daß das Leben mit dem Tod nicht aufhört. Die Seele des Toten geht hinter den barzakh oder die „Schranke“, an den „Ort oder in den Zustand, in dem die Menschen nach dem Tod und vor dem Gericht sein werden“ (Sure 23:99, 100, AYA, Fußnote). Dort ist die Seele bei Bewußtsein, und wenn der Mensch böse gewesen ist, erlebt er, was die „Züchtigung des Grabes“ genannt wird, oder wenn er gläubig gewesen ist, ist er dort glücklich. Die Gläubigen erleiden jedoch auch eine gewisse Qual, weil sie im Leben ein wenig gesündigt haben. Am Gerichtstag wird das ewige Schicksal eines jeden entschieden, womit dieser Zwischenzustand enden wird.f

      30. Was wird im Qurʼān den Gerechten verheißen? (Siehe dazu Jesaja 65:17, 21-25; Lukas 23:43; Offenbarung 21:1-5.)

      30 Dagegen werden den Gerechten himmlische Paradiesesgärten verheißen: „Die aber glauben und gute Werke tun, die wollen Wir in Gärten führen, durch die Ströme fließen, darin sie ewig weilen und immerdar“ (Sure 4:58, HA). „Siehe, des Paradieses Bewohner werden sich in Geschäften ergötzen, sie und ihre Gattinnen, in Schatten auf Ruhebetten sich lehnend“ (Sure 36:55, 56, MH). „Und wahrlich, wir schrieben in den Psalmen nach (der Offenbarung) der Ermahnung: ‚Erben sollen die Erde meine gerechten Diener.‘ “ In der Fußnote zu dieser Sure wird der Leser auf Psalm 37:29 verwiesen (Sure 21:105, MH). (In einem englischen Koran wird in der Fußnote außerdem noch auf Psalm 25:13 und 37:11 sowie auf die Worte Jesu in Matthäus 5:5 aufmerksam gemacht [AYA].) Die Erwähnung der Gattinnen veranlaßt uns, uns jetzt einer anderen Frage zuzuwenden.

      Monogamie oder Polygamie?

      31. Was sagt der Qurʼān über die Polygamie? (Siehe dazu 1. Korinther 7:2; 1. Timotheus 3:2, 12.)

      31 Ist die Polygamie bei den Muslimen die Regel? Der Qurʼān gestattet zwar die Polygamie, doch viele Muslime haben nur eine Frau. Wegen der vielen Witwen, die nach blutigen Schlachten zurückblieben, erlaubte der Qurʼān die Polygamie: „Und wenn ihr fürchtet, ihr würdet nicht gerecht gegen die Waisen handeln, dann heiratet Frauen, die euch genehm dünken, zwei oder drei oder vier; und wenn ihr fürchtet, ihr könnt nicht billig handeln, dann (heiratet nur) eine oder was eure Rechte besitzt“ (Sure 4:4, HA). In der Muḥammad-Biographie von Ibn Hischam wird berichtet, daß Muḥammad die 15 Jahre ältere reiche Witwe Chadidscha ehelichte. Nach ihrem Tod heiratete er viele Frauen. Als er starb, hinterließ er 9 Witwen.

      32. Was ist die mutʽah?

      32 Im Islam gibt es noch eine andere Eheform, mutʽah genannt. Sie ist „ein besonderer Vertrag, der zwischen einem Mann und einer Frau abgeschlossen wird für eine Zeitehe und mit einem festgelegten Brautpreis wie bei einem Vertrag für eine Dauerehe“ (Muṣṭafā al-Rāfiʽī, Islamuna). Die Sunniten nennen sie eine Genußehe und die Schiiten eine Zeitehe. In dem erwähnten Werk heißt es: „Die Kinder [aus einer solchen Ehe] sind legitim und haben die gleichen Rechte wie Kinder aus einer Dauerehe.“ Die Zeitehe war anscheinend zur Zeit Muḥammads schon üblich, und er erlaubte sie. Die Sunniten behaupten, daß sie später verboten wurde, während die Imamiten, die größte Gruppe der Schiiten, die Auffassung vertreten, daß diese Eheform immer noch besteht. Tatsächlich wird sie von vielen praktiziert, besonders wenn ein Mann längere Zeit von seiner Frau weg ist.

      Der Islam und das tägliche Leben

      33. Welches sind die Pfeiler des Islam und des Glaubens?

      33 Der Islam beruht auf fünf Pfeilern oder Hauptpflichten und auf sechs grundlegenden Glaubenssätzen. (Siehe Kästen, Seite 296, 303.) Eine dieser Pflichten besteht darin, daß der fromme Muslim täglich fünfmal gegen Mekka hin betet (Salat). Am muslimischen Sabbat (Freitag) gehen die Männer zum Gebet in die Moschee, sobald sie den mahnenden Ruf des Muezzins vom Minarett der Moschee hören. In vielen Moscheen ruft heute nicht mehr ein Mensch, sondern der Ruf kommt von einem Tonband.

      34. Was ist eine Moschee, und wie wird sie verwendet?

      34 Die Moschee (arabisch: masjid) ist die Anbetungsstätte der Muslime. König Fahd bin Abdul Aziz [Asis] von Saudi-Arabien beschrieb sie als „den Eckstein für die Anrufung Gottes“. Er bezeichnete die Moschee als „Stätte des Gebets, des Studiums, der rechtlichen und juristischen Aktivitäten, der Besprechungen, der Predigt, Belehrung, Erziehung und Vorbereitung. ... Die Moschee ist das Herz der muslimischen Gesellschaft.“ Moscheen gibt es jetzt in der ganzen Welt. Eine der berühmtesten in der Geschichte ist die Mezquita (Moschee) in Córdoba (Spanien). Jahrhundertelang war sie die größte in der Welt. In ihrer Mitte erhebt sich jetzt eine katholische Kathedrale.

      Auseinandersetzungen mit und innerhalb der Christenheit

      35. Wie standen sich früher der Islam und der Katholizismus gegenüber?

      35 Vom 7. Jahrhundert an expandierte der Islam westwärts bis Nordafrika und ostwärts bis nach Pakistan, Indien und Bangladesch und noch weiter bis Indonesien. (Siehe die Karte auf dem vorderen Vorsatz.) Diese Ausbreitung brachte ihn in Konflikt mit der militanten katholischen Kirche, die Kreuzzüge organisierte, um den Muslimen das Heilige Land zu entreißen. Im Jahre 1492 beendeten Königin Isabella und König Ferdinand von Spanien die katholische Rückeroberung Spaniens. Die Muslime und die Juden mußten sich bekehren, sonst wurden sie aus Spanien vertrieben. Die gegenseitige Duldung, die unter der muslimischen Herrschaft in Spanien bestanden hatte, verflüchtigte sich unter dem Einfluß der katholischen Inquisition. Der Islam überlebte jedoch, und im 20. Jahrhundert ist er neu belebt worden und hat großes Wachstum zu verzeichnen.

      36. Welche Situation bestand in der katholischen Kirche, während sich der Islam ausbreitete?

      36 Während sich der Islam ausbreitete, machte die katholische Kirche eine schwierige Zeit durch in dem Bemühen, ihre Schäfchen beisammenzuhalten. Zwei starke Kräfte brachen sich jedoch Bahn, die das festgefügte Bild jener Kirche zertrümmerten. Das waren das Drucken mit beweglichen Lettern und die Bibel in der Sprache des Volkes. Im nächsten Kapitel wird die weitere Zersplitterung der Christenheit durch diese und andere Einflüsse behandelt werden.

      [Fußnoten]

      a „Qurʼān“ (deutsch: „Koran“, was „Lesung“ bedeutet) ist die Schreibweise, die von muslimischen Schriftstellern bevorzugt wird; auch wir werden diese Schreibweise gebrauchen. Es gilt zu beachten, daß der Qurʼān ursprünglich in Arabisch verfaßt wurde und daß es im Deutschen keine allgemein anerkannte Übersetzung davon gibt. Bei den Zitaten bedeutet die erste Zahl das Kapitel oder die Sure, die zweite den Vers.

      b Die Muslime glauben, daß die Bibel göttliche Offenbarungen enthalte, daß später aber einige davon gefälscht worden seien.

      c Die deutsche Schreibweise des Namens des Propheten ist Mohammed, die arabische jedoch ist Muḥammad. Die meisten muslimischen Quellen bevorzugen Muḥammad, und diese Schreibweise gebrauchen auch wir. Türkische Muslime bevorzugen Muhammed.

      d Die Muslime zählen die Jahre von der Hedschra an (A. H. [lateinisch: Anno Hegirae, Jahr der Flucht]) und nicht von Christi Geburt an (n. Chr. oder u. Z. [unserer Zeitrechnung]).

      e Weiteren Aufschluß über die Dreieinigkeit und die Bibel findet der Leser in der Broschüre Sollte man an die Dreieinigkeit glauben?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1989.

      f In bezug auf die Themen Seele und Hölle vergleiche man folgende Bibeltexte: 1. Mose 2:7; Hesekiel 18:4; Apostelgeschichte 3:23. Siehe auch Unterredungen anhand der Schriften, Seite 213—220, 386—390, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1985.

      [Kasten auf Seite 285]

      Der Qur’ān und die Bibel

      „Er hat herabgesandt zu dir das Buch mit der Wahrheit, bestätigend das, was ihm vorausging; und vordem sandte Er herab die Thora und das Evangelium als eine Richtschnur für die Menschen; und Er hat herabgesandt das Entscheidende“ (Sure 3:4, HA).

      „Fast alle historischen Erzählungen im Qur’ān finden in der Bibel eine Parallele ... Folgende Gestalten des Alten Testaments spielen eine wichtige Rolle: Adam, Noah, Abraham (er wird etwa 70mal in 25 verschiedenen Suren genannt, und sein Name erscheint als Überschrift der 14. Sure), Ismael, Lot, Joseph (ihm ist die 12. Sure gewidmet), Moses (sein Name erscheint in 34 verschiedenen Suren), Saul, David, Salomo, Elia, Hiob und Jona (mit seinem Namen ist die 10. Sure überschrieben). Die Erzählung von Adams Erschaffung und Sündenfall wird 5mal erwähnt, die Sintflut 8mal und Sodom 8mal. Der Koran weist mehr Parallelen zum Pentateuch auf als zu irgendeinem anderen Teil der Bibel. ...

      Von den Gestalten des Neuen Testaments werden nur Sacharja, Johannes der Täufer, Jesus (ʽĪsa) und Maria hervorgehoben. ...

      Eine vergleichende Studie der ... Koranerzählungen und der biblischen Erzählungen ... zeigt keine Wortabhängigkeit [kein wörtliches Zitat]“ (History of the Arabs).

      [Kasten auf Seite 291]

      Die drei Quellen der Belehrung und Wegleitung

      Der Heilige Qurʼān soll Muḥammad durch den Engel Gabriel geoffenbart worden sein. Bedeutungsinhalt und Worte des Qurʼān in Arabisch gelten als inspiriert.

      Hadith oder Sunna, „die Taten, Aussprüche und das unausgesprochene Gutheißen (taqrīr) des Propheten ... im 2. Jahrhundert [A. H.] in der Form niedergeschriebener Hadithe festgelegt. Ein Hadith ist daher eine Aufzeichnung von einer Handlung oder von Aussprüchen des Propheten.“ Er kann auch auf die Handlungen oder Aussprüche eines der „Gefährten“ des Propheten oder ihrer „Nachfolger“ angewandt werden. In einem Hadith gilt nur der Bedeutungsinhalt als inspiriert (History of the Arabs).

      Die Scharia oder das kanonische Recht, das auf Grundsätzen des Qurʼān basiert, regelt das ganze Leben eines Muslims, sowohl im religiösen als im politischen und im sozialen Bereich. „Alle Handlungen des Menschen werden in fünf Kategorien eingeordnet: 1. was als absolute Pflicht (farḍ) angesehen wird [es sind Handlungen, deren Verrichtung belohnt und deren Unterlassung bestraft wird]; 2. empfehlenswerte oder verdienstliche Handlungen (mustaḥabb) [Handlungen, deren Unterlassung nicht bestraft, deren Verrichtung aber belohnt wird]; 3. indifferente Handlungen (jāʼiz, mubāḥ), deren Verrichten oder Unterlassen das Gesetz vollkommen freistellt; 4. verwerfliche Handlungen (makrūh), d. h. Handlungen, die zwar nicht strafbar sind, aber vom religiösen Standpunkt aus mißbilligt werden müssen; 5. verbotene Handlungen (ḥarām), d. h. strafbare Handlungen“ (History of the Arabs).

      [Kasten auf Seite 296]

      Die sechs Pfeiler des Glaubens

      1. Der Glaube an Allah, den Einen Gott (Sure 23:117, 118, HA)

      2. Der Glaube an Seine Engel (Sure 2:178, HA)

      3. Die geoffenbarten Schriften: Thora, Evangelium, Psalmen, Rollen Abrahams, Qur’ān

      4. Der Glaube an viele Propheten, doch nur an eine Botschaft. Adam war der erste Prophet. Weitere waren z. B. Abraham, Moses, Jesus und „das Siegel der Propheten“ — Muḥammad (Sure 4:137; 33:41, HA)

      5. Das jüngste Gericht: Alle Toten werden aus ihren Gräbern auferweckt werden

      6. Gottes Bestimmung von Gut und Böse. Es geschieht nichts, was Gott nicht beschlossen hat

      [Kasten auf Seite 303]

      Die fünf Pfeiler des Islam

      1. Rezitieren des Glaubensbekenntnisses (Schahada): „Es ist kein Gott außer Allah, und Muḥammad ist der Gesandte Allahs“ (Sure 33:41, HA)

      2. Das Gebet (Salat), fünfmal täglich mit Blickrichtung gegen Mekka (Sure 2:145, HA)

      3. Das Geben von Almosen (Sakat), die Verpflichtung, einen gewissen Prozentsatz von seinem Einkommen und von gewissen Besitztümern zu geben (Sure 24:57, HA)

      4. Das Fasten (Saum), besonders während des Fastenmonats Ramadan (Sure 2:184-186, HA)

      5. Die Wallfahrt (Hadsch). Einmal im Leben soll der Muslim nach Mekka pilgern. Nur Krankheit und Armut gelten als Befreiungsgründe (Sure 3:98, HA)

      [Kasten/Bild auf Seite 304, 305]

      Der Bahaismus strebt nach Welteinheit

      1 Der Bahaismus ist keine Sekte des Islams, sondern er ist aus dem Babismus hervorgegangen, einer Gruppe in Persien (heute Iran), die sich im Jahre 1844 von dem schiitischen Zweig des Islams abgespalten hat. Der Führer der Babis war Mirza Ali Muhammad aus Schiras, der den Anspruch erhob, der Bab („das Tor“) und der Imam-Mahdi (der unter göttlicher Leitung Stehende) zu sein, aus der Linie Muḥammads. Er wurde im Jahre 1850 von der persischen Regierung hingerichtet. 1863 trat Mirsa Hosain Ali Nuri, ein prominentes Mitglied der Babi-Gruppe, als „ ‚der Gottesbote hervor‘, den Bab vorverkündet hatte“. Auch nannte er sich Baha Ullah („Glanz Gottes“) und gründete eine neue Religion, den Bahaismus.

      2 Baha Ullah wurde aus Persien ausgewiesen und schließlich in Akko (heute Acre, Israel) eingesperrt. Dort schrieb er sein Hauptwerk Kitāb-i Aqdas (Das heiligste Buch) und formulierte die umfassende Lehre des Bahaismus. Als Baha Ullah starb, übernahm sein Sohn Abd Al Baha und darauf sein Enkel Schaughi Efendi Rabbani die Leitung der neuen Religion, und 1963 ging sie an einen gewählten Vorstand über, der als „Universales Haus der Gerechtigkeit“ bekannt wurde.

      3 Die Bahais glauben, daß Gott sich dem Menschen durch „göttliche Manifestationen“ geoffenbart habe, z. B. habe er sich in Abraham, Moses, Krischna, Zoroaster, Buddha, Jesus, Muḥammad, Bab und Baha Ullah manifestiert. Sie glauben, daß diese Boten kamen, um die Menschheit durch einen Entwicklungsprozeß zu führen, in dem mit Bab eine neue Weltzeit für die Menschheit begann. Die Bahais sagen, daß seine Botschaft bis heute die umfassendste Offenbarung des Willens Gottes sei und daß sie das wichtigste von Gott gegebene Instrument sei, durch das Welteinheit möglich werde (1. Timotheus 2:5, 6).

      4 Eine der Hauptlehren der Bahais ist, „daß alle großen Religionen der Welt göttlichen Ursprungs sind, daß sie in ihren grundlegenden Lehren einheitlich sind“. Sie „unterscheiden sich nur in unwichtigen Aspekten ihrer Lehren“ (2. Korinther 6:14-18; 1. Johannes 5:19, 20).

      5 Die Bahais glauben, daß Gott e i n e r ist, daß die Seele unsterblich ist und daß sich die Menschheit entwickelt hat (biologisch, geistig und sozial). Dagegen lehnen sie die allgemeine Auffassung über Engel ab. Sie lehnen auch die Dreieinigkeit ab, die Seelenwanderungslehre des Hinduismus und daß der Mensch durch Sünde seine Vollkommenheit verlor und durch das Blut Jesu Christi losgekauft wurde (Römer 5:12; Matthäus 20:28).

      6 Weitere wichtige Grundsätze des Bahaismus lauten: Alle Menschen sind Brüder, und Mann und Frau sind gleichberechtigt. Die Bahais leben monogam. Mindestens einmal täglich beten sie eines der drei Gebete, die Baha Ulla geoffenbart hat. Während der 19 Tage des Bahai-Monats ʽAlā, der auf den März fällt, fasten sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. (Der Kalender der Bahais hat 19 Monate zu je 19 Tagen, mit gewissen Schalttagen.)

      7 Der Bahaismus hat nicht viele feste Rituale, auch hat er keine Geistlichkeit. Jeder, der Glauben an Baha Ullah bekennt und seine Lehren annimmt, kann Mitglied werden. Die Bahais versammeln sich am ersten Tag jedes Bahai-Monats zur gemeinsamen Andacht.

      8 Die Bahais sehen ihre Aufgabe in der geistigen Eroberung der Welt. Sie sind bestrebt, ihren Glauben durch Gespräche, Beispiel, Teilnahme an Gemeindeprojekten und Aufklärungsfeldzüge zu verbreiten. Sie müssen den Gesetzen des Landes, in dem sie wohnen, absolut gehorchen, und obgleich sie wählen, beteiligen sie sich nicht an Politik. Sie ziehen es vor, in den Streitkräften waffenlosen Dienst zu leisten, verweigern aber nicht den Wehrdienst aus Gewissensgründen.

      9 Der Bahaismus, der eine Missionsreligion ist, hat sich in den letzten paar Jahren rasch ausgebreitet. Die Bahais schätzen, daß es weltweit annähernd 5 000 000 Gläubige gibt, doch die Zahl der erwachsenen Bahais beträgt gegenwärtig nur etwas mehr als 2 300 000.

      [Studienfragen]

      1, 2. Wie ist der Bahaismus entstanden?

      3—7. (a) Was glauben die Bahais? (b) Wie unterscheiden sich die Glaubensanschauungen der Bahais von den Lehren der Bibel?

      8, 9. Was sehen die Bahais als ihre Aufgabe an?

      [Bild]

      Das Bahai-Heiligtum im Hauptsitz in Haifa (Israel)

      [Bilder auf Seite 286]

      Nach muslimischer Tradition soll Muḥammad von diesem Felsen im Felsendom in Jerusalem aus in den Himmel aufgefahren sein

      [Bilder auf Seite 289]

      Muslimische Pilger in Mekka schreiten siebenmal um die Kaaba und berühren oder küssen den schwarzen Stein (unten links)

      [Bild auf Seite 290]

      Um den Qurʼān zu lesen, muß man Arabisch können

      [Bilder auf Seite 298]

      Im Uhrzeigersinn von oben links: Felsendom in Jerusalem; Moscheen in Iran, Südafrika und in der Türkei

      [Bilder auf Seite 303]

      Die Mezquita in Córdoba war einmal die größte Moschee der Welt (in ihrer Mitte erhebt sich jetzt eine katholische Kathedrale)

  • Die Reformation — Die Suche nach Gott auf neuen Wegen
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 13

      Die Reformation — Die Suche nach Gott auf neuen Wegen

      1, 2. (a) Wie wird in einem Buch über die Reformation die römisch-katholische Kirche des Mittelalters beschrieben? (b) Welche Fragen in bezug auf den Zustand der katholischen Kirche werden aufgeworfen?

      „DAS Tragische an der mittelalterlichen Kirche war, daß sie nicht mit der Zeit ging. ... Da fehlte es an fortschrittlichem Denken und an jeder geistlichen Führung. Sie war rückschrittlich und dekadent, verderbt an Haupt und Gliedern.“ Dieses Urteil wird in dem Buch The Story of the Reformation über die mächtige römisch-katholische Kirche gefällt, die vom 5. bis zum 15. Jahrhundert u. Z. den größten Teil Europas beherrschte.

      2 Wie kam es, daß die römisch-katholische Kirche ihre überragende Machtstellung verlor und dekadent und verderbt wurde? Wie kam es, daß es das Papsttum, das die apostolische Nachfolge beansprucht, an jeder „geistlichen Führung“ fehlen ließ? Und wohin führte dieses Versagen? Um eine Antwort zu erhalten, müssen wir kurz untersuchen, was für eine Kirche sie geworden war und welche Rolle sie bei der Suche der Menschheit nach dem wahren Gott gespielt hat.

      Die Kirche auf dem Tiefpunkt

      3. (a) Wie waren am Ende des 15. Jahrhunderts die Besitzverhältnisse der katholischen Kirche? (b) Wie suchte die Kirche ihren Glanz und ihre Herrlichkeit zu erhalten?

      3 Am Ende des 15. Jahrhunderts war die katholische Kirche mit den Pfarrgemeinden und den Klöstern in ihrem ganzen Gebiet die reichste Grundbesitzerin ganz Europas. Es wurde berichtet, daß ihr in Frankreich und Deutschland die Hälfte des Bodens gehörte und in Schweden und England mindestens zwei Fünftel. Was war die Folge? „In den letzten Jahren des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts entfaltete Rom eine ungeheure Pracht, und zeitweilig genoß das Papsttum große politische Bedeutung“, heißt es in dem Buch A History of Civilization. Dieser Glanz hatte jedoch seinen Preis, und um ihn zu erhalten, mußte der Papst neue Wege der Geldbeschaffung finden. Der Historiker Will Durant beschreibt einige dieser Wege:

      „So mußte man als Entgelt für die Berufung zu einem geistlichen Amt als Antrittsgebühr die Hälfte des ersten Jahreseinkommens und dann alljährlich ein Zehntel desselben an die Kurie — den päpstlichen Verwaltungsapparat — entrichten. Das Pallium — das weißwollene Band, das als Zeichen der erzbischöflichen Würde über dem Meßgewand getragen wird — kostete einen neu ernannten Erzbischof eine hohe Gebühr. Starb ein Kardinal, Erzbischof, Bischof oder Abt, so fiel sein gesamter persönlicher Nachlaß an den päpstlichen Stuhl. ... Für jede Vergünstigung und jedes Urteil erwartete die Kurie eine Gegenleistung, und gerichtliche Entscheide hingen nicht selten von deren Höhe ab.“

      4. Wie wirkten sich die der Kirche zufließenden Reichtümer auf das Papsttum aus?

      4 Die großen Summen, die Jahr um Jahr in die Kasse der Kurie flossen, führten schließlich zu schlimmen Mißständen und zu Korruption. Es kursierte das Wort: Nicht einmal ein Papst kann mit Pech hantieren, ohne sich die Finger zu beschmieren. In dieser Zeit wurde die Kirche, wie ein Historiker sich ausdrückte, von „einer Reihe ausgesprochen weltlich gesinnter Päpste“ regiert. Zu diesen Päpsten zählten Sixtus IV. (Papst von 1471 bis 1484), der für den Bau der nach ihm benannten Sixtinischen Kapelle und die Bereicherung seiner vielen Neffen und Nichten große Summen ausgab; Alexander VI. (Papst von 1492 bis 1503), der berüchtigte Rodrigo de Borja (Borgia), der sich öffentlich zu seinen unehelichen Kindern bekannte und sie förderte; Julius II. (Papst von 1503 bis 1513), ein Neffe von Sixtus IV., er beschäftigte sich mehr mit Kriegen, der Politik und der Kunst als mit seinen kirchlichen Aufgaben. Mit vollem Recht konnte der niederländische Gelehrte Erasmus, selbst Katholik, im Jahre 1518 schreiben: „Die Schamlosigkeit der römischen Kurie hat ihren Gipfel erreicht.“

      5. Was geht aus zeitgenössischen Berichten über die Sittlichkeit der Geistlichen hervor?

      5 Aber nicht nur die Päpste waren korrupt und unsittlich. Damals hieß es allgemein: „Wer seinen Sohn zugrunde richten will, der lasse ihn Priester werden.“ Das wird durch zeitgenössische Berichte bestätigt. Nach Durant betrug der Anteil der geistlichen Sünder, die 1499 in England wegen Unkeuschheit vor Gericht erschienen, „etwa 23 Prozent aller Angeklagten, obgleich die Geistlichen nur etwa 2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Es gab Beichtväter, die an ihre weiblichen Beichtkinder unkeusche Zumutungen stellten. Die Zahl der Priester, die sich Konkubinen hielten, ging in die Tausende; in Deutschland hatte fast jeder Geistliche eine Beischläferin.“ (Vergleiche 1. Korinther 6:9-11; Epheser 5:5.) Auch auf anderen Gebieten kam es zu Entgleisungen. Ein Spanier, der in jener Zeit lebte, soll sich wie folgt beschwert haben: „Die Diener Christi machen fast alles nur gegen Geld; die Taufe kostet Geld ... die Trauung kostet Geld, die Beichte kostet Geld — ja sogar die Letzte Ölung kostet Geld. Sie läuten die Glocken nur gegen Bezahlung, sie begraben Tote nur gegen Bezahlung. Es sieht so aus, als wäre den Armen, die kein Geld haben, das Paradies verschlossen.“ (Vergleiche 1. Timotheus 6:10.)

      6. Wie hat Machiavelli die katholische Kirche beschrieben? (Römer 2:21-24).

      6 Der Zustand, in dem sich die katholische Kirche zu Beginn des 16. Jahrhunderts befand, wird in den Worten Machiavellis, eines berühmten italienischen Philosophen jener Zeit, wie folgt umrissen:

      „Wäre von den Häuptern der christlichen Republik unsere Religion erhalten worden, wie sie der Stifter gab, so würden die christlichen Staaten und Länder viel glücklicher sein als jetzt. Allein, wodurch ließe sich mit mehr Sicherheit auf ihr Sinken schließen, als wenn man sieht, daß die Völker, welche der römischen Kirche, dem Haupte unserer Religion, am nächsten sind, am wenigsten Religion haben?“

      Erste Bemühungen um eine Reform

      7. Welche schwachen Bemühungen unternahm die Kirche, um einige der Mißstände abzuschaffen?

      7 Die Krise blieb aber nicht nur Männern wie Erasmus und Machiavelli, sondern auch der Kirche selbst nicht verborgen. Es wurden Kirchenkonzilien einberufen, die sich mit einigen der Klagen befaßten und Mißstände abschafften. Doch die Ergebnisse waren nicht von Dauer. Die Päpste, die sich in ihrer Macht und ihrem Glanz sonnten, behinderten tatkräftige Bemühungen, die Kirche zu reformieren.

      8. Was war die Folge davon, daß die Kirche fast alles beim alten ließ?

      8 Wäre die Kirche ernsthafter darangegangen, „Hausputz“ zu machen, hätte es vielleicht keine Reformation gegeben. Die Rufe nach Reformen aus den eigenen Reihen und von außerhalb waren jedoch nicht mehr zu überhören. Im 11. Kapitel wurde bereits über die Waldenser und die Albigenser gesprochen. Man verdammte sie zwar als Ketzer und rottete sie auf grausame Weise aus, aber sie hatten das Volk wachgerüttelt, so daß es sich mit den Mißständen unter dem katholischen Klerus nicht mehr abfand; auch weckten die „Ketzer“ im Volk den Wunsch, zur Bibel zurückzukehren. Diese Strömung führte zum Auftreten einer Anzahl von Vorreformatoren.

      Proteste aus den eigenen Reihen

      9. Wer war John Wyclif, und wogegen predigte er?

      9 John Wyclif (1330 [?] bis 1384), oft als „Morgenstern der Reformation“ bezeichnet, war katholischer Priester und Professor der Theologie in Oxford (England). Er sah die Mißstände in der Kirche und schrieb und predigte gegen die Sittenfäulnis in den Mönchsorden, gegen die päpstlichen Steuern und gegen die Lehre von der Transsubstantiation (die Behauptung, daß sich das Brot und der Wein bei der Messe buchstäblich in den Leib und das Blut Jesu Christi verwandeln), gegen die Beichte und gegen die Einmischung der Kirche in weltliche Angelegenheiten.

      10. Wie bewies Wyclif seine Liebe zur Bibel?

      10 Wyclif sprach besonders scharf gegen die Nachlässigkeit der Kirche, das Volk in der Bibel zu unterweisen. Einmal sagte er: „Wollte Gott, daß jede Pfarrkirche dieses Landes eine gute Bibel hätte und gute Auslegungen des Evangeliums und daß die Priester sie sorgfältig lesen und das Volk wirklich das Evangelium und die Gebote Gottes lehren würden.“ Deshalb begann Wyclif in den letzten Jahren seines Lebens, die Vulgata ins Englische zu übersetzen. Mit der Unterstützung seiner Freunde, besonders des Nikolaus von Hereford, schuf er die erste vollständige Bibel in englischer Sprache. Das war zweifellos Wyclifs größter Beitrag zur Suche der Menschheit nach Gott.

      11. (a) Was leisteten die Anhänger Wyclifs? (b) Wie verfuhr man mit den Lollarden?

      11 Die Schriften Wyclifs und Teile der Bibel wurden von Predigern, die als „arme Priester“ bezeichnet wurden, weil sie einfach gekleidet waren, barfuß gingen und ohne materiellen Besitz waren, in ganz England verbreitet. Man nannte sie auch spöttisch Lollarden; das Wort stammt von dem mittelniederländischen Wort Lollaerd („einer, der Gebete oder Hymnen murmelt“) (Brewer’s Dictionary of Phrase and Fable). In dem Buch The Lollards heißt es: „Schon nach wenigen Jahren waren sie ziemlich zahlreich.“ „Man schätzte, daß mindestens ein Viertel des Volkes diese Gedanken direkt oder indirekt unterstützte.“ All das blieb der Kirche natürlich nicht verborgen. Wyclif genoß bei den Regierenden und den Gelehrten großes Ansehen, was erklärt, daß er in Frieden sterben durfte, und zwar am letzten Tag des Jahres 1384. Seine Nachfolger kamen nicht so gut davon. Zur Zeit der Herrschaft des englischen Königs Heinrich IV. wurden sie als Ketzer gebrandmarkt, und viele wurden eingekerkert, gefoltert oder verbrannt.

      12. Wer war Johannes Hus, und wogegen predigte er?

      12 Stark beeinflußt von John Wyclif wurde auch der aus Böhmen (Tschechoslowakei) stammende Johannes Hus (1369 [?] bis 1415), ebenfalls katholischer Priester und zudem auch Rektor der Universität in Prag. Wie Wyclif, so predigte auch Hus gegen die Verderbtheit der katholischen Kirche und legte großen Nachdruck auf das Lesen der Bibel. Dadurch zog er sich rasch den Zorn der Hierarchie zu. Im Jahre 1403 wurde ihm von der Obrigkeit verboten, über die papstfeindlichen Ideen Wyclifs zu predigen, auch wurden die Bücher Wyclifs öffentlich verbrannt. Hus fuhr jedoch fort, kirchliche Bräuche wie den Ablaßhandela aufs schärfste zu verurteilen. Im Jahre 1410 wurde über ihn der Kirchenbann ausgesprochen.

      13. (a) Was lehrte Hus über die wahre Kirche? (b) Was geschah mit Hus, weil er sich weigerte zu widerrufen?

      13 Hus stand kompromißlos für die Bibel ein. „Sich gegen einen irrenden Papst aufzulehnen heißt Christus gehorchen“, schrieb er. Auch lehrte er, daß die wahre Kirche nicht der Papst und die Hierarchie sei, sondern „alle Erwählten, der symbolische Leib Christi, dessen Haupt Christus ist, und die Braut Christi, die er aus großer Liebe mit seinem eigenen Blut erlöst hat“. (Vergleiche Epheser 1:22, 23; 5:25-27.) Wegen all dieser Lehren mußte er sich auf dem Konzil von Konstanz verantworten und wurde dann als Ketzer verurteilt. Er erklärte, es sei besser, wohl zu sterben, als böse zu leben, und weigerte sich zu widerrufen. So wurde er im Jahre 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das gleiche Konzil befahl auch, Wyclifs Gebeine auszugraben und zu verbrennen, obschon er bereits über 30 Jahre tot und begraben war.

      14. (a) Wer war Girolamo Savonarola? (b) Was versuchte Savonarola zu errichten, und was geschah mit ihm?

      14 Ein weiterer Vorreformator war der Dominikanermönch Girolamo Savonarola (1452—1498) vom Kloster San Marco in Florenz (Italien). Erfaßt vom Geist der italienischen Renaissance, predigte Savonarola gegen die Verderbtheit der Kirche und des Staates. Er behauptete, sich auf die Heilige Schrift zu stützen sowie auf Visionen und Offenbarungen, die er angeblich erhalten hatte, und strebte danach, einen christlichen Staat oder eine theokratische Ordnung zu errichten. Im Jahre 1497 wurde er vom Papst exkommuniziert. Im darauffolgenden Jahr wurde er verhaftet, gefoltert und gehenkt. Seine letzten Worte waren: „Mein Herr starb für meine Sünden; sollte ich da nicht mit Freuden mein armseliges Leben für ihn dahingeben?“ Sein Leichnam wurde verbrannt und die Asche in den Arno gestreut. Savonarola sagte treffend von sich, er sei „ein Vorläufer und ein Opfer“. Nur wenige Jahre darauf fegte die Reformation wie ein Sturm über Europa hinweg.

      Ein entzweites Haus

      15. Welche Entzweiung bewirkte die Reformation in der Christenheit Westeuropas?

      15 Als schließlich der Sturm der Reformation losbrach, zertrümmerte er das religiöse Haus der Christenheit in Westeuropa. Einst war Westeuropa fast ganz von der römisch-katholischen Kirche beherrscht, doch nun wurde es gespalten. Italien, Spanien, Österreich und Teile von Frankreich blieben hauptsächlich katholisch. Die Bevölkerung des übrigen Europa gehörte drei verschiedenen Konfessionen an: In Deutschland und Skandinavien war sie lutherisch; in der Schweiz, in den Niederlanden, in Schottland und in gewissen Gebieten Frankreichs kalvinisch (oder reformiert) und in England anglikanisch. Dazwischen verstreut gab es noch andere, kleinere, aber radikalere Gruppen wie die Wiedertäufer (Anabaptisten) und später die Mennoniten, die Hutterer und die Puritaner, die ihren Glauben nach Nordamerika mitnahmen.

      16. Was widerfuhr schließlich der Christenheit? (Markus 3:25).

      16 Im Laufe der Jahre zersplitterten diese Hauptgruppen in die Hunderte von Denominationen, die es heute gibt: Presbyterianer, Episkopale, Methodisten, Baptisten, Kongregationalisten, um nur einige wenige zu nennen. Die Christenheit wurde wahrhaftig ein entzweites Haus. Wie kam es zu einer solchen Entzweiung?

      Luther und seine Thesen

      17. Welches Datum könnte man für den Beginn der Reformation nennen?

      17 Müßte man ein bestimmtes Datum für den Beginn der Reformation nennen, so wäre es der 31. Oktober 1517, als der Augustinermönch Martin Luther (1483—1546) seine 95 Thesen an die Tür der Schloßkirche in Wittenberg (Sachsen) schlug. Doch was hatte dieses dramatische Ereignis provoziert? Wer war Martin Luther? Und wogegen protestierte er?

      18. (a) Wer war Martin Luther? (b) Wodurch wurde Luther veranlaßt, seine Thesen zu publizieren?

      18 Martin Luther war ein Mönch und Gelehrter wie Wyclif und Hus. Ferner war er Doktor der Theologie und Professor der Schriftauslegung an der Universität in Wittenberg. Luther war berühmt für sein Verständnis der Bibel. Er dachte nicht an eine Loslösung von der katholischen Kirche, obschon er eine feste Überzeugung hatte in bezug auf das Thema Rechtfertigung durch den Glauben und nicht durch Werke oder das Verrichten von Buße. Er publizierte die Thesen als Reaktion auf einen bestimmten Vorfall und nicht, um gegen die Kirche aufzustehen. Sein Protest richtete sich gegen den Ablaßhandel.

      19. Für wen wurden die Ablaßbriefe zur Zeit Luthers verkauft?

      19 Zur Zeit Luthers wurden die päpstlichen Ablaßbriefe nicht nur für die Lebenden verkauft, sondern auch für die Verstorbenen. „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt“, lautete ein Sprichwort. Für das allgemeine Volk wurde ein Ablaßbrief fast eine Versicherung gegen Strafe für jede Sünde, und die Reue trat völlig zurück. „Überall wird Nachlaß der Fegfeuerqualen verkauft“, schrieb Erasmus, „er wird aber nicht nur verkauft, sondern er wird denen, die ihn ablehnen, sogar aufgezwungen.“

      20. (a) Warum zog Johannes Tetzel nach Jüterbog? (b) Wie reagierte Luther auf Tetzels Ablaßhandel?

      20 Im Jahre 1517 kam der Dominikanermönch Johannes Tetzel nach Jüterbog in der Nähe von Wittenberg, um Ablaßbriefe zu verkaufen. Das Geld, das so einging, diente zum Teil der Finanzierung des Neubaus der Peterskirche in Rom, und zum Teil erhielt es Albrecht von Brandenburg, damit er das geborgte Geld, das er für das Amt des Erzbischofs von Mainz der Kurie hatte bezahlen müssen, zurückgeben konnte. Tetzel bot seine ganze Redegewandtheit auf, und das Volk strömte herbei. Luther war empört, und er benutzte das rascheste Mittel, um öffentlich seine Meinung über den ganzen Ablaßzirkus kundzutun — er schlug an die Tür der Wittenberger Schloßkirche 95 Sätze gegen den Ablaß an, die er zur Erörterung stellte.

      21. Welche Argumente gebrauchte Luther gegen den Ablaßhandel?

      21 Luther sagte von seinen 95 Thesen, sie seien zur Disputation gestellt, um die Kraft des Ablasses zu klären. Er hatte nicht die Absicht, die Autorität der Kirche herauszufordern, sondern er wollte nur auf die Übertreibungen und Mißbräuche des Handels mit den päpstlichen Ablässen hinweisen. Das ist aus folgenden Thesen ersichtlich:

      „5. Der Papst will und kann keine Strafen erlassen, außer solchen, die er auf Grund seiner eigenen Entscheidung ... auferlegt hat. ...

      20. Daher meint der Papst mit dem vollkommenen Erlaß aller Strafen nicht einfach den Erlaß sämtlicher Strafen, sondern nur derjenigen, die er selbst auferlegt hat. ...

      36. Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlaß von Strafe und Schuld, auch ohne Ablaßbrief.“

      22. (a) Was geschah, als sich Luthers Gedanken verbreiteten? (b) Was wurde im Jahre 1520 über Luther verhängt, und was war die Folge?

      22 Mit der Hilfe des kurz vorher erfundenen Buchdrucks gelangte dieses explosive Gedankengut bald in andere Teile Deutschlands — und auch nach Rom. Was als akademische Disputation über den Ablaßhandel begann, wurde bald zum Streit über Glaubensfragen und die päpstliche Autorität. Anfänglich verhandelte die Kirche mit Luther und forderte ihn auf zu widerrufen. Als Luther sich weigerte, wurden die kirchlichen und die staatlichen Obrigkeiten gegen ihn mobil gemacht. 1520 erließ der Papst eine Bannbulle gegen Luther, in der er ihm verbot zu predigen und in der er die Verbrennung seiner Bücher befahl. Voller Verachtung verbrannte Luther die päpstliche Bannbulle öffentlich. Der Papst exkommunizierte ihn im Jahre 1521.

      23. (a) Was war der Reichstag in Worms? (b) Mit welchen Worten vertrat Luther seinen Standpunkt, und was geschah danach?

      23 Später in jenem Jahr mußte Luther vor dem Reichstag, der Versammlung der Reichsstände, in Worms erscheinen. Er verantwortete sich vor Karl V., Kaiser des Römischen Reiches, einem überzeugten Katholiken, und sechs Kurfürsten sowie anderen religiösen und politischen Würdenträgern. Als er erneut aufgefordert wurde zu widerrufen, antwortete er mit den berühmten Worten: „Es sei denn, daß ich durch Zeugnis der Schrift überwunden werd’ oder aber durch offenbare Gründe — ... Deshalben nichts mag noch will widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln, unsicher und gefährlich ist. ... Gott helfe mir! Amen.“ Demzufolge wurde über Luther die Reichsacht verhängt. Doch Kurfürst Friedrich von Sachsen griff ein und bot ihm auf der Wartburg eine Zuflucht.

      24. Was schuf Luther auf der Wartburg?

      24 Diese Maßnahmen konnten indessen nicht verhindern, daß sich Luthers Gedanken ausbreiteten. In den zehn Monaten, die Luther verborgen auf der Wartburg zubrachte, verfaßte er Schriften und übersetzte die Bibel. Er benutzte für seine Übersetzung der Griechischen Schriften (Neues Testament) den griechischen Text von Erasmus. Die Hebräischen Schriften (Altes Testament) folgten später. Luthers Bibel war genau das, was das Volk brauchte. Es wurde berichtet, daß „in zwei Monaten 5 000 Exemplare davon verkauft wurden, 200 000 in 12 Jahren“. Diese Bibel hat einen ebenso großen Einfluß auf die deutsche Sprache und Kultur ausgeübt wie die King James Version auf die englische.

      25. (a) Wie entstand die Bezeichnung Protestanten? (b) Was ist das Augsburger Bekenntnis?

      25 In den Jahren nach dem Reichstag in Worms gewann die Reformation immer größeren Anhang, so daß der Kaiser 1526 jedem Reichsstand erlaubte, selbst zu entscheiden, ob er lutherisch oder katholisch sein wolle. Im Jahre 1529 jedoch beantragte der Kaiser, daß der Beschluß des Reichstags von 1526 aufgehoben werde, wogegen einige Fürsten protestierten; so entstand für die Reformationsbewegung die Bezeichnung Protestanten. Im Jahr darauf, 1530, auf dem Reichstag in Augsburg, bemühte sich der Kaiser, die beiden Parteien zu versöhnen. Die Lutheraner legten ihre Glaubenssätze im sogenannten Augsburger Bekenntnis dar, verfaßt von Philipp Melanchthon, doch gestützt auf die Lehren Luthers. Obschon das Dokument in höchst versöhnlichem Ton abgefaßt war, lehnte es die katholische Kirche ab, und der Bruch zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus wurde unüberbrückbar. Viele deutsche Fürsten stellten sich auf die Seite Luthers, und in Skandinavien tat man dasselbe.

      Reform oder Revolte?

      26. In welchen grundsätzlichen Punkten waren gemäß Luther die Protestanten und die Katholiken uneins?

      26 In welchen grundsätzlichen Punkten waren die Protestanten und die Katholiken uneins? Nach Luther waren es drei: Erstens glaubte Luther, daß das Heil die Folge der „Rechtfertigung allein durch den Glauben“ sei (lateinisch: sola fide)b und nicht der priesterlichen Absolution oder von Werken der Buße. Zweitens glaubte er, daß Vergebung nur durch die Gnade Gottes (sola gratia) erlangt werde und nicht durch die Macht von Priestern oder Päpsten. Drittens behauptete Luther, daß alle Lehrpunkte in der Heiligen Schrift bezeugt werden müßten (sola scriptura) und nicht von Päpsten oder Konzilien.

      27. (a) Welche unbiblischen katholischen Lehren und Bräuche wurden von den Protestanten beibehalten? (b) Welche Änderungen verlangten die Protestanten?

      27 Luther hat aber dennoch, wie die Catholic Encyclopedia schreibt, „alles vom alten Glauben und der alten Liturgie beibehalten, was zu seiner eigenartigen Auffassung von Sünde und Rechtfertigung paßte“. Im Augsburger Bekenntnis heißt es über den lutherischen Glauben: „Diese Lehre [ist] in der Heiligen Schrift klar begründet ... und außerdem [widerspricht sie] der allgemeinen christlichen, ja auch der römischen Kirche, soweit das aus den Schriften der Kirchenväter festzustellen ist, nicht.“ Der lutherische Glaube, wie er im Augsburger Bekenntnis dargelegt wird, umfaßt unbiblische Lehren wie die Dreieinigkeit, die Unsterblichkeit der Seele und die ewige Qual sowie Bräuche wie die Kindertaufe und kirchliche Feiertage und Feste. Andererseits verlangten die Lutheraner gewisse Änderungen, so zum Beispiel, daß den Laien das Abendmahl in beiderlei Gestalt gereicht werde und daß das Zölibat, die Klostergelübde sowie der Beichtzwang abgeschafft würden.c

      28. Worin hatte die Reformation Gelingen, und worin nicht?

      28 Insgesamt gesehen, gelang es durch die Reformation, wie sie von Luther und seinen Anhängern verfochten wurde, das päpstliche Joch abzuschütteln. Jesus sagte jedoch gemäß Johannes 4:24: „Gott ist ein GEIST, und die ihn anbeten, müssen ihn mit Geist und Wahrheit anbeten.“ Man kann sagen, daß die Menschheit auf der Suche nach dem wahren Gott von Martin Luther an neue Wege ging; doch vom schmalen Weg der Wahrheit war man noch weit entfernt (Matthäus 7:13, 14; Johannes 8:31, 32).

      Zwinglis Reformation in der Schweiz

      29. (a) Wer war Ulrich Zwingli, und wogegen predigte er? (b) Worin unterschied sich Zwinglis Reformation von der Luthers?

      29 Während Luther gegen die päpstlichen Abgesandten und die staatliche Obrigkeit in Deutschland kämpfte, begann der katholische Priester Ulrich Zwingli (1484—1531) seine Reformation in Zürich. Da dieses Gebiet deutschsprachig war, standen die Leute bereits unter dem Einfluß der Reformwoge aus dem Norden. Um das Jahr 1519 begann Zwingli, gegen den Ablaßhandel, den Marienkult, das Zölibat und andere Lehren der katholischen Kirche zu predigen. Obwohl Zwingli behauptete, von Luther unabhängig zu sein, stimmte er doch in vielerlei Hinsicht mit Luther überein und verteilte Luthers Schriften unter das Volk. Im Gegensatz zu dem konservativeren Luther vertrat Zwingli jedoch die Meinung, daß mit allen Spuren der katholischen Kirche aufgeräumt werden müsse — den Bildern, Kruzifixen, geistlichen Gewändern und sogar der liturgischen Musik.

      30. In welchem Hauptpunkt waren sich Zwingli und Luther uneins?

      30 Uneinig waren sich die beiden Reformatoren in der Frage des Abendmahls oder der Kommunion. Luther beharrte darauf, daß Jesu Worte „dies ist mein Leib“ buchstäblich zu verstehen seien, daß der Leib und das Blut Christi auf wunderbare Weise in dem Brot und dem Wein, die beim Abendmahl gereicht werden, gegenwärtig seien. Zwingli dagegen behauptete in seiner Schrift über das Abendmahl, diese Worte Jesu seien „symbolisch oder bildlich zu verstehen“; „das ist mein Leib“ heißt „das Brot bedeutet meinen Leib“ oder „ist ein Sinnbild meines Leibes“. Wegen dieser Meinungsverschiedenheit gingen die beiden Reformatoren getrennte Wege.

      31. Was war die Folge der Tätigkeit Zwinglis in der Schweiz?

      31 Zwingli predigte seine reformatorischen Lehren in Zürich und erreichte dort viele Veränderungen. Bald folgten auch andere Städte seiner Führung, aber die Bevölkerung der ländlichen „Orte“, konservativ in ihrer Einstellung, hielt zum größten Teil am Katholizismus fest. Die Spannungen zwischen den Katholiken und den Reformierten wurden so groß, daß es schließlich zum Bürgerkrieg kam. Zwingli, der das Heer als Feldgeistlicher begleitete, fiel 1531 in der Schlacht von Kappel (Kanton Zürich). Als endlich Frieden geschlossen wurde, versprachen die reformierten und die katholischen Kantone, jeden bei seinem Glauben zu lassen.

      Die Wiedertäufer, die Mennoniten und die Hutterer

      32. Wer waren die Wiedertäufer, und warum nannte man sie so?

      32 Es gab jedoch Protestanten, denen die Reformatoren in ihrer Ablehnung der Mängel in der papistischen Kirche nicht konsequent genug erschienen. Sie glaubten, daß die christliche Kirche nur aus den praktizierenden Gläubigen bestehen sollte, die sich taufen lassen würden, und nicht aus der ganzen Bevölkerung einer Gemeinde oder eines Landes. Sie verwarfen daher die Kindertaufe und forderten die Trennung von Kirche und Staat. Heimlich tauften sie Mitgläubige, und so erhielten sie den Namen Wiedertäufer (Anabaptisten; das griechische Wort ana bedeutet „wieder“). Weil sie es ablehnten, Waffen zu tragen, zu schwören und obrigkeitliche Ämter zu übernehmen, galten sie als eine Gefahr für die Gesellschaft und wurden sowohl von den Katholiken als auch von den Protestanten gehaßt und verfolgt.

      33. (a) Warum ging man mit Gewalt gegen die Wiedertäufer vor? (b) Wie verbreitete sich der Einfluß der Wiedertäufer?

      33 Anfänglich lebten die Wiedertäufer in kleinen Gruppen, die über die Schweiz, über Deutschland und die Niederlande zerstreut waren. Da sie ihren Glauben überall, wohin sie gingen, predigten, wuchs ihre Zahl schnell. Eine Gruppe Wiedertäufer, von religiösem Eifer ergriffen, gab ihre pazifistische Einstellung auf und brachte 1534 die Stadt Münster in ihre Gewalt. Sie versuchte, ein Neues Jerusalem zu errichten, in dem Gütergemeinschaft und Polygamie herrschen sollten. Diesem Regiment wurde brutal ein schnelles Ende bereitet. Doch das Ganze schadete dem Ansehen der Wiedertäufer sehr, und sie wurden so gut wie ausgerottet. Aber in Wirklichkeit waren die meisten Wiedertäufer einfache, fromme Menschen, die sich bemühten, ein stilles und ruhiges Leben zu führen. Besser organisiert als die Wiedertäufer waren die Mennoniten, die aus ihnen hervorgingen, Anhänger des niederländischen Reformators Menno Simons, und die Hutterer unter dem Tiroler Jakob Huter. Um einer Verfolgung zu entgehen, wanderten einige von ihnen nach Osteuropa aus — nach Polen, Ungarn und Rußland —, andere nach Nordamerika, wo aus ihnen schließlich die Gemeinden der Hutterer und der Amischen hervorgingen.

      Die Entstehung des Kalvinismus

      34. (a) Wer war Johannes Calvin? (b) Welches wichtige Buch verfaßte er?

      34 In der Schweiz machte die Reformation unter Führung des Franzosen Jean Cauvin oder Johannes Calvin (1509 bis 1564) weitere Fortschritte. Calvin kam während seiner Studienzeit in Frankreich mit den Lehren des Protestantismus in Berührung. Im Jahre 1534 verließ er Paris, um der religiösen Verfolgung zu entgehen, und ließ sich in Basel nieder. Er schrieb zur Verteidigung des Protestantismus die Institutio Christianae Religionis, in der er die Gedanken der alten Kirchenväter und der mittelalterlichen Theologen zusammenfaßte sowie die Lehren Luthers und Zwinglis. Das Werk wurde die Dogmatik aller reformierten Kirchen, die später in Europa und in Amerika gegründet wurden.

      35. (a) Wie erklärte Calvin seine Prädestinationslehre? (b) Wie spiegelte sich die Strenge dieser Lehre in anderen Aspekten seiner Lehren wider?

      35 In der Institutio legte er auch seine Theologie dar. Gott ist für Calvin der absolute Souverän, dessen Wille alles bestimmt und beherrscht. Der Mensch dagegen ist sündig und völlig unwürdig. Das Heil ist deshalb nicht von den guten Werken des Menschen abhängig, sondern von Gott — das erklärt Calvins Prädestinationslehre, über die er schrieb:

      „Was also die Schrift klar zeigt, sagen wir: daß durch einen ewigen und unveränderlichen Ratschluß Gott einmal festgesetzt hat, welche er einst einmal zum Heile annehmen, umgekehrt, welche er dem Untergang weihen wollte. Wir behaupten, daß dieser Ratschluß, sofern er sich auf die Erwählten bezieht, in seiner gnädigen Barmherzigkeit ohne irgendwelche Rücksicht auf menschliche Würdigkeit begründet ist. Denen aber, die er der Verdammnis überantwortet, wird durch einen freilich gerechten und unanfechtbaren, aber unverstehbaren Richterspruch Gottes selbst der Zugang zum Leben verschlossen.“

      Die Strenge einer solchen Lehre spiegelt sich auch auf anderen Gebieten wider. Gemäß Calvin müssen Christen ein heiliges und tugendhaftes Leben führen. Sie müssen sich nicht nur der Sünde, sondern auch der Genüsse und jeglicher Leichtfertigkeit enthalten. Ferner erklärte er, daß die Kirche, die aus den Erwählten bestehe, von allen staatlichen Restriktionen befreit werden müsse und daß nur durch die Kirche eine wahrhaft gottgefällige Gesellschaft errichtet werden könne.

      36. (a) Was beabsichtigten Calvin und Farel aus Genf zu machen? (b) Welche strengen Vorschriften wurden erlassen? (c) Welcher berüchtigte Fall war die Folge von Calvins drastischen Maßnahmen, und wie rechtfertigte er sein Vorgehen?

      36 Kurz nachdem Calvin seine Institutio veröffentlicht hatte, wurde er von Guillaume Farel (ebenfalls ein Reformator aus Frankreich) überredet, sich in Genf niederzulassen. Gemeinsam bemühten sie sich, den Kalvinismus zu verwirklichen. Sie beabsichtigten, aus Genf eine Stadt Gottes zu machen, eine Theokratie oder Gottesherrschaft, indem die Aufgaben der Kirche und des Staates miteinander vereint wurden. Sie erließen für alles strenge Vorschriften, die bei Nichtbeachtung Strafen nach sich zogen, angefangen von der religiösen Unterweisung und dem Gottesdienst in der Kirche bis hin zu der öffentlichen Moral, ja sogar für solche Dinge wie Gesundheitswesen und Brandschutz. In einem Geschichtswerk wird berichtet, daß „eine Friseuse zum Beispiel zwei Tage ins Gefängnis mußte, weil sie eine Braut in einer Weise frisiert hatte, die als unziemlich empfunden wurde, ebenso erging es der Mutter und zwei Freundinnen, die der Friseuse geholfen hatten. Der Stadtrat bestrafte auch Tanzen und Kartenspielen.“ Hart ging man mit denen um, die Calvins Theologie widersprachen. Der berüchtigtste Fall ist der des Spaniers Miguel Serveto (Michel Servet), der verbrannt wurde. (Siehe Kasten, Seite 322.)

      37. Wie kam es, daß sich Calvins Einfluß weit über die Grenzen der Schweiz hinaus erstreckte?

      37 Calvin vertrat in Genf bis zu seinem Tod im Jahre 1564 sein reformiertes Bekenntnis, und die reformierte Kirche wurde fest begründet. Protestantische Reformatoren, die anderswo verfolgt wurden, kamen nach Genf, lernten die Lehren Calvins kennen und riefen dann reformatorische Bewegungen in ihren Heimatländern ins Leben. Der Kalvinismus verbreitete sich bald in Frankreich, wo die Hugenotten (Bezeichnung für die französischen kalvinistischen Protestanten) von den Katholiken grausam verfolgt wurden. In den Niederlanden trugen die Kalvinisten zur Gründung der Niederländischen Reformierten Kirche bei. In Schottland wurde unter der Führung eines ehemaligen Priesters, des eifrigen John Knox, die kalvinistisch ausgerichtete presbyterianische Kirche von Schottland gegründet. Der Kalvinismus spielte auch bei der Reformation in England eine Rolle, und von dort aus wurde er durch die Puritaner nach Nordamerika getragen. Man kann sagen, daß Calvin einen größeren Einfluß auf die Entwicklung der Reformation hatte als Luther, obschon Luther sie in Gang setzte.

      Die Reformation in England

      38. Wie wurde in England der protestantische Geist durch die Tätigkeit John Wyclifs geweckt?

      38 Die Reformation in England war keine Folge der reformatorischen Bewegungen in Deutschland und in der Schweiz, vielmehr wurzelte sie in der Zeit John Wyclifs, der durch seine Predigten gegen den Klerus und dadurch, daß er der Bibel große Wichtigkeit beimaß, den protestantischen Geist in England geweckt hatte. Er hatte begonnen, die Bibel ins Englische zu übersetzen, und andere folgten seinem Beispiel. William Tyndale, der aus England fliehen mußte, schuf im Jahre 1526 sein Neues Testament. Er wurde später in Antwerpen verraten, worauf man ihn erdrosselte und seine Leiche verbrannte. Miles Coverdale vollendete Tyndales Übersetzung, und im Jahre 1535 erschien dann die gesamte Bibel. Die Veröffentlichung der Bibel in der Sprache des Volkes trug zweifellos am meisten dazu bei, daß es in England zu einer Reformation kam.

      39. Was hat Heinrich VIII. zur Reformation in England beigetragen?

      39 Zum formellen Bruch mit dem römischen Katholizismus kam es, als Heinrich VIII. (1491—1547), dem der Papst den Titel Beschützer des Glaubens verliehen hatte, sich im Jahre 1534 durch die Suprematsakte zum Oberhaupt der Kirche von England machte. Heinrich hob auch die Klöster auf und verteilte ihren Besitz unter die Adligen. Außerdem befahl er, in jede Kirche eine Bibel in englischer Sprache zu legen. Heinrichs Vorgehen war indessen eher politisch als religiös motiviert. Er wollte von der päpstlichen Autorität unabhängig sein, besonders in bezug auf seine ehelichen Angelegenheiten.d Er blieb, abgesehen vom Namen, durch und durch Katholik.

      40. (a) Welche Veränderungen gingen während der Herrschaft Elisabeths I. in der Kirche von England vor sich? (b) Welche abweichenden Gruppen entstanden schließlich in England, in den Niederlanden und in Nordamerika?

      40 Erst während der langen Regierungszeit (1558—1603) Elisabeths I. wurde die Kirche von England in bezug auf das Glaubensbekenntnis und die Verkündigung protestantisch, in bezug auf die Verfassung blieb sie aber weitgehend katholisch. Sie löste sich vom Papst, schaffte das Zölibat, die Ohrenbeichte und andere katholische Bräuche ab, behielt indessen die bischöfliche Verfassung mit ihren Erzbischöfen, Bischöfen sowie den Mönchs- und Nonnenorden bei.e Dieses Festhalten am Alten rief eine beträchtliche Unzufriedenheit hervor, und so entstanden verschiedene abweichende Gruppen. Die Puritaner forderten eine durchgreifendere Reform, um die Kirche von allen katholisierenden Elementen zu reinigen; die Separatisten und die Independenten bestanden darauf, daß die einzelnen Gemeinden von örtlichen Ältesten (Presbytern) geleitet wurden. Viele der Dissenters flohen in die Niederlande oder nach Nordamerika, wo sie ihre Kongregationalistenkirchen und ihre baptistischen Kirchen aufbauten. In England entstanden auch die Gesellschaft der Freunde (Quäker) unter George Fox (1624—1691) und die Methodisten unter John Wesley (1703—1791). (Siehe die Abbildung unten.)

      Wie hat sich die Reformation ausgewirkt?

      41. (a) Wie hat sich die Reformation nach Meinung einiger Gelehrter auf die Geschichte ausgewirkt? (b) Welche wichtigen Fragen werden aufgeworfen?

      41 Nachdem wir die drei großen Richtungen der Reformation — Lutheraner, Kalvinisten und Anglikaner — besprochen haben, müssen wir uns überlegen, was die Reformation erreicht hat. Unzweifelhaft ist die Geschichte der westlichen Welt durch sie verändert worden. „Die Reformation hat bei den Menschen einen Freiheitsdurst hervorgerufen und hat sie zu besseren Bürgern gemacht. Wo sich der Protestantismus ausgebreitet hat, haben die Massen stärker auf ihre Rechte gepocht“, schrieb John F. Hurst in seinem Buch Short History of the Reformation. Viele Gelehrte sind überzeugt, daß es ohne die Reformation die westliche Zivilisation, die wir heute haben, nicht gäbe. Aber trotz allem müssen wir uns fragen: Was hat die Reformation in religiöser Hinsicht erreicht? Was hat sie in bezug auf die Suche der Menschheit nach dem wahren Gott bewirkt?

      42. (a) Welche Leistung der Reformation ist zweifellos die wertvollste? (b) Was muß man sich bezüglich des wahren Wertes der Reformation fragen?

      42 Die wertvollste Leistung der Reformation ist zweifellos, daß sie dem Volk die Bibel in seiner Sprache zugänglich gemacht hat. Zum erstenmal konnten die Menschen das ganze Wort Gottes lesen und sich dadurch geistig ernähren. Aber natürlich ist mehr nötig, als die Bibel zu lesen. Hat die Reformation die Menschen sowohl vom päpstlichen Joch als auch von Irrlehren und den irrigen Dogmen, die sie jahrhundertelang glauben mußten, befreit? (Johannes 8:32).

      43. (a) An welchen Glaubensbekenntnissen halten die meisten der heutigen protestantischen Kirchen fest? (b) Wie haben sich der freie Geist und die Unterschiedlichkeit als Folge der Reformation auf die Suche der Menschheit nach dem wahren Gott ausgewirkt?

      43 Fast alle protestantischen Kirchen halten an den drei Glaubensbekenntnissen fest: dem Nizäum, dem Athanasianum und dem Apostolikum, in denen zum Beispiel die Dreieinigkeit, die unsterbliche Seele und das Höllenfeuer bekannt werden — jahrhundertealte Lehren des Katholizismus. Diese unbiblischen Lehren vermittelten den Menschen ein falsches Bild von Gott und seinem Vorsatz. Anstatt den Menschen bei ihrer Suche nach dem wahren Gott zu helfen, haben die zahlreichen Sekten und Denominationen, die als Folge des freien Geistes der protestantischen Reformation entstanden sind, sie in die verschiedensten Richtungen gelenkt. Die Unterschiedlichkeit und Verwirrung hat sogar viele veranlaßt, an der Existenz Gottes zu zweifeln. Das Ergebnis? Die Entstehung einer atheistischen und agnostizistischen Strömung im 19. Jahrhundert. Das wird das Thema unseres nächsten Kapitels sein.

      [Fußnoten]

      a Handel mit päpstlichen Ablaßbriefen.

      b Luther war der Gedanke von der „Rechtfertigung allein durch den Glauben“ so wichtig, daß er in seiner Übersetzung von Römer 3:28 das Wort „allein“ einfügte. Er hatte auch seine Zweifel am Brief des Jakobus, weil es darin heißt, daß „der Glaube ohne Werke tot“ sei (Jakobus 2:17, 26). Er ließ hierbei außer acht, daß Paulus von jüdischen Gesetzeswerken sprach (Römer 3:19, 20, 28).

      c Im Jahre 1525 heiratete Martin Luther Katharina von Bora, eine ehemalige Nonne, die aus einem Zisterzienserkloster geflüchtet war. Sie hatten sechs Kinder. Luther gab drei Gründe für seine Heirat an: seinem Vater zu gefallen, den Papst und den Teufel zu ärgern und vor dem Martyrium sein Zeugnis zu besiegeln.

      d Heinrich VIII. hatte sechs Frauen. Entgegen den Wünschen des Papstes wurde seine erste Ehe annulliert, und eine weitere endete mit Scheidung. Zwei seiner Frauen ließ er enthaupten, und zwei starben eines natürlichen Todes.

      e Das griechische Wort epískopos wird in manchen Bibeln, z. B. in der Lutherbibel, mit „Bischof“ wiedergegeben.

      [Kasten/Bilder auf Seite 322]

      „Irrtümer von der Dreifaltigkeit“

      Mit 20 Jahren veröffentlichte der Spanier Michel Servet (1511—1553), der Jurisprudenz und Medizin studiert hatte, De trinitatis erroribus (Irrtümer von der Dreifaltigkeit), worin er erklärte, daß er „das Wort Trinität nicht gebrauchen will, weil es in der Heiligen Schrift nicht vorkommt und offenbar nur einen philosophischen Irrtum verewigt“. Er verurteilte die Trinität als eine Lehre, „die man nicht verstehen kann, die in der Natur der Dinge unmöglich ist und die man sogar als gotteslästerlich ansehen kann“.

      Weil Servet offen gegen die Trinität sprach, wurde er von der katholischen Kirche verurteilt. Verhaftet aber haben ihn die Kalvinisten, die ihm auch den Prozeß machten und ihn an einem Pfahl langsam verbrannten. Calvin rechtfertigte sein Vorgehen mit den Worten: „Wenn schon die Papisten sich als solch heftige und leidenschaftliche Verteidiger ihres Aberglaubens erweisen, daß sie in so schrecklicher Raserei unschuldiges Blut vergießen; sollte es die christliche Obrigkeit nicht mit tiefer Scham erfüllen, denselben im Eifer für die Erhaltung der rechten Wahrheit so gar nichts voraus zu haben?“ Calvins religiöser Fanatismus und sein Haß verhinderten ein gerechtes Urteil und die Anwendung christlicher Grundsätze. (Vergleiche Matthäus 5:44.)

      [Bilder]

      Johannes Calvin (links) ließ Michel Servet (rechts) als Ketzer zu Asche verbrennen

      [Übersicht auf Seite 327]

      (Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

      Vereinfachte Übersicht über die Kirchen der Christenheit

      Beginn des Abfalls - 2. Jahrhundert

      römisch-katholische Kirche

      4. Jahrhundert (Konstantin)

      5. Jahrhundert koptische Kirche

      Jakobiten

      1054 u. Z. orthodoxe Kirchen

      russisch

      griechisch

      rumänisch und andere

      16. Jahrhundert Reformation

      lutherische Kirchen

      in Deutschland

      in Schweden

      in den USA und anderswo

      Kirche von England

      Episkopalkirche

      Methodisten

      Heilsarmee

      Baptisten

      Pfingstbewegung

      Kongregationalismus

      Kalvinismus

      Presbyterianer

      reformierte Kirche

      [Bilder auf Seite 307]

      Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert: Das Bildpaar zeigt, wie Christus die Geldwechsler aus dem Tempel vertreibt, während der Papst sich die Einnahmen vom Ablaßhandel zu Füßen legen läßt

      [Bilder auf Seite 311]

      Johannes Hus auf dem Scheiterhaufen

      Der englische Reformator und Bibelübersetzer John Wyclif

      [Bilder auf Seite 314]

      Martin Luther (rechts) protestierte gegen den von dem Mönch Johannes Tetzel betriebenen Ablaßhandel

  • Der neuzeitliche Unglaube — Sollte die Suche weitergehen?
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 14

      Der neuzeitliche Unglaube — Sollte die Suche weitergehen?

      „Gott ist für die Menschen nicht mehr das, was er für sie früher war. Sie denken immer weniger an ihn, sei es im täglichen Leben oder wenn es um Entscheidungen geht. ... Gott ist durch andere Werte ersetzt worden: Einkommen und Produktivität. Früher mag er als derjenige gegolten haben, der allem menschlichen Tun einen Sinn verlieh, doch heute hat man ihn in die geheimen Verliese der Geschichte verbannt. ... Gott ist aus dem Bewußtsein der Menschen verschwunden“ (Aux Sources de L’Atheisme Contemporain [An den Quellen des heutigen Atheismus]).

      1. (Einleitung inbegriffen.) (a) Was sagt das Buch Aux Sources de L’Atheisme Contemporain (An den Quellen des heutigen Atheismus) über den Gottesglauben unter den heutigen Menschen? (b) Wieso steht der gegenwärtige Unglaube in krassem Gegensatz zu den Verhältnissen vor noch nicht allzu langer Zeit?

      NOCH vor nicht allzu langer Zeit spielte Gott im Leben der Menschen der westlichen Welt eine bedeutende Rolle. Wer gesellschaftlich anerkannt werden wollte, mußte sich gottgläubig geben, selbst wenn er nicht unbedingt nach dem handelte, was er angeblich glaubte. Zweifel und Bedenken behielt man tunlichst für sich. In der Öffentlichkeit davon zu reden hätte Entsetzen ausgelöst und sogar eine Rüge zur Folge haben können.

      2. (a) Warum haben es viele Menschen aufgegeben, nach Gott zu suchen? (b) Welche Fragen erheben sich?

      2 Heute hat sich das Blatt jedoch gewendet. Wer strenggläubig ist, gilt oft als engstirnig, dogmatisch, ja sogar als fanatisch. In vielen Ländern ist eine allgemeine Gleichgültigkeit oder Interesselosigkeit gegenüber Gott und der Religion zu beobachten. Die meisten Menschen haben die Suche nach Gott aufgegeben, weil sie entweder nicht daran glauben, daß er existiert, oder daran zweifeln. Man hat unser Zeitalter sogar als „nachchristlich“ bezeichnet. Es erheben sich daher einige Fragen: Wie ist es dazu gekommen, daß der Gottesbegriff aus dem Leben der Menschen fast völlig verschwunden ist? Welche Kräfte haben diese Änderung bewirkt? Gibt es vernünftige Gründe dafür, die Suche nach Gott fortzusetzen?

      Die Auswirkungen der Reformation

      3. Wozu hat die Reformation unter anderem geführt?

      3 Wie in Kapitel 13 gezeigt wurde, bewirkte die Reformation des 16. Jahrhunderts einen deutlichen Wandel in der Einstellung der Menschen gegenüber der kirchlichen und der weltlichen Obrigkeit. Selbstbestimmung und freie Meinungsäußerung traten an die Stelle von Konformismus und Unterwürfigkeit. Die meisten hielten zwar im großen und ganzen an der traditionellen Religion fest, wogegen andere radikalen Richtungen folgten und die Dogmen und Grundlehren der etablierten Kirchen in Frage stellten. Wieder andere, die erkannt hatten, welche Rolle die Religion in den Kriegen gespielt und wieviel Leid und Unrecht sie im Laufe der Geschichte verursacht hatte, wollten von Religion überhaupt nichts mehr wissen.

      4. (a) Was wurde in zeitgenössischen Berichten über das Ausmaß des Atheismus in England und Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert gesagt? (b) Was trat aufgrund der reformatorischen Bemühungen, das päpstliche Joch abzuschütteln, in Erscheinung?

      4 Schon im Jahre 1572 erschien unter dem Titel Discourse on the Present State of England (Abhandlung über den gegenwärtigen Zustand Englands) ein Bericht, in dem es hieß: „Das Reich ist in drei Parteien gespalten: Papisten, Atheisten und Protestanten. Alle drei werden in gleichem Maße unterstützt: die erste und die zweite, weil sie so zahlreich sind, daß es keiner von uns wagt, ihnen zu mißfallen.“ In Paris gab es nach einer Schätzung im Jahre 1623 etwa 50 000 Atheisten; man gebrauchte dieses Wort damals allerdings ziemlich freizügig. Jedenfalls traten aufgrund der reformatorischen Bemühungen, die Herrschaft der päpstlichen Autorität abzuschütteln, auch diejenigen hervor, die die Stellung der etablierten Religionen anzweifelten. Will und Ariel Durant äußern sich darüber wie folgt: „Die Denker Europas — die Vorhut des europäischen Geistes — diskutierten nicht mehr über die Autorität des Papstes; sie debattierten über die Existenz Gottes“ (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 11, zweites Buch, „Gehversuche der Vernunft“, Seite 416).

      Der Angriff der Wissenschaft und der Philosophie

      5. Welche Kräfte förderten den Unglauben?

      5 Abgesehen von der Zersplitterung innerhalb der Christenheit selbst, trugen noch andere Kräfte zur Schwächung ihrer Stellung bei. Wissenschaft, Philosophie, Säkularisierung und Materialismus förderten den Skeptizismus und erweckten Zweifel an Gott und der Religion.

      6. (a) Wie wirkten sich die zunehmenden wissenschaftlichen Kenntnisse auf viele Lehren der Kirche aus? (b) Was taten einige, die modern sein wollten?

      6 Zunehmende wissenschaftliche Kenntnisse stellten viele Lehren der Kirche, die auf einer falschen Auslegung gewisser Bibeltexte beruhten, in Frage. Astronomische Entdeckungen wie die von Kopernikus und Galilei waren eine eindeutige Herausforderung an die geozentrische Lehre der Kirche, nach der die Erde der Mittelpunkt des Universums sein sollte. Aufgrund des Verständnisses der Naturgesetze, denen die Vorgänge in der sichtbaren Welt unterworfen sind, brauchte man auch nicht mehr die bisher geheimnisvollen Phänomene wie Blitz und Donner oder das Erscheinen bestimmter Sterne und Kometen dem Wirken der Hand Gottes oder der Vorsehung zuzuschreiben. „Wunder“ und das „Eingreifen Gottes“ in die Angelegenheiten der Menschen begann man ebenfalls anzuzweifeln. Gott und die Religion kamen vielen plötzlich veraltet vor, und einige, die modern sein wollten, kehrten Gott sogleich den Rücken und strömten der Anbetung der heiligen Kuh zu, das heißt der Wissenschaft.

      7. (a) Was versetzte der Religion zweifellos den schwersten Schlag? (b) Wie reagierten die Kirchen auf den Darwinismus?

      7 Der schwerste Schlag für die Religion war zweifellos die Evolutionstheorie. Im Jahre 1859 veröffentlichte der englische Naturforscher Charles Darwin (1809—1882) sein Werk Die Entstehung der Arten — eine eindeutige Herausforderung an die biblische Lehre von der Schöpfung durch Gott. Wie reagierten die Kirchen? Anfänglich verurteilte der Klerus in England und anderswo die Theorie aufs schärfste. Doch der Widerstand ließ bald nach. Die Spekulationen Darwins schienen für viele Geistliche genau das richtige zu sein, um ihre Zweifel, die sie insgeheim schon lange gehegt hatten, zu rechtfertigen. In der Encyclopedia of Religion heißt es, daß sich die meisten Geistlichen, die sich mit dem Thema befaßten und dazu Stellung nahmen, noch zu Darwins Lebzeiten zu der Erkenntnis durchgerungen hatten, „daß die Evolution mit einem vorurteilslosen Verständnis der Heiligen Schrift zu vereinbaren sei“. Statt die Bibel zu verteidigen, gab die Christenheit dem Druck der wissenschaftlichen Lehrmeinung nach und drehte ihren Mantel nach dem Wind. Dadurch wurde der Glaube an Gott untergraben (2. Timotheus 4:3, 4).

      8. (a) Was stellten Religionskritiker des 19. Jahrhunderts in Frage? (b) Welche Theorien brachten die Religionskritiker auf? (c) Weshalb akzeptierten viele bereitwillig die antireligiösen Ansichten?

      8 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschärften die Religionskritiker ihre Angriffe. Sie gaben sich nicht mehr damit zufrieden, auf das Versagen der Kirchen hinzuweisen, sondern zweifelten auch die eigentliche Grundlage der Religion an. Sie warfen Fragen auf wie: Was ist Gott? Warum soll es einen Gott geben? Wie hat der Glaube an Gott die menschliche Gesellschaft beeinflußt? Männer wie Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche brachten ihre Argumente vom philosophischen, psychologischen und soziologischen Standpunkt aus vor. Theorien wie „Gott ist lediglich eine Projektion der Einbildung des Menschen“, „Religion ist das Opium des Volkes“ und „Gott ist tot“ klangen alle so aufregend neu im Vergleich zu den uninteressanten und unverständlichen Dogmen und Traditionen der Kirchen. Es schien, als hätten viele Leute endlich eine Möglichkeit gefunden, die Zweifel und Bedenken, die in ihrem Innern schlummerten, in Worte zu fassen. Bereitwillig nahmen sie diese Ansichten als neues Evangelium an.

      Der große Kompromiß

      9. (a) Wie reagierten die Kirchen auf die Angriffe der Wissenschaft und der Philosophie? (b) Wie wirkte sich der Kompromiß der Kirchen aus?

      9 Wie reagierten die Kirchen auf die Angriffe und die Kritik der Wissenschaft und der Philosophie? Anstatt für das einzutreten, was die Bibel lehrt, gaben sie dem Druck nach und machten sogar Zugeständnisse in bezug auf fundamentale Glaubensartikel wie die Schöpfung durch Gott und die Glaubwürdigkeit der Bibel. Was war die Folge? Die Kirchen der Christenheit wurden immer unglaubwürdiger, und viele Menschen verloren allmählich ihren Glauben. Das Versäumnis der Kirchen, sich zu verteidigen, öffnete den Massen Tür und Tor, sie zu verlassen. Für viele war die Religion nur noch ein gesellschaftliches Überbleibsel, das die Höhepunkte im Leben eines Menschen kennzeichnete: Geburt, Heirat und Tod. Viele gaben die Suche nach dem wahren Gott so gut wie völlig auf.

      10. Welche Fragen drängen sich auf?

      10 Angesichts dieser Sachlage ist es vernünftig zu fragen: Haben die Wissenschaft und die Philosophie tatsächlich das Todesurteil über den Glauben an Gott unterschrieben? Bedeutet das Versagen der Kirchen, daß die Bibel, die sie angeblich lehren, ebenfalls versagt hat? Sollte die Suche nach Gott wirklich weitergehen? Betrachten wir kurz diese Fragen.

      Die Grundlage für den Glauben an Gott

      11. (a) Welche beiden Bücher haben lange als Grundlage für den Glauben an Gott gedient? (b) Welchen Eindruck haben diese Bücher bei Menschen hervorgerufen?

      11 Man sagt, es gebe zwei Bücher, die uns Aufschluß über Gott gäben: das „Buch“ der Schöpfung oder der Natur und die Bibel. Diese beiden Bücher bildeten für Millionen Menschen in der Vergangenheit — und in der Gegenwart — die Grundlage für ihren Glauben. Im 11. Jahrhundert v. u. Z. äußerte zum Beispiel ein König, beeindruckt von der Schönheit des Sternhimmels, spontan die poetischen Worte: „Die Himmel verkünden die Herrlichkeit Gottes; und die Ausdehnung tut das Werk seiner Hände kund“ (Psalm 19:1). Im 20. Jahrhundert veranlaßte der imposante Anblick der Erde einen Astronauten, der mit seinem Raumfahrzeug den Mond umkreiste, die Worte anzuführen: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (1. Mose 1:1, Luther).

      12. Inwiefern werden das Buch der Schöpfung und die Bibel scharf kritisiert?

      12 Doch diese beiden Bücher werden von Personen, die vorgeben, nicht an Gott zu glauben, scharf kritisiert. Sie sagen, die wissenschaftliche Erforschung unserer Umwelt habe den Beweis erbracht, daß das Leben nicht durch einen intelligenten Schöpfer, sondern durch blinden Zufall und den willkürlichen Evolutionsprozeß entstanden sei. Sie behaupten, es habe keinen Schöpfer gegeben und das Thema Gott erübrige sich somit. Außerdem halten viele von ihnen die Bibel für überholt, unlogisch und daher unglaubwürdig. Folglich gibt es für sie keine Grundlage mehr für den Glauben an die Existenz Gottes. Sind aber ihre Behauptungen stichhaltig? Was beweisen die Tatsachen?

      Durch Zufall oder Planung?

      13. Was hätte geschehen müssen, damit das Leben durch Zufall hätte entstehen können?

      13 Wenn kein Schöpfer da war, müßte das Leben spontan durch Zufall entstanden sein. In diesem Fall hätten die richtigen chemischen Substanzen unter den richtigen Bedingungen zusammentreffen müssen: Mengenverhältnis, Temperatur, Druck und andere Größen; und alles hätte über genau die richtige Zeit aufrechterhalten werden müssen. Außerdem hätte sich dieses Zufallsereignis Tausende von Malen wiederholen müssen, damit auf der Erde das Leben hätte beginnen und erhalten werden können. Doch wie wahrscheinlich ist es, daß ein solches Ereignis nur einmal vorkommt?

      14. (a) Wie gering ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich auch nur ein einfaches Proteinmolekül durch Zufall bildet? (b) Wie berühren mathematische Berechnungen die Ansicht, daß das Leben spontan entstanden sei?

      14 Die Wahrscheinlichkeit, daß sich die richtigen Atome und Moleküle zufällig an einer Stelle befinden und nur ein einfaches Protein- oder Eiweißmolekül bilden, beträgt, wie Evolutionisten selbst zugeben, 1 zu 10113. 10113 ist eine 1 mit 113 Nullen. Diese Zahl ist größer als die geschätzte Gesamtzahl aller Atome im Universum. Mathematiker stufen alle Ereignisse, deren Wahrscheinlichkeit unter 1 zu 1050 liegt, so ein, als würden sie nie stattfinden. Für das Leben ist jedoch weit mehr erforderlich als ein einfaches Eiweißmolekül. Damit eine Zelle ihre Tätigkeit aufrechterhalten kann, sind etwa 2 000 verschiedene Proteine erforderlich, und die Wahrscheinlichkeit, daß alle durch Zufall entstehen, beträgt 1 zu 1040 000. „Wenn man nicht aus Überzeugung oder durch wissenschaftliche Ausbildung für die Ansicht voreingenommen ist, das Leben sei auf der Erde [spontan] entstanden, macht diese einfache Berechnung ein solches Konzept unmöglich“, schrieb der Astronom Fred Hoyle.

      15. (a) Was haben Wissenschaftler durch die Erforschung der sichtbaren Welt festgestellt? (b) Was sagte ein Professor der Physik über die Naturgesetze?

      15 Andererseits haben Wissenschaftler durch die Erforschung der sichtbaren Welt — von den winzigen Bausteinen des Atoms bis zu den riesigen Galaxien — festgestellt, daß alle bekannten Naturerscheinungen bestimmten Grundgesetzen folgen. Anders ausgedrückt, sie haben in allem, was im Universum geschieht, Logik und Ordnung entdeckt und sind imstande gewesen, diese Logik und Ordnung in einfachen mathematischen Begriffen auszudrücken. „Wissenschaftler können nicht umhin, von der beinahe unglaublichen Einfachheit und Formvollendung dieser Gesetze beeindruckt zu sein“, schrieb Paul Davies, Professor der Physik, in der Zeitschrift New Scientist.

      16. (a) Welche Konstanten gibt es bei den Naturgesetzen? (b) Was würde geschehen, wenn sich die Werte dieser Konstanten nur geringfügig veränderten? (c) Was folgerte ein Physikprofessor hinsichtlich des Universums und unserer Existenz?

      16 Außerordentlich faszinierend an diesen Gesetzen ist jedoch, daß sie bestimmte Größen beinhalten, deren Wert in dem Universum, so wie wir es kennen, genau festgelegt sein muß. Zu diesen grundlegenden Konstanten gehören die elektrische Ladung des Protons, die Masse bestimmter Elementarteilchen und auch Newtons universelle Gravitationskonstante, für die allgemein der Buchstabe G steht. Dazu sagt Professor Davies weiter: „Selbst winzigste Abweichungen bei einigen Werten würden das Erscheinungsbild des Universums drastisch verändern. Zum Beispiel hat Freeman Dyson darauf hingewiesen, daß es im Universum keinen Wasserstoff gäbe, wenn die Kraft zwischen den Nukleonen (Protonen und Neutronen) nur wenige Prozent stärker wäre. Sterne wie die Sonne — vom Wasser ganz zu schweigen — gäbe es nicht. Leben wäre unmöglich, zumindest in der Form, in der wir es kennen. Brandon Carter hat nachgewiesen, daß sich bei noch viel geringeren Veränderungen von G alle Sterne in blaue Riesen oder rote Zwerge verwandeln würden, wobei in jedem Fall die Folgen für das Leben gleich unheilvoll wären.“ Daher folgert Davies: „In diesem Fall ist es denkbar, daß es nur e i n Universum geben kann. Wenn dem so ist, ist der Gedanke beachtenswert, daß unsere eigene Existenz als bewußte Wesen eine unausweichliche logische Folgerung ist“ (Kursivschrift von uns).

      17. (a) Was lassen Planung und Zweckmäßigkeit im Universum eindeutig erkennen? (b) Wie wird dies in der Bibel bestätigt?

      17 Was können wir aus alldem ableiten? Vor allem folgendes: Wenn das Universum Gesetzen unterworfen ist, dann muß ein intelligenter Gesetzgeber dasein, der diese Gesetze formuliert oder festgelegt hat. Außerdem ist Zweckmäßigkeit eindeutig im Spiel, denn die Gesetze, die die Abläufe im Universum bestimmen, scheinen im Hinblick auf künftiges Leben und günstige Bedingungen zu dessen Erhaltung gemacht worden zu sein. Planung und Zweckmäßigkeit sind keine Merkmale des blinden Zufalls; es sind genau die Merkmale, die ein intelligenter Schöpfer erkennen lassen würde. Gerade das hebt die Bibel mit den Worten hervor: „Das, was man von Gott erkennen kann, [ist] unter ihnen offenbar ..., denn Gott hat es ihnen offenbar gemacht. Denn seine unsichtbaren Eigenschaften werden seit Erschaffung der Welt deutlich gesehen, da sie durch die gemachten Dinge wahrgenommen werden, ja seine ewigwährende Macht und Göttlichkeit“ (Römer 1:19, 20; Jesaja 45:18; Jeremia 10:12).

      Eine Fülle von Beweisen um uns herum

      18. (a) Worin ist ebenfalls Planung und Zweckmäßigkeit zu sehen? (b) Welche bekannten Beispiele intelligenter Planung können angeführt werden?

      18 Planung und Zweckmäßigkeit sind nicht nur in den geordneten Abläufen des Universums zu sehen, sondern auch im Tagesablauf einfacher und komplexer Lebewesen und darin, wie sie aufeinander und auf ihre Umwelt einwirken. Zum Beispiel sind fast alle Teile des menschlichen Körpers — Gehirn, Auge, Ohr, Hand — so kompliziert aufgebaut, daß die moderne Wissenschaft keine absolute Erklärung dafür hat. Oder denken wir nur an einige Beispiele aus der Tier- und Pflanzenwelt: die jährlichen Wanderungen gewisser Vögel, die Tausende von Kilometern über Land und Wasser zurücklegen; die Photosynthese bei Pflanzen oder die Entwicklung eines komplexen Organismus aus einer einzigen Eizelle, eines Organismus, der aus Millionen und aber Millionen differenzierter Zellen mit spezifischen Funktionen besteht — all das sind hervorragende Beweise für eine intelligente Planung.a

      19. (a) Beweist die Tatsache, daß die Wissenschaft gewisse Vorgänge erklären kann, daß es keinen intelligenten Planer gibt? (b) Was können wir durch ein Studium unserer Umwelt lernen?

      19 Aufgrund ihrer erweiterten Kenntnisse soll die Wissenschaft heute jedoch in der Lage sein, viele dieser Meisterwerke zu erklären. Es stimmt, daß man vieles, was früher ein Geheimnis war, bis zu einem gewissen Grad erklären kann. Doch wenn ein Kind herausfindet, wie eine Uhr läuft, wird dadurch noch nicht widerlegt, daß die Uhr von jemandem konstruiert worden ist. Desgleichen ist die Tatsache, daß wir viele der erstaunlichen Vorgänge in der sichtbaren Welt verstehen, kein Beweis dafür, daß kein intelligenter Planer dahintersteckt. Im Gegenteil, je mehr wir über unsere Umwelt erfahren, desto mehr häufen sich die Beweise dafür, daß es einen intelligenten Schöpfer gibt — Gott. Folglich können wir den anerkennenden Worten des Psalmisten zustimmen: „Wie viele sind deiner Werke, o Jehova! Sie alle hast du in Weisheit gemacht. Die Erde ist voll deiner Erzeugnisse“ (Psalm 104:24).

      Die Bibel — Kann man ihr glauben?

      20. Was zeigt, daß der Glaube an Gott allein nicht genügt, um jemand zu veranlassen, nach Gott zu suchen?

      20 Der Glaube an die Existenz Gottes allein bewirkt jedoch nicht, daß jemand beginnt, Gott zu suchen. Millionen Menschen haben den Glauben an Gott noch nicht völlig aufgegeben, doch das hat sie nicht bewogen, nach Gott zu suchen. Der amerikanische Meinungsforscher George Gallup jr. äußerte sich wie folgt: „Wenn es um Betrug, Steuerhinterziehung und geringfügigen Diebstahl geht, stellt man zwischen Kirchenmitgliedern und anderen Personen kaum einen Unterschied fest, da die Religion größtenteils nur noch Formsache ist.“ Er fügte hinzu: „Viele stellen sich eine Religion zusammen, die ihnen angenehm ist, ihnen schmeichelt und nicht unbedingt anspruchsvoll ist. Jemand nannte es eine Religion à la carte. Die Hauptschwäche des Christentums in diesem Land [USA] ist der Mangel an einem starken Glauben.“

      21, 22. (a) Was macht die Bibel zu einem hervorragenden Buch? (b) Welchen fundamentalen Beweis gibt es für die Glaubwürdigkeit der Bibel? Erkläre es.

      21 Diese „Hauptschwäche“ ist weitgehend auf eine mangelnde Bibelkenntnis und einen mangelnden Bibelglauben zurückzuführen. Welche Grundlage gibt es aber, an die Bibel zu glauben? Es stimmt zwar, daß die Bibel wahrscheinlich wie kein anderes Buch zu Unrecht kritisiert, mißbraucht, gehaßt und angegriffen worden ist. Sie hat aber überlebt und ist heute nachweislich das am meisten übersetzte und am weitesten verbreitete Buch. Das an sich macht die Bibel schon zu einem hervorragenden Buch. Doch außerdem gibt es eine Fülle überzeugender Beweise dafür, daß die Bibel ein von Gott inspiriertes Buch ist und unser Vertrauen verdient. (Siehe Kasten, Seite 340, 341.)

      22 Viele Leute stehen zwar mehr oder weniger auf dem Standpunkt, die Bibel sei unwissenschaftlich, voller Widersprüche und überholt, aber die Tatsachen beweisen etwas anderes. Die einzigartige Urheberschaft der Bibel, ihre geschichtliche und wissenschaftliche Genauigkeit sowie ihre unfehlbaren Prophezeiungen — all das läßt nur den einen Schluß zu: Die Bibel ist das inspirierte Wort Gottes. Der Apostel Paulus schrieb: „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert und nützlich“ (2. Timotheus 3:16).

      Dem Problem des Unglaubens begegnen

      23. Zu welcher Schlußfolgerung kommt man in bezug auf die Bibel, wenn man die Tatsachen in Betracht zieht?

      23 Was können wir aus der Betrachtung der Beweise, die uns das „Buch“ der Schöpfung und die Bibel liefern, folgern? Die einfache Tatsache, daß diese beiden Bücher heute noch genauso gültig sind wie eh und je. Wer bereit ist, objektiv, das heißt unbeeinflußt von vorgefaßten Meinungen, an die Sache heranzugehen, wird feststellen, daß jeder Einwand mit logischen Argumenten zu überwinden ist. Die Beweise sind da; man muß nur bereit sein, danach zu suchen. Jesus sagte: „Sucht unablässig, und ihr werdet finden“ (Matthäus 7:7; Apostelgeschichte 17:11).

      24. (a) Weshalb haben viele die Suche nach Gott aufgegeben? (b) Womit können wir uns trösten? (c) Was wird in den verbleibenden Kapiteln dieses Buches behandelt?

      24 Letzten Endes haben die meisten Menschen, die die Suche nach Gott eingestellt haben, sie nicht deshalb eingestellt, weil sie die Beweise sorgfältig geprüft und selbst festgestellt haben, daß die Bibel nicht die Wahrheit enthält. Nein, viele von ihnen haben die Suche aufgegeben, weil die Christenheit es versäumt hat, auf den wahren Gott der Bibel hinzuweisen. Der französische Schriftsteller P. Valadier äußerte sich darüber wie folgt: „Die christliche Tradition hat als Frucht den Atheismus hervorgebracht; durch sie wurde Gott aus dem Bewußtsein der Menschen ausgelöscht, denn sie stellte ihnen einen unglaubwürdigen Gott vor.“ Wie dem auch sei, wir können uns mit den Worten des Apostels Paulus trösten: „Was denn ist der Fall? Wird vielleicht, wenn einige nicht Glauben bekundeten, ihr Unglaube die Treue Gottes unwirksam machen? Das geschehe nie! Sondern Gott werde als wahrhaftig befunden, wenn auch jeder Mensch als Lügner erfunden werde“ (Römer 3:3, 4). Ja, alles spricht dafür, daß die Suche nach Gott weitergehen sollte. Die verbleibenden Kapitel dieses Buches weisen auf den erfolgreichen Abschluß der Suche und auf das hin, was die Zukunft der Menschheit bringt.

      [Fußnote]

      a Eine eingehende Erklärung dieser Beweise für die Existenz Gottes findet der Leser in dem Buch Das Leben — Wie ist es entstanden? Durch Evolution oder durch Schöpfung?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1985, Seite 142—178.

      [Kasten auf Seite 340, 341]

      Beweise für die Glaubwürdigkeit der Bibel

      Einzigartige Urheberschaft: Die Bibel, die von ihrem ersten Buch (1. Mose) bis zu ihrem letzten (Offenbarung) aus 66 Büchern besteht, ist von etwa 40 Schreibern abgefaßt worden, die die unterschiedlichsten Bildungsgrade hatten und den verschiedensten Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen angehörten. Geschrieben wurde sie in einem Zeitraum von 16 Jahrhunderten, von 1513 v. u. Z. bis 98 u. Z. Dennoch ist das Endergebnis ein harmonisches, zusammenhängendes Buch, in dem ein hervorragendes Thema — die Rechtfertigung Gottes und seines Vorsatzes durch das messianische Königreich — logisch entwickelt wird. (Siehe Kasten, Seite 241.)

      Historische Genauigkeit: In der Bibel aufgezeichnete Ereignisse werden durch historische Tatsachen völlig bestätigt. In dem Buch A Lawyer Examines the Bible (Ein Jurist untersucht die Bibel) wird folgendes gesagt: „Während in Romanen, Legenden und Falschaussagen das Geschehen stets an einen entfernten Ort und in eine unbestimmte Zeit verlegt wird ..., erfahren wir aus den biblischen Erzählungen ganz genau, wann und wo sich das Geschehen abspielte“ (Hesekiel 1:1-3). Und in dem Werk The New Bible Dictionary heißt es: „[Der Schreiber der Apostelgeschichte] hat seinen Bericht im Rahmen der zeitgenössischen Geschichte verfaßt; in seinen Zeilen wird häufig auf Magistrate, Prokuratoren, Klientelkönige und dergleichen hingewiesen, und diese Bezugnahmen erweisen sich immer wieder als richtig in bezug auf den Ort und die Zeit des Geschehens“ (Apostelgeschichte 4:5, 6; 18:12; 23:26).

      Wissenschaftliche Genauigkeit: Gemäß 3. Mose waren den Israeliten Gesetze über Quarantäne und Hygiene gegeben worden, als den umliegenden Völkern solche Maßnahmen noch völlig fremd waren. Der Wasserkreislauf, bei dem der Regen fällt, das Wasser ins Meer fließt und wieder verdunstet, war im Altertum nicht bekannt, aber in Prediger 1:7 wird er beschrieben. Daß die Erde kugelförmig ist und im Raum schwebt — von der Wissenschaft erst im 16. Jahrhundert nachgewiesen —, geht schon aus Jesaja 40:22 und Hiob 26:7 hervor. Über 2 200 Jahre bevor William Harvey seine Forschungsergebnisse über den Blutkreislauf veröffentlichte, wurde in Sprüche 4:23 auf die Rolle des menschlichen Herzens hingewiesen. Die Bibel ist zwar kein wissenschaftliches Lehrbuch, aber wie diese wenigen Beispiele zeigen, offenbart sie, wenn sie wissenschaftliche Themen berührt, eine gründliche Kenntnis.

      Unfehlbare Prophezeiungen: Die Zerstörung des alten Tyrus, der Sturz Babylons, der Wiederaufbau Jerusalems sowie der Aufstieg und der Untergang der Könige von Medo-Persien und Griechenland wurden so genau vorhergesagt, daß Kritiker vergeblich behauptet haben, sie seien erst nach ihrer Erfüllung niedergeschrieben worden (Jesaja 13:17-19; 44:27 bis 45:1; Hesekiel 26:3-7; Daniel 8:1-7, 20-22). Prophezeiungen über Jesus, die Jahrhunderte vor seiner Geburt gemacht wurden, erfüllten sich in allen Einzelheiten. (Siehe Kasten, Seite 245.) Jesu eigene Prophezeiungen über die Zerstörung Jerusalems erfüllten sich ganz genau (Lukas 19:41-44; 21:20, 21). Die Prophezeiungen Jesu und des Apostels Paulus über die letzten Tage erfüllen sich in unserer Zeit (Matthäus 24; Markus 13; Lukas 21; 2. Timotheus 3:1-5). Die Bibel schreibt jedoch alle diese Prophezeiungen einem einzigen Urheber zu, Jehova Gott (2. Petrus 1:20, 21).

      [Bilder auf Seite 333]

      Darwin, Marx, Freud, Nietzsche und andere stellten Theorien auf, durch die der Glaube an Gott untergraben wurde

      [Bilder auf Seite 335]

      Das „Buch“ der Schöpfung und die Bibel bilden die Grundlage für den Glauben an Gott

      [Bilder auf Seite 338]

      Je mehr wir über unsere Umwelt erfahren, desto mehr häufen sich die Beweise für einen intelligenten Schöpfer

      [Diagramm/Bild auf Seite 337]

      Das Leben und das Universum könnten nicht bestehen, wenn sich gewisse Naturkonstanten nur geringfügig veränderten

      [Diagramm]

      (Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

      BESTANDTEILE DES WASSERSTOFFATOMS

      Elektronenhülle

      PROTON + Kern

      ELEKTRON —

  • Eine Rückkehr zu dem wahren Gott
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 15

      Eine Rückkehr zu dem wahren Gott

      „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe, daß auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter euch habt“ (Johannes 13:34, 35).

      1, 2. Wie sollte sich die Liebe unter wahren Christen auswirken?

      MIT diesen Worten stellte Jesus ein Kriterium für alle auf, die den Anspruch erheben, seine wahren Nachfolger zu sein. Christliche Liebe müßte über alle Spaltungen zufolge von Rasse, Stammeszugehörigkeit und Nationalität hinausgehen. Es wäre nötig, daß wahre Christen, wenn sie eine solche Liebe ausleben, „kein Teil der Welt“ sind, so wie Jesus „kein Teil der Welt“ war und ist (Johannes 17:14, 16; Römer 12:17-21).

      2 Wie zeigt ein Christ, daß er „kein Teil der Welt“ ist? Wie sollte er beispielsweise angesichts der politischen Unruhen, der Revolutionen und der Kriege in unserer Zeit handeln? Der christliche Apostel Johannes schrieb: „Jeder, der nicht Gerechtigkeit übt, stammt nicht von Gott noch der, der seinen Bruder nicht liebt. Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, daß wir einander lieben sollten.“ Und Jesus selbst erklärte, warum seine Jünger nicht kämpften, um ihn zu befreien, denn er sagte: „Mein Königreich ist kein Teil dieser Welt. Wäre mein Königreich ein Teil dieser Welt, so hätten meine Diener gekämpft ... Nun aber ist mein Königreich nicht von daher.“ Sogar als Jesu Leben auf dem Spiel stand, ließen sich seine Gehilfen nicht darauf ein, die Differenzen wie die Welt auf kriegerische Weise beizulegen (1. Johannes 3:10-12; Johannes 18:36).

      3, 4. (a) Was prophezeite Jesaja in bezug auf den „Schlußteil der Tage“? (b) Welche Fragen bedürfen einer Antwort?

      3 Über 700 Jahre vor Christus prophezeite Jesaja, daß sich Angehörige aller Nationen zur wahren Anbetung Jehovas versammeln und den Krieg nicht mehr lernen würden. Er sagte: „Und es soll geschehen im Schlußteil der Tage, daß der Berg des Hauses Jehovas fest gegründet werden wird über dem Gipfel der Berge, ... und zu ihm sollen alle Nationen strömen. Und viele Völker werden bestimmt hingehen und sagen: ‚Kommt, und laßt uns zum Berg Jehovas hinaufziehen, zum Haus des Gottes Jakobs; und er wird uns über seine Wege unterweisen, und wir wollen auf seinen Pfaden wandeln.‘ Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen und das Wort Jehovas von Jerusalem. Und er wird gewiß Recht sprechen unter den Nationen und die Dinge richtigstellen hinsichtlich vieler Völker. Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden müssen und ihre Speere zu Winzermessern. Nation wird nicht gegen Nation das Schwert erheben, auch werden sie den Krieg nicht mehr lernen“a (Jesaja 2:2-4).

      4 Welche der Religionen der Welt hat diesen Anforderungen auf herausragende Weise entsprochen? Wer hat sich geweigert, das Kriegshandwerk zu erlernen, obwohl man sie mit Gefängnis bestraft, in Konzentrationslager geschickt und zum Tode verurteilt hat?

      Christliche Liebe und Neutralität

      5. Welchen Ruf in bezug auf die christliche Neutralität haben sich Jehovas Zeugen als einzelne erworben, und warum haben sie so gehandelt?

      5 Jehovas Zeugen sind weltweit dafür bekannt, daß sie gemäß ihrer persönlichen Gewissensentscheidung für die christliche Neutralität Stellung beziehen. Da sie ihre Liebe und Einheit, die sie als weltweite Versammlung von Christen haben, die sich zu Gott hingezogen fühlen, nicht aufgeben wollen, haben sie in unserem Jahrhundert Gefängnisse, Konzentrationslager, Folter und Verfolgung erduldet, und aus einigen Ländern hat man sie ausgewiesen. Im nationalsozialistischen Deutschland fanden zwischen 1933 und 1945 etwa eintausend Zeugen Jehovas den Tod, und Tausende wurden eingesperrt, weil sie es ablehnten, Hitlers Krieg zu unterstützen. Auch im faschistischen Spanien unter Franco kamen Hunderte von jungen Zeugen ins Gefängnis, und viele verbrachten Jahre — im Durchschnitt zehn Jahre — in Militärgefängnissen, statt das Kriegshandwerk zu lernen. Bis auf den heutigen Tag schmachten viele junge Zeugen Jehovas in mehreren Ländern wegen ihrer christlich neutralen Haltung im Gefängnis. Jehovas Zeugen behindern jedoch nicht die militärischen Programme der Regierungen. Die unerschütterliche christliche Neutralität in politischen Angelegenheiten ist eines der unveränderlichen Merkmale ihrer Glaubensansichten in allen Konflikten und Kriegen des 20. Jahrhunderts gewesen. Das kennzeichnet sie als wahre Nachfolger Christi und unterscheidet sie von den Kirchen der Christenheit (Johannes 17:16; 2. Korinther 10:3-5).

      6, 7. Was haben Jehovas Zeugen hinsichtlich des Christentums verstanden?

      6 Jehovas Zeugen zeigen, daß sie den wahren Gott, Jehova, anbeten, indem sie sich an die Bibel und an das Beispiel Jesu halten. Sie haben die Liebe Gottes, die durch das Leben und Opfer Jesu zum Ausdruck kommt, kennengelernt. Nach ihrem Verständnis führt wahre christliche Liebe zu einer unzertrennlichen weltweiten Bruderschaft — über politische, rassische und nationale Grenzen hinweg. Mit anderen Worten, das Christentum ist mehr als international — es ist supranational; es überschreitet nationale Grenzen, Zuständigkeiten oder Interessen. Es betrachtet das Menschengeschlecht als eine Familie, die einen gemeinsamen Vorfahren hat und einen gemeinsamen Schöpfer, Jehova Gott (Apostelgeschichte 17:24-28; Kolosser 3:9-11).

      7 Während fast alle anderen Religionen in Kriege verstrickt waren — in Bruderkriege und Massenvernichtungskriege —, haben Jehovas Zeugen bewiesen, daß sie sich die zuvor zitierte Prophezeiung aus Jesaja 2:4 zu Herzen nehmen. Man könnte jedoch innehalten und sich fragen: Woher kommen Jehovas Zeugen eigentlich? Wie sind sie organisatorisch aufgebaut?

      Gottes lange Reihe von Zeugen

      8, 9. Welche Einladung hat Gott an die Menschheit ergehen lassen?

      8 Vor über 2 700 Jahren sprach der Prophet Jesaja auch die Einladung aus: „Sucht Jehova, während er sich finden läßt. Ruft ihn an, während er sich als nahe erweist. Der Böse verlasse seinen Weg und der schadenstiftende Mann seine Gedanken; und er kehre um zu Jehova, der sich seiner erbarmen wird, und zu unserem Gott, denn er wird in großem Maße vergeben“ (Jesaja 55:6, 7).

      9 Jahrhunderte später erklärte der christliche Apostel Paulus gegenüber Griechen in Athen, die „der Furcht vor [mythischen] Gottheiten hingegeben zu sein“ schienen: „[Gott] hat aus e i n e m Menschen jede Nation der Menschen gemacht, damit sie auf der ganzen Erdoberfläche wohnen, und er verordnete die bestimmten Zeiten und die festgesetzten Wohngrenzen der Menschen, damit sie Gott suchen, ob sie ihn wohl tastend fühlen und wirklich finden mögen, obwohl er tatsächlich einem jeden von uns nicht fern ist“ (Apostelgeschichte 17:22-28).

      10. Wieso wissen wir, daß Gott Adam und Eva und ihren Kindern nicht fern war?

      10 Bestimmt ist Gott den ersten Menschengeschöpfen Adam und Eva nicht fern gewesen. Er redete mit ihnen und vermittelte ihnen seine Gebote und Wünsche. Außerdem verbarg sich Gott nicht vor ihren Söhnen Kain und Abel. Er wies den haßerfüllten Kain zurecht, als er wegen des Opfers neidisch war, das Abel Gott dargebracht hatte. Kain erwies sich indes als eifersüchtig, als religiös intolerant und ermordete seinen Bruder Abel, statt seine Form der Anbetung zu ändern (1. Mose 2:15-17; 3:8-24; 4:1-16).

      11. (a) Was bedeutet das Wort „Märtyrer“? (b) Wie wurde Abel der erste Märtyrer?

      11 Weil Abel Gott treu war bis in den Tod, wurde er der erste Märtyrer.b Er war auch der erste Zeuge Jehovas und der Vorläufer einer langen, die gesamte Geschichte durchziehenden Reihe von Zeugen, die ihre Lauterkeit bewahrten. Daher konnte Paulus sagen: „Durch Glauben brachte Abel Gott ein wertvolleres Opfer dar als Kain, durch welchen Glauben er das Zeugnis erlangte, daß er gerecht war, indem Gott Zeugnis gab hinsichtlich seiner Gaben; und durch ihn redet er noch, obwohl er gestorben ist“ (Hebräer 11:4).

      12. Wer gehört noch zu den Beispielen für treue Zeugen Jehovas?

      12 In demselben Brief an die Hebräer zählt Paulus eine ganze Reihe von treuen Männern und Frauen auf, wie z. B. Noah, Abraham, Sara und Moses, die durch ihre Bewahrung der Lauterkeit schließlich eine ‘große Wolke von Zeugen’ (griechisch: martýrōn) bildeten und für andere, die den wahren Gott kennenlernen und ihm dienen möchten, ermunternde Vorbilder wurden. Sie waren Männer und Frauen, die ein enges Verhältnis zu Jehova Gott hatten. Sie hatten ihn gesucht und auch gefunden (Hebräer 11:1 bis 12:1).

      13. (a) Warum ist Jesus ein herausragender Beweis für die Liebe Gottes? (b) Auf welche besondere Weise ist Jesus ein Beispiel für seine Nachfolger?

      13 Unter diesen Zeugen ragt einer heraus, der in der Offenbarung wie folgt beschrieben wird: „Jesus Christus, ... ‚Der treue Zeuge‘ “. Jesus ist ein weiterer klarer Beweis für die Liebe Gottes, denn Johannes schrieb: „Wir selbst [haben] gesehen und legen Zeugnis davon ab, daß der Vater seinen Sohn als Retter der Welt ausgesandt hat. Wer immer das Bekenntnis ablegt, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist, mit dem bleibt Gott in Gemeinschaft und er in Gemeinschaft mit Gott. Und wir selbst haben die Liebe, die Gott in unserem Fall hat, kennengelernt und an sie geglaubt.“ Jesus — ein gebürtiger Jude — war ein wahrer Zeuge; er starb in Treue zu seinem Vater, Jehova, den Märtyrertod. In den Jahrhunderten danach waren alle seine echten Nachfolger sowohl Zeugen Christi als auch des wahren Gottes, Jehova (Offenbarung 1:5; 3:14; 1. Johannes 4:14-16; Jesaja 43:10-12; Matthäus 28:19, 20; Apostelgeschichte 1:8).

      14. Welche Frage bedarf jetzt einer Antwort?

      14 Aus Jesajas Prophezeiung ging hervor, daß der „Schlußteil der Tage“ oder die „letzten Tage“, wie es in anderen Teilen der Bibel heißt, durch eine Rückkehr zu dem wahren Gott, Jehova, gekennzeichnet seien.c Angesichts der religiösen Vielfalt und Verwirrung, auf die das vorliegende Buch eingeht, erhebt sich die Frage: Wer hat in den letzten Tagen, in denen wir leben, wirklich nach dem wahren Gott gesucht und ihn „mit Geist und Wahrheit“ angebetet? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zuerst den Ereignissen des 19. Jahrhunderts zuwenden (Jesaja 2:2-4; 2. Timotheus 3:1-5; Johannes 4:23, 24).

      Ein junger Mann auf der Suche nach Gott

      15. (a) Wer war Charles Taze Russell? (b) Welche religiösen Zweifel hatte er unter anderem?

      15 Im Jahre 1870 begann ein eifriger junger Mann, Charles Taze Russell (1852—1916), viele Fragen über die traditionellen Lehren der Christenheit zu stellen. In seiner Jugend war er in dem Herrenbekleidungsgeschäft tätig, das sein Vater in der geschäftigen Industriestadt Allegheny (heute zu Pittsburgh gehörend), Pennsylvanien (USA), führte. Seine religiöse Vergangenheit war durch den Glauben der Presbyterianer und der Kongregationalisten geprägt. Er war jedoch verwirrt von den Lehren über die Vorherbestimmung und die ewige Qual in der Feuerhölle. Aus welchen Gründen zweifelte er einige dieser Grundlehren der Religionen der Christenheit an? Er schrieb: „Ein Gott, der seine Macht dazu gebrauchen würde, menschliche Wesen zu erschaffen, von denen er wußte, ja die er im voraus dazu bestimmte, daß sie ewig gequält werden sollten, konnte weder weise noch gerecht oder liebevoll sein. Der Maßstab seines Handelns wäre niedriger als der vieler Menschen“ (Jeremia 7:31; 19:5; 32:35; 1. Johannes 4:8, 9).

      16, 17. (a) An welchen Lehren war Russells Kreis zur Erforschung der Bibel interessiert? (b) Welche größere Meinungsverschiedenheit kam auf, und wie antwortete Russell?

      16 Russell war noch keine zwanzig, als er mit anderen jungen Männern einen Kreis zur Erforschung der Bibel gründete, der wöchentlich zusammenkam. Die Angehörigen jenes Kreises begannen damit, die Lehren der Bibel über weitere Themen zu untersuchen, wie z. B. die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele sowie von Christi Loskaufsopfer und seinem zweiten Kommen. 1877 verkaufte Russell im Alter von 25 Jahren seine Anteile an dem gutgehenden Geschäft seines Vaters und wurde Vollzeitprediger.

      17 Im Jahre 1878 kam es zwischen Russell und einem seiner Mitarbeiter zu einer größeren Meinungsverschiedenheit, weil dieser die Lehre verworfen hatte, daß Christi Tod ein Sühnopfer für Sünder sei. In seiner Widerlegung schrieb Russell: „Christus vollbrachte durch seinen Tod und seine Auferstehung verschiedene gute Dinge für uns. Er erlitt an unserer Stelle den Tod; er starb als der Gerechte für die Ungerechten — alle waren ungerecht. Jesus Christus schmeckte durch die Gnade Gottes für jedermann den Tod. ... Er wurde der Urheber der ewigen Rettung für alle, die ihm gehorchen.“ Er fuhr fort: „Erlösen heißt zurückkaufen. Was kaufte Christus für alle Menschen zurück? Leben. Wir verloren es durch den Ungehorsam des ersten Adam. Der zweite Adam [Christus] kaufte es mit seinem eigenen Leben zurück“ (Markus 10:45; Römer 5:7, 8; 1. Johannes 2:2; 4:9, 10).

      18. (a) Wozu führte die Meinungsverschiedenheit hinsichtlich des Lösegeldes? (b) Wie verfuhren die Bibelforscher in bezug auf Spenden?

      18 Da Russell schon immer ein eiserner Verfechter der Lehre vom Lösegeld gewesen war, brach er alle Verbindungen zu seinem früheren Mitarbeiter ab. Im Juli 1879 begann Russell mit der Herausgabe der Zeitschrift Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence — heute weltweit bekannt als Der Wachtturm verkündigt Jehovas Königreich. Im Jahre 1881 gründete er zusammen mit anderen ergebenen Christen eine gemeinnützige Bibelgesellschaft. Sie wurde Zion’s Watch Tower Tract Society genannt, die heute als die Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania bekannt ist, das gesetzliche Werkzeug, dessen sich Jehovas Zeugen bedienen. Von Anfang an bestand Russell darauf, daß bei den Zusammenkünften der Versammlung keine Kollekte durchgeführt und auch in den Veröffentlichungen der Watch Tower Society nicht um Spenden gebeten wird. Diejenigen, die sich Russell anschlossen, um ein tiefgehendes Bibelstudium zu betreiben, wurden einfach Bibelforscher genannt.

      Eine Rückkehr zur Wahrheit der Bibel

      19. Welche Lehren der Christenheit verwarfen die Bibelforscher?

      19 Als Folge ihres Bibelstudiums verwarfen Russell und seine Mitverbundenen schließlich die Lehre der Christenheit von einer geheimen „Heiligsten Dreifaltigkeit“, die Lehre von einer dem Menschen innewohnenden unsterblichen Seele und die Lehre von einer ewigen Qual im Höllenfeuer. Sie verwarfen auch die Notwendigkeit einer besonderen, akademisch gebildeten Geistlichkeit. Sie wollten zu den einfachen Anfängen des Christentums zurückkehren — damals wurden die Versammlungen von geistig befähigten Ältesten geleitet, die nicht an ein Gehalt oder an eine Entlohnung dachten (1. Timotheus 3:1-7; Titus 1:5-9).

      20. Was erkannten jene Bibelforscher hinsichtlich der parousía Christi und des Jahres 1914?

      20 Bei ihrer Untersuchung des Wortes Gottes waren jene Bibelforscher stark an den Prophezeiungen der Christlichen Griechischen Schriften interessiert, die mit dem „Ende der Welt“ und dem „Kommen“ Christi zu tun hatten (Matthäus 24:3, Lu). Als sie sich dem griechischen Text zuwandten, fiel ihnen auf, daß Christi „Kommen“ in Wirklichkeit eine „parousía“ oder unsichtbare Gegenwart war. Demnach hatte Christus seine Jünger nicht über Beweise für ein künftiges sichtbares Kommen unterrichtet, sondern für seine unsichtbare Gegenwart in der Zeit des Endes. Bei diesem Studium waren die Bibelforscher auch sehr daran interessiert, die Chronologie der Bibel in bezug auf Christi Gegenwart zu verstehen. Ohne alle Einzelheiten verstanden zu haben, erkannten Russell und seine Mitverbundenen, daß 1914 ein entscheidendes Datum in der Menschheitsgeschichte sein würde (Matthäus 24:3-22; Lukas 21:7-33, Int).

      21. Welche Verantwortung empfanden Russell und seine Mitgläubigen?

      21 Russell wußte, daß ein großes Predigtwerk verrichtet werden mußte. Er war sich der Worte Jesu aus Matthäus bewußt, die lauten: „Und diese gute Botschaft vom Königreich wird auf der ganzen bewohnten Erde gepredigt werden, allen Nationen zu einem Zeugnis; und dann wird das Ende kommen“ (Matthäus 24:14; Markus 13:10). In bezug auf die Tätigkeit herrschte bei jenen Bibelforschern vor 1914 ein Dringlichkeitsgefühl vor. Sie glaubten, daß ihre Predigttätigkeit in jenem Jahr einen Höhepunkt erreichen werde, und deshalb fühlten sie sich gedrängt, alles zu unternehmen, um anderen zu helfen, „diese gute Botschaft vom Königreich“ kennenzulernen. Schließlich wurden C. T. Russells biblische Predigten in Tausenden von Zeitungen rund um den Globus veröffentlicht.

      Erprobungen und Veränderungen

      22—24. (a) Wie reagierten die meisten Bibelforscher, als C. T. Russell starb? (b) Wer wurde nach Russell der Präsident der Watch Tower Society?

      22 Im Jahre 1916 starb Charles Taze Russell im Alter von 64 Jahren unerwartet auf einer Predigtreise durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Wie würde es nun mit den Bibelforschern weitergehen? Würde ihr Werk zusammenbrechen, so als ob sie Nachfolger eines Menschen wären? Wie würden sie den Prüfungen des 1. Weltkriegs (1914—1918) begegnen, an dessen Kämpfen die Vereinigten Staaten bald beteiligt wären?

      23 Die Reaktion der meisten Bibelforscher war so, wie W. E. Van Amburgh, ein Mitglied des Vorstands der Watch Tower Society, sie beschrieb: „Dieses große, weltweite Werk ist nicht das einer Person. Dafür ist es viel zu groß. Es ist Gottes Werk und unterliegt keinem Wechsel. Gott hat viele Diener in der Vergangenheit gebraucht, und er wird es auch in der Zukunft tun. Wir haben uns nicht einem Menschen oder dem Werk eines Menschen geweiht, sondern dazu, den Willen Gottes zu tun, wie er ihn uns durch sein Wort und durch seine göttliche Führung offenbaren wird. Gott steht noch am Steuer“ (1. Korinther 3:3-9).

      24 Im Januar 1917 wurde Joseph F. Rutherford, ein Jurist und ein eifriger Erforscher der Bibel, zum zweiten Präsidenten der Watch Tower Society gewählt. Er war ein dynamischer Mann, der sich nicht einschüchtern ließ. Er wußte, daß das Königreich Gottes gepredigt werden mußte (Markus 13:10).

      Neuer Eifer und ein neuer Name

      25. Wie reagierten die Bibelforscher auf die Herausforderung in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg?

      25 Die Watch Tower Society organisierte 1919 und 1922 Kongresse in den Vereinigten Staaten. Nach der Verfolgung in den USA in Verbindung mit dem 1. Weltkrieg war es damals beinahe wie ein erneutes Pfingsten für die wenigen tausend Bibelforscher (Apostelgeschichte 2:1-4). Statt der Menschenfurcht nachzugeben, folgten sie mit noch größerem Elan dem Ruf der Bibel, hinauszugehen und den Nationen zu predigen. 1919 gab die Watch Tower Society eine Begleitzeitschrift zu dem Watch Tower heraus, The Golden Age (Das Goldene Zeitalter), eine Zeitschrift, die heute weltweit als Erwachet! bekannt ist. Sie hat sich als ein wirksames Werkzeug erwiesen, den Menschen die Bedeutung der Zeit, in der wir leben, bewußt zu machen und ihnen Vertrauen in die Verheißung des Schöpfers einzuflößen, eine friedliche neue Welt herbeizuführen.

      26. (a) Auf welche Verantwortung legten die Bibelforscher immer größeren Wert? (b) Welches klarere Verständnis der Bibel gewannen die Bibelforscher?

      26 In den 20er und 30er Jahren legten die Bibelforscher mehr und mehr Gewicht auf die frühchristliche Predigtmethode — das Predigen von Haus zu Haus (Apostelgeschichte 20:20). Jeder Gläubige hatte die Verantwortung, so vielen Menschen wie möglich über die Königreichsherrschaft Christi Zeugnis zu geben. Sie verstanden schließlich klar aus der Bibel, daß die große Streitfrage, vor der die Menschheit steht, die Streitfrage der universellen Souveränität ist, die von Jehova Gott geklärt wird, wenn er Satan zermalmt und all seine verderbten Werke mit ihm (Römer 16:20; Offenbarung 11:17, 18). Im Zusammenhang mit dieser Streitfrage wurde erkannt, daß die Rettung des Menschen weniger wichtig war als die Rechtfertigung Gottes als rechtmäßiger Souverän. Deswegen müßte es auf der Erde Zeugen geben, die bereit wären, Gottes Vorsätze und seine Oberhoheit zu bezeugen. Wie wurde diesem Mangel abgeholfen? (Hiob 1:6-12; Johannes 8:44; 1. Johannes 5:19, 20).

      27. (a) Welches anspornende Ereignis trat 1931 ein? (b) Nenne einige besondere Glaubenslehren der Zeugen Jehovas.

      27 Im Juli 1931 hielten die Bibelforscher einen Kongreß in Columbus (Ohio) ab, auf dem Tausende von Anwesenden einer Resolution zustimmten, die besagte, daß sie mit Freuden „den Namen, den der Mund Gottes, des Herrn, genannt hat, annehmen und wünschen, unter folgendem Namen bekannt zu sein und also genannt zu werden: ‚Jehovas Zeugen‘ “. Seither sind Jehovas Zeugen weltweit nicht nur wegen ihrer besonderen Glaubensansichten bekannt, sondern auch für ihren eifrigen Dienst von Haus zu Haus und auf der Straße (siehe Seite 356, 357) (Jesaja 43:10-12; Matthäus 28:19, 20; Apostelgeschichte 1:8).

      28. Welches klarere Verständnis erhielten die Zeugen im Jahre 1935 über die Königreichsherrschaft?

      28 Im Jahre 1935 erlangten die Zeugen ein klareres Verständnis über die himmlische Königreichsklasse, die mit Christus im Himmel regieren wird, und über ihre Untertanen auf der Erde. Sie wußten schon, daß sich die Zahl der gesalbten Christen, die berufen worden sind, mit Christus vom Himmel aus zu regieren, nur auf 144 000 belaufen würde. Welche Hoffnung sollte der übrige Teil der Menschheit haben? Eine Regierung braucht Untertanen, um ihre Daseinsberechtigung zu haben. Auch diese himmlische Regierung, das Königreich, würde Millionen gehorsame Untertanen hier auf der Erde haben. Sie würden die „große Volksmenge“ bilden, „die kein Mensch zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Zungen“. Und sie würden ausrufen: „Die Rettung verdanken wir unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm [Christus Jesus]“ (Offenbarung 7:4, 9, 10; 14:1-3; Römer 8:16, 17).

      29. Welche herausfordernde Aufgabe erkannten die Zeugen und nahmen sie dann an?

      29 Dieses Verständnis über die große Volksmenge half Jehovas Zeugen zu erkennen, daß ihnen eine gewaltige Aufgabe bevorstand — all jene Millionen Menschen, die sich auf der Suche nach dem wahren Gott befinden und die große Volksmenge bilden würden, zu suchen und zu unterweisen. Das würde einen internationalen Erziehungsfeldzug einschließen. Geübte Redner und Prediger wären erforderlich. Schulen würden gebraucht. All das hatte der folgende Präsident der Watch Tower Society vor Augen.

      Weltweite Suche nach Menschen, die Gott suchen

      30. Welche Ereignisse der 30er und 40er Jahre wirkten sich auf die Zeugen aus?

      30 Im Jahre 1931 gab es nicht einmal 50 000 Zeugen in weniger als 50 Ländern. Die Ereignisse in den 30er und 40er Jahren erleichterten das Predigen bestimmt nicht. In diese Zeit fiel der Aufstieg des Faschismus und des Nationalsozialismus sowie der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. 1942 starb J. F. Rutherford. Die Watch Tower Society benötigte eine tatkräftige Führung, um dem Predigtwerk weitere Triebkraft zu verleihen.

      31. Was wurde 1943 eingerichtet, um die Verkündigung der guten Botschaft auszuweiten?

      31 Im Jahre 1942 wurde Nathan H. Knorr im Alter von 36 Jahren zum dritten Präsidenten der Watch Tower Society gewählt. Er war ein tatkräftiger Organisator, dem es völlig klar war, daß das weltweite Predigen der guten Botschaft in aller Welt so schnell wie möglich gefördert werden müsse, wenngleich die Nationen immer noch in den Zweiten Weltkrieg verwickelt waren. Deshalb verwirklichte er sofort den Plan für eine Schule, auf der Missionare ausgebildet werden sollten — die sogenannte Wachtturm-Bibelschule Gilead.d Die ersten hundert Studenten, ausnahmslos Vollzeitdiener, wurden im Januar 1943 eingeschrieben. Sie studierten knapp sechs Monate lang intensiv die Bibel und damit zusammenhängende dienstamtliche Themen, bevor sie in die ihnen zugeteilten Gebiete gesandt wurden, die hauptsächlich in anderen Ländern lagen. Bis 1990 haben 89 Klassen die Schule absolviert, und Tausende von Dienern Gottes sind von Gilead aus in die ganze Welt ausgezogen.

      32. Welche Fortschritte haben Jehovas Zeugen seit 1943 gemacht?

      32 Im Jahre 1943 predigten nur 126 329 Zeugen in 54 Ländern. Trotz grausamer Gegnerschaft des Nationalsozialismus, Faschismus, Kommunismus und der Katholischen Aktion sowie der sogenannt demokratischen Länder der Zeit des Zweiten Weltkriegs erreichten Jehovas Zeugen eine Höchstzahl von über 176 000 Königreichsverkündigern im Jahre 1946. Vierundvierzig Jahre danach waren bereits fast 4 Millionen in über 200 Ländern, Inseln und Territorien tätig. Ohne Zweifel haben ihre eindeutige namentliche Kennzeichnung und ihre Tätigkeit dazu beigetragen, daß sie weltweit bekannt geworden sind. Daß sie jedoch so viel erreichen konnten, ist noch auf andere Faktoren zurückzuführen (Sacharja 4:6).

      Eine Organisation, die biblische Bildung vermittelt

      33. Warum haben Jehovas Zeugen Königreichssäle?

      33 Jehovas Zeugen halten wöchentlich Bibelstudienzusammenkünfte in ihren Königreichssälen ab, die über 60 000 Versammlungen auf der Erde zur Verfügung stehen. Diese Zusammenkünfte haben keine rituelle oder emotionelle Grundlage, sondern sie haben den Erwerb genauer Erkenntnis Gottes, seines Wortes und seiner Vorsätze zur Grundlage. Dazu kommen Jehovas Zeugen dreimal wöchentlich zusammen, um ihr Verständnis der Bibel zu vertiefen und zu lernen, wie man die Botschaft der Bibel predigt und andere lehrt (Römer 12:1, 2; Philipper 1:9-11; Hebräer 10:24, 25).

      34. Worin besteht der Zweck der Theokratischen Predigtdienstschule?

      34 Zum Beispiel gehört zu einer Zusammenkunft, die während der Woche stattfindet, die Theokratische Predigtdienstschule, in die sich Glieder der Versammlung einschreiben lassen können. Diese Schule, der ein fähiger christlicher Ältester vorsteht, dient dazu, Männer, Frauen und Kinder in der Kunst des Lehrens und im Ausdrucksvermögen gemäß biblischen Grundsätzen zu schulen. Der Apostel Paulus sagte: „Eure Rede sei stets gefällig, mit Salz gewürzt, damit ihr wißt, wie ihr jedem zu antworten habt.“ Die Zeugen lernen in ihren christlichen Zusammenkünften auch, wie sie die Königreichsbotschaft „mit Milde und tiefem Respekt“ überbringen können (Kolosser 4:6; 1. Petrus 3:15).

      35. Welche anderen Zusammenkünfte halten die Zeugen ab, und von welchem Nutzen sind diese?

      35 An einem anderen Tag versammeln sich die Zeugen zu einem 45minütigen biblischen Vortrag und einer einstündigen Betrachtung eines biblischen Themas (anhand von Fragen und Antworten) aus dem Bereich der christlichen Lehre oder des christlichen Lebenswandels. Die Anwesenden haben die Möglichkeit, sich zu beteiligen. Jedes Jahr besuchen die Zeugen auch drei größere Zusammenkünfte, Kongresse, die ein bis vier Tage dauern und auf denen sich gewöhnlich Tausende versammeln, um biblische Vorträge zu hören. Durch diese und andere kostenlose Zusammenkünfte vertieft jeder Zeuge Jehovas seine Erkenntnis über Gottes Verheißungen hinsichtlich der Erde und der Menschheit. Ferner genießt er eine hervorragende Erziehung in christlicher Moral. Jeder kommt dem wahren Gott, Jehova, näher, indem er sich nach den Lehren und dem Beispiel Christi Jesu ausrichtet (Johannes 6:44, 65; 17:3; 1. Petrus 1:15, 16).

      Wie sind die Zeugen organisiert?

      36. (a) Haben Jehovas Zeugen eine bezahlte Geistlichkeit? (b) Wer übernimmt die Führung in der Versammlung?

      36 Wenn Jehovas Zeugen Zusammenkünfte abhalten und zum Predigen organisiert sind, muß verständlicherweise jemand dasein, der die Führung übernimmt. Allerdings haben sie keine bezahlte Geistlichkeit und heben auch keinen charismatischen Führer aufs Podest (Matthäus 23:10). Jesus sagte nämlich: „Kostenfrei habt ihr empfangen, kostenfrei gebt“ (Matthäus 10:8; Apostelgeschichte 8:18-21). In jeder Versammlung gibt es geistig befähigte Älteste und Dienstamtgehilfen — viele sind berufstätig und haben für eine Familie zu sorgen —, die freiwillig die Führung im Lehren und Leiten der Versammlung übernehmen. Genauso war es bei den Christen im ersten Jahrhundert (Apostelgeschichte 20:17; Philipper 1:1; 1. Timotheus 3:1-10, 12, 13).

      37. Wie werden Älteste und Dienstamtgehilfen ernannt?

      37 Wie werden diese Ältesten und Dienstamtgehilfen ernannt? Ihre Ernennung erfolgt unter der Aufsicht der leitenden Körperschaft gesalbter Ältester aus verschiedenen Ländern, die wie die Körperschaft der Apostel und Ältesten in Jerusalem vorgeht, die in der frühen Christenversammlung die Führung übernahm. Wie das Kapitel 11 zeigte, hatte kein Apostel den Primat über die anderen. Sie gelangten als Körperschaft zu Entscheidungen, und diese wurden von den Versammlungen respektiert, die über die damalige römische Welt verstreut waren (Apostelgeschichte 15:​4-6, 22, 23, 30, 31).

      38. Wie arbeitet die leitende Körperschaft?

      38 Die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas verfährt heute ebenso. Sie kommt wöchentlich in der Weltzentrale in Brooklyn (New York) zusammen, und es werden dann Anweisungen an die Zweigkomitees in der ganzen Welt gesandt, die die gottesdienstliche Tätigkeit in jedem Land beaufsichtigen. Weil Jehovas Zeugen dem Beispiel der ersten Christen folgen, konnten sie in großen Teilen der Erde die gute Botschaft vom Königreich Gottes verkündigen. Dieses Werk wird in weltweitem Ausmaß fortgesetzt (Matthäus 10:23; 1. Korinther 15:58).

      Zu dem wahren Gott strömen

      39. (a) Warum verhalten sich die Zeugen in politischen Fragen neutral? (b) Wie sehr hatten die Zeugen unter Verbot Gedeihen?

      39 Im 20. Jahrhundert hatten Jehovas Zeugen überall auf der Erde Gedeihen. Das trifft sogar auf Länder zu, wo sie verboten oder geächtet sind. Die Verbote wurden hauptsächlich von Regimen ausgesprochen, die die neutrale Stellung von Jehovas Zeugen gegenüber der politischen und nationalistischen Unterstützung dieser Welt nicht verstanden haben. (Siehe Kasten, Seite 347.) Dennoch haben sich in solchen Ländern Zehntausende dem Königreich Gottes als der einzig wahren Hoffnung der Menschheit auf Frieden und Sicherheit zugewandt. In den meisten Ländern ist ein gewaltiges Zeugnis gegeben worden, und heute sind Millionen Zeugen Jehovas tätig. (Siehe Tabelle, Seite 361.)

      40, 41. (a) Was erwarten die Zeugen Jehovas in naher Zukunft? (b) Welche Frage muß noch beantwortet werden?

      40 Während Jehovas Zeugen christliche Liebe üben und auf „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ hoffen, erwarten sie in der nahen Zukunft weltbewegende Ereignisse, durch die allem Unrecht, aller Korruption und Ungerechtigkeit auf Erden ein Ende gemacht wird. Aus diesem Grund werden sie weiterhin die Menschen in ihrer Nachbarschaft besuchen und sich aufrichtig bemühen, ehrlichgesinnte Menschen dem wahren Gott, Jehova, näherzubringen (Offenbarung 21:1-4; Markus 13:10; Römer 10:11-15).

      41 Was ist in der Zwischenzeit gemäß den biblischen Prophezeiungen für die Menschheit, für die Religion und für die verschmutzte Erde zu erwarten? Das letzte Kapitel wird diese wichtige Frage beantworten (Jesaja 65:17-25; 2. Petrus 3:11-14).

      [Fußnoten]

      a Die letzten zwei Sätze stehen an der „Jesaja-Wand“ vor den UN-Gebäuden und an einer Statue in den UN-Gärten. Tatsächlich ist deren Verwirklichung eines der Ziele der UN.

      b Das griechische Wort mártyr, von dem sich das deutsche Wort „Märtyrer“ ableitet („einer, der durch seinen Tod Zeugnis ablegt“, W. E. Vine, An Expository Dictionary of New Testament Words), bedeutet eigentlich „Zeuge“ („einer, der versichert oder versichern kann, was er selbst gesehen oder durch genaue Belehrung oder auf andere Weise kennengelernt hat“, W. Grimm, Lexicon Graeco-Latinum in Libros Novi Testamenti).

      c Eine eingehende Abhandlung über die „letzten Tage“ findet der Leser in dem Buch Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1982, Kapitel 18.

      d Gilead, das von dem hebräischen Wort Galeʽédh abgeleitet wird, bedeutet „Zeugen-, Zeugnishaufen“. Siehe auch Einsichten über die Heilige Schrift, Band 1, Seite 800, 938 (1. Mose 31:47-49).

      [Kasten auf Seite 347]

      Christliche Neutralität im heidnischen Rom

      In Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Liebe und des Friedens, die Jesus lehrte, und gestützt auf das persönliche Studium des Wortes Gottes, beteiligten sich die frühen Christen nicht an Kriegen oder an der dazugehörigen Ausbildung. Jesus hatte gesagt: „Mein Königreich ist kein Teil dieser Welt. Wäre mein Königreich ein Teil dieser Welt, so hätten meine Diener gekämpft, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königreich nicht von daher“ (Johannes 18:36).

      Noch im Jahre 295 u. Z. geschah folgendes: Maximilianus von Theveste, der Sohn eines römischen Veteranen, wurde zum Heeresdienst einberufen. Als der Prokonsul ihn nach seinem Namen fragte, antwortete er: „Warum willst du denn meinen Namen wissen? Ich darf nicht im Heere dienen, weil ich Christ bin. ... Ich kann nicht dienen, ich kann nicht sündigen gegen mein Gewissen.“ Der Prokonsul machte ihn darauf aufmerksam, daß er sein Leben verlieren würde, wenn er nicht gehorche. „Ich diene nicht; du kannst mich enthaupten lassen, aber ich will nicht den Herren dieser Welt dienen, sondern meinem Gott“ (Arnold J. Toynbee, Wie stehen wir zur Religion?).

      In der Neuzeit sind die einzelnen Zeugen Jehovas aufgrund ihres persönlichen Studiums der Bibel der Stimme ihres Gewissens gefolgt und haben den gleichen Standpunkt eingenommen. In manchen Ländern haben viele mit dem Leben dafür bezahlt, vor allem im nationalsozialistischen Deutschland, wo sie während des Zweiten Weltkriegs erschossen, erhängt oder enthauptet wurden. Aber ihre weltweite Einheit, die auf christlicher Liebe beruht, ist nie gebrochen worden. In keinem Krieg ist je jemand durch die Hand eines christlichen Zeugen Jehovas gestorben. Wie anders die Weltgeschichte hätte verlaufen können, wenn jeder, der sich als Christ bezeichnete, nach dem christlichen Gebot der Liebe gelebt hätte! (Römer 13:8-10; 1. Petrus 5:8, 9).

      [Kasten/Bilder auf Seite 356, 357]

      Was glauben Jehovas Zeugen?

      Frage: Was ist die Seele?

      Antwort: Gemäß der Bibel ist die Seele (hebräisch: néphesch; griechisch: psyché) eine Person oder ein Tier oder das Leben einer Person oder eines Tieres.

      „Und Gott sprach weiter: ‚Die Erde bringe lebende Seelen nach ihren Arten hervor, Haustiere und sich regende Tiere und wildlebende Tiere der Erde nach ihrer Art.‘ ... Und Jehova Gott ging daran, den Menschen aus Staub vom Erdboden zu bilden und in seine Nase den Odem des Lebens zu blasen, und der Mensch wurde eine lebende Seele“ (1. Mose 1:24; 2:7).

      Tiere und Menschen SIND lebende Seelen. Die Seele ist nicht etwas, das getrennt vom Körper existiert. Sie kann sterben und stirbt auch. „Siehe! Alle Seelen — mir gehören sie. Wie die Seele des Vaters, ebenso die Seele des Sohnes — mir gehören sie. Die Seele, die sündigt — sie selbst wird sterben“ (Hesekiel 18:4).

      Frage: Ist Gott eine Dreieinigkeit?

      Antwort: Jehovas Zeugen glauben, daß Jehova der Souveräne Herr des Universums ist, er ist ohnegleichen. „Höre, o Israel: Jehova, unser Gott, ist e i n Jehova“ (5. Mose 6:4). Christus Jesus war als das „Wort“ ein Geistgeschöpf und kam entsprechend dem Willen seines Vaters zur Erde. Er ist Jehova untertan. „Wenn ihm aber alle Dinge unterworfen sein werden, dann wird sich auch der Sohn selbst dem unterwerfen, der ihm alle Dinge unterworfen hat, so daß Gott allen alles sei“ (1. Korinther 15:28; siehe auch Matthäus 24:36; Markus 12:29; Johannes 1:1-3, 14-18; Kolosser 1:15-20).

      Der heilige Geist ist keine Person, sondern Gottes wirksame oder tätige Kraft (Apostelgeschichte 2:1-4, 17, 18).

      Frage: Verehren Jehovas Zeugen Götzen, oder beten sie sie an?

      Antwort: Jehovas Zeugen üben keine Art Götzendienst aus, weder in Verbindung mit Götzen noch mit Personen oder Organisationen.

      „Wir [wissen], daß ein Götze nichts ist in der Welt und daß es keinen GOTT gibt außer e i n e m. Denn wenn es auch solche gibt, die ‚Götter‘ genannt werden, ob im Himmel oder auf der Erde, wie es ja viele ‚Götter‘ und viele ‚Herren‘ gibt, so gibt es für uns tatsächlich e i n e n GOTT, den Vater, aus dem alle Dinge sind und wir für ihn, und es gibt e i n e n Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“ (1. Korinther 8:4-6; siehe auch Psalm 135:15-18).

      Frage: Feiern Jehovas Zeugen die Messe oder Kommunion?

      Antwort: Jehovas Zeugen glauben nicht an eine Transsubstantiation, eine katholische Lehre. Sie feiern zum jährlichen Gedenken an Christi Tod das Abendmahl des Herrn an dem Datum, das dem jüdischen 14. Nisan (gewöhnlich im März oder April) entspricht. Bei dieser Zusammenkunft werden in der Versammlung ungesäuertes Brot und Rotwein als Symbole des sündenlosen Leibes und des Opferblutes Christi herumgereicht. Nur diejenigen, die die Hoffnung hegen, mit Christus in seinem himmlischen Königreich zu regieren, nehmen von den Symbolen (Markus 14:22-26; Lukas 22:29; 1. Korinther 11:23-26; Offenbarung 14:1-5).e

      [Bilder]

      Jehovas Zeugen versammeln sich regelmäßig zum Bibelstudium in Königreichssälen

      Königreichssäle: Ichihara City (Japan) (vorige Seite) und Boituva (Brasilien)

      [Fußnote]

      e Eine weitere Betrachtung dieses Themas findet der Leser in dem Buch Unterredungen anhand der Schriften, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft, 1985, Seite 170—173, 306—311.

      [Übersicht auf Seite 361]

      Einige Länder, in denen Jehovas Zeugen predigen

      Land Tätige Zeugen

      Argentinien 79 000

      Australien 51 000

      Brasilien 267 000

      Deutschland,

      Bundesrepublik 129 000

      El Salvador 18 000

      Finnland 17 000

      Frankreich 109 000

      Griechenland 24 000

      Großbritannien 117 000

      Indien 9 000

      Italien 172 000

      Japan 138 000

      Kanada 98 000

      Kolumbien 42 000

      Korea 57 000

      Libanon 2 500

      Mexiko 277 000

      Nigeria 137 000

      Philippinen 102 000

      Polen 91 000

      Portugal 36 000

      Puerto Rico 24 000

      Sambia 72 000

      Spanien 78 000

      Südafrika 46 000

      Ungarn 10 000

      USA 818 000

      Venezuela 47 000

      36 unter Verbot 220 000

      1989 weltweit 60 192 Versammlungen 3 787 000 Zeugen

      [Bilder auf Seite 346]

      An der UN-Friedensstatue ist zu lesen: „Wir werden unsere Schwerter zu Pflugscharen schmieden“; an der „Jesaja-Wand“ steht der Bibeltext (Jesaja 2:4)

      [Bild auf Seite 351]

      Jehovas Zeugen glauben an Christi Loskaufsopfer, das er für die Sünden der Menschheit darbrachte

      [Bilder auf Seite 363]

      Kongreßsäle von Jehovas Zeugen: Luftaufnahme vom Saal in East Pennines (England)

      Kongreßsaal in Fort Lauderdale, Florida (USA); für Kongresse in Englisch, Spanisch und Französisch

      [Bilder auf Seite 364]

      Weltzentrale der Watch Tower Society, Brooklyn (New York); Büro-, Druckerei- und Wohngebäude

      [Bilder auf Seite 365]

      Zweigbüros der Watch Tower Society (von oben links) in Südafrika, Spanien und Neuseeland

  • Der wahre Gott und deine Zukunft
    Die Suche der Menschheit nach Gott
    • Kapitel 16

      Der wahre Gott und deine Zukunft

      „In diesem geheimnisvollen Universum gibt es etwas, wovon der Mensch überzeugt sein kann: er selbst ist gewiß nicht die größte geistige Wesenheit in diesem. ... Eine Wesenheit ist gegenwärtig im Universum, die geistig größer ist als der Mensch selbst. ... Das Ziel des Menschen ist es, die Verbindung mit dem Wesen, das hinter den Erscheinungen steht, zu suchen, zu dem Zweck, sein Ich mit dieser absoluten geistigen Wirklichkeit in Einklang zu bringen“ (Arnold Toynbee, Wie stehen wir zur Religion?).

      1. (Einleitung inbegriffen.) (a) Was erkannte der Historiker Toynbee in bezug auf den Menschen und das Universum an? (b) Wie zeigt die Bibel, wer oder was die „absolute geistige Wirklichkeit“ ist?

      IN DEN vergangenen sechstausend Jahren hat die Menschheit mehr oder weniger beflissen nach dieser „absoluten geistigen Wirklichkeit“ gesucht. In jeder Religion ist jene Wirklichkeit anders benannt worden. Der Name, den du für die „absolute geistige Wirklichkeit“ hast, hängt davon ab, was du bist — Hindu, Muslim, Buddhist, Schintoist, Konfuzianer, Taoist, Jude, Christ oder irgend etwas anderes. In der Bibel wird dieser Wirklichkeit Name, Geschlecht und Persönlichkeit zugeschrieben: Jehova, der lebendige Gott. Dieser einzigartige Gott sagte einst zu Cyrus dem Großen von Persien: „Ich bin Jehova, und sonst gibt es keinen. Außer mir gibt es keinen Gott. ... Ich selbst habe die Erde gemacht und habe auch den Menschen darauf erschaffen“ (Jesaja 45:5, 12, 18; Psalm 68:19, 20).

      Jehova — der Gott zuverlässiger Prophetie

      2. An wen sollte man sich wenden, um sich zuverlässig über die Zukunft zu informieren, und warum?

      2 Jehova ist das wahre Ziel der Suche der Menschheit nach Gott. Er hat sich als der Gott der Prophetie geoffenbart, der von Anfang an den Ausgang kundtut. Durch den Propheten Jesaja sagte er: „Gedenkt der ersten Dinge von langer Zeit her, daß ich der Göttliche bin, und da ist kein anderer Gott noch irgendeiner wie ich; der von Anfang an den Ausgang kundtut und von alters her die Dinge, die nicht getan worden sind; der spricht: ‚Mein eigener Beschluß wird bestehen, und alles, was mir gefällt, werde ich tun‘ ... Ich habe es ja geredet; ich werde es auch herbeiführen. Ich habe es gebildet, ich werde es auch tun“ (Jesaja 46:9-11; 55:10, 11).

      3. (a) Welche Ereignisse können wir durch die biblische Prophetie voraussehen? (b) Was hat Satan Ungläubigen angetan, und warum?

      3 Da wir einen so zuverlässigen Gott der Prophetie haben, können wir erfahren, was dem Weltsystem der Uneinigkeit stiftenden Religionen widerfahren wird. Zudem können wir voraussagen, was über die mächtigen politischen Organisationen kommen wird, die das Geschick der Welt zu lenken scheinen. Es ist uns sogar möglich, vorherzusagen, wie es mit Satan enden wird, dem „Gott dieses Systems der Dinge“, der durch eine Vielzahl von Religionen „den Sinn der Ungläubigen verblendet“ und die Menschheit von dem wahren Gott, Jehova, weggeführt hat. Und warum hat Satan diese Verblendung betrieben? „Damit das erleuchtende Licht der herrlichen guten Botschaft über den Christus, der das Bild Gottes ist, nicht hindurchstrahle“ (2. Korinther 4:3, 4; 1. Johannes 5:19).

      4. Welche Fragen bezüglich der Erde und der Zukunft des Menschen bedürfen einer Antwort?

      4 Wir können auch erfahren, was auf jene vorhergesagten Ereignisse folgen wird. In welchem Zustand wird sich die Erde schließlich befinden? Wird sie verschmutzt sein? Ruiniert? Entwaldet? Oder werden sich die Erde und das Menschengeschlecht regenerieren? Wie wir noch sehen werden, enthält die Bibel auf all diese Fragen eine Antwort. Wenden wir uns jedoch zunächst der unmittelbaren Zukunft zu.

      Wer „Babylon die Große“ ist

      5. Was sah Johannes in Visionen?

      5 Das Bibelbuch Offenbarung wurde dem Apostel Johannes auf der Insel Patmos im Jahre 96 u. Z. enthüllt. Es schildert auf lebendige Weise die größeren Ereignisse, die sich in der Zeit des Endes zutragen sollen, der Zeit, in der die Menschheit gemäß den biblischen Beweisen seit 1914 lebt.a Eines der Sinnbilder, die Johannes in Visionen sah, war eine auffallende, freche Hure mit Namen „Babylon die Große, die Mutter der Huren und der abscheulichen Dinge der Erde“. In was für einem Zustand befand sie sich? „Ich sah, daß die Frau trunken war vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu“ (Offenbarung 17:5, 6).

      6. Warum ist Babylon die Große kein Sinnbild für die herrschenden politischen Elemente der Welt?

      6 Wen stellt diese Frau dar? Wir brauchen darüber keine Mutmaßungen anzustellen. Sie kann durch eine systematische Aussonderung entlarvt werden. In derselben Vision hört Johannes einen Engel sagen: „Komm, ich will dir das Gericht über die große Hure zeigen, die auf vielen Wassern sitzt, mit der die Könige der Erde Hurerei begingen, während die, welche die Erde bewohnen, mit dem Wein ihrer Hurerei trunken gemacht wurden.“ Wenn die Könige oder Herrscher der Erde mit ihr huren, dann kann die Hure nicht die herrschenden politischen Elemente der Welt darstellen (Offenbarung 17:1, 2, 18).

      7. (a) Warum steht Babylon die Große nicht für die Elemente der Geschäfts- und Handelswelt? (b) Was stellt Babylon die Große dar?

      7 In dem gleichen Bericht heißt es weiter, daß „die reisenden Kaufleute der Erde ... zufolge der Macht ihres schamlosen Luxus reich geworden“ sind. Demnach kann Babylon die Große kein Sinnbild für die Geschäftswelt oder die „Kaufleute“ der Welt sein. Doch das inspirierte Wort sagt: „Die Wasser, die du sahst, wo die Hure sitzt, bedeuten Völker und Volksmengen und Nationen und Zungen.“ Welcher wichtige Bestandteil dieser Weltordnung ist noch übrig, auf den die Beschreibung von einer symbolischen Hure paßt, die mit den politischen Machthabern hurt, Geschäftsinteressen verfolgt und in Herrlichkeit über den Völkern, Volksmengen, Nationen und Zungen sitzt? Es ist die falsche Religion in all ihren verschiedenen Verkleidungen! (Offenbarung 17:15; 18:2, 3).

      8. Welche weiteren Fakten bestätigen, wer Babylon die Große ist?

      8 Daß Babylon die Große dem entspricht, bestätigt ein Engel, der sie verurteilt, weil wegen ihrer „spiritistischen Bräuche ... alle Nationen irregeführt“ wurden (Offenbarung 18:23). Alle Formen des Spiritismus sind religiöser Natur und von Dämonen inspiriert (5. Mose 18:10-12). Babylon die Große muß somit ein religiöses Gebilde sein. Alle biblischen Beweise sprechen dafür, daß es sich bei diesem Gebilde um Satans gesamtes Weltreich der falschen Religion handelt. Er fördert die falsche Religion im Sinn der Menschen, um von dem wahren Gott, Jehova, abzulenken (Johannes 8:44-47; 2. Korinther 11:13-15; Offenbarung 21:8; 22:15).

      9. Welche gemeinsamen Fäden ziehen sich durch viele Religionen?

      9 Wie wir in dem vorliegenden Buch von Anfang an gesehen haben, ziehen sich gemeinsame Fäden durch das Gespinst der Religionen der Welt. Viele Religionen wurzeln in der Mythologie. Fast alle sind miteinander verknüpft durch den Glauben an eine angeblich unsterbliche Menschenseele, die nach dem Tod weiterleben und ins Jenseits oder in ein anderes Geschöpf übergehen soll. Viele haben den Glauben an einen schrecklichen Ort der Qual und der Folter, Hölle genannt, gemeinsam. Andere sind durch den alten heidnischen Glauben an Triaden, Dreiheiten und Muttergöttinnen miteinander verbunden. Daher ist es nur passend, sie unter dem einen zusammengesetzten Sinnbild zusammenzufassen: „Babylon die Große“, die Hure (Offenbarung 17:5).

      Zeit, aus der falschen Religion zu fliehen

      10. Welches Ende wird für die religiöse Hure prophezeit?

      10 Was wird in der Bibel über das endgültige Geschick dieser weltweit tätigen Hure gesagt? In symbolischer Sprache schildert die Offenbarung ihre Vernichtung durch die Hände politischer Elemente. Diese werden durch „zehn Hörner“ symbolisiert, die die Vereinten Nationen unterstützen, ‘ein scharlachfarbenes wildes Tier’, das Bild von Satans blutbeflecktem politischen System (Offenbarung 16:2; 17:3-16).b

      11. (a) Warum hat Gott die falsche Religion verurteilt? (b) Was wird über Babylon die Große kommen?

      11 Satans Weltreich der falschen Religion wird vernichtet, weil Gott diese Religionen wegen geistiger Hurerei verurteilen wird. Sie werden für schuldig befunden werden, weil sie mit ihren bedrückenden politischen Liebhabern gemeinsame Sache gemacht und sie unterstützt haben. Die falsche Religion hat ihre Gewänder mit unschuldigem Blut besudelt, als sie mit der herrschenden Elite jeder Nation bei den Kriegen auf patriotische Weise mitgemacht hat. Jehova gibt es deshalb den politischen Elementen ins Herz, seinen Willen in bezug auf Babylon die Große auszuführen und sie zu verwüsten (Offenbarung 17:16-18).

      12. (a) Was mußt du jetzt unternehmen, um der Vernichtung Babylons zu entgehen? (b) Welche Lehren zeichnen die wahre Religion aus?

      12 Was solltest du unternehmen, da den Religionen der Welt eine solche Zukunft eindeutig bevorsteht? Die Antwort ist in den Worten enthalten, die Johannes vom Himmel her sagen hörte: „Geht aus ihr hinaus mein Volk, wenn ihr nicht mit ihr teilhaben wollt an ihren Sünden und wenn ihr nicht einen Teil ihrer Plagen empfangen wollt. Denn ihre Sünden haben sich aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Taten der Ungerechtigkeit gedacht.“ Deshalb ist es jetzt an der Zeit, daß der ausdrückliche Befehl des Engels befolgt wird, aus Satans Weltreich der falschen Religion hinauszugehen und sich der wahren Anbetung Jehovas anzuschließen (siehe Kasten, Seite 377) (Offenbarung 17:17; 18:4, 5; vergleiche Jeremia 2:34; 51:12, 13).

      Harmagedon ist nahe

      13. Welche Ereignisse müssen bald eintreten?

      13 Wie es in der Offenbarung heißt, werden „an e i n e m Tag ihre Plagen kommen, Tod und Trauer und Hungersnot, und sie wird gänzlich mit Feuer verbrannt werden“. Alle prophetischen Anzeichen der Bibel deuten darauf hin, daß der ‘e i n e Tag’ oder die kurze Zeit schneller Hinrichtung jetzt nahe ist. Ja, die Vernichtung Groß-Babylons wird sich zu einer „großen Drangsal“ ausweiten, die in Harmagedon, dem „Krieg des großen Tages Gottes, des Allmächtigen“, ihren Höhepunkt findet. Jener Krieg oder jene Schlacht von Harmagedon wird dazu führen, daß das politische System Satans eine Niederlage erleiden und er selbst in den Abgrund geworfen wird. Eine gerechte neue Welt wird ihren Anfang nehmen (Offenbarung 16:14-16; 18:7, 8; 21:1-4; Matthäus 24:20-22).

      14, 15. Welche biblische Prophezeiung nähert sich offenbar ihrer Erfüllung?

      14 Eine weitere herausragende biblische Prophezeiung nähert sich bereits vor unseren Augen ihrer Erfüllung. Warnend sagte der Apostel Paulus voraus: „Was nun die Zeiten und die Zeitabschnitte betrifft, Brüder, braucht euch nichts geschrieben zu werden. Denn ihr selbst wißt sehr wohl, daß Jehovas Tag genauso kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wann immer sie sagen: ‚Frieden und Sicherheit!‘, dann wird plötzliche Vernichtung sie überfallen wie die Geburtswehe eine Schwangere; und sie werden keinesfalls entrinnen“ (1. Thessalonicher 5:1-3).

      15 Es scheint, als steuerten die einst kriegslustigen, einander mißtrauenden Nationen jetzt vorsichtig auf eine Situation zu, die es ihnen ermöglicht, weltweit Frieden und Sicherheit zu verkünden. Wir wissen somit aus noch anderer Sicht, daß Jehovas Tag des Gerichts an der falschen Religion und an den Nationen samt Satan, ihrem Herrscher, nahe ist (Zephanja 2:3; 3:8, 9; Offenbarung 20:1-3).

      16. Warum ist der Rat des Johannes heute sehr passend?

      16 Heute leben Millionen Menschen so, als seien nur materielle Dinge von Dauer und von Wert. Was die gegenwärtige verderbte Welt bietet, ist jedoch oberflächlich und vergänglich. Deshalb ist der Rat des Johannes sehr passend: „Liebt nicht die Welt noch die Dinge in der Welt. Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm; denn alles in der Welt — die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und die auffällige Zurschaustellung der Mittel, die jemand zum Leben hat — stammt nicht vom Vater, sondern stammt von der Welt. Überdies, die Welt vergeht und ebenso ihre Begierde, wer aber den Willen Gottes tut, bleibt immerdar.“ Würdest du nicht lieber zu denen gehören, die immerdar bleiben? (1. Johannes 2:15-17).

      Eine verheißene neue Welt

      17. Was für eine Zukunft haben Personen, die den wahren Gott suchen?

      17 Da Gott die Welt bald durch Christus Jesus richten wird, erhebt sich die Frage, was danach kommt. Vor langer Zeit prophezeite Gott in den Hebräischen Schriften, daß er seinen ursprünglichen Vorsatz hinsichtlich der Menschheit auf dieser Erde verwirklichen werde, nämlich den Vorsatz, eine gehorsame Menschheitsfamilie zu haben, die sich auf einer paradiesischen Erde vollkommenen Lebens erfreut. Satans Versuch, jenen Vorsatz zu untergraben, hat Gottes Verheißung nicht aufgehoben. König David konnte demnach schreiben: „Denn die Übeltäter, sie werden weggetilgt, die aber auf Jehova hoffen, sind es, die die Erde besitzen werden. Und nur noch eine kleine Weile, und der Böse wird nicht mehr sein ... Die Gerechten selbst werden die Erde besitzen, und sie werden immerdar darauf wohnen“ (Psalm 37:9-11, 29; Johannes 5:21-30).

      18—20. Welche Veränderungen wird es auf der Erde geben?

      18 Wie wird die Erde dann aussehen? Völlig verschmutzt? Verbrannt? Entwaldet? Keineswegs! Jehova hatte ursprünglich vor, daß die Erde ein sauberer, harmonischer, paradiesähnlicher Park sein sollte. Die Möglichkeit dazu besteht, obwohl der Mensch mit der Erde Mißbrauch treibt. Denn Jehova hat verheißen, „die zu verderben, die die Erde verderben“. Ein globaler Ruin droht erstmals im 20. Jahrhundert. Um so mehr Grund haben wir zu glauben, daß Jehova bald handelt, um sein Eigentum, seine Schöpfung, zu schützen (Offenbarung 11:18; 1. Mose 1:27, 28).

      19 Dieser Umschwung wird sich in kurzem unter Gottes ‘neuem Himmel und neuer Erde’ ereignen. Damit ist kein neuer Wolkenhimmel und kein neuer Planet gemeint, sondern eine neue geistige Herrschaft über eine umgestaltete Erde, auf der eine Gesellschaft regenerierter Menschen wohnt. In dieser neuen Welt ist kein Platz mehr für die Ausbeutung von Mitmenschen oder für den Raubbau am Tierbestand. Gewalt und Blutvergießen wird es nicht mehr geben, auch keine Obdachlosigkeit, keinen Hunger und keine Bedrückung (Offenbarung 21:1; 2. Petrus 3:13).

      20 Im Worte Gottes heißt es: „ ‚Und sie werden gewiß Häuser bauen und sie bewohnen; und sie werden bestimmt Weingärten pflanzen und deren Fruchtertrag essen. Sie werden nicht bauen und ein anderer es bewohnen; sie werden nicht pflanzen und ein anderer essen. Denn gleich den Tagen eines Baumes werden die Tage meines Volkes sein; und das Werk ihrer eigenen Hände werden meine Auserwählten verbrauchen. ... Wolf und Lamm werden einträchtig weiden, und der Löwe wird Stroh fressen wie der Stier; und was die Schlange betrifft, ihre Speise wird Staub sein. Sie werden keinen Schaden stiften noch irgendwie Verderben anrichten auf meinem ganzen heiligen Berg‘, hat Jehova gesprochen“ (Jesaja 65:17-25).

      Die Grundlage der neuen Welt

      21. Warum kommt die neue Welt bestimmt?

      21 „Inwiefern wird all das möglich sein?“ fragst du dich vielleicht. Insofern, als der „Gott, der nicht lügen kann, vor langwährenden Zeiten verheißen hat“, daß die Menschheit wiederhergestellt und vollkommenes ewiges Leben erhalten wird. Und die Grundlage dieser Hoffnung ist das, was der Apostel Petrus in seinem ersten Brief an gesalbte Mitchristen schrieb: „Gesegnet sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, denn nach seiner großen Barmherzigkeit hat er uns eine neue Geburt zu einer lebendigen Hoffnung gegeben durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe“ (Titus 1:1, 2; 1. Petrus 1:3, 4).

      22. Worauf gründet sich die Hoffnung auf die neue Welt, und warum?

      22 Die Auferstehung Jesu Christi bildet die Grundlage für die Hoffnung auf eine gerechte neue Welt, weil Jesus von Gott dazu ernannt worden ist, vom Himmel aus über eine gereinigte Erde zu herrschen. Paulus betonte die Wichtigkeit der Auferstehung Christi auch, als er schrieb: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden, der Erstling derer, die im Tod entschlafen sind. Denn da der Tod durch einen Menschen gekommen ist, kommt auch die Auferstehung der Toten durch einen Menschen. Denn so, wie in Adam alle sterben, so werden auch in dem Christus alle lebendig gemacht werden“ (1. Korinther 15:20-22).

      23. (a) Warum ist die Auferstehung Christi von großer Bedeutung? (b) Was gebot der auferstandene Jesus seinen Nachfolgern?

      23 Christi Opfertod, durch den er ein entsprechendes Lösegeld zahlte, und seine Auferstehung bilden die Grundlage für die Hoffnung auf „einen neuen Himmel“, eine Königreichsherrschaft, und auf ein umgestaltetes, regeneriertes Menschengeschlecht, „eine neue Erde“. Seine Auferstehung verlieh auch dem Predigen und Lehren seiner treuen Apostel Schwung. Der Bericht sagt uns: „Die elf Jünger dagegen gingen nach Galiläa zu dem Berg, wohin Jesus sie bestellt hatte, und als sie ihn sahen, huldigten sie ihm, einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und redete zu ihnen, indem er sprach: ‚Mir ist alle Gewalt im Himmel und auf der Erde gegeben worden. Geht daher hin, und macht Jünger aus Menschen aller Nationen, tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu halten, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Abschluß des Systems der Dinge‘ “ (Matthäus 19:28, 29; 28:16-20; 1. Timotheus 2:6).

      24. Welcher zusätzliche Segen wird durch Jesu Auferstehung garantiert?

      24 Die Auferstehung Jesu garantiert noch einen weiteren Segen für die Menschheit — die Auferstehung der Toten. Daß Jesus Lazarus von den Toten auferweckte, war ein Unterpfand für eine künftige allumfassende Auferstehung. (Siehe Seite 248—250.) Jesus hatte gesagt: „Wundert euch nicht darüber, denn die Stunde kommt, in der alle, die in den Gedächtnisgrüften sind, seine Stimme hören und herauskommen werden, die, welche Gutes getan haben, zu einer Auferstehung des Lebens, die, welche Schlechtes getrieben haben, zu einer Auferstehung des Gerichts“ (Johannes 5:28, 29; 11:39-44; Apostelgeschichte 17:30, 31).

      25. (a) Welche Wahl wird in der neuen Welt allen offenstehen? (b) Welche Art Religion wird es in der neuen Welt geben?

      25 Welche Freude es doch sein muß, seine Angehörigen begrüßen zu können, wahrscheinlich eine Generation nach der anderen! Dort in der neuen Welt wird jeder unter vollkommenen Verhältnissen entscheiden können, ob er den wahren Gott, Jehova, anbeten oder ob er als Gegner sein Leben verlieren will. Ja, in der neuen Welt wird es nur eine Religion, nur eine Form der Anbetung, geben. Aller Lobpreis wird dem liebenden Schöpfer gegeben werden, und jeder gehorsame Mensch wird in die Worte des Psalmisten einstimmen: „Ich will dich erheben, o mein Gott und König, und ich will deinen Namen segnen auf unabsehbare Zeit, ja für immer. ... Jehova ist groß und sehr zu preisen, und seine Größe ist unerforschlich“ (Psalm 145:1-3; Offenbarung 20:7-10).

      26. Warum solltest du Gottes Wort, die Bibel, prüfen?

      26 Nachdem du nun einen Vergleich zwischen den bedeutenderen Religionen der Welt angestellt hast, laden wir dich ein, Gottes Wort, die Bibel, auf die der Glaube von Jehovas Zeugen gegründet ist, weiter zu erforschen. Beweise dir selbst, daß der wahre Gott zu finden ist. Jetzt ist es Zeit, dein Verhältnis zum wahren Gott zu überprüfen, und zwar unabhängig davon, ob du Hindu, Muslim, Buddhist, Schintoist, Konfuzianer, Taoist, Jude, Christ oder etwas anderes bist. Wahrscheinlich war dein Geburtsort, den du nicht selbst wählen konntest, dafür entscheidend, welcher Religion du angehörst. Bestimmt kann man nur etwas gewinnen, wenn man die Bibel daraufhin untersucht, was sie über den wahren und lebendigen Gott sagt. Das könnte die Gelegenheit deines Lebens sein, den Vorsatz des Souveränen Herrn Jehova hinsichtlich der Erde und der Menschheit kennenzulernen. Ja, deine aufrichtige Suche nach dem wahren Gott kann erfolgreich sein, wenn du die Bibel mit Jehovas Boten, seinen Zeugen, die dir dieses Buch überreicht haben, studierst.

      27. (a) Welche Einladung läßt Jesus an dich ergehen? (b) Wozu lädt Jesaja im Einklang mit dem Thema des vorliegenden Buches jeden ein?

      27 Jesus sagte nicht vergebens: „Bittet fortwährend, und es wird euch gegeben werden; sucht unablässig, und ihr werdet finden; klopft immer wieder an, und es wird euch geöffnet werden.“ Du kannst zu denjenigen gehören, die den wahren Gott gefunden haben, wenn du die Botschaft des Propheten Jesaja beherzigst: „Sucht Jehova, während er sich finden läßt. Ruft ihn an, während er sich als nahe erweist. Der Böse verlasse seinen Weg und der schadenstiftende Mann seine Gedanken; und er kehre um zu Jehova, der sich seiner erbarmen wird, und zu unserem Gott, denn er wird in großem Maße vergeben“ (Matthäus 7:7; Jesaja 55:6, 7).

      28. Wer kann dir helfen, den wahren Gott zu finden?

      28 Wenn du den wahren Gott suchst, so zögere nicht, mit Jehovas Zeugen Kontakt aufzunehmen.c Sie werden sich freuen, dir kostenlos zu helfen, den Vater und seinen Willen gut kennenzulernen, solange noch Zeit dazu ist (Zephanja 2:3).

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