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Der „Ritt durch das Nadelöhr“Erwachet! 2008 | November
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Ein Schiffsfriedhof
In den frühen Morgenstunden des 1. Juni 1878 segelte der Dreimaster Loch Ard durch dichten Nebel auf die Küste Victorias zu. Schon am Vortag hatte der Nebel die Sextantenmessung der Mittagssonne durch den Kapitän verhindert. Infolgedessen war das Schiff der Küste des australischen Festlandes viel näher, als er dachte. Plötzlich lichtete sich der Nebel und gab den Blick frei auf die fast 100 Meter hohen Klippen in kaum zwei Kilometer Entfernung. Verzweifelt mühte sich die Besatzung, das Schiff zu wenden, doch Wind und Gezeiten machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Nicht einmal eine Stunde später lief die Loch Ard krachend auf ein Riff auf und sank binnen 15 Minuten.
Von den 54 Menschen an Bord kamen nur zwei mit dem Leben davon: der Schiffsjunge Tom Pearce und die Passagierin Eva Carmichael — beide noch Teenager. Tom klammerte sich im eiskalten Wasser stundenlang an ein gekentertes Rettungsboot. Schließlich wurde er von der Gezeitenströmung in eine enge Schlucht zwischen den Klippen gespült. Er erblickte einen mit Trümmern übersäten schmalen Sandstrand und brachte sich schwimmend dorthin in Sicherheit. Eva war Nichtschwimmerin und klammerte sich deshalb vier Stunden lang an Trümmerteile des Schiffs, bis sie in dieselbe Schlucht gespült wurde. Als sie Tom am Strand sah, rief sie um Hilfe. Tom stürzte sich wieder in die Wellen, und nach einstündigem Kampf gelang es ihm, die mittlerweile halb bewusstlose Eva an den Strand zu ziehen. Sie berichtete: „Er brachte mich in eine unheimlich anmutende Höhle, rund 50 Meter vom Strand entfernt. Nachdem er eine Kiste mit Brandy gefunden hatte, öffnete er eine Flasche und flößte mir ein wenig davon ein, was meine Lebensgeister wieder weckte. Er riss etwas langes Gras und ein paar Büsche aus und bettete mich darauf. Schon bald verlor ich erneut das Bewusstsein und muss etliche Stunden ohnmächtig gewesen sein.“ In der Zwischenzeit kletterte Tom die Felsen hinauf und suchte Hilfe. Knapp 24 Stunden nach dem Untergang der Loch Ard wurden Tom und Eva in ein nahe gelegenes Farmhaus gebracht. Eva verlor bei dem Unglück beide Eltern und alle fünf Geschwister.
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Der „Ritt durch das Nadelöhr“Erwachet! 2008 | November
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[Kasten/Bilder auf Seite 17]
WAS WURDE EIGENTLICH AUS TOM UND EVA?
Tom Pearce und Eva Carmichael, die einzigen Überlebenden der Loch Ard, wurden schlagartig in ganz Australien berühmt. Wie es in dem Buch Cape Otway—Coast of Secrets heißt, „stilisierten Zeitungen das Schiffsunglück zur Sensation hoch, feierten Pearce als Helden, verklärten Eva Carmichael zur Schönheit und wollten die beiden unbedingt verkuppeln“. Tom machte Eva zwar einen Antrag, aber sie gab ihm einen Korb und kehrte 3 Monate später nach Irland zurück. Dort heiratete sie jemand anders und gründete eine Familie. 1934 starb sie mit 73 Jahren. Tom heuerte wieder auf einem Schiff an und erlitt kurz darauf erneut Schiffbruch. Auch diesen überlebte er. Viele Jahre fuhr er als Kapitän von Passagierdampfern zur See, bevor er 1909 im Alter von 50 Jahren verstarb.
[Bildnachweis]
Beide Fotos: Flagstaff Hill Maritime Village, Warrnambool
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Der „Ritt durch das Nadelöhr“Erwachet! 2008 | November
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[Bild auf Seite 16]
Nachdem die „Loch Ard“ auf ein Riff aufgelaufen war, sank sie binnen 15 Minuten
[Bildnachweis]
La Trobe Picture Collection, State Library of Victoria
[Bild auf Seite 17]
Port-Campbell-Nationalpark: 1. hier lief die „Loch Ard“ auf Grund; 2. die Höhle, in der Tom und Eva Schutz fanden
[Bildnachweis]
Photography Scancolor Australia
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